Liebe Gemeinde,
„… denn Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“
Mit dieser schlichten Aussage beginnt unser heutiger Predigttext.
Umgedreht heißt das: Der „Geist der Furcht ist nicht von Gott!“
Das griechische Wort für Furcht ist deilias: Es meint eine Mischung aus „Verzagtheit und Feigheit“.
Es geht also nicht darum, die Angst abzuschaffen: Angst zu haben, Angst zu erleben gehört zum Mensch-sein dazu. Gesunde Angst schützt vor Tollkühnheit und Übermut. Gesunde Angst ist auf der Seite des Schutzes des Lebens: des eigenen und des Lebens der Anderen.
Ungesund wird die Angst, die sich in mir festsetzt. Die sich chronifiziert. Sie äußert sich in Verzagtheit, Feigheit, Lustlosigkeit. Sie äußert sich auch in chronischer Gereiztheit und Bereitschaft zu Aggression. Für dieses Konglomerat aus Gefühlen gibt es ein Modewort: „Depression“. Das wörtlich genommen ja schlicht heißt: Niedergedrückt-Sein.
Die eben gehörte Geschichte von Lazarus („Gott hilft“) veranschaulicht den Verlauf einer schweren Depression, in der die Lebens-Geister immer mehr versiegen. In der Depression „verschwindet“ der Kontakt, die Beziehung zum Leben – der Depressive wird unerreichbar, für sich selbst und für seine Mitmenschen. Er liegt lebendig begraben in der Höhle seines eigenen Rückzuges.
Das fühlt sich sowohl für den Betroffenen wie auch für die Angehörigen elend an.
„Orte seelischen Rückzugs“ hat John Steiner, ein englischer Psychoanalytiker, ein berührendes Buch genannt. Es handelt davon, wie Menschen sich in „Zufluchtsstätten“ einrichten, die ihre Seele schützen sollen. Es handelt auch vom Entstehen dieser Rückzugsorte und wie sie in Beziehungen mit anderen Menschen „funktionieren“. Die Praxis therapeutischen Arbeitens sieht leider (oder Gott sei Dank?) sehr anders aus als unsere vorhin gehörte Geschichte von der Erweckung des Lazarus. Es ist ein mühsamer Weg, der sich aus vielen Schritten zusammensetzt: Der Weg aus dem Rückzug heraus in die Fülle der Lebendigkeit des Lebens.
Kennen Sie den Film „Matrix“?
Er handelt davon, dass die Welt der Maschinen die Macht übernommen hat. Sie beziehen ihre Energie aus den in einer Nährlösung liegenden Menschen. Die Menschen schlafen – und träumen Träume, die sie für die Wirklichkeit halten. Das ist die Matrix, die Scheinwelt, die ihnen vorgegaukelt wird. Diese Scheinwelt halten die Menschen für das Leben. Die mit hoher, kalter Intelligenz ausgestatteten Maschinen leben von der Wärme der Menschen, die in einer Nählösung liegen. Sie (die Maschinen) legen verständlicherweise allergrößten Wert darauf, dass die Menschen nicht aufwachen. Über den Erwachten nämlich hat die Matrix ihre Macht verloren. Sie kann seine Wärme nicht mehr für sich verwenden.
Der Erwachte lässt sich von den Verführungen der Matrix nicht mehr einlullen – er ist ein Befreiter. Ein Erlöster.
Das Erwachen freilich ist ein Geschehen, das sich nicht machen lässt.
Es geschieht.
Es geschieht über Hingabe an die Realität, an das, was ist.
In diesem Erwachen höre ich auf, meine eigenen Täuschungen über das eigene Leben und das Leben der Anderen zu nähren und mich an ihnen zu wärmen. Mit dem Erwachen lerne ich, mit beiden Augen die ganze Wirklichkeit zu schauen – und nicht länger das, was ich nicht sehen möchte, auszublenden. Im Erwachen füttere ich nicht länger die Illusionen, mit denen ich gelebt habe, sondern erkenne die ganze Wahrheit meines bis heute gelebten Lebens an.
Dazu bedarf es eines „Geistes der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“!
Der Geist, von dem hier die Rede ist „weht wo er will“. Er ist nicht machbar und nicht fassbar. Das einzig Mögliche ist, sich mit ihm zu verbünden und zu verbinden. Und in diesem Bündnis zu erleben, was er vermag: Er schenkt die Kraft, (griechisch: dynamis; vgl. Dynamit) das Leben gerade auch in seiner Härte, Unverrückbarkeit und Endgültigkeit anzunehmen. Die Kraft zu ertragen, was es zu ertragen gilt: Die Schmerzen körperlicher und seelischer Art, die Enttäuschungen über das, was nicht so lief, wie ich es wollte, wie ich es mir wünschte, wie ich es für richtig hielt.
Wer Kinder hat, weiß, dass diese Enttäuschungen unvermeidlich sind. Kinder haben nämlich die merkwürdige Angewohnheit, ihr Leben selber bestimmen zu wollen. Und selber heißt ganz einfach: nicht so, wie die Eltern es sich für ihre Kinder vorstellen. Es ist gut, sich immer wieder daran zu erinnern, dass wir alle einmal Kinder gewesen sind, und dass wir alle wie auch immer unser Leben selber in die Hand nehmen wollten und – hoffentlich – auch in die Hand genommen haben.
Dazu bedarf es des Geistes der Liebe. Liebe heißt ja nicht, den Anderen dann zu mögen, wenn er gerade so ist, wie ich ihn brauche. Das ist nicht Liebe, sondern bemächtigende Verschmelzung mit dem Anderen. Liebe beginnt gerade da, wo der Andere nicht so ist, wie ich ihn brauche. Und Liebe meint dann die Fähigkeit, gerade da mit dem Anderen in Beziehung zu bleiben. Der gekränkte, beleidigte Rückzug führt direkt in die Grabkammer des Lazarus.
Liebe heißt, die Sympathie (das „Mit-Fühlen“) für den Anderen auch und gerade da aufrecht zu erhalten, wo er nicht so ist, wie ich ihn brauchen kann, wo er gerade nicht meine Wünsche erfüllt! Liebe ist die Fähigkeit, mein Ich mit seinen Erwartungen und Wünschen an den Anderen zurückzustellen. Mir hilft dabei der Satz, den angeblich Papst Johannes XXIII. jeden Abend vor dem Einschlafen zu sich selber gesagt hat: „Giovanni, nimm dich nicht so wichtig!“ Und ich füge hinzu: Wer sich und sein Leben wirklich ernst nimmt, wird sich nicht mehr „so wichtig“ nehmen.
Neben der Liebe nennt Paulus noch die „Besonnenheit“ als weitere Gabe des Heiligen Geistes. Besonnenheit, „sophrosyne“ heißt wörtlich: geistig-seelische Gesundheit; Selbstbeherrschung und Mäßigung. Gerade die letzten beiden Substantive, „Selbstbeherrschung“ und „Mäßigung“, sind nicht im Vokabular der populistischen Schreihälse vorhanden – und sie sind und waren noch nie zeitgeistkonform. Zugleich hat Selbstbeherrschung und Mäßigung nichts mit Selbst-Unterdrückung zu tun. Es geht um Mäßigung für die eigene Lebendigkeit.
Soweit also der erste – und für mich zentrale – Satz aus unserem heutigen Predigttext, dem 2. Timotheusbrief.
Es ist spannend zu sehen, wie Paulus fortfährt: „Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener
bin, ….“
Scham, sich schämen ist ein besonders ekelhaftes Gefühl. Paulus spricht das „Fremd-Schämen“ an. Sich für einen Anderen schämen. Ich vermute, viele von uns kennen das. Fremd-schämen ist Ausdruck von mangelnder Abgegrenztheit in Beziehung. Es fehlt das Gefühl für gute Getrenntheit. Kinder können sich von ihren Eltern nicht in dieser Weise abgrenzen. Für sie sind die Eltern die großen Vorbilder, die, die wissen (besser wissen sollten), wie Leben geht. Von daher ist es für sie besonders schwer erträglich, wenn sie das Gefühl haben, irgend etwas stimmt nicht mir ihren Eltern. Ihr erster Reflex ist, sie in Schutz zu nehmen und ihr eigenes Erleben dafür zu opfern. Sie hoffen, dass sie sich täuschen, dass sie das, was sie meinen wahrzunehmen, sich nur einbilden. „Das gibt’s doch nicht!“ So entsteht die Matrix der Selbsttäuschungen und der inneren Verwirrtheit. Es macht konfus, wenn ich das, was ich erlebe, nicht zusammen bringe mit dem, was mir gesagt, besser eingeredet wird. Dann beginne ich mich für meine „wahre“ Wahrnehmung zu schämen … (Das ist im übrigen der Grund, weshalb es Missbrauch-Opfern so schwer fällt, zu veröffentlichen, was ihnen angetan worden ist. Es ist so „Unendlich peinlich“!)
Und Paulus fährt fort:
„… leide mit mir für das Evangelium in der Kraft Gottes.“
Das Evangelium ist nichts weiter als die frohe Kunde, die davon handelt, dass es einen Geist, eine Energie gibt, die dich wirklich meint. Dich: und zwar so, wie du gerade bist. Und nicht nur das: für die du auch noch völlig in Ordnung bist, so, wie du gerade bist.
Die Verbindung zu dieser Energie herzustellen, das können wir nicht aus eigener Kraft. Da sind wir „angewiesen“. Wer diese Angewiesenheit nicht aushält, der meint, er muss sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. So wird er immer erschöpfter und müder. „Ich habe eine Depression!“ Und weil er immer noch nicht angewiesen sein will auf eine hilfreiche Beziehung, beginnt er Psychopharmaka zu schlucken…
Da ist selbst der Heilige Geist machtlos. Die Auferweckung zum Leben ist zu „erleiden“! Es geht dabei „nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem eigenen Vorsatz und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus vor ewigen Zeiten…“
Wer dieses Leiden nicht aushält, bleibt seiner eigenen Lebendigkeit gegenüber verschlossen.
Ich glaube: Jeder Mensch könnte loslassen. Dann hätte die Plackerei ein Ende.
Wir könnten uns in den barmherzigen Schoß Gottes fallen lassen.
Dann würde unser Leben leicht werden.
Wir könnten uns dem Fluss unseres Lebens überlassen.
Hinnehmen, was hinzunehmen ist.
Betrauern, was zu betrauern ist.
Bedauern, was zu bedauern ist.
Und aufhören zu hoffen, dass die Zukunft besser wird.
Und aufhören zu jammern, dass die Vergangenheit nicht gut genug war.
Jedenfalls haben wir überlebt.
Bis heute.
Bis jetzt.
In diesem Geschehen würden wir allmählich wach werden. Wach für die Gegenwart.
Die Gegenwart, in der allein das Leben zu finden ist.
Und warum tun wir’s nicht?
Weil wir Angst haben. Angst davor, die Kontrolle zu verlieren.
„Ja, aber“ sagen wir.
„Oder hätte ich doch…“
Und außerdem haben wir uns unsere Werte, Ziele, Erwartungen – all‘ das, von dem wir meinen, wie Leben geht – doch so mühsam aufgebaut. Und außerdem wurde uns das auch so mühsam antrainiert. Das soll jetzt alles nichts mehr gelten? Echt nicht! Das würde ja weh tun. Ziemlich weh tun. Deshalb sagt Paulus: „Leide mit mir für das Evangelium!“
Klingt nicht gut. Warum leiden? Da schlafen wir doch lieber noch eine Runde. So schlecht ist die Matrix doch gar nicht. Und es gibt herrliche Ablenkungen. Jetzt noch viel brillanter in HD. Tolle Graphik. Ein kühles Bier dazu und Chips. So kriegen wir die Zeit schon rum, oder?
Ähneln wir nicht alle dem Mann, von dem der indische Jesuit Anthony de Mello erzählt?
Vor einiger Zeit – sagt er – hörte ich im Radio … von einem Mann, der an wieder einmal am Morgen an die Zimmertür seines Sohnes klopft und ruft:
„Jim, wach auf!“
Und Jim ruft zurück: „Ich mag nicht aufstehen, Papa.“
Darauf der Vater noch lauter: „Steh auf, du musst
in die Schule!“ „Ich will nicht zur Schule gehen.“
„Warum denn nicht? “, fragt der Vater.
„Aus drei Gründen“, sagt Jim. „Erstens ist es so langweilig, zweitens ärgern mich die Kinder, und drittens kann ich die Schule nicht ausstehen.“
Der Vater erwidert: „So, dann sag ich dir drei Gründe, wieso du in die Schule musst: Erstens ist es deine Pflicht, zweitens bist du 45 Jahre alt, und drittens bist du
der Klassenlehrer.“
Darin besteht im übrigen der (einzige) Sinn, sich mit der eigenen Vergangenheit zu beschäftigen: Um in der Gegenwart anzukommen. Wir neigen dazu, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verwechseln und uns vor einer vermeintlichen Zukunft zu ängstigen – die in Wirklichkeit eine Erinnerung an Vergangenes ist. Es ist ein verbreitetes Missverständnis von Psychoanalyse, an dem die Psychoanalytiker selbst jedenfalls eine Mitschuld tragen, zu meinen, es ginge darum, „in der Vergangenheit zu bohren“. Nein – es geht darum, die Dämonen der Vergangenheit in der Gegenwart neu kennen zu lernen, um sie so zu entmachten. Jim in der Gegenwart ist nicht mehr der hilflose Junge von früher – er ist der Lehrer!
„Christus Jesus, der den Tod zunichte gemacht aber Leben und Unvergänglichkeit ans Licht gebracht hat durch das Evangelium.“ Mit diesem Gedanken endet unser Predigttext. Es ist eine Täuschung zu meinen, das eigentliche Leben kommt erst. Das ist die große Verführung des Jenseits-Glaubens. Auch er findet in der Matrix statt. Und dient der Selbst-Betäubung. Opium fürs Volk hat K. Marx die Religion genannt – weil sie auf ein besseres Jenseits vertröstet.
Ewig – weil zeitlos – ist einzig und allein die Gegenwart.
Gegenwart ist das, was aus der Zeit herausgefallen ist. Christus als Repräsentant der Gegenwart hat den Tod zunichte gemacht!
Je tiefer ich in meiner Gegenwart angekommen bin, desto chancenloser ist die Matrix. Sie lebt und nährt sich davon, dass ich mich aus der Gegenwart zurück ziehe. In meine Grabes-Schutz-Höhle – die leicht zu einer Grabes-Hölle werden kann. Die ich nicht verlassen mag, weil sie mir immer noch angenehmer erscheint, als mir den Wind der Wirklichkeit um die Nase blasen zu lassen.
Gebe Gott, dass wir die Kraft, den Mut und die Liebe in uns finden, wirklich wach zu werden. Wach für unser einmaliges Leben. Gebe Gott, dass wir es wagen, uns seinem Geist zu überlassen, unser Leben in und von diesem Heiligen Geist führen zu lassen.
Eben dem Geist, der in jedem Augenblick da ist, der nur darauf wartet, sich mit uns zu verbünden – dem Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit, AMEN.