Predigt am 18. Sonntag nach Trinitatis (10. Oktober 2004) in der Jakobuskirche in Pullach
über Röm 12, 17-19
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.
Liebe Gemeinde,
als ich den Beginn unseres heutigen Predigttextes zum ersten Mal las, war ich nicht glücklich: „Das Reich Gottes besteht ja nicht in Speise und Trank, sondern in Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist!“
Ein innerliches Brummen gegen diesen Satz ließ sich nicht wegschieben. Es war dieses „nicht…sondern“. Gegen Gerechtigkeit, Freude und Friede ist ja nichts einzuwenden – aber warum bitte soll es im Reich Gottes nicht auch Speise und Trank, will sagen so etwas wie Genießen geben? Hat nicht eine liebevoll zubereitete Speise, eine wohl gekelterte und gereifte Flasche Wein, ein gepflegtes Bier, eine mit Bedacht genossene Tasse Tee auch und gerade mit Reich Gottes zu tun? Ja, gibt es irgendwo eine Stelle, die berichten würde, Jesus hätte sich gegen ein gutes Mahl mit allem was dazu gehört ausgesprochen? Das Gegenteil scheint der Fall gewesen zu sein, so sehr, dass gehässige Zungen ihn zynisch als „Fresser und Weinsäufer“ betitelten.
Nun – der zitierte Satz aus dem Römerbrief ist aus seinem Kontext gerissen. So kontextlos ließe er sich missbrauchen für eine Botschaft gegen den sinnlichen Genuss. Das ist aber nicht gemeint. Wir müssen versuchen, den Satz in seinem Zusammenhang zu verstehen.
Der große Zusammenhang ist die Ethik. Wie sollen, wie können Christen miteinander im Alltag leben? Diese Frage beschäftigt Paulus ab dem 12. Kapitel seines Römerbriefes. Seine Antwort ist einfach: sie sollen eins sein im Glauben an den rechtfertigenden Jesus Christus. Diese Einheit im Glauben vollzieht sich in der liebenden gegenseitigen Anerkennung und Achtung, die wichtiger ist als alle Streitereien untereinander. Zu diesen Streitereien gehörte die Frage, was zu essen ist. Die Judenchristen brachten ihre Tradition ein, derzufolge es reine und unreine Gerichte gibt, wie z.B. Schweinefleisch – oder die bestimmte Art des Schlachtens, das Schächten, oder die strikte Trennung von Milchgerichten und Fleischgerichten. Die Heidenchristen kannten dies nicht, und wollten an ihrer Freiheit gegenüber dem Essen ohne Einschränkungen festhalten, ja brüsteten sich mit ihrer Freiheit gegenüber den genau bestimmten Regeln der Judenchristen. Und jede Partei wähnte sich im Recht, fand ihre Art zu leben die richtige und kritisierte entsprechend die andere! In diese Situation hinein schreibt Paulus:
„Lasst doch Euer Gut nicht Anlass zur Lästerung sein. Das Reich Gottes besteht ja nicht in Speise und Trank, sondern in Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist. Denn wer hierin Christus dient, ist Gott wohlgefällig und bei den Menschen anerkannt. So lasst uns also nach dem streben, was dem Frieden und der gegenseitigen Erbauung dient.“
Wesentlich ist das Wort „besteht“ – das Reich Gottes besteht aus Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist – nicht aber aus Speise und Trank. Will sagen: es ist zu unterscheiden zwischen dem, was menschliches Zusammenleben in der Tiefe begründet und was nicht.
Nun wird es eine weltweite Einigkeit darüber geben, dass Friede menschliches Zusammenleben begründen sollte. Das Problem ist nicht, dass es Frieden geben soll, sondern welchen Frieden. Damals hieß das Problem: wenn die Heidenchristen sich an unsere Regeln des Essens halten, dann ist Frieden – aus der Sicht der Judenchristen. Oder: wenn die Judenchristen aufhören mit ihren Essensregeln und so essen wie wir, dann ist Frieden – aus der Sicht der Heidenchristen. Das ist die Problemlösung nach der Art: Du brauchst dich nur zu ändern und schon ist Frieden. Oder, allgemeiner ausgedrückt: der andere soll sich ändern. Der andere ist es doch, der meinen Frieden stört!
Wer Kinder hat weiß, dass die Haltung „der andere ist Schuld“ eine unvermeidliche und völlig normale Entwicklung im Leben eines Menschenkindes ist. Der andere, das sind am Anfang die Eltern („du bist so blöd!“) später werden es die Erzieher, die Lehrer, die Vorgesetzten, der oder die Partnerin, allgemeiner die Schule als solche, der Staat, die Kirche, die Konzerne und ganz zum Schluss muss noch das Wetter herhalten um eigene Unzufriedenheit und Frust abzuladen. Klar – der Vorteil von „der andere ist schuld“ ist die Entlastung von einem selbst – wenigstens das steht fest: ich kann nichts dafür! Für ein Kind ist das ganz wichtig, diese Entwicklung durchlaufen zu können – das heißt Eltern zu haben, die die Beziehung nicht abbrechen, wenn sie als die Blöden hingestellt werden. Oder anders: die sich in der Tiefe die Liebe zu ihrem Kind nicht nehmen lassen.
„Lasst doch euer Gut nicht Anlass zur Lästerung sein!“ Händeringend erlebe ich den Paulus, indem er versucht in Erinnerung zu bringen: wir Christen haben doch ein Gut empfangen, das über diesen Streitereien steht – setzt das doch bitte nicht aufs Spiel! Was ist das für ein Gut? Dieses Gut ist die Liebe, die alles trägt, aber nichts nachträgt, die duldet ohne zurückzuschlagen, die den anderen sein lässt in seiner Andersartigkeit. Dieses Gut ist kein Besitz und kein Mensch der in dieser Liebe ist, wird sagen: ich habe sie, sondern im Gegenteil: je tiefer dieses Gut von mir Besitz ergreift, desto stärkerer erlebe ich seine völlige Unverfügbarkeit. Alles was ich machen kann, ist, mich je und je aufs Neue bereit zu halten, diese Liebe zu empfangen und mich darüber mit Gleichgesinnten auszutauschen, die Gemeinschaft zu suchen – also das, was wir gerade tun.
Leider, leider ist bis zum heutigen Tag die Geschichte des Christentums auch
eine Geschichte davon, dass dieses Gut verloren gegangen ist, es gelästert und entwertet wurde. Das hat damit zu tun, dass wir Menschen nicht mit diesem Gut auf die Welt kommen; zwar sind wir von Geburt an fähig zur Liebe aber eben genauso fähig zum Hass. Die wachsende Fähigkeit zur Liebe hat mit einem wachsenden Vertrauen zu tun, dass es eine gute Brust gibt, die mich am Leben erhalten will, mich nicht verhungern lässt, der Hass hat mit der Panik zu tun, dass diese gute Brust verschwunden ist, stattdessen eine böse Brust regiert, die mich verhungern lässt! Im Schreien der Säuglinge, das unter die Haut geht, ist diese Panik enthalten. Und so tragen wir alle in uns nicht nur das Vertrauen, dass uns jemand gut will, sondern eben auch das Misstrauen, dass uns jemand böse will. Und am Beginn unseres Lebens, wo wir noch sehr nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip fühlen und erleben, heißt böse wollen: jemand will mich vernichten. Und diese Panik, der andere vernichtet mich, wenn ich mich auf sein Anders-Sein einlasse ist es, die das Gut der Liebe immer wieder verloren gehen lässt. Von daher ist es verständlich, dass gerade auch die negativen Emotionen dort am Heftigsten sind, wo die Nähe zum Anderen groß ist.
Vielleicht kennen Sie das auch: bei mir fällt mir jedenfalls immer wieder auf, dass ich sehr tolerant mit den Schwächen von anderen umgehen kann, wenn ich in der Beobachterposition bin. Wenn aber meine Frau, mein Sohn, meine Tochter, … ich hüte mich an der Stelle etwas Konkretes zu sagen … jedenfalls sehr anders sind, als ich es mir gerade wünsche, dann ist das gar nicht so leicht auszuhalten. So war das auch in der jungen christlichen Gemeinde – in dem Glauben, dass es sich lohnt, diesem Jesus aus Nazareth zu vertrauen, ihm nachzufolgen, war man sich schwer einig. Er verband die Unterschiede, in der Gemeinschaft mit ihm fühlte man sich nahe und verbunden – und gerade wegen dieser Nähe und Verbundenheit nahm man Anstoß an dem Anders-Sein der Brüder und Schwestern.
Lassen Sie uns versuchen, uns in die Judenchristen- und Heidenchristen von damals einzufühlen – um ihre Situation dann auf die unsrige zu übertragen. Judenchristen wie Heidenchristen kämpften um ihre jeweilige Tradition: es ging um ihr Geworden-Sein, um ihre Identität. Die Judenchristen hatten eine andere Heimat, ein anderes Zuhause, ein anderes Aufwachsen als die Heidenchristen – und umgekehrt. Und jede Seite wollte an ihrer Identität festhalten. Das ist doch sehr verständlich. Das Gefühl meiner Identität gibt mir Sicherheit. Vielleicht kennen Sie auch die Freude – ich jedenfalls kenne sie gut – im Ausland, gerade wenn ich der dortigen Sprache nicht mächtig bin – einen Landsmann zu treffen. Wie schön! Jemand aus der Heimat! Man kann sich verständigen, weil man sprachlich und auch kulturell einen gemeinsamen Hintergrund hat. Welch ein warmes, angenehmes Gefühl! Aus der Angst, die eigene Kultur aufgeben zu müssen, aus der Panik heraus, der andere will von mir, dass ich mich ihm anpasse und dabei meine Identität verliere, hatten die Heiden- und Judenchristen ihren Konflikt.
Und in dieser Situation erinnert Paulus daran: was habt ihr denn so Angst – ihr habt doch eine neue Identität – die Identität des getauften Christen: „Nun lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir!“ Und wenn ihr in diesem Christus verbunden seid, dann seid Ihr viel elastischer – auch wenn die anderen rigide an ihrem festhalten – eure Identität steht doch gar nicht mehr auf dem Spiel, die anderen können euch doch gar nicht mehr vernichten! Das ist die neue Gerechtigkeit, die neue Freude und der neue Friede im Reich Gottes, die im Heiligen Geist und nicht in irgend einem menschlichen Geist erlebbar sind. Aber der Weg zu dieser neuen Identität führt über den Tod der alten Identität – „nun lebe nicht mehr Ich“, ein Tod der symbolisch in der Taufe stattfindet in Wirklichkeit aber ein lebenslanger Prozess ist. Deshalb ist es gut, dass Paulus noch hinzufügt: „So lasst uns nach dem streben, was dem Frieden und der gegenseitigen Erbauung dient.“ Mehr als sich Mühe geben, eben „streben“ geht nicht – aber weniger ist es auch nicht.
Danach streben, was dem Frieden und der gegenseitigen Erbauung dient!
Mir ist die Auseinandersetzung mit dem Text, die in diese Predigt, die sie gerade hören mündete, nicht leicht gefallen. Es gibt einen ziemlich fortgeschrittenen ersten Entwurf, in dem ich immer wieder in ein „gegen“ gekommen bin: gegen den Fundamentalismus, der sich selbst an die Stelle des Heiligen Geistes setzt, gegen die Beliebigkeit der Werte in unserer Gesellschaft gegen die Spass-Gesellschaft und so fort. Bis ich merkte, dass ich auch zu einem Heiden- oder Judenchristen geworden bin, der Veränderung anmahnt – statt zu verstehen. Gegenseitige Erbauung findet in gegenseitigem Verständnis statt. Verstehen kann ich den anderen aber erst, wenn ich nicht mehr gegen ihn bin, sondern mit ihm, wenn es mir gelingt, mich in ihn einzufühlen. Sich in den anderen einfühlen, ist leicht, wenn mir der andere ähnlich ist – ist schwer, vom Erleben her ein kleiner Tod des Eigenen, wenn es meine eigene Identität in Frage stellt. Der erste Impuls ist dann Abwendung statt Einfühlung.
Sie können das selbst testen: sie müssen sich nur vor Augen halten, wem Sie in dieser Woche am liebsten überhaupt nicht begegnen wollen oder mit wem Sie nichts zu tun haben wollen – und dann versuchen, diesem ein Gefühl von Verständnis entgegen zu bringen. Verständnis dafür, dass er oder sie oder es eben so ist, wie er/sie/es ist: der ungeliebte Lehrer, der provozierende Schüler, der nervige Kollege, der gehasste Vorgesetzte, die stumpfsinnige Bürokratie – aber auch das grausame Schicksal, die schwere Krankheit des geliebten Menschen, das abscheuliche Wetter, die viele Arbeit, die vor einem liegt. Oder einfach dieser Montagmorgen, wo das schöne, viel zu kurze Wochenende schon wieder vorbei ist.
Ich wünsche Ihnen und mir – dass wir im Alltag unseres Lebens unser Gut, das wir in Christus empfangen haben, nicht verlieren, sondern wachsen und reifen lassen. Auf dass die Macht des Zerstörerischen nicht das letzte Wort bekommt, sondern immer wieder und immer fester eingebunden und verwandelt wird in die Kraft der alles verstehenden Liebe – das verleihe Gott uns allen, AMEN.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus AMEN.