Predigt über Jesaja 40, 1 – 8

Predigt über Jesaja 40, 1-8 am 3. Adventssonntag 2012 in Jakobus

Liebe Gemeinde,

ich finde, es gehört zum Schwersten überhaupt, jemanden zu finden, von dem man sich wirklich wahrgenommen und verstanden fühlt. Einen Arzt zum Beispiel, der sich die Mühe macht, erst einmal zuzuhören, ohne gleich nach Lehrbuch und Statistiken etwas zu verschreiben. Oder einen Physiotherapeuten, der nicht nur mein Knie oder meine Schulter sieht, sondern meinen ganzen Körper. Oder einen Psychotherapeuten, der in der Lage ist, etwas von meinem Unbewussten, von meinem seelischen Erleben zu verstehen, etwas, das mir selbst unklar, verschwommen, diffus ist. Oder einen Pfarrer, der nicht schon die Bibelzitate parat hat und seine Theologie mir versucht nahe zu bringen. Oder einen Partner, eine Partnerin, die bereit ist, sich mit mir aufmerksam und nüchtern auseinander zu setzen, ohne mir gleich Vorwürfe zu machen ohne mir gleich Ratschläge zu geben, ohne falschem Mitleid meine Seele zu verkleben.

Ich glaube, das alles ist deshalb so schwierig, weil wir Menschen durchaus gerne anderen Menschen helfen, aber uns extrem schwer damit tun, auszuhalten, dass wir keine Hilfe zur Hand haben, dass wir ohnmächtig sind. Gerade als Arzt, als Therapeut als Pfarrer habe ich die Rolle eines Heilers, eines Helfers – und so wird von mir auch erwartet, dass ich helfen kann. Es macht sehr unangenehme Gefühle, sich einzugestehen, zunächst einmal keine Ahnung davon zu haben, woran der Andere wirklich leidet. Hinzu kommt, dass viele Menschen auch gar nicht wissen wollen, woran sie leiden, sondern sie wollen nur aufhören zu leiden. Die Schmerzen sollen weg, die Depression mit ihren Ängsten soll sich in Wohlgefallen auflösen, die Leistungsstörung soll verschwinden usw. So entsteht ein Druck, den sensible Menschen so auf sich beziehen, dass sie meinen, sie müssen in jedem Fall helfen können. Die sich schuldig fühlen, wenn sie mit ihrer eigenen Ohnmacht in Kontakt kommen. Gerade in helfenden Berufen finden sich viele Menschen, die schon als Kinder gespürt haben: „meine Lebensaufgabe ist es, meinen Eltern zu helfen, sie zu stabilisieren oder gar sie glücklich zu machen.“

Und genau das ist das Problem: je stärker ich darauf angewiesen bin, für den anderen gut zu sein, desto stärker komme ich unter Druck, wenn der oder die mir Anvertraute mein Gut-Sein nicht „würdigt“.

Sehr einfaches Beispiel: ich möchte eine gute Mutter sein, die ihrem Kind ein gesundes Abendessen selber kocht, vitaminreich, mit Bio-Gemüse, Bio-Salat usw. Und eben dieses Kind kommt bestens gelaunt zur Abendessenszeit nach Hause und sagt freundlich: „Ich komme gerade von Mekki – das war echt lecker dort. Du musst übrigens für mich nicht mit decken, ich bin satt.“

Das macht je intensivere Gefühle, je mehr ich darauf angewiesen bin, dass ich nicht nur gut gekocht habe, sondern auch ein gute Mutter bin. Diesen Gedanken umdrehen bedeutet: die Freiheit einer Beziehung hängt damit zusammen, wie bedürftig der Einzelne ist. Wie angewiesen er darauf ist, gelobt zu werden. Wie viel „Nein“ in Anführungszeichen er aushält. Denn in unserem Beispiel ist es ja gar kein „Nein“ zum Essen der Mutter, sondern nur Ausdruck eines selbständig Gewesen Seins. Wenn ich so bedürftig bin, dass ich das selbstständig Werden und Sein des Anderen als gegen mich gerichtet erlebe, dann haben wir beide es schwer. Wenn ich das Gefühl habe, das Selbstständig-Sein des Anderen vernichtet mich, weil sein Selbstständig-Sein bedeutet, dass ich in Vergessenheit versinke, wird die Beziehung unerträglich.

Dies alles gilt nun auch für unsere Beziehung zu Gott. Viele von uns, so vermute ich, sind mit einem Gott aufgewachsen, der kein Interesse an meiner Selbstständigkeit hat, aber viel wert legt auf meinen Gehorsam, ja auf meine Unterwürfigkeit. Ein Gott, der einem totalitären Herrscher näher steht als einem gütigen, barmherzigen und liebevollen Vater oder Mutter. Die Umkehr dieser Gottesbeziehung ist, dass auch ich das Selbstständig-Sein Gottes nicht ertrage. Dann gehöre ich zu den Leuten, von denen Meister Eckehart sagt, sie „wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen, und wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und des Käses und des eigenen Nutzens.“ Und er fährt fort: „So halten’s alle jene Leute, die Gott um äußeren Reichtum oder inneren Trostes willen lieben; die aber lieben Gott nicht recht, sondern sie lieben ihren Eigennutz.“

Ein ziemlich anderes Gottesbild entwirft der Verfasser unseres heutigen Predigttextes, mit dem das 40. Kapitel des Jesajabuches beginnt.

„Tröstet, tröstet mein Volk spricht euer Gott
redet zum Herzen Jerusalems und rufet ihr zu,
dass vollendet ist ihr Frondienst, dass abgegnadet ist ihre Schuld,
dass gedoppelt von seiner Hand sie empfängt für ihre Sündenbußen.“

Mit diesem Kapitel beginnt zugleich die Verkündigung eines Propheten, von dem man bis heute nicht genau weiß, wer er war. War es Jesaja selbst? Dann müsste er über eine sehr lange Zeitspanne hinweg gelebt haben. War es ein weiterer Prophet, der sich in seinem Personsein zurück genommen hat, der stark im Geiste Jesajas predigte? Man hat ihn deshalb Deuterojesaja genannt, den zweiten Jesaja. Wie auch immer: unser Predigtext und die Botschaft dieses Propheten beginnt mit radikal neuen Gedanken: keine Gerichtsansage, keine Strafpredigt, keine Beurteilung und schon gar keine Verurteilung seiner Volksgenossen, des Volkes. Stattdessen:

„Tröstet, tröstet mein Volk!“
Gott als ein Gott des Trostes.

Was ist das: „Trost“?

Das Wort „Trost“ gehört zu der indogermanischen Wortgruppe „treu“ und bedeutet „innere Festigkeit“, „innere Sicherheit“. Auch das Wort „trauen“ gehört hierher: jemandem „trauen“ zu können, ihn als „zuverlässig“ zu erleben ist „tröstlich“.  Denken Sie auch an das englische „true: wahr, richtig, echt“. Und auch in tree, „Baum“. als Sinnbild von Festigkeit, ist der Stamm von Trost enthalten.

Ein Trost, der das ist, was sein Wortstamm verheißt, verleiht also „innere Sicherheit“. Davon zu unterscheiden ist das schnelle Trostpflaster, der „billige“ „Es-wird-schon-wieder-Trost“. Gottesdienste, auch Predigten sind sehr gefährdet für den schnellen, scheinbar tröstenden Kick. „Schnell mal die Kuh melken…“ und schon am Sonntag Nachmittag ist alles wieder beim Alten. Die alten Ängste, die alten Schmerzen, die alte Enttäuschung …

Deshalb lautet die Überschrift des Trostes: „Rede zum Herzen Jerusalems:“ Erst dann kommt der Inhalt des Trostes: „Die Zeit deiner Sklaverei ist vorbei …“

„Rede zum Herzen Jerusalems!“ heißt: was mich wirklich und wirksam tröstet ist etwas, das tief in mich hineinkommt, was mir zu Herzen geht. Die dem Trost entgegen kommende Bewegung ist ein sich öffnendes Herz. Ein verschlossenes Herz ist untröstlich. Und ein untröstliches Herz ist unersättlich. Nicht satt zu kriegen.

Verdeutlichen wir es uns an unserem kleinen Beispiel: natürlich ist die Mutter, die liebevoll gekocht hat enttäuscht, dass ihr Kind satt ist. Alles hängt davon ab, wie sie mit ihrer Enttäuschung umgeht. Es gibt die mitleidige Art: jetzt habe ich mir solche Mühe gegeben und du undankbares Kind bist schon satt. Diese Methode erzeugt Schuldgefühle und Hass; der Hass kann sich richten auf diejenige, die mir Schuldgefühle macht, oder – auf mich selbst. Es gibt die zornige Art: du kannst gleich in dein Zimmer gehen, dich will ich heute nicht mehr sehen. Diese Methode ist die des Beziehungsabbruches, bei der das Kind lernt, erwünscht ist es nur, wenn es „passend“ ist. Und natürlich gibt es noch viele Varianten dazwischen. Entscheidend ist: dies alles ist eine Welt ohne Trost, ohne  Gnade und ohne Barmherzigkeit. Es ist eine Welt der Ver-Zwei-flung – in der es nur entweder oder, nur dich oder mich, nur eine Position gibt.

Der Trost, der „Halt und Sicherheit“ geben kann, geschieht über die Öffnung der „Zwei“ zur „Drei“ – zum Dritten. Der Tröster, so wird im Johannesevangelium der Heilige Geist genannt – ist die dritte Person Gottes, die aus der Katastrophe der Kreuzigung des Sohnes im Angesicht des ohnmächtigen Vaters herausführt – hineinführt ins Leben. Der Dritte in unserer Geschichte kann der Vater und Ehemann sein, der seiner Frau vielleicht sagt, dass er sich jedoch sehr auf das Essen freue aber auch Verständnis hat für jenen, der da bei Mac Donalds sich verköstigte. Und dass in Zukunft vorher besprochen wird, wie das Abendessen sein wird. Die Absprache, die Vereinbarung, der Vertrag ist ebenfalls ein wirkungsvoller Dritter. Der Dritte darf weder mit dem Einen noch mit dem Anderen verschmelzen, um seine tröstende und heilende Aufgabe wahrnehmen zu können. Es ist ein verbreiteter Irrtum, gute Erziehung bedeutet, dass die Eltern immer einer Meinung sind. Das führt nur dazu, dass von vorne herein klar ist, wer die „A-Karte“ zieht!

Es ist Gott selbst, der im Dritten geschieht, der lebendig macht und tröstet. Allerdings, und das sagt Jesaja sehr mit recht: Diese Lebendigkeit bedarf eines sich öffnenden Herzens. Wer den Weg zum Dritten nicht finden kann, der bleibt Gefangener seines polaren Denkens, für ihn gibt es nur: entweder du bist die Kuh, die ich melken kann, oder ich bin die Kuh, die gemolken wird.

Jesaja ruft – so verstehe ich ihn jedenfalls dazu auf, diese Wahrheit so tief als möglich in sich hinein zu lassen. Ihr den Weg zu öffnen:

„Stimme eines Rufers:
In der Wüste bahnt SEINEN Weg,
ebnet in der Steppe eine Straße für unseren Gott.
Alles Tal soll sich heben,
aller Berg und Hügel sich niedern,
das Höckrige werde zur Ebne und das Hügelige zur Senke.
Offenbaren will sich SEIN Ehrenschein, alles Fleisch vereint wird’s sehen.
Ja, geredet hats SEIN Mund.

Stimme eines Sprechers: Rufe!
Er spricht zurück: was soll ich rufen! Alles Fleisch ist Gras, all seine Anmut der Feldblume gleich!
Verdorrt ist das Gras, verwelkt ist die Blume, da SEIN Windhauch sie angeweht hat.

-Gewiss,
Gras ist das Volk, verdorrt ist das Gras,
verwelkt ist die Blume,
aber für Weltzeit besteht die Rede unseres Gottes.“ (M. Buber)

„Für die Weltzeit besteht die Rede unseres Gottes“. Die „Rede unseres Gottes“ ist das Wort, ist die Sprache. Die Sprache ist ebenfalls ein Drittes: sie ist die Brücke zwischen mir und Ihnen, zwischen dem Sprecher und der Welt da draußen. Sie vermittelt gleichsam zwischen innen und außen. Sie vermittelt aber auch zwischen meinen Gefühlen und meinem Verstand, vorausgesetzt ich verwende sie auch dafür. Wenn Sie Reden von totalitären Machthabern hören (Hitler, Göbels), merken Sie, wie sehr hier die Sprache von aggressiven und hasserfüllten Gefühlen okuppiert ist. Und die Sprache schafft den Vertrag zwischen Gott und uns. Die einfachste Form dieses Vertrages sind die zehn Gebote, zusammengefasst im Doppelgebot der Liebe: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte und deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

„Die Rede unseres Gottes“ ist eine Sprache des Verständnisses und der Güte gerade im Angesicht eigener Nichtigkeit. „Alles Fleisch ist Gras, all seine Anmut der Feldblume gleich!“ Das Verrückte ist: der mein Herz öffnende, mein Leben verändernde Trost bedingt das Erleben meiner eigenen Vergänglichkeit. Wenn die Mutter in unserem Bespiel sagen kann: „Na ja, ich kann dich schon auch verstehen, du hattest Hunger usw…“ ist sie in der Lage, ihre eigene Enttäuschung zu relativieren. Sie lässt etwas ihr Fremdes, nämlich das Verständnis für das Handeln ihres Kindes, in ihr Herz hinein. Und dieses Verständnis beschränkt und begrenzt ihre eigene Enttäuschung. Jede Grenze aber erinnert an das Ende, an das Vergehen unseres Lebens. Und das macht unangenehme Gefühle, Gefühle, die mir ein „hartes, kaltes Herz“ erspart.

Nebenbei: das Kind, das Verständnis, gerade auch für seine nicht so tollen Seiten spürt, wird seinen Eltern in der Tiefe – so was zeigt man natürlich nicht – sehr, sehr dankbar sein. Verständnis ist auch so ein „Drittes“ – es ist erst möglich, wenn ich die Absolutheit meines Standpunktes aufgeben kann.

Was heißt also Gott den Weg zu bereiten? Es heißt, die zerklüftete Landschaft unserer Seele ebnen, es heißt Brücken bauen, wo unüberwindbare Gräben sind, heißt die hohen Gipfel eigenen Wissensdünkel verlassen ebenso wie die dunklen Täler unserer Niedergeschlagenheit und unseres Unwert-Fühlens. Und immer wieder heißt es: sich leer machen, sich leer machen von seinem Vor-Wissen, von seinen Vor-Urteilen, die ja letztlich eine Ansammlung von Erinnerung. Nur ein leeres Gefäß kann etwas anderes aufnehmen. Deshalb „sollst du schweigen!“ predigt Johannes Tauler. „In diesem mitternächtlichen Schweigen, in dem alle Dinge in tiefster Stille verharren und vollkommene Ruhe herrscht, da hört man das Wort Gottes in Wahrheit. Denn soll Gott sprechen, so muss du schweigen. Soll Gott in dich eingehen, so müssen alle Dinge ihm den Platz räumen.“ AMEN.

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