Die Dunkelheit des Vaters und das Licht des Sohnes und die verbindende Liebe des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.
Liebe Gemeinde,
wirkliche Veränderung hat mit dem Durchleben und Durchleiden von Gefühlen der Katastrophe, des Zusammenbruchs zu tun. Dies ist einer der Gründe dafür, dass wir Menschen uns ebenso sehr nach Veränderung sehnen, wie wir versuchen, sie mit aller Kraft zu vermeiden.
Diese nicht sehr erfreuliche Erkenntnis gilt für Gemeinschaften wie für Einzelpersonen. Ohne die „Katastrophe“ der französischen Revolution gäbe es in Europa wohl keine Demokratie. Ohne die „Katastrophe“ des 2. Weltkriegs hätte Deutschland nicht gelernt, demokratisches Denken zu verinnerlichen.
Auch im individuellen Leben sind oftmals die Katastrophen die Vorboten des Neuen.
Man sagt dann umgangssprachlich: „Das war jetzt ein Schuss vor den Bug!“
Unser heutiger Predigttext, das vorhin gehörte Evangelium, beginnt mit solchen Anzeichen einer (kosmischen) Katastrophe: „Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden Angst der Nationen in Ratlosigkeit bei dem Brausen und Wogen des Meeres, und die Menschen werden verschmachten vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen, denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen.“ (V. 25-26)
Liest man den Text in der heutigen Zeit, legt sich die Frage nahe: Gab es damals auch schon eine Klimakatastrophe? Verbunden mit ratlosen Völkern/Menschen?
Unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist es, dass es sich um zeitlos-menschliche, kollektive Fantasien handelt.
Ich denke in unserer Seele liegt eine Fülle ungemalter Bilder/Fantasien bereit. Das Erleben im Außen stimuliert diese Bilder. In Träumen werden sie gezeichnet. Unsere Seele reagiert auf äußere Bilder, versucht sie im Inneren zu verarbeiten, zu verdauen.
Das gilt für Gutes und Schönes ebenso wie für Katastrophales.
Unseren heutigen Predigttext könnte man als Vision des Weltuntergangs bezeichnen. „Apokalypse“. Auch diese Bilder liegen in der Seele von uns Menschen seit Jahrtausenden bereit. Es geht um Zusammenbruch und Zerstörung. Das moderne Wort, das wir hierfür gefunden haben, lautet: „Traumatisierung“.
Dieses Wort will ausdrücken, dass es eine Zerstörung seelischen Lebens gibt, die oftmals irreversibel ist. Irreversibel heißt auch, dass Hilfe nur sehr begrenzt möglich ist. Es gibt menschliche Seelenlandschaften, die derart verbrannt und verödet sind, dass nichts mehr wachsen kann.
„Die Hoffnung stirbt zuletzt“ heißt es. Das ist richtig. So gehört zu den Fantasien von Vernichtung und Zerstörung notwendig das Element der Rettung. Die Seele versucht, die im außen erlebte und nach innen gedrungene Zerstörung zu „heilen“. Zu dieser Heilung gehört die Sehnsucht nach einem Retter, einem Messias:
„Und dann werden sie den Sohn des Menschen kommen sehen in einer Wolke mit Macht und großer Herrlichkeit.“ (V. 27) Je vernichtender die Katastrophe, desto grandioser die Rettung. Und eine grandiose Rettung braucht einen grandiosen Retter. Von ihm hängt alles ab. Er darf nicht in Frage gestellt werden. Hier liegt übrigens der Grund für die Gewaltbereitschaft jener Religionen, die Rettung direkt mit einer Person verknüpfen. Eine Infragestellung dieser einen Person führt zu einer Infragestellung des ganzen Systems. Also muss die Infragestellung verhindert werden, notfalls durch Liquidierung des Fragestellers. Denn es geht ja weiter: „Wenn aber dies anfängt, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ (V. 28) Der Retter aus den Wolken – er ist die Erlösung derer, die an ihn glauben. Dies darf nicht weiter hinterfragt werden.
Ein wenig überraschend erscheint in diesem ganzen Szenario dann dieses kleine Gleichnis vom Feigenbaum: „Seht den Feigenbaum und alle Bäume an: wenn sie jetzt ausschlagen und ihr seht es, so wisst ihr selber, dass der Sommer nahe ist. So auch ihr: wenn ihr seht, dass dies alles geschieht, wisst ihr, dass das Reich Gottes nahe ist.“
Das ist wie ein kleiner, mildernder Einschub. Wenn die Bäume ausschlagen, wird es Frühling. Aber es ist noch etwas Anderes: der Feigenbaum verweist auf den Baum des Paradieses, auf dem Baum der Erkenntnis. Das Essen von ihm brachte den Tod in die Welt. Durch das Essen von ihm „erkannte Adam sein Weib“: es geschah Sexualität und damit begann die Geschichte vom Werden und Vergehen.
In der jüdischen Tradition ist Erlösung nichts anderes als die Eins-Werdung, die Rückkehr oder Zurück-Bewegung aus der Vielheit. Aus der Zerstreuung. In diesem Zusammenhang ist der nächste Satz zu verstehen: „Wahrlich ich sage euch, dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis es alles geschieht. Himmel und Erde vergehen, aber meine Worte nicht.“ (V. 32-33) Das Wort, die Sprache, die mentale Welt, die Welt des Geistes ist unzerstörbar. Indem der Baum der Erkenntnis sich nicht mehr vom Leben abwendet, – und der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis sind im Unterirdischen ein einziges Wurzelgeflecht, und Sünde bedeutet nicht mehr und nichts anderes, als dieses Wurzelgeflecht zu zerschneiden, zu spalten – wenn der Baum der Erkenntnis und der Baum des Lebens aufeinander bezogen und ineinander verwoben sind – dann geschieht Erlösung!
Hier können wir die tiefe Verwandtschaft zwischen dem jüdischen Denken und dem griechischen „Erkenne dich selbst“ entdecken.
Der Erlöser ist also aus den Wolken herunter zu holen. Herunter auf die Erde, auf unsere Erde. Rabbi Israel von Ruzhin hat das so gesagt: „Die gemeinen Leute glauben, dass der Messias in Gestalt eines Engels vom Himmel hernieder steigen werde. Die Wahrheit ist aber die, dass in jedem Geschlechte der Messias geboren wird. Es kommt nur darauf an, dass ihn die großen Männer (und Frauen) des Zeitalters erkennen und ihm zurufen: ‚Du bist unser Geist, unser Erlöser!‘ Dann wird Gottes Geist über ihn kommen und er wird der Erlöser Israels sein.“
In dieser Geschichte wird der Messias vermenschlicht. Er wird in jedem Geschlechte geboren. Es kommt nur darauf an, ihn zu erkennen, ihn anzuerkennen, und ihm zuzurufen: du bist unser Geist, unser Erlöser.
Ich glaube allerdings nicht, dass dies ein einzelner Mensch jemals sein kann. In jüngster Zeit hat sich Barak Obama für messianische Fantasien geeignet. Auch er musste erfahren und erleiden, wie schwer es ist, gesellschaftlich wirklich etwas zu verändern.
Der Messias ist ein „Geist“. Nicht im Sinne eines Gespenstes, sondern im Sinne einer Kraft. Ein „Geist der Erlösung“. Geist bedeutet auch: der Messias entzieht sich dem Festmachen im Materiellen. Er entzieht sich überhaupt dem Machen. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ – es ist auch nicht in dieser Welt machbar – und doch geschieht es. Wo? „Irgendwo dazwischen´- und jedenfalls anders als erwartet!“
Und weil das so ist, ist die beste Haltung für uns – die wir auf der Erde sind: Geduld. Reifen bedarf der Geduld. Entwicklung bedarf der Geduld. „Habt nun Geduld, Brüder!“ – ist die Botschaft des vorhin gehörten Briefes von Jakobus, und so gehört sie hierher.
Auch Lernen bedarf der Geduld.
Nur Zerstörung bedarf keiner Geduld. Ein Baum der in 200 Jahren gewachsen ist, kann in 20 Minuten gefällt werden. Zerstörung ist machbar! Wir können das! Zerstörung ist nachweisbar. Und sehr effizient. Zerstörung entspricht unserem Zeitgeist viel mehr als Warten, als Geduld-Haben, als Sich-Entwickeln-Lassen. Sie brauchen bloß in unsere Schulen zu gehen, und Sie wissen, wovon ich rede.
„Geduld haben“ heißt im Griechischen: makro-thymein: ein großes Gemüt, eine große Seele haben: Eine große Seele kann mehr in sich „halten“ als eine kleine. Sie muss nicht so schnell „überlaufen“ oder „hochkochen“ oder „auslaufen“. Eine „große“ Seele muss auch nicht immer etwas machen – sie hat gelernt besonnen zu handeln. Handeln ist etwas wesentlich Anderes, als mal das Eine mal das andere zu machen.
Wodurch wird eine Seele groß? Indem sie wachsen darf. Und seelisches Wachstum bedeutet an aller erster Stelle: sich selbst liebevoll kennenlernen dürfen. Zweimal zu unterstreichen ist liebevoll: denn meistens beschränkt sich unsere Kenntnis über uns selbst auf Vorwürfe, und „warum hast du nicht“, und „was warst du blöd“ usw. Und in diesem Wachsen-Dürfen löst sich der Druck, der Erwartungs-Druck, der uns niederdrückt. Unsere Häupter erheben sich, erhobenen Hauptes gehen wir unserer Wege. Und in alledem geschieht Erlösung, in alledem kommt der Messias nicht nur auf die Welt, er kommt hinein, in unser Leben, in unseren Alltag.
Das ist die unglaubliche Botschaft des heutigen Sonntags.
Und was ist mit den eingangs genannten Gefühlen der Katastrophe? Haben sich die jetzt in Wohlgefallen aufgelöst?
Noch einmal: es gibt Verwundungen und Verletzungen, die endgültig und nicht heilbar sind. Jedenfalls nicht heilbar in diesem einen Menschenleben.
Aber ein Zweites: es ist merkwürdigerweise so, dass es in uns Menschen einen heftigen Widerstand dagegen gibt, sich selbst liebevoll zu erkennen. Ich vermute, das hat mit den Scham- und Schuldgefühlen zu tun, die zu jeder ehrlichen Selbsterkenntnis unweigerlich dazu gehören. Und meistens haben wir von den Großen, von unseren Eltern und Lehrern auch vorgelebt bekommen, dass zu funktionieren viel wichtiger ist, als einfach da zu sein. Du musst lernen, damit etwas aus dir wird. Du darf nicht nachsichtig zu deinen Fehlern sein, sonst wirst du von den anderen überholt. Fang gar nicht erst an, dich in die Anderen einzufühlen – sonst wirst du über den Tisch gezogen. Und – was wir auch alle kennen: Wachstum ist schmerzhaft: das drückt das schöne deutsche Wort „Wachstumsschmerzen“ aus.
Wenn Sie mögen, können Sie sich in einer stillen Adventsminute einmal fragen: Wer bin ich eigentlich? Kenne ich mich wirklich? Verstehe ich mein Geworden-Sein? Sie können diese Fragen auch zu einem „Du“ hin stellen: Wie viel Einfühlung in den Anderen kann ich mir eigentlich leisten? Wie viel Verständnis für den Anderen bringe ich auf? Wie schnell werde ich ungeduldig? Lasse ich den Anderen überhaupt ausreden? Höre ich ihm zu? Habe ich die Kraft, bei ihm zu bleiben, oder geht es in meiner Antwort gleich wieder um mich?
Wie leicht fühle ich mich ausgebeutet? Und stimmen diese Gefühle auch? Oder sind das meine Vorstellungen und Erwartungen?
Sich ehrlich mit diesen Fragen zu beschäftigen erfordert Mut, Kraft und Geduld. Vielleicht gelingt sogar ein adventliches Gespräch mit ihrem Partner oder Ihrer Partnerin. Oder mit jemand Anderem, einem guten Freund. Wichtig ist die Atmosphäre solcher offenen Gespräche: dass ein Geist der Freundlichkeit und der Annahme weht – und nicht der schneidende Wind des Fehler-Aufzeigens, und was der Andere dringend ändern sollte. In der Anklage und im Vorwurf findet sich kein Messias. Darin findet sich nur mein Besser-Wissen – das den Messias ein weiteres Mal kreuzigt.
Gebe Gott, dass sich der Messias in unseren Alltag hinein ausbreite, dass wir ihm mit unserer Liebe und Geduld entgegen kommen können. Gebe Gott, dass so unsere Selbst- und Nächstenliebe wächst und wir in ihr uns immer sicherer und selbstverständlicher aufhalten dürfen, bis zu unserem seligen Ende AMEN.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN.