Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis (2004)

Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis (4.7.2004) in der Jakobuskirche Pullach über Römer 14,10-13

 

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

 

 

Liebe Gemeinde,

 

das ist ein merkwürdiger „Lastenausgleich“, der da von Paulus angemahnt wird: „Einer trage des anderen Last!“ Ein schlichtes Wort, das uns in dieser Woche begleiten will – aber: was bedeutet es? Der Zusammenhang ist klar: es geht um „Fehltritte“. Frei umschrieben meint Paulus in etwa: „In einer lebendigen christlichen Gemeinde werden die Fehler der einzelnen aufgefangen und gemeinsam getragen.“ Das kommt so leicht daher – ist aber ein radikal anderer Blickwinkel für menschliches Zusammenleben als damals und heute üblich. Der springende Punkt ist: es fehlt die Verurteilung! Üblich war damals in der griechischen Welt sich auf die Vernunft als die absolute, übergeordnete Instanz zu berufen. Was der Vernunft, dem Logos entsprach, hatte Geltung, alles andere wurde als unvernünftig – non-sense verurteilt. In der jüdischen Welt war die übergeordnete Instanz das Gesetz: wer es erfüllte, der  galt als gerecht, der Ungerechte war der „Sünder“, der aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurde – es sei denn er „tat Buße“. Paulus stellt in seinen Briefen beide Instanzen in Frage: der Weisheit der Welt stellt er die Weisheit Gottes gegenüber (Korintherbriefe) der Gerechtigkeit aus den Werken des Gesetzes stellt er die Gerechtigkeit aus dem „Sein in Christus“ gegenüber (Römer und Galaterbrief).

Und dem abwertenden Verurteilen oder gar Ausschließen stellt er die integrative Kraft der Liebe entgegen. So schreibt er in Röm 14, 10-13, unserem heutigen Predigttext:

 

 

Ein aufregender Text! Es geht schon los mit dem „Du aber…!“ Völlig unvermittelt, vorher war von Euch die Rede, von wir, von jeder muss usw. – und plötzlich leuchtet dieses existenzielle „du!“ auf

Ja Du – Du bist gemeint – hör auf dich in einem Kollektiv zu verstecken – es geht um dich und um deinen Umgang mit deinen Brüdern und Schwestern. Bruder und Schwester – das sind im engeren Sinne die Gemeindeglieder, im weiteren Sinne sind es die Zeitgenossen, Mitmenschen. „Hör’ auf, Deinen Mitmenschen zu richten!“ Krineo – wörtlich „unterscheiden“, dann richten, zu Gericht sitzen, beurteilen, verurteilen, der Übergang zu verachten ist fließend – so sagt Paulus auch: „oder, was verachtest du deinen Bruder?“ Exouteneo -verachten, die Vorsilbe ex- verweist auf das hinaus, das hinausstoßen, das Ex-Kommunizieren. Dagegen wendet sich Paulus. Und dann fährt er mit dem kollektiven „Wir“ fort: „wir werden alle vor dem Richterstuhl Gottes stehen.“ Vorsicht – dieser Satz darf nicht platt konkretistisch verstanden werden: „weil wir wissen, dass es ein zukünftiges Gericht Gottes gibt, deshalb verurteilen und verachten wir nicht.“ Paulus so mißverstanden öffnet die Türe genau für die Form des Richtens und Verachtens gegen die Paulus sich wendet. Dann wären plötzlich wir, die Getauften und Gerechtfertigten die Bessser-Wisser; aber das wäre nur ein Austausch absoluter Instanzen; statt griechischer Vernunft, statt jüdischem Gesetz der Gekreuzigte-Auferstandene als die letzte absolute Instanz. Es bliebe dasselbe Muster – es bliebe bei dem „von oben herab“ der Wissenden gegenüber den Unwissenden, es bliebe bei den Urteilenden gegenüber den zu Beurteilenden, es bliebe bei der Moral der Guten gegenüber den nicht so Guten.

Die frohe Botschaft, das Evangelium Jesus Christi aber ist kein weiterer Appell an irgend etwas … – davon gab und gibt es genug.

 

„Ich schäme mich des Evangeliums nicht; es ist ja eine Gotteskraft zum Heil für jeden, der glaubt…Wird doch in ihm Gottes Gerechtigkeit aus Glaube zu Glauben enthüllt…“ das ist das Leitthema der Paulinischen Theologie des Gerechtfertigten und deshalb freien Christenmenschen! Und das Gefäß, der Container für diesen radikalen Gedanken ist der Glaube, das Vertrauen auf einen im letzten unerkennbaren … Hier gehört das Wort „Gott“ hin – aber ich scheue mich, es zu verwenden – denn im kirchlichen Sprachspiel ist auch das Wort Gott gezähmt, domestiziert – „fromm“ geworden. Und steht in der Gefahr, den Gemeinten, den Bedeuteten – eben den unverfügbaren Gott – zu verwässern, zu vergewissern zu versichern.

 

Wo Gott ist, ist keine Sicherheit sondern Unsicherheit – Gott beginnt da, wo das Gewohnte, Vertraute aufhört. Dieses Ende und diesen radikalen Neuanfang hat Paulus erlebt – in seinem Damaskus – in seiner Wandlung vom Verfolger der frühen Christen zu deren leidenschaftlichen Verteidiger und Befürworter.–

 

Und jetzt? Was heißt das alles hier für uns? Hier – und heute?

 

Ich möchte Ihnen eine Begebenheit erzählen, die ich vor kurzem erlebte und die mir sofort einfiel, als ich unseren Predigttext zum ersten Mal las: „es war ein schöner Nachmittag; ich war mit dem Fahrrad unterwegs, zusammen mit meiner 5jährigen Tochter und ihrer gleichaltrigen Freundin. Beide hatten vor kurzem Radfahren gelernt, und waren stolze, wenn auch noch etwas unsichere neue Verkehrsteilnehmer. Sie fuhren auf dem Bürgersteig und ich neben ihnen auf der Strasse. Ein besonderes Abenteuer sind immer die Seitenstrassen, die es zu überqueren gilt – und wenn die „anderen“ auch noch die Vorfahrt haben. Wir kamen also an so eine Stelle und mussten bremsen, weil ein mächtiger schwarzer Sportwagen von rechts kam. Natürlich – er hatte die Vorfahrt. Nur – die wollte er gar nicht wahrnehmen – sondern er parkte – direkt vor unserer Nase im absoluten Halteverbot. Für uns bedeutete das: Absteigen, um den Wagen herum die Fahrräder schieben und wieder aufsteigen. Das ist alles etwas mühsam und mein Blutdruck begann zu steigen. Als ich dann noch den Fahrer des Wagens sah, ein sonnenbebrillter in teures dunkles Tuch gehüllter junger Mann, der wippenden Schrittes seines Weges ging als wäre er allein auf der Welt… kochte es in mir. Nachdem wir es geschafft hatten, den Bürgersteig zu erreichen fuhren die Mädchen langsam mit ihren kleinen Rädern weiter und ich ebenso langsam hinterher. Wir überholten den Sportwagenfahrer und es zischte aus mir heraus: „Wirklich toll geparkt!“ Darauf bekam ich zur Antwort: „Es ist wohl ein größeres Vergehen, mit dem Fahrrad auf dem Bürgersteig zu Fahren, als da zu  parken.“ Darauf ich, völlig verdattert irgendwie dagegen argumentierend. Als er zur Bank abbog versuche ich es noch mit: „Nur nicht sich von anderen erreichen lassen!“ Aber er hat es wohl nicht mehr gehört.“

 

Warum erzähle ich Ihnen diese wenig erfreuliche Geschichte?

 

Erstens um Ihnen zu sagen, dass ich es nicht leicht finde, wirklich christlich im paulinischen Sinne zu leben.

Zweitens, weil ich der Überzeugung bin, dass das, was Paulus erlebt hat, und wovon er so leuchtend schreibt, kein Zustand ist, den man irgend wann einmal „besitzt“, sondern ein beständiges Ringen um ein Geschehen, dem man sich mal mehr mal weniger annähern kann. Es gibt kein jenseits des „zugleich Sünder und Gerechtfertigt-Seins“. Aber in dem Annehmen dieses Geschehens kann sich tiefe Zufriedenheit ereignen.

Drittens glaube ich eignet sich die Geschichte ganz gut zur Veranschaulichung unseres Textes.

Was ist passiert? Jemand tut etwas Unrechtes. Keine Frage, der Fahrer parkte seinen Wagen im absoluten Halteverbot. Man könnte also die Polizei rufen. Wäre das im Sinne des Paulus? Ich glaube nicht. Es wäre noch einmal mit einer größeren Macht operiert. Das mag manchmal in Welt nötig sein – ich hätte dann die Genugtuung bekommen, dass der andere bestraft wird – ein zweifelhafter Gewinn. Ist mein Ärger im Sinne des Paulus? Schwer zu sagen, aber Paulus kann auch sehr impulsiv schreiben und verbirgt seinen Ärger nicht. Ich glaube, sich in einer Situation, in der man sich „überfahren“ fühlt zu ärgern ist völlig menschlich und angemessen. Die Frage ist, wie es dann weiter geht. Und darauf gibt Paulus eine verblüffende Antwort. Er sagt: Du tust Dir selbst nichts Gutes, wenn Du Dich aus Ärger über Deinen Mitmenschen stellst! Denn „jeder von uns muss über sich selbst Gott Rechenschaft geben!“ Das ist der Dreh- und Angelpunkt. Übersetzt heißt das nämlich: Vor Gott, vor dieser Instanz „extra nos“ – die etwas mit Gewissen zu tun hat, aber weit darüber hinaus geht – gibt es kein Entrinnen. Als ich mich an diesen Gott wandte, weil ich mein Verhalten alles andere als toll fand, aber auch das Unrecht, das mir doch widerfahren war, nicht einfach wegwischen wollte, entstand in mir folgender Dialog: eine Stimme, freundlich aber sehr deutlich sagte zu mir: „Du kannst niemand dazu zwingen, dich zu sehen oder gar sich in deine Bedürfnisse einzufühlen. Der Autofahrer wusste selbst auch ganz genau, dass er sich ins absolute Halteverbot stellte. In dem du ihm daraus noch einmal einen Vorwurf machst, bleibt ihm nichts anderes mehr übrig als sich zu verteidigen. Und manchmal ist Angriff die beste Verteidigung – und so hat er dich auf dein eigenes Vergehen aufmerksam gemacht!“ Okay. Das leuchtet ein. Ja – und – weiter will ich sagen. Da  scheint mir die Stimme ein wenig zu lächeln, indem sie fort fährt: „Kann es sein, dass du auch deshalb dich so geärgert hast, weil du ganz im Inneren – du würdest es nie zugeben – auch ein kleines bisschen diesen Mann um sein schickes Auto beneidet hast. – Und dann geht er auch noch zur  Bank! Und du sitzt auf Deinem Fahrrad und begleitest zwei kleine Mädchen! Vielleicht bist Du kurzfristig einem Klischee von Männlichkeit aufgesessen, demgegenüber Du Dich etwas  – minderwertig fühltest?“

 

Aha. Soll ich das glauben? Mein Ärger über den „Fehltritt“ meines Mitmenschen hätte dann mit meiner eigenen Bedürftigkeit zu tun! Theoretisch kenne ich ja diese Zusammenhänge. Sie sind das tägliche Brot einer Therapiestunde. Wer sich selbst minderwertig, in der schwachen Position fühlt, fängt an zu beneiden. Neid aber ist die Ursache des Hasses; aus ihm entspringt dann, sich über den anderen zu stellen, ihn zu richten und zu verachten. Sich seinen eigenen Neidgefühlen anzunähern, ist aber deshalb so schwierig, weil es beschämend ist. Und Scham ist ein ekelhaftes Gefühl, das sich wehrt, offenbar zu werden. „In den Boden versinken wollen vor Scham“ – d.h. ja nichts anderes als weg damit – dieses Gefühl halte ich nicht aus. Wenn Paulus schreibt, ich schäme mich nicht des Evangeliums – weiß er, wovon er spricht – er, der Christenhasser und –verfolger, der sich dieser ganz neuen emotionalen Erfahrung vor Damaskus gestellt hat, sich von ihr hat überwältigen lassen, er hat verstanden, weil er es erlebt hat, dass wer in Christus ist, ist eine neue Kreatur. Neid, Scham Hass alle diese dunklen unangenehmen Gefühle, mit denen wir nichts zu tun haben  wollen –  die haben jetzt einen Platz gefunden – in Christus, dem Gehassten, dem Beschämten, den Verspotteten. Der in Christus offenbare Gott liebe Gemeinde, ist kein Sonntagsgott – er ist ein Alltagsgott, alltäglich zu gebrauchen, um über das Erlebte Rechenschaft abzulegen, zu re-flektieren und daraus neue Kraft zu schöpfen. Denn alles, was einen Platz findet, muss nicht mehr frei herumirren. Es muss nicht mehr verfolgen. Der von Neid und Hass verfolgte Mensch hat sich seinen Verfolgern noch nicht zugewandt, ist ihnen noch nicht angemessen begegnet. Um dieser Begegnung standzuhalten, bedarf es des Vertrauens auf eine Instanz, die nicht von dieser Welt ist. Dies aber ist Gott. Gott eignet sich nicht als verlängerter Arm irgendeiner weltlichen Instanz! Als solcher verkümmert Gott zu einem Götzen, der mir sein Urteil, sei es moralischer, sei es logischer Art aufzwingen möchte.

 

Gott lässt frei – weil er die Liebe ist – wie Paulus nicht müde wird zu sagen. Und vor der Liebe – der in Christus offenbar gewordenen Liebe – muss sich keiner schämen, auch nicht und gerade nicht seiner Schattenseiten. Die Liebe beschämt nicht, sie bleibt freundlich – aber sie ist auch ganz klar. Sie verschleiert nicht, sondern deckt liebevoll auf. Die Liebe aber ist nichts anderes als die Fähigkeit, sich in sich selbst und in den anderen einfühlen zu können, Fürsorge für das eigene und das anvertrautes Leben zu tragen. Auf diesem Hintergrund ist der letzte Satz unseres Textes zu verstehen: Statt unsere Mitmenschen zu richten, sollen wir darauf achten, den anderen keinen Anstoß zum Ärger zu geben. Je tiefer ich für meinen Mitmenschen – auch wenn er sich mir in den Weg stellt, auch wenn er mich beeinträchtigt – Achtung empfinden kann, desto elastischer werde ich auch in schwierigen Situationen bleiben. Dieses in der Achtung für den anderen bleiben heißt für mich: einer trage des anderen Last! Den anderen achten geht aber nur, wenn ich mich selbst achte, und mich selbst achten geht wiederum nur, wenn ich mein Leben in Gott, in jenem dritten Punkt außerhalb verankere – und von ihm her immer wieder aufs Neue reflektiere. Verankert sein in Gott, das heißt mit Paulus: „Leben wir, so leben wir dem Herrn. Sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir also leben oder sterben – wir sind des Herrn.“ Dieser Satz steht übrigens unmittelbar vor unserem Predigttext.

 

Liebe Gemeinde,

 

ich habe versucht, Ihnen anhand eines persönlichen Erlebnisses zu veranschaulichen, wie ich das „vor Gott Rechenschaft ablegen“ verstehe.

Im Verlauf dieses Geschehens haben sich folgende Gedanken herausgebildet, die ich noch einmal zusammenfassen möchte:

1.     Einsicht, Einfühlung, Rücksicht etc. lässt sich nicht erzwingen. Über Zwang, Macht, Gewalt kann man oberflächliche Verhaltensänderung erreichen. Neue Einstellungen, verwandeltes Erleben lässt sich nicht erzwingen. Dies gilt auch für die Politik: alltäglich sind wir Zeugen davon, dass sich Frieden und Demokratie nicht erzwingen lassen.

2.     Gefühle wie  Neid, Wut, Trauer, Empörung, Angst gehören zum Leben dazu. Sie lassen sich nicht weg-glauben und nicht weg-therapieren. Dies gilt auch für das Erleben von Endlichkeit, Krankheit und Tod.

3.     Aber (!) – Verwandlung ist möglich! Verwandlung ist die Alternative zu verachten und ausscheiden. Verwandlung geschieht auf dem Weg des „vor Gott Rechenschaft Abgebens.“ Allerdings bedarf es des Mutes, sich dem Schmerz der ehrlichen Auseinandersetzung mit sich selbst zu stellen und den eigenen Schattenseiten zu begegnen. Wahrheit ist die Milch der Seele. Diese Milch nährt  und führt zu der unglaublich frohen Botschaft:

Es gibt die Möglichkeit der Wandlung, der Verwandlung von Hass in Liebe, von Angst in Sicherheit, von Misstrauen in Vertrauen, von Neid in Dankbarkeit. Oder – noch einmal mit Paulus: nun lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir – mein Ich ist hineinverwandelt und hineingestaltet in Christus. Und umgekehrt: der historische Jesus der Geschichte ist transformiert in den Christus des Glaubens. Äußere Welt ist zu innerer Welt geworden: Seele wächst und gedeiht. Oder, in der wunderschönen Poesie Paul Gerhardts:

„Mach in mir deinem Geiste Raum, dass ich dir werd ein guter Baum und lass mich Wurzel treiben.“ AMEN.

 

Und die Liebe Gottes, die höher ist als all unser menschliches Verstehen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus AMEN.

 

 

 

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