Osterpredigt 2016: Kein Ostergelächter, aber vielleicht ein Osterlächeln

Predigt am Ostersonntag 2016

Die Dunkelheit des Vaters und das Licht des Sohnes und die liebende Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen., AMEN.

Liebe Gemeinde,

fragen Sie sich auch manchmal: wo sind eigentlich die ganzen Jahre meines Lebens hingekommen? Mehr als sechs Jahrzehnte bin ich jetzt auf dieser Welt – und diese Jahrzehnte sind verschwunden. Und mit ihnen sind viele Menschen verschwunden, die mich begleitet haben. Ich vermute, von meinen Lehrern aus der Schulzeit wird kaum mehr einer leben. Oder aus meiner Studienzeit. Die Zeit hat es an sich zu kommen und zu gehen. Wie unser Atem. Die Zeit ist vergänglich.

Was bleibt, sind Erinnerungen. Was auch bleibt ist unser „Ich“. Unser „Ich“ ist eine Konstante in der Zeit. Vor über drei Jahrzehnten stand dieser Kerl, zu dem ich „Ich“ sage, auch schon auf dieser Kanzel. Von außen betrachtet könnte man sagen: viel Neues scheint ihm nicht eingefallen zu sein. Von innen betrachtet gibt es Stimmen, die sagen: muss das wirklich sein? Du könntest jetzt auch ein gemütliches Osterfrühstück mit deiner Familie haben. Aber du musst ja immer predigen. Das ist eine Stimme des Haderns, mit diesem „Ich“-Kerl. Ich denke, sie kennen das auch: Kräfte in Ihnen, die an Ihnen ziehen, die Sie wo anders hin haben wollen, als dorthin, wo Sie hin wollen.

Wir Menschen sind schon seltsame Lebewesen!

Vielleicht möchten Sie mich jetzt daran erinnern, dass heute Ostern ist. Und bis jetzt noch wenig Osterjubel in meiner Predigt zu spüren ist.

Da haben Sie recht!

Ich habe mich mit dieser Osterpredigt schwerer getan, als ich dachte. Ein Felsbrocken lag auf meiner Seele und es dauerte, bis ich zu verstehen begann, dass dieser Felsbrocken mit Erinnerungen zu tun hat. Die vorhin gehörte Lesung aus dem berühmten 15. Kapitel des 1. Korintherbriefes, in dem Paulus von der Auferstehung Christi schreibt, ist der heutige Predigttext. Und er bildete das Zentrum des Denkens meines Doktorvaters, W. Pannenberg, der in seiner Christologie den Nachweis versuchte zu führen, dass die Auferstehung Jesu historisch nachweisbar sei.

Der Felsbrocken auf meinem Denken hat mit der harten Erinnerung zu tun, wie sehr ich dieses Buch und diesen Mann versuchte, als meinen „Retter“ zu erleben.

Das hat wiederum mit meiner Lebensgeschichte zu tun.

Ursprünglich sollte ich für meine Mutter ein „Retter“ sein. Sie hatte ihren ersten Mann durch einen Motorradunfall verloren, ihre dreijährige Tochter aus dieser Ehe war an Leukämie gestorben. Merkwürdig – mich gibt es, nachdem (weil?) andere Menschen verschwunden sind. Ich war von Anfang an ein schwacher Ersatz, schwach auch deshalb, weil ich ein Junge war. Ich habe mir große Mühe gegeben (auch ein Mädchen zu sein) – aber es hat irgendwie nicht geklappt. Auch deshalb, weil ich Tote nicht lebendig machen kann. Das konnte ich auch im Februar dieses Jahres nicht, als meine fünfeinhalbjährige Enkelin (wiederum) an Leukämie starb. Gerne hätte ich gesagt: „talita kumi – steh auf, nimm dein Bett und geh!“ Aber ich stand nur da, ohnmächtig, traurig, fassungslos.

Und jetzt soll ich über diesen Paulustext predigen. Soll predigen, dass es natürlich eine Auferstehung der Toten gibt, weil Christus von den Toten auferstanden ist; wäre er aber nicht von den Toten auferstanden, „so ist euer Glaube nichtig, so seid ihr noch in euren Sünden“ sagt Paulus (1. Kor. 15,17). Und es gibt schließlich ja auch genügend Zeugen, die Christus gesehen haben. Paulus kämpft in diesem Kapitel gegen die These: „es gibt keine Auferstehung der Toten!“ Er verweist auf das, was er selbst empfangen hat, also auf Tradition, die ihm vorlag: „Christus ist gestorben für unsere Sünden nach der Schrift, und begraben worden und auferstanden am dritten Tag nach der Schrift. Und dann verweist er auf die Fülle von „Zeugen“, denen er erschienen ist. Und zuletzt sei er auch ihm selbst erschienen, wobei er sich einerseits als „unzeitige Geburt“ abwertet, um dann zu betonen, dass er „viel mehr gearbeitet (hat) als sie alle“, um dann wieder zu relativieren: „nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die in mir ist.“

Liebe Gemeinde,

ganz ehrlich: mir hilft dieser Text nicht weiter. Er berührt mich nicht. Mir ist es egal, wer Christus wann gesehen hat. Ganz davon abgesehen, dass Wahrheit nicht dadurch entsteht, dass viele Menschen dasselbe sagen. Es gab eine Zeit, da waren sich die Menschen darin einig, dass die Erde eine Scheibe ist, um die sich die Sonne dreht. Das war die anerkannte Wahrheit. Und Galileo Galilei, der etwas Anderes behauptete, war ein Lügner. Und wäre beinahe wegen seiner vermeintlichen Lügen mit dem Tode bestraft worden. Von daher hat sich offenbar doch etwas mit mir verändert. Ich scheine ein Anderer geworden zu sein. Damals klammerte ich mich an diesen Text und an die Theologie meines Doktorvaters. Heute – ist sie mir gleichgültig geworden. Es gibt also doch Veränderung im Leben dieser Konstante „Ich“. Veränderung hat mit der Fähigkeit zu lernen zu tun. Die Fähigkeit zu lernen hat wiederum mit der Kraft zu tun, mir mein Nicht-Wissen einzugestehen.

Diese Gedanken helfen mir weiter. Mein Bestreben ist es, mich mit Wahrhaftigem zu verbinden. Sie ist der Boden, der mich trägt. „Durchdringe mich Heiliger Geist, dass ich selbst unwichtig werde und du alleine bleibst.“ Das ist ein Satz von Jörg Zink, der mir in die Hände fiel, als ich nahe daran wahr, das Vorhaben Osterpredigt aufzugeben. Der Heilige Geist kann ja nichts anderes sein, als der Geist der Wahrheit. Und der Wahrheit ist es egal, von wem sie erkannt wird – auch, ob sie überhaupt erkannt wird. Dass die Erde eine Kugel ist und sich seit ihrer Existenz um die Sonne dreht – das ist ein wahrhaftiges Geschehen, völlig gleichgültig, ob es jemand erkennt oder nicht. Das ist für mich ein überaus tröstlicher Gedanke.

Für meine kleine Osterpredigt heißt das: das Entscheidende sind nicht meine mehr oder weniger klugen Gedanken, das Entscheidende bin auch nicht ich – das Entscheidende ist die Offenheit für eine Kraft, die „von wo ganz anders her“ kommt. Ich bin, mein Ich ist nichts anderes als eine Flöte, die von jemand anderem gespielt wird. Oder eine Orgel, auf der jemand Anderer die Register zieht.

Und Sie, liebe Gemeinde, sind frei, das, was ich zu sagen habe, doof zu finden. Oder ärgerlich. Zu wenig österlich. Oder – keine Ahnung.

Und natürlich freue ich mich, wenn zwischen uns sich dieser Heilige Geist der Wahrhaftigkeit sich ausbreitet, zu wehen und zu schwingen beginnt. Aber – wie wir alle wissen: er weht wo er will – er lässt sich nicht machen.

Und damit beginnt für mich Auferstehung – nicht mit Beweisen, nicht mit Zeugenaussagen, sondern mit: „Zittern und Entsetzen.“ Und sie beginnt mit den Frauen, die nach dem katastrophalen Pessach das tun, was zu tun ist: sie wollen den Leichnam Jesu salben. Sie wollen sich dem Toten zuwenden. Und sind verunsichert. Nichts ist wie gewohnt, wie erwartet. Der Stein vor dem Grab ist weg, das Grab ist leer. Sie „stehen ratlos da“, heißt es bei Lukas. „Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen“ heißt es bei Markus. Eben diese Ratlosigkeit, dieses Entsetzen will ausgehalten werden, damit Neues auferstehen kann. Erst wenn etwas fehlt, wenn da, wo immer etwas war, nichts ist – kommt Routine an ihr Ende. Es sind die Frauen (also weibliche Kräfte in uns), die die Stärke haben, diese „Leere“ auszuhalten. Und damit ihr Nicht-Wissen bezüglich dessen, was los ist. Die Männer aber, so heißt es bei Lukas, hielten die Worte der Frauen für „Geschwätz“ – und glaubten ihnen nicht! Männliche Kräfte tun sich im Ertragen von Angst, Unsicherheit und Nicht-Wissen deutlich schwerer als weibliche. Es dient der Selbst-Beruhigung dieser männlichen Kräfte, mit Weiblichem abwertend und überheblich umzugehen.

Die Frauen also waren unterwegs, das zu machen, „was man mit Toten macht“: mit wohlriechenden Salben zu balsamieren. Und jetzt sind sie ratlos, verängstigt. „Und sie sagten niemand etwas, denn sie fürchteten sich.“ Damit endet das Markusevangelium in seiner ursprünglichen Fassung. Das älteste Evangelium. All‘ die schönen Geschichten von der Begegnung des Auferstandenen – sie sind erst viel später verfasst worden.

Und diese Furcht ist nur allzu berechtigt. Denn die Auferstehung Christi bedeutet, dass ein Denken auferweckt worden ist, in dessen Zentrum die liebevolle Einfühlung in den Anderen, in den Fremden steht. Die Radikalität der Liebesbotschaft dieses Jesus aus Nazareth war es, mit der er sich bei dem religiösen Establishment seiner Zeit so unbeliebt gemacht hatte. Und er verfügte über die Kraft, sich unbeliebt zu machen. Er hielt dies aus im unerschütterlichen Glauben an den, den er seinen Vater nannte, an seinen Gott.

Mit anderen Worten: indem der Weg der Auferstehung über das Kreuz führt – und einen anderen Weg gibt es nicht, wie wir am Karfreitag hier im Gottesdienst eindrücklich erleben durften – bleibt die Auferstehungsfreude gebunden an die Verzweiflung des Gekreuzigten. Ein Abschütteln des Kreuzes führt zu einer triumphierend-überheblichen Kirche und zu einer abgehobenen Theologie. Das Kreuz ist kein Durchgang: aber es wird von der Auferstehung her tragbar – erträglich.

Wenn wir heute als Christen ernst genommen werden wollen, wäre es günstig, wenn wir eine glaubwürdige Botschaft hätten. M.E. schwächt es die Glaubwürdigkeit der christlichen Religion im allgemeinen und die unserer Verkündigung im besonderen, wenn sie – im Chor mit vielen anderen Religionen – unsere Angst vor dem Tod so beantwortet, dass sie die Endgültigkeit des Todes einfach verleugnet. („Wenn du an die Auferstehung der Toten glaubst, dann bedenke, dass alle Menschen auferstehen werden, die Guten und die Bösen. Auch die, mit denen du nie mehr etwas zu haben wolltest!“ hat der große Theologe Karl Barth einmal gesagt. Aber das nur nebenbei.)

Glaubwürdig sein ist freilich etwas ziemlich anderes als beliebt sein. Die Künder der Wahrheit (auf allen Gebieten, in den Naturwissenschaften, in den Geisteswissenschaften – auch Gottes) haben sich oft sehr unbeliebt gemacht. Sie (zer-)stören gemeinsame, liebgewonnene Einsichten. Sie stellen vertraute Sicherheiten in Frage. Jesus gehört zu denen, die sich so unbeliebt machten, dass seine Liquidierung die letzte und notwendige „Lösung“ schien. Die (Denk-)Gefäße des religiösen Establishments seiner Zeit waren ungeeignet, seine Botschaft aufzunehmen. Um die Gefäße zu schützen, wurde der Botschafter vernichtet.

Im Zentrum der Verkündigung am Ostermorgen steht die Umkehr der Blickrichtung. „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“ Im Zentrum steht die Auferweckung der Botschaft von der bedingungslosen Liebe. Mit ihr wird sein Botschafter von selbst lebendig. Alles weitere können wir getrost Gott überlassen. Und diese Botschaft der Unzerstörbarkeit der Liebe halte ich für das Glaubwürdigste, was durch diesen Jesus, den wir als Christus bekennen, in die Welt gekommen ist. Sie ist das Herz des Christentums. Wer Christus predigt, ohne Liebe in sich zu spüren: dessen Glaube ist nichtig!

Liebe Gemeinde,

ich kann mir gut vorstellen, dass meine österlichen Gedanken auch auf Befremden stoßen. Das kann ich leider nicht ändern. Genau genommen hat man ja sowieso keinen Einfluss darauf, was mit veröffentlichten Gedanken gemacht wird. Wozu sie verwendet werden. Wir Menschen lieben das Vertraute und hassen das Fremde. Alles Fremde verunsichert, macht Angst. Und was mir Angst macht, das hasse ich. So einfach ist das. Und so können wir das Fremde ausscheiden – oder gar nicht erst zu uns herein lassen. Wer weiß, ob in dem Fremden nicht Bomben versteckt sind, die uns zerstören werden.

Unsere Angst investiert in Abschreckung. In Obergrenzen. In Zäune und Mauern.

Unsere Liebe investiert in Offenheit. In „An-sich-Heranlassen“. In Abrüstung.

Wie immer ist es gut, einen Mittelweg zu finden: unsere gesunde Angst warnt vor blindem Vertrauen, unsere gesunde Liebe setzt unserer Angst liebevolle Grenzen. In liebevollen Grenzen wächst innere und äußere Sicherheit. In liebevollen Grenzen werden die gemeinsamen Güter gerecht verteilt, so dass keiner hungern und frieren muss. Ich weiß, unsere Wirklichkeit sieht anders aus. Das Hab und Gut aller Menschen ist so verteilt, dass die Hälfte des weltweiten Vermögens einem Prozent der Menschheit gehört; die andere Hälfte teilen sich die verbleibenden 99 Prozent. Zur Veranschaulichung: die Hälfte der Torte bekommt eine Person – die andere Hälfte haben sich 99 Personen zu teilen. Dies wird nicht gut gehen. Und dies kann nicht gut gehen. Und: es hat mit Liebe nichts zu tun.

Ich sage dies nicht, um Ihnen ein schlechtes Gewissen oder Schuldgefühle zu machen. Ich bin selbst Hausbesitzer in Pullach und beabsichtige nicht, es zu spenden. Aber ich bin der Meinung, dass dieses Geschehen wenigstens öffentlich benannt werden muss.

Auch wenn wir daran wahrscheinlich wenig ändern. Aber – was wir können, ist: unser Leben alltäglich in den Dienst der Freundlichkeit, in den Dienst der Liebe zu stellen. Und unserem Hass und unserer Enttäuschung, die natürlich zum Leben auch dazu gehören, Obergrenzen setzen. Dadurch stärken wir unsere Bereitschaft zu lernen. Und es wird leichter, unser Nicht-Wissen zu ertragen. Wir können uns alltäglich in Geduld üben. Und wir können uns alltäglich sagen: „Durchdringe mich Heiliger Geist, damit ich unwichtig werde und du alleine bleibst.“

Mit dieser Haltung wird für mich Leben leichter. Das ist kein triumphierender Osterjubel, eher so eine stille Heiterkeit. Kein Ostergelächter – eher ein Osterlächeln. Ja, tut mir leid, das war’s. Mehr habe ich heute nicht zu sagen, AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unser Denken und Planen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN.

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