Predigt über Jeremia 9, 22-23 am Sonntag Septuagesimä 2012
„Wer sich rühmen will, rühme sich des Herrn!“
Von Lothar Malkwitz
Liebe Gemeinde,
ich weiß nicht, wie es Ihnen mit dem bislang Gehörtem geht; bei mir löst es jedenfalls ganz schön heftige Gefühle aus.
„Wir liegen vor DIR mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf DEINE große Barmherzigkeit“ (Dan. 9,18)
Wann liegen wir vor Gott mit unserem Gebet? Vor Gott im Gebet liegen: das ist das Bild des Untertanen, der sich vor seinem König in den Staub wirft. Es bedeutet, sich IHM, seinem Willen voll und ganz hinzugeben, sich IHM zu unterwerfen. Sind wir nicht freie, mündige Bürger, mit Vernunft begabt. Vor wem sollten wir uns niederwefen? Das war einmal – zu Zeiten absolutistischer Herrscher, aber heute?
Und wenn wir beten, sagen wir dann nicht: lieber Gott, mach, dass es so und so wird. So und so, wie wir es uns wünschen. So und so, wie wir es als gerecht empfinden. „… und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit…“ eigentlich hätten wir ja angesichts der Ungerechtigkeiten auf dieser Welt, angesichts unseres Unvermögens, eine gerechte Weltwirtschaftsordnung zu verwirklichen allen Grund, nicht auf unsere Gerechtigkeit zu vertrauen. Aber natürlich haben wir unser Rechtsempfinden mit dem wir die Zeitung lesen, unsere Kinder erziehen, Einkaufen, Auto fahren usw. Was soll das heißen, wir vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf „DEINE große Barmherzigkeit“?
Die Arbeiter im Weinberg: natürlich sind diejenigen ärgerlich, enttäuscht, die den ganzen Tag für ihren Groschen gearbeitet haben und am Ende dasselbe bekommen wie die, die nur eine Stunde gearbeitet haben. Das ist doch zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit! Wird hier nicht wiederum einem absolutistischen und auch noch willkürlichen Machthaber das Wort geredet?
Auf der anderen Seite: Der Besitzer des Weinberges hat ja Recht, wenn er sagt, dass er sich durchaus an seine Vereinbarung hält. Die Provokation entsteht erst dadurch, dass die ersten Arbeiter sich verständlicherweise mit den Hinzugekommenen vergleichen. Und dass sie dann eben „auch mehr haben wollen“. Schließlich haben sie auch länger gearbeitet.
„Auch haben…!“: ein kurzer Appell, den schon recht kleine Kinder beherrschen.
Es ist die „Will-auch-Haben“-Gerechtigkeit, die es als ungerecht empfindet, dass der andere etwas hat, was ich nicht habe, oder etwas bekommt, was ich nicht bekommen habe. (Dies ist meines Erachtens der tiefere emotionale Grund dafür, dass das Zölibat nicht abgeschafft wird: es müsste ja von denen abgeschafft werden, die sich selbst mehr oder weniger damit abgequält haben.)
Oft besteht der Wert des „Auch-Haben-Dinges“ nur darin, dass ihn der andere hat – und nicht ich. In dem Moment, wo ich ihn habe, verschwindet mein Interesse. Die Werbung versteht es geschickt, unsere Bedürfnisse genau an dieser Stelle zu manipulieren.
Die „Will-auch-haben-Gerechtigkeit“ lebt vom Vergleich. Und hier liegt die Provokation unserer heutigen Texte: sie stellen nicht Gerechtigkeit an sich, sondern unsere „Will-auch-haben-Gerechtigkeit“ massiv in Frage! Sie brüskieren unser Vergleichen und unser Gleich-Machen. Sie weisen uns zurück, in des Wortes doppelter Bedeutung: sie weisen unsere Sehnsucht nach dem Vergleich zurück und sie (ver-)weisen uns zurück auf IHN.
Der Prophet Jeremia drückt das so aus:
So hat ER gesprochen:
Nimmer rühme sich der Weise seiner Weisheit,
nimmer rühme sich der Held seines Heldenmuts,
nimmer rühme sich der Reiche seines Reichtums,
sondern dessen rühme sich, wer sich rühmt:
zu begreifen
und mich zu erkennen,
dass ICH es bin,
der Huld, Recht und Wahrhaftigkeit macht auf Erden.
Ja, an solchem habe ich Gefallen,
spricht ER. (Jeremia 9,22-23, unser heutiger Predigttext)
Vielleicht denken Sie sich jetzt: was hat denn das Sich-Rühmen mit der „Das- will-ich-auch-haben-Gerechtigkeit“ zu tun?
Die Klammer zwischen beidem ist ein ziemlich ursprüngliches und ziemlich unangenehmes Gefühl, über das man eher nicht spricht: die Klammer ist der Neid.
Der, der sich rühmt, erzeugt Neid im Anderen („gell, da schaust du, ich hab’ was, kann was, was du nicht hast/kannst“) – der, der „es auch haben will“, erlebt Neid auf den Anderen. Wobei das Sich-Rühmen subtil ist: keiner stellt sich hin, klopft sich auf die Schultern und sagt, „schaut mal, was ich Tolles habe!“ Es ist ein gesellschaftliches Agreement, was toll ist: es sind die Marken, die Namen, der Status und die damit verbundenen Fantasien, die das „Tolle“ erzeugen. Ein So-und-so-Auto fahren, ein Einfamilienhaus besitzen, einen tollen Urlaub machen, einen Titel haben, ein wichtiges Amt ausüben, ein Star sein…
„Auch haben…“
Und so entsteht eine Beziehung, die von Neid durchtränkt, die durch Neid vergiftet ist. Eine Steigerung des Giftes ist es, nicht nur „es auch haben zu wollen“, sondern auch so sein zu wollen, wie der andere, sich an die Stelle des Anderen zu setzen:
„Ihr werdet sein wie Gott…“ mit dieser Verführung fing alles an.
Es ist die Sehn-Sucht nach „mit dem anderen gleich sein“, die zu der Sucht führt, sich selbst an die Stelle des Anderen zu setzen. Der dahinter liegende Gedanke ist einfach: wenn ich den anderen ersetze, dann bin ich endlich der Bestimmer, der Mächtige, der das Ohnmächtig-sein nicht länger ertragen muss. Ohnmächtig-sein wird nämlich als gedemütigt-sein erlebt.
Hätten Adam und Eva der Schlange antworten können: „wir wollen gar nicht so sein, wie Gott – Gott ist Gott und wir sind wir und wir leben in einer guten Beziehung zusammen…“ es wäre uns Vieles erspart geblieben. Das Problem ist: Adam und Eva haben sich (zurecht) so willkürlich klein gemacht gefühlt, nicht vom Baum der Erkenntnis essen zu dürfen. Die Verführung des „ihr werdet sein wie, ich setze mich an die Stelle des Anderen“ greift an bei den Gefühlen des klein gehalten Werdens.
Könnten die Arbeiter im Weinberg sagen: wir werden nach unserer Abmachung bezahlt und wenn der Herr des Weinberges so großzügig ist, den später Hinzugekommenen dasselbe wie uns zu geben: wie schön! Dann freuen wir uns mit den Anderen mit! – und schon wäre das Problem erledigt. Dies geht aber nur, wenn ich an dem, was ich bekomme, mich sättigen kann. Wenn es mich befriedet!
Die Frage ist, ob ich es mir materiell und emotional leisten kann, statt neidisch großzügig zu sein. Auch materiell: es ist Zynismus, vom Harz-IV-Empfänger zu erwarten, er solle großzügig sein, sich am Wohlstand der Reichen erfreuen – und nicht schwarz arbeiten, weil das den Staat schädige. Die Großzügigkeit sollte von den Reichen ausgehen – die Großzügigkeit könnte von uns ausgehen.
Wer aber in der Welt des Neides gefangen ist, der ist – auch bei äußerlichem Reichtum – in (innerer) Wahrheit ein ziemlich armer Wicht: er hat nichts herzugeben, er muss an sich raffen, was er nur gerade kriegen kann, er ist getrieben nach mehr und mehr …
Und so wird verständlich, was von außen betrachtet unverständlich erscheint: dass materieller Reichtum nicht vor einem gefühlten „Am-Verhungern-Sein“ schützt. Dies ist ein innerer, ein emotionaler Hunger: die neidische Seele ist eine Seele, die panische Angst vor dem Verhungern hat: und in ihrer Panik glaubt sie, sie muss alles und ohne Grenzen von Moral und Anstand zu sich nehmen, was es nur gibt: jede Möglichkeit nach Anerkennung, nach Ruhm, nach Macht, nach Einfluss und natürlich nach Materiellem. In ihrer Panik merkt sie nicht, dass dies alles äußere Dinge sind, die sich für Vieles eignen, aber nicht dafür, satt zu werden. Und so sucht sie immer weiter, wird immer getriebener, immer verzweifelter, immer gieriger…
Aus diesem Hamsterrad von Neid, innerer Getriebenheit und Gier kann sich niemand selbst befreien. Es bedarf eines Anderen, eines, der draußen steht (extra nos), auf festem Boden, eines, der sich nicht mitdreht. Es bedarf des Erkennens, „dass ICH es bin, der Huld, Recht und Wahrhaftigkeit macht auf Erden“, wie der Prophet Jeremia sagt.
Aber wie soll die hungrige Seele dort hinkommen : die im Hamsterrad gefangene Seele – zu IHM, der Huld, Recht und Wahrhaftigkeit macht auf Erden.
An der Stelle sind sich die großen Denker des Glaubens alle einig:
Allein durch Glaube!
Allein durch Gnade!
Aber wie kann der Glaube, wie kann die Gnade in das Hamsterrad hinein finden?
Oder anders: Wie kann dem Hamster bewusst werden, dass er selbst, und nur er selbst es ist, der das Rad am Laufen erhält?
Zunächst einmal überhaupt nicht.
Solange der Hamster läuft, solange „es läuft“, gibt es keine Chance. Erst wenn „es“ nicht mehr so läuft, wenn eine unerwartete Krankheit sich ereignet, eine Trennung, eine Kündigung, ein Todesfall, entstehen Chancen. Es bedarf einer kleineren bis mittleren Katastrophe, wenn sich etwas ändern soll. Bis dahin „läuft“ alles wie gewohnt. Das gilt für die individuelle Geschichte wie für Geschichte der Menschheit: alle Änderungen sind erzwungene, üblicherweise durch Krieg oder Revolution.
Individuell heißt das: ohne starkes Leiden an dem, wie es ist, gibt es nichts Neues. Wobei: nicht wenige Menschen kommen in die Sprechstunde des Therapeuten mit der Bitte: es soll wieder so laufen wie früher. Ihnen ist völlig unbewusst, dass eben das Frühere sie dorthin gebracht hat, wo sie jetzt sind.
Erschwerend kommt hinzu, dass Glaube und Gnade zwar etwas sehr Schönes sind, aber das Leiden auf die Schnelle nicht wegnehmen können. Sie sind keine Betäubungsmittel. Mit Betäubungsmittel meine ich nicht nur Tabletten – auch das sich Zu-Dröhnen mit Arbeit, mit Terminen, mit Aktivitäten kann wirksam betäuben. Nur nicht „inne halten“, nur nicht zur Ruhe kommen, nur nicht sich besinnen: das ist gefährlich. Das Strampeln im Hamsterrad ist selbst ein recht wirksames Betäubungsmittel.
Die Stille ist Gottes Schwäche und Stärke zugleich: in ihr kann der Glaube entstehen, in ihr kann die Gnade wirken, in ihr hören wir auf, um etwas zu bitten, in ihr ergeben wir uns in Gottes Willen, in ihr liegen wir Gott zu Füßen im Gebet und vertrauen auf seine Barmherzigkeit. Aber die Stille will ausgehalten sein. Wer in die Stille kommt, der hat alles, was er machen kann, aus der Hand gegeben. In diesem Loslassen sind Gefühle schwerer Enttäuschung zu durchleiden. Mein Stolz will nicht zugeben, wie sehr ich mich in meinem Hamsterrad getäuscht habe. Wie sehr ich mich täuschte, in der Überzeugung, ich hätte etwas im Griff. Wie sehr ich mich täuschte in der Idee, die Lösung meiner Ohnmacht wäre, ich muss selbst (all-)mächtig werden, autark und unabhängig von allem, auf nichts und niemand angewiesen. Wie sehr ich mich täuschte in der Idee, ich könnte mich und andere retten, oder auch nur bewahren vor dem, wie es wirklich ist. „Wer immer strebend sich bemüht…“: welch’ eine Täuschung. Ohn-mächtig, ohne Macht bin ich vor IHM, ergebe mich vor dem, wie es gerade ist, und erleide aufs Neue meine alten Ohnmachtsgefühle. Das kann ich nur im Vertrauen darauf, dass meine Ohnmacht nicht von neuem ausgenützt wird, dass SEINE Macht SEINE Barmherzigkeit ist. („SO spricht der HERR: Ich habe kein Gefallen am Tod des Gottlosen, sondern dass sich der Gottlose bekehre von seinem Wesen und lebe.“ (Hes. 33,11).In diesem Vertrauen führt der steinige Kreuzweg über das Kreuz hinaus mitten hinein ins Leben des Reiches Gottes. Und im Reich Gottes ist anerkannt, dass ER es ist, der Huld, und Recht und Wahrhaftigkeit macht auf Erden.
In dieser Anerkenntnis der Hoheit Gottes – und nicht der Hoheit eines anderen Menschen – wird meine Seele lebendig, wird zufrieden und satt, mein Jammern und Klagen findet ein Ende, mein Neid auf die Anderen und das, was sie haben, löst sich auf. Nur dass dies alles kein Besitz ist, sondern ein unendlicher, unverfügbarer, ewiger Weg der Anerkenntnis meines Seins, meines Geworden-Seins, meines In-Beziehung-Seins mit dem Lebendigen, mit Gott, dessen Barmherzigkeit keine Grenzen kennt. Und wer sich dann immer noch rühmen will, der rühme sich dessen, dass er teilnehmen darf am unbegreiflichen Geheimnis des Lebens, AMEN.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unser menschliches Streben und Bemühen, bewahre unser Herz und unsere Sinne in Christus Jesus, AMEN.