Predigt über Johannes12, 34-36

Predigt über Johannes 12, 34-36 in der Apostelkirche in Solln am letzten Sonntag nach Epiphanias 2013 (20. 01. 13)

Liebe Gemeinde,

in dem noch jungen Neuen Jahr erleben wir – liturgisch – bereits den ersten Abschied: in unserem Gottesdienst zum letzten Sonntag nach Epiphanias nehmen wir Abschied von der Weihnachtszeit, die nach der Epiphania, der „Erscheinung“ Gottes als Mensch benannt ist. Epiphania – das griechische „phaino“ (deutsch: „Phänomen“) ist die Wurzel – es bedeutet „erscheinen lassen“, „sichtbar werden“, „leuchten“. Das Er-Scheinen des Lichtes ist das Zentrum der Epiphaniassonntage.

„Im Anfang war das Wort“, heißt es im Johannesevangelium, und weiter: „in ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis … und die Finsternis hat es nicht erfasst“ (Joh 1,4-5) Die Finsternis kann es auch gar nicht erfassen. Wie sollte das gehen? Licht lässt sich nicht fassen, nicht halten, nicht in Besitz nehmen! Licht ist flüchtig, ihm fehlt die Trägheit der Materie, die Bodenständigkeit.

Ich kann mich noch gut erinnern, als kleines Kind, wie es mir unendlich wichtig gewesen ist, nicht im Dunkeln einschlafen zu müssen. Ich wollte das Licht „behalten“. Meine Kinderzimmertür musste wenigstens einen Spalt breit offen stehen, und durch diesen Spalt schien ein von dem Licht im Flur, das unbedingt brennen musste. Und dieser – wenngleich schwache – Lichtschein beruhigte mich. Als ich dann einmal mitten in der Nacht aufwachte, musste ich mit Entsetzen feststellen, dass das Licht verschwunden war. Stattdessen sah ich sich bewegende Schatten, die mir ziemlich Angst machten. Wie gebannt sah ich diesen dunklen Gestalten zu, versuchte ihnen Formen zu geben, sie zu erkennen, hatte Angst, dass es Gespenster sind, oder Tiere – und konnte nicht denken, dass es die vom Wind bewegten Zweige eines Baumes waren, deren Schattenspiel durch das Licht einer Straßenlaterne entstand und sich an meiner Kinderzimmertüre abbildete. Ich vermute, viele von uns könnten solche Gruselgeschichten aus ihrer Kindheit erzählen, Geschichten, die von der Unheimlichkeit der Dunkelheit handeln. So ist es verständlich, dass wir versuchen, die Dunkelheit abzuschaffen, das Licht festzuhalten. In unseren Städten sind wir ja auch schon recht erfolgreich darin, die Nacht zum Tag zu machen. Wenn man sich überlegt, wie dunkel es auf dieser Erde vor der Erfindung der Elektrizität gewesen sein muss!

Auf der anderen Seite: meine schaurig-grußeligen Gefühle verdanke ich der Dunkelheit. Es gibt ein langweiliges, steriles Licht, dem die Lebendigkeit fehlt. Das Licht in Einkaufszentren oder Parkhäusern zum Beispiel. In diesem Licht ist kein Leben, sondern fade schimmernde Langeweile.

Und dann gibt es noch eine ganz andere Idee. Sie klingt an in dem Wochenspruch: „Steh auf und werde licht! Denn dein Licht ist gekommen und die Herrlichkeit des Herrn ist über dir aufgegangen“ (Jesaja 60,1-2). Hier geht es erstens um ein Licht, das sich physikalischer Messbarkeit entzieht. Und zweitens um ein Licht, das nicht mehr „draußen“ ist. Du selbst „werde licht!“ „Die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir.“ Freilich – dieses „du“ bei Jesaja ist kein einzelner Mensch, sondern es ist gerichtet an eine Stadt: Jerusalem, die zerstörte Stadt Gottes, soll in neuem Licht, im Lichtglanz seines Gottes selbst erstrahlen.

Auf einen einzelnen Menschen wird dieses Wort erst im christlichen Kontext bezogen, und hier wiederum im Besonderen im Johannesevangelium. Und aus ihm ist auch unser heutiger Predigttext.

Johannes erzählt eine merkwürdige Begebenheit: Es ist die Zeit vor dem Passahfest, Jesus ist mit seinen Jüngern nach Jerusalem gekommen, die Menge hat ihm zugerufen, mit Palmenzweigen applaudiert. Da bitten ein paar griechische Männer seinen Jünger Philippus, er möge einen Kontakt mit Jesus herstellen. Philippus bespricht sich kurz mit Andreas und dann kommt es zu der Begegnung. Jesus aber wartet keine Frage ab, sondern verweist auf sein Sterben: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirb, bleibt es allein; fällt es aber in die Erde, bringt es viel Frucht … Wenn ich erhöht werde von der Erde, will ich viele mit mir ziehen.“ Das wiederum hören jüdische Männer, und die wollen es genauer wissen:

„Da antwortete ihm das Volk: Wir haben aus dem Gesetz gehört, dass der Christus in Ewigkeit bleibt; wieso sagst du dann: der Menschensohn muss erhöht werden? Wer ist dieser Menschensohn?“

Jesus hatte der geläufigen Messias-Erwartung, derzufolge der Messias/Christus, wenn er auf die Erde kommt, „in Ewigkeit bleibt“ – und nicht mehr verschwindet, widersprochen. Wenn der „Menschensohn“ „erhöht“ werden soll, dann kann das nicht der erwartete Christus sein. Wer also ist er dann?

Jesus antwortet in guter rabbinischer Tradition, nämlich indirekt. Er greift – und deshalb gehört dieser Text zu den Epiphaniassonntagen – auf die Metapher des Lichtes zurück.

„Da sprach Jesus zu ihnen: Es ist das Licht noch eine kleine Weile bei euch. Wandelt, solange ihr das Licht habt, damit euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hin geht. Glaubt an das Licht, solange ihr’s habt, damit ihr Kinder des Lichts werdet.
Das redete Jesus und ging weg und verbarg sich vor ihnen.“

Das „Volk“ vertritt die Anschauung der herkömmlichen Lehre: „wir haben aus dem Gesetz gehört.“ Das „Gesetz“ ist das was, was Gültigkeit hat. Es gibt uns Orientierung und Struktur und die damit verbundene Klarheit. Das Gesetz „scheidet“: Richtiges von Falschem, Gutes von Bösem. Mit dieser Scheidung kommen die „Ur-Teile“ auf die Welt: bitte beachten Sie, wie im Wortlaut „Ur-Teil“ enthalten ist, was ausgesagt werden soll: es sind „Teile“, also Produkte von „Scheidungen“. Es sind erste Scheidungen: „Ur“-Scheidungen. Eine der ersten Scheidungen geschieht in Genesis 1 als die trennende Scheidung von Dunkelheit und Licht: „Und Gott schied das Licht von der Dunkelheit“ (Gen 1, 4b). Solche Scheidungen sind lebensnotwendig – sie schaffen „Ordnung“ im „Durcheinander“ (Tohuwabohu) des Erlebens „vor der Schöpfung“. Aber sie schaffen nicht nur Ordnung, sondern sie dämmen auch Angst ein. Zu den Ur-Scheidungen gehört die Ur-Angst, im Chaos zu versinken, nichts zu verstehen, keine Orientierung zu finden. Vielleicht kennen manche von ihnen die Albträume, in einer fremden Stadt zu sein, sich verlaufen zu haben, nicht mehr zu wissen, wo man herkommt, wo man hin will. Die in diesen Träumen „untergebrachten“ Gefühle sind Abkömmlinge des Erlebens von Tohuwabohu.

Aus den Ur-Scheidungen entsteht Ordnung, aus der Ordnung entsteht das „Gesetz“ (wörtliche: das Gesetzte, das nicht mehr zu hinterfragen ist). Die Bedeutung des „Gesetzes“ ist es also, Orientierung zu geben, ein „Bollwerk“ zu bilden gegen das ängstigende Chaos. Das Gesetz sagt: ich bin deine Rettung: bleibe bei mir, dann musst du deine entsetzlichen, namenlosen Ängste nicht mehr spüren. Halte dich an mich und dir wird nichts passieren. Das Problem dabei ist nur, dass ein „Bollwerk“ etwas „gegen“ etwas ist – aber das, wogegen es ist, nicht verwandeln kann. Die starke Stadtmauer kann die Bewohner einer Stadt beruhigen – aber sie kann die „Feinde draußen“ nicht zum Verschwinden bringen. Das Licht kann zwar leuchten, aber unaufhaltsam folgt jedem Tag die Nacht.

Als ich als kleiner Junge darauf bestand, beim Einschlafen müsse Licht brennen, wollte ich nicht wahrhaben, dass die „Finsternis das Licht nicht annimmt und nicht annehmen kann“. Als ich dann in der Dunkelheit aufwachte, kamen die alten Ängste hoch, die zu erleben mir das Licht erspart hatte. Daraus erwächst der naheliegende Gedanke: es muss immer ein Licht da sein, es muss immer „gut“ sein, es muss immer „schön“ sein. Es sind unsere Ur-Ängste, die uns zu der Sehnsucht nach Unvergänglichkeit, nach „ewigem Leben“ bringen. In dem vorhin gehörten Evangelium der Verklärung Jesu verkörpert Petrus die Stimme dieser Sehnsucht: „Herr, hier ist gut sein. … Willst du, so will ich hier Hütten bauen“ – um das Wunderbare, die „Vision“ Jesu festzuhalten, ihr Form zu geben. Viele Kirchen sind an solchen Orten erbaut worden, wo ein Wunder geschah, oder jemand eine Vision hatte, was durch den Bau einer Kirche gleichsam „in Stein gehauen“, verewigt werden sollte.

Von daher erschließt sich uns eine verblüffende Erkenntnis: das „Gesetz“, das den „ewigen Messias“ erwartet, ist ein Bundesgenosse der Sehnsucht nach Unvergänglichkeit, nach Ewigkeit. Der Messias soll diese Ewigkeit verbürgen: Gerechtigkeit, Glück Zufriedenheit – und zwar für immer! „Deine Tränen sollen getrocknet werden…“ Das „Gesetz“, das doch mit Strenge, Disziplin vielleicht sogar Askese in einer Reihe steht – es steht also im Dienste der Sehnsucht nach Unvergänglichkeit. Die Sehnsucht nach Ewigkeit aber ist legiert – darauf hat Nietzsche hingewiesen – mit dem Lustprinzip: „Doch alle Lust will Ewigkeit -, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ (Nietzsche, Also sprach Zarathustra).

Jesus weist darauf hin, dass der Menschensohn/Messias kein Handlanger des Lustprinzips ist. Anstelle der Lust steht der Ver-Lust. Es ist kein Zufall, dass der Verlust, das Fehlen, der „Frust“ in seinem Wortstamm die verlorene Lust birgt.

„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt“ – wenn das Weizenkorn nicht bereit ist, sich selbst zu verlieren, seiner selbst verlustig zu gehen, geht es nicht weiter, wird es keine Frucht tragen. Ein ewiges Weizenkorn wird seiner Bestimmung nicht gerecht, es ist nicht mehr Ausdruck von Wachstum, sondern von Stagnation!

Und natürlich lässt sich auch der Glaube an Jesus Christus als den Messias als das „neue Licht in der Finsternis“ im Sinne von Stagnation verwenden. Dann wird das jüdische „Gesetz“ durch einen „Messias“ ersetzt – mit genau denselben Problemen, die die jüdische Religion hatte. Und in der Tat sieht man an der Geschichte der jungen Christenheit, dass der Versuch, das alte, jüdische Establishment zu entmachten zu einem neuen christlichen Establishment geführt hat, mit der neuen Hauptstadt Rom. Das Establishment ist immer auf der Seite des Gesetzes, deshalb ist es wesentlich konservativ, bewahrend. Und das ist gut so. Aber das bewahrte Weizenkorn trägt keine Frucht. Es muss in die Erde fallen. Damit die Gruppe, die Gesellschaft in ihrem Wachstum nicht stagniert, bedarf sie der Mystiker, bedarf es derjenigen, die sie zugleich radikal in Frage stellen. Erst so entsteht Fruchtbares, Sich-Entwickelndes.

Damals, als kleiner Junge, als ich in der Nacht aufwachte und es mir so mulmig zumute war, habe ich die Dunkelheit gehasst. Weil sie mir so verdammte Angst machte. Je höher der Angstpegel steigt, desto mehr überflutet er die Ufer des nüchternen, besonnenen Denkens. Jemand anders wäre vielleicht auf die Idee gekommen, sich eine Taschenlampe zu besorgen. Um mit ihrer Hilfe sich der Dunkelheit nicht mehr so ausgeliefert zu fühlen. Ich vermute, unser Forschergeist hat viel mit Angst und ihrer Vermeidung zu tun. Welt mitgestalten können erleichtert, führt aus der Verzweiflung des sich gänzlich ausgeliefert Fühlens heraus.

Gestalten, verändern, modifizieren: dies geht alles erst, wenn die Erstarrung gelöst ist. Der Menschensohn muss „erhöht“ werden. Aber nicht so, dass er nur bewundert und verehrt wird, dass er auf einen goldenen Sockel gestellt wird. Auch nicht so, dass das Kreuz seines Leidens vergoldet wird. Dies führt nicht ins Leben.

Der Messias will nicht in ewiger Erstarrung „stecken“ bleiben: er will verwendet, er will von uns gebraucht werden. Nicht um sein ewig-totes Dasein geht es, sondern: er will uns ein Vorbild für Wachstum und Entwicklung, für Werden und Vergehen geben: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt…“ Und weiter: „Während ihr das Licht habt, glaubt an das Licht, damit ihr Söhne des Lichts werdet!“ Um sich als Weizenkorn der dunklen Erde anzuvertrauen, bedarf es des Glaubens an das Licht. Bedarf es des unbedingten Vertrauens in die Möglichkeit des Werdens. Das ewig „selbst“ bleiben wollende, das perfekte Weizenkorn ist das tote Weizenkorn. Ihm fehlt das Vertrauen für Wachstum und Entwicklung – gerade so bleibt es von der Erde abgeschnitten. Das sich dem Wachsen hingebende Weizenkorn aber trägt viel Frucht. Dies hatte Jesus erkannt. Und er hat das religiöse Establishment seiner Zeit damit konfrontiert. Das Ergebnis dieser Konfrontation ist bekannt. Man macht sich nicht beliebt, wenn man die mühsam errungenen Bollwerke gegen die Angst radikal in Frage stellt.

Und so endet unser Predigttext mit dem lapidaren Hinweis: „Dies redete Jesus und ging weg und verbarg sich vor ihnen.“ Auch dies gehört zu diesem merkwürdigen Menschensohn, den wir als unseren Messias bekennen, dazu: er ist nicht der coole Überflieger, stets souverän, mal dort eine Heilung, mal hier ein kluges Wort. Er verbirgt sich – vielleicht hat er Angst, ahnt, dass die Wirkung seiner Worte explosive Kraft in sich birgt. Vielleicht heißt das Verbergen aber auch, wie wichtig es ist, immer wieder zu sich selbst zurück zu finden, sich auf sich selbst zu besinnen – gerade wenn man in der Öffentlichkeit steht. Denn die Verführung, sich als den Messias bewundern und feiern zu lassen ist groß.

Und so bewegen wir uns von den vielen Weihnachtslichtern kommend auf die Passionszeit hin. Auf eine Zeit des Sich-Verbergens, und des beginnenden Wachsens.
Gebe Gott, dass wir genügend Kraft empfangen, den Messias in uns wachsen zu lassen, dass wir genügend Geduld finden, Ungewissheiten zu ertragen und dass wir genügend Vertrauen erleben, das unsere Ängste vor der Vergänglichkeit lindert. Gebe Gott, dass wir nicht die Ewigkeit suchen, sondern uns unserem alltäglichen Leben im Geiste der Barmherzigkeit und Liebe hingeben, AMEN.

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