16. Sonntag nach Trinitatis
Predigt am 16. Sonntag nach Trinitatis in der Thomaskirche Grünwald (9.10.11)
Klagelieder 3,21-32
«… inquietum est cor nostrum …»
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.
Liebe Gemeinde,
es ist Herbst geworden.
Herbst ist die Jahreszeit des Erntens. Und des Abschied-Nehmens. Und des Anerkennens: es ist so, wie es ist. Je älter das Jahr wird, je älter der Mensch wird, desto kleiner wird der Spielraum für Neues – und desto größer wird das, was nun Mal so ist, wie es ist. „Gelebtes Jahr – gelebtes Leben.“ Oder auch ungelebtes Jahr – ungelebtes Leben. Es ändert nichts. Es ist, wie es ist.
Es gibt Menschen, die den Herbst nicht mögen. Der Herbst erinnere sie an die Vergänglichkeit des Lebens. Kürzlich hörte ich anlässlich des Wetterumbruchs jemand empört sagen: „Ich hasse den Herbst. Er betrügt uns um die Wärme, um den Biergarten, um das Baden gehen.“ Der Herbst ein Betrüger? Haben wir den Sommer gekauft mit einer Zusatzgarantie für Biergarten, Baden und Sonne? Vor kurzem hörte ich einen Friseur-Slogan: „Lassen Sie sich Ihre Haare färben. Ihre grauen Haare betrügen Sie um ihre Jugend!“ Meine grauen Haare betrügen mich? Ich denke, meine grauen Haare sagen mir, dass ich alt werde. Und der Herbst sagt mir, dass der Sommer vorbei ist. Was ist eigentlich so schlimm daran? Dass wir an unser Sterben-Werden erinnert werden?
Und was ist so schlimm daran, dass wir wieder vergehen? „Von Erde bist du genommen, zur Erde kehrst du zurück.“ Das ist der Lauf des Lebendigen. Nur Unlebendiges ist dauerhafter. Nicht dauerhaft: sogar Sterne haben ihre Lebenszeit, brennen aus, vergehen. So werde auch ich kleiner Mensch mit meinem kleinen Ich verschwinden, vergehen. Irgendwann wird der Strom meines Lebens, in dem ich schwimme, in das große Meer münden. Und mein Ich wird sich auflösen – hinein sich lösend in die große Ganzheit des Seins oder auch des Nichts.
Und derweilen lebe ich. Derweilen leben wir.
Unser heutiger Predigttext – aus dem kleinen Buch alttestamentlichen Buch „Klagelieder“ – handelt von einem guten Leben im Angesicht des Vergehens, im Angesicht der Vergänglichkeit, auch im Angesicht des Leides:
Dieses lasse ins Herz ich mir kehren,
um des willen harre ich:
‚SEINE Hulden, dass sie nicht dahin sind,
dass sein Erbarmen nicht endet’
Neu ists an jedem Morgen,
groß ist deine Treue,
‚Mein Anteil ist ER’, spricht meine Seele,
‚um des willen harre ich sein.’
Gut ist er zu denen, die ihn erhoffen,
zu der Seele, die ihn sucht,
gut ists, wenn still einer harrt
auf SEINE Befreiung.
Gut ists dem Mann,
wenn in seiner Jugend er ein Joch trug,
Er sitze einsam und still,
wenn Er es ihm auferlegt, –
er halte seinen Mund in den Staub hin:
‚Vielleicht west eine Hoffnung!’
Er halte seine Wange hin, der ihn schlagt,
er sättige sich an der Schmach.
Denn mein Herr verwirft nicht für immer,
denn betrübt er, erbarmt er sich
nach der Größe seiner Huld,
denn nicht aus Herzenslust demütigt er
und betrübt seine Menschensöhne. (Übersetzung von M. Buber)
„Dies lasse ich ins Herz mir kehren“, so übersetzt M. Buber. Luther sagt: „Dies nehme ich mir zu Herzen…“ „Ins Herz mir kehren“, da steckt die „Kehre“ (Heidegger), die „Wende“, die Umkehr drin. Eine Umkehr, die ich nicht aktiv machen kann, die ich mir nur in mein Herz hinein kehren lassen kann, so wie ich mir etwas zu Herzen nehmen kann ohne Garantie, dass ich es auch immer befolgen werden können.
„Um des willen harre ich“ – „harren“, ein altes, fast ausgestorbenes deutsches Verb (geläufiger ist beharren, ausharren) – es klingt nach Zähigkeit, nach Ausdauer, nach nicht aufgeben.
Was ist „das“ – was ich mir zu Herzen nehme, das, was mich zäh werden lässt?
‚SEINE Hulden, dass sie nicht dahin sind,
dass sein Erbarmen nicht endet’
Neu ists an jedem Morgen,
groß ist deine Treue.“
Am Morgen – da kommen wir aus dem Dunkel der Nacht unseres Unbewussten. Mal wohlig ausgeschlafen, mal müde und zermürbt. Mal eben verwehende Traumbilder erinnernd, mal mit dem Gefühl, aus dem Nichts zu kommen.
Jeden Morgen aufs Neue wachen wir auf.
Und jeden Morgen aufs Neue können wir erleben: ER ist nicht verschwunden, „seine Hulden und sein Erbarmen endet nicht.“ Seine Hulden, Luther übersetzt: „Die Güte des Herrn ists, dass wir nicht gar aus sind; seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende“ –
ER ist nicht verschwunden, ER ist uns „hold“. Er ist kein Unhold, kein Alb; und selbst die Albträume der Nacht lösen sich im Licht des Morgens:
– „die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern…“
Aber was – wenn wir das Licht des Morgens nicht sehen können? Wenn wir aufwachen, als hätten wir nicht geschlafen. Wenn wir uns am Morgen so bleiern müde fühlen, dass wir keine Kraft finden aufzustehen? Aber was – wenn wir uns in der depressiven Höhle des Lazarus befinden und keiner da ist, der uns heraus ruft?
Wenn dies ist, dann hat der Tod(estrieb) über das Leben, über den Lebenstrieb gesiegt.
Die große Frage ist das allererste „Lasse…“ in unserem Text: lasse ich Gottes Güte ins Herz mir kehren? Lasse ich es zu, dass mein Herz sich zu IHM kehrt? Schon am Morgen? Wenn es noch düster ist, wenn ich mich noch müde, nicht bereit für den Tag fühle?
Lasse ich es zu, dass seine „Hulden“ und seine „Barmherzigkeit“ von mir Besitz ergreifen?
Es gibt Menschen, die sagen: „Ich würde ja gerne, aber ich kann nicht.“ Ich kann nicht aufstehen. Ich kann mich nicht freuen. Um mich herum ist alles grau. Solche Menschen tragen viel „Tod“ in sich. Es kann der reale Tod von nahen Angehörigen in der Kindheit gewesen sein. Es kann auch das Sich-Verlassen-Fühlen von guten, liebevollen Bezugspersonen („Objekten“) sein. Oder das gar nicht erst Erleben von liebevoller, freundlicher, „barmherziger“ Zuwendung. Oder sie erlebten als Babys eine „tote Mutter“ (A. Green), eine Mutter, die ih-rerseits voller Melancholie und Tod gewesen ist. So dass sie schon als Baby keine lebendige, lebensspendende Milch tranken, sondern die „schwarze Milch der Frühe“, wie Paul Celan in seiner Todesfuge ergreifend gedichtet hat. Das Problem ist, dass Babys wenig Schutz gegenüber dem haben, was in sie „hinein-kommt“. Und das Problem ist, dass „Güte“, „Barmherzigkeit“ zunächst nur leere Worte sind. Auch das Wort „Gott“ gehört dazu. Um diese Wörter mit Leben füllen zu können, bedarf es eines Er-Lebens.
Wenn ich wenig „Gutes“ in meinem Leben erleben konnte, wie soll ich da auf einmal etwas mit der „Güte Gottes“ anfangen können? Und wenn ich umgeben von hartherzigen Menschen aufgewachsen bin – wie soll ich da an „Barmherzigkeit“ glauben? Wenn ich mich verkauft und verraten gefühlt habe – wie soll ich da mit „Gottes Treue“ etwas anfangen können?
Auf diese Fragen gibt unser Text keine Antwort, und ich weiß auch keine – außer der: „Gut ist er zu denen, die ihn erhoffen, zu der Seele, die ihn sucht. Gut ists, wenn still einer harrt auf SEINE Befreiung.“
„… quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te.“ (denn geschaffen hast du uns zu dir und solange ist unruhig unser Herz bis es in dir ruht) Augustinus, Confessiones I,1.
Um „auf Gott hoffen“, „um Gott suchen“ zu können, um diesen Satz erleben zu können, bedarf es eines Beziehungsdenkens. „…geschaffen hast du uns zu dir…“ Ist die Beziehung zum Anderen/zu Gott vergiftet oder gar zerstört, ist auch das Denken in Beziehung vergiftet oder zerstört. An seiner Stelle ist ein „Einsamkeits-Denken“ entstanden: „Ich muss mich selbst und alleine durchs Leben schlagen. Es ist keiner da, der mir hilft.“ Die andere Seite desselben Denkens lautet: „ich musste mir auch alles selbst aufbauen; warum soll ich davon abgeben, warum teilen mit anderen?“ Der gegenwärtig oft beklagte geizig-habgierige Egoismus unserer Gesellschaft ist so gesehen Ausdruck eines einsa-men, sich vom Anderen im Stich gelassen fühlenden Ichs.
„Gut ists, wenn still einer harrt auf SEINE Befreiung.“
“ – „SEINE“ – das ist die zu erleidende Befreiung, das ist die Befreiung, die ich mir selbst nicht geben, nicht machen kann, auf die ich nur harren kann.
Gut ists dem Mann,
wenn in seiner Jugend er ein Joch trug,
Er sitze einsam und still,
wenn Er es ihm auferlegt, –
er halte seinen Mund in den Staub hin:
‚Vielleicht west eine Hoffnung!’
Er halte seine Wange hin, der ihn schlagt,
er sättige sich an der Schmach.“
Ich weiß schon: das klingt hart, und sehr missverständlich. (Vielleicht ist es des-halb „offiziell“ aus dem heutigen Predigttext weggelassen worden.) Das klingt so, als ginge es um einen Lobpreis der Qual und des Leidens.
Ich verstehe es anders: wer schon in jungen Jahren gelernt hat, ein Joch zu tra-gen, der kommt leichter durchs Leben, der ist weniger gefährdet, nur als Erfüllungsgehilfe dafür zu leben, seine Lüste zu befriedigen. Wer gelernt hat, ein Joch zu tragen, der hat gelernt, dass Leben nicht bedeutet, möglichst oft das zu machen, worauf ich gerade Lust („Bock“) habe. „Sinn“, „Bedeutung“, „Zufriedenheit“ entsteht nicht und kann nicht entstehen in der Hetze von einem Lust-Event zum Nächsten. In der Hetze mache ich mich zum Sklaven meiner Lüste. Die versklavte Seele versucht ihre Verzweiflung zu vertuschen: „Man gönnt sich ja sonst nichts“.
Die zufriedene Seele sagt: „Dankbar empfange ich mein Leben von dir und mein Joch nehme ich mit Freuden an – bin ich doch deiner nirgends so gewiss, als da, wo ich sicher bin, dass es nicht nach meinem Willen geht.“
Und so wird in allem Schweren, in größter Verzweiflung aufs Neue Hoffnung geboren, und so geschieht, was unfassbar scheint:
Der tote Lazarus verlässt seine Sterbehöhle.
„Denn mein Herr verwirft nicht für immer, denn betrübt er, erbarmt er sich nach der Größe seiner Huld, denn nicht aus Herzenslust demütigt er und betrübt die Menschensöhne.“
Mein Herr verwirft nicht für immer – nur so lange, wie ich in meine Einsam-keitshöhle mich zurück ziehen muss, aus Angst vor dem Leben „draußen“, vor dem Leben in „Freiheit“. Solange erlebe ich mich von Gott verworfen, solange spielt Gott in meinem Leben keine Rolle: ich mich selbst immun gemacht – auch und gerade immun gegenüber dem Erleben von Nähe, Wärme und Geborgenheit. In der Kälte kann ich Gottes Barmherzigkeit nicht spüren.
Im selben Augenblick, in dem mich zu Gott hin öffne, erlebe ich nichts als „Erbarmen“.
„Mir ist Erbarmen wiederfahren – Erbarmen, dessen ich nicht wert.“
Gott geschieht – in dem Augenblick, in dem meine Seele es wagt, sich aus ihrer eingekapselten Einsamkeit zu lösen; es wagt sich zu öffnen, in dem Augenblick, in dem meine Seele erlebt: „ich bin ein Teil Gottes“, oder, was auf dasselbe hinausläuft, „ich bin ein Teil des Lebens“ – bekommt sie auch schon Anteil an ihm. In diesem Augenblick ist „der Stein weggewälzt“: sei es der vom Grab Jesu, sei es der vor der Höhle des Lazarus.
Die depressive Seele ist die teilnahmslos gewordene Seele – sie kann keinen Anteil am Leben nehmen, sie kann nicht teilen – verzweifelt setzt sie sich selbst absolut. So versucht sie der Vergänglichkeit zu trotzen. Und gerade so verliert sie ihre Lebendigkeit.
Denn Lebendigkeit bedeutet Vergänglichkeit – nur Unlebendiges ist (scheinbar) ewig. So treibt die verzweifelt-trotzige Weigerung, das Vergehen des Lebens anzuerkennen, geradewegs in den Tod – in den Tod der eigenen Seele.
Liebe Gemeinde,
es ist Herbst geworden. Keiner von uns weiß, wie viele Jahreszeiten er auf dieser Erde noch erleben darf oder auch muss. Keiner von uns weiß, welche Leiden, welche Schmerzen ihm noch bevorstehen. Keiner von uns weiß, von welchen geliebten Menschen (und Tieren) er noch wird Abschied nehmen müssen.
Nur eines ist gewiss, so gewiss, wie es ist, dass wir sterben werden:
„Seine Hulden sind nicht dahin, sein Erbarmen endet nicht!“
Gebe Gott, dass wir in unseren Ängsten und Schmerzen, in unseren Unsicherheiten und Zweifeln sein Erbarmen spüren können, ein Erbarmen, das uns nährt, uns sichert und uns beruhigt:
denn unruhig ist mein Herz, bis es Ruhe findet in dir, barmherziger Gott,
AMEN.
Und die Liebe Gottes, die höher ist als all unser menschliches Verstehen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus AMEN.
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