Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis 2020 über Markus 2, 23-28

Liebe Gemeinde,

„mich verlangt nach deinen Geboten“, betet der Psalmbeter in Psalm 119, den für diesen Sonntag vorgesehenen Psalm. Das Wort „Gebot“ gehört zu der Wortgruppe von „bieten“. „Bieten“ aber bedeutet ursprünglich: „Erwachen, bemerken, geistig rege sein, aufmerksam machen, warnen, gebieten“. Dahinter steht die Erfahrung, dass Leben in einer Welt ohne Gebote lebensgefährlich ist. Ohne Gebote gibt es keine Ordnung, an ihrer Stelle herrscht Willkür. Aktuell gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens darüber, dass die sogenannten AHA-Regeln (Abstand halten, Hygieneregeln einhalten, Alltagsmasken tragen) gute Gebote sind, die eine weitere Verbreitung des Corona-Virus eindämmen. Und natürlich gibt es Stimmen, den Nutzen dieser Gebote in Frage stellen. So bezweifelt der Christ und Arzt Dr. Bodo Steinmann nicht nur den Nutzen der Mundschutzmasken, sondern er hält sie sogar für gesundheitsschädigend.

Einmal mehr wird deutlich, wie schwer wir uns Menschen damit tun, überhaupt irgend etwas mit Sicherheit zu erkennen. Die letzte Instanz ist nicht das Wissen, sondern der Glaube, das Vertrauen in … etwas.
Aber: Was kann man (noch) glauben?

Nur leider gibt es kein göttliches Wort zum Schutz vor Corona. Es gibt auch kein göttliches Wort zu Grippeimpfung, zur Wirksamkeit von Homöopahtie und/oder Schulmedizin usw.

Fromme Juden haben in Zeiten von Seuchen Heilige Bücher durch das Dorf getragen. Sie glaubten, das werde der Seuche Einhalt gebieten.
Unser naturwissenschaftlicher Verstand kann darüber nur lächeln. Unserem naturwissenschaftlichen Verstand verdanken wir die Ausrottung vieler Seuchen und Krankheiten – insbesondere seit der Erfindung der Schutzimpfungen. Der Erfolg der Naturwissenschaften hat auch Umweltzerstörung zur Folge. Ohne unsere modernen technischen Erfindungen und deren weltweite Verwendung gäbe es die gefährliche Erderwärmung, den sogenannten Klimawandel, nicht.

War es also nicht gut, dass sich unser menschliches Gehirn derartig entwickelt hat, dass wir die Kernspaltung erfanden, den Benzinmotor, das Fliegen usw.?

Naturwissenschaft fragt nicht nach gut oder böse. Und das völlig zurecht. In der Naturwissenschaft geht es ausschließlich um falsch oder richtig. Richtig ist, was „funktioniert“. Und funktionieren tut, was ganz offensichtlich den Gesetzen oder Geboten der Natur entspricht. Ob die Folgen von „richtigen“ Erfindungen gutartig oder bösartig sind – hängt ausschließlich von ihrer VERWENDUNG ab. Alles auf dieser Welt lässt sich für Lebendigkeit und Entwicklung verwenden. Und alles auf dieser Welt lässt sich für Zerstörung verwenden!

(In Klammern: Nach dem Gottesdienst kam eine Jugendliche auf mich zu und sagte mit bösem Blick: „Sie predigen rassistisch!“ Ich war fassungslos. „Wie bitte?“ „Sie verbinden das Schwarze mit dem Bösen. Der schwarze Wolf ist ein böser Wolf!“ Mir blieb die Sprache weg. Ich fragte sie, ob sie nicht den Zusammenhang der Geschichte mit den anderen Gedanken sehen würde. Dass es mir um das Nicht-absolut-Setzen einer Seite ging. Sie wiederholte, dass ich rassistisch predigen würde. Diese junge Frau verwendete offenbar alles, was sie gehört hatte, dafür, sich in ihrem Vorurteil zu bestätigen, dass ich rassistisch predigen würde. Und sie machte das daran fest, dass in der Geschichte ein schwarzer Wolf Träger von Eigenschaften ist, die zu uns Menschen nun einmal dazu gehören. Auch wenn sie nicht sehr schöne sind. Sie war nicht in der Lage zu verstehen, dass die BEDEUTUNG des Wortes „schwarzer Wolf“ in der Geschichte nicht das Geringste mit einer Diskriminierung dunkelhäutiger Mitmenschen zu tun hatte. So leicht entsteht „Miss-Kommunikation“, auch in einer Predigt, die versuchte, darüber zu reflektieren.)

Wir Menschen sind aufgespannt zwischen unserer Fähigkeit zu lieben oder zu hassen. Jeden Moment haben wir die Möglichkeit, uns unserem Hass zuzuwenden – oder eben nicht.

Dazu eine Geschichte: (Cherokee: indogenes Volk in Nordamerika)

„Eine Gruppe Cherokee-Kinder hat sich um den Großvater versammelt. Sie sind ganz aufgeregt, denn an diesem Tag hatte es einen ziemlich tumultartigen Streit zwischen zwei Erwachsenen gegeben und der Großvater war als Streitschlichter dazu gerufen worden.
Die Kinder sind neugierig, was der Großvater darüber zu erzählen hat. Eins von ihnen fragt: „Großvater, warum streiten Menschen?“
Der Großvater antwortet
Der Großvater antwortet „Nun, wir haben alle zwei Wölfe in unserer Brust. Und diese zwei Wölfe streiten fortwährend miteinander.“ Die Augen der Kinder werden ganz groß. „Auch in unserer Brust, Großvater?“, „Ja, auch in eurer Brust.“ „Und auch in deiner Brust?“ Er nickt, „ja, auch in meiner Brust.“ Jetzt hat er ihre volle Aufmerksamkeit.
Der Großvater erzählt weiter. “Es gibt einen weißen und einen schwarzen Wolf. Der schwarze Wolf ist voller Angst, Ärger, Neid, Eifersucht, Selbstmitleid, Lüge, Groll, falscher Stolz, Gier, Arroganz und Hass. Er steht für all das Dunkle in uns. Der weiße Wolf ist voller Frieden, Liebe, Hoffnung, Demut, Mitgefühl, Gerechtigkeit, Güte, Großzügigkeit und Wahrheit. Er steht für all das Lichte in uns. Und die beiden Wölfe kämpfen ständig miteinander.“
“Aber Großvater, welcher Wolf gewinnt?“ fragt eins der Kinder.
Der Alte erwidert: „Der, den du fütterst.“
Klingt gut. Funktioniert aber erst, falls ich bereit bin, meine Gedanken und mein daraus folgendes Handeln mir bewusst zu machen. Vor kurzem hat ein Patient nach einem Jahr Psychoanalyse mit einem schweren Seufzer zu mir gesagt: „Und ich dachte, ich brauche so etwas nicht. Ich war der Meinung, ich kenne mich ziemlich gut.“
Es bedarf einer erheblichen seelischen Kraft, das anzuerkennen, was der Großvater sagt: „Auch in meiner Brust liegen zwei Wölfe permanent im Streit miteinander.“

Unser heutiger Predigttext handelt auch von einem Streit: dem der Pharisäer mit Jesus. Hören Sie selbst: (Markus 2, 23-28)
„23 Und es begab sich, dass er am Sabbat durch die Kornfelder ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. 24 Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? 25 Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, da er Mangel hatte und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: 26 wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? 27 Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. 28 So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.“

Wenn wir jetzt Zeit für Diskussion hätten, würde ich Sie fragen, was diese Geschichte für Sie bedeutet. Wie Sie diese Geschichte erleben. Und ich bin mir sicher, es würden gerade so viele Antworten kommen, wie hier Menschen sind. In der Tiefe unserer Seele nämlich hat jeder Satz, den wir hören, jede Geschichte, jede Information seine ganz eigene Bedeutung. Und es ist ein Wunder, dass wir überhaupt miteinander kommunizieren können. Und es ist kein Wunder, wie sehr unsere Kommunikation mit Missverständnissen durchsetzt ist.

Man kann die Geschichte vom letzten Satz her lesen. Dann ist Jesus einmal mehr der Wundermann, der uns alle heilen kann. „Mir nach, spricht Christus unser Held!“ Dann verwende ich wahrscheinlich diese Geschichte dafür, meine Sehnsucht nach einem „starken Führer“, der mir sagt, wo es lang geht, was ich machen soll, zu befriedigen. Dann kommt Jesus in einer Reihe mit den Trumps, den Orbans, den Johnsons, den Putins zu stehen.

Für mich ist diese Geschichte eine Ermutigung, mich mit meinen Gedanken und Handlungen in einem „Mittelbereich“ zu bewegen. Irgendwo „dazwischen“ – entsprechend unserem aufrechten Gang: „Aufgespannt zwischen Himmel und Erde.“

Im Dazwischen erkenne ich Gesetze und Gebote an und zwar so, dass ich sie barmherzig und großzügig auslege. Hier entdecke ich die Verbindung zum Wortstamm von „gebieten“: „Erwachen, bemerken, geistig rege sein, aufmerksam machen, warnen“. Es geht weder um einen dumpfen Gehorsam gegenüber Gesetzen, noch um ihre Ablehnung. Es geht um die rechte, um die menschliche Verwendung von Gesetzen.

Jesus sagt nicht: „Schafft den Sabbat ab! Das ist Schwachsinn, den wir nicht mehr brauchen!“ Nach der Art: „Wahrlich, wahrlich ich sage Euch: Ihr habt mich – ihr braucht keinen Sabbat mehr!“ Er sagt: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.“ Und er veranschaulicht dies an einem Beispiel: Hat nicht David auch, als er Hunger hatte, sich über die damaligen Gebote hinweg gesetzt und die Schaubrote im Tempel gegessen – die nur der Hohepriester alleine essen durfte?

Und von der Heiligen Theresa von Avila wird erzählt, dass sie in der Fastenzeit einem Adligen einen Besuch abstattete, der gerade mit Freunden beim Essen saß. Er sagte zu Theresa: Er würde sie gerne zum Essen einladen und es täte ihm sehr leid, dass sie als Nonne ja wohl in der Fastenzeit an so einem Essen nicht teilnehmen dürfe. Darauf soll die Nonne fröhlich geantwortet haben: „ Ach wissen Sie, wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn, wenn Fasten, dann fasten.“ Und die Tischgesellschaft soll nicht schlecht gestaunt haben, als sie sich ihr Rebhuhn schmecken ließ!

Angewandt auf unsere gegenwärtige Situation in Corona-Zeiten:
Auch hier geht es um das Finden einer mittleren Position. Das Gute ist etwas Wohltemperiertes. Weder überhitzt noch vereist. Einen wunderschönen Satz aus dieser wohltemperierten mittleren Position heraus hat Jesus in unserem Predigttext formuliert: „Der Mensch ist nicht um das Sabbats willen, sondern der Sabbat um des Menschen willen“.

Der Nachteil der Mitte, einer mittleren Position ist: Ich kann mich nicht festhalten. Ich muss frei auf meinen Füßen stehen. Pole, polares Denken verleiht scheinbare Sicherheit.
Unsicherheit hingegen erhöht die Angst. Der große Nachteil demokratischen Denkens und Handelns ist die Unsicherheit, die mit ihm zu ertragen ist. Es gibt niemanden mehr, der recht hat. Es gibt keine Instanz mehr, die losgelöst von allem (lateinisch: absolut) gilt. Stattdessen gibt es das Abwägen, die Diskussion, die Auseinandersetzung und das Zusammentragen der verschiedensten Anschauungen.
Und es gibt keine Garantie.
Die Sehnsucht nach etwas Allmächtigem („Ich glaube an Gott den Allmächtigen…“) ist nichts weiter als die Sehnsucht danach, die Ängste einer mittleren Position nicht ertragen zu müssen.

„Den weißen Wolf füttern“ heißt von daher: Lernen in Unsicherheit zu leben. Dafür brauche ich ein Füllhorn voller Vertrauen, dass mich meine Beine schon tragen werden. Die wiederum getragen werden von dem Boden unter mir. Tief verwurzelt auf der Erde und so aufragend in den Himmel – das ist unser menschlicher Stand.
So werden wir aufgerichtet – so sind wir aufrichtig. Vor allem und ohne alles: „Du musst…“ Also vor aller Moral!

Liebe Gemeinde,

jetzt, am Ende dieser Predigt, würde ich gerne noch einen hoffnungsvollen Satz formulieren. Derart, dass der schwarze Wolf, wenn man nur genügend Verständnis für ihn aufbringt, sich verändern wird. Dass auch er lernen wird zu lieben, und es nicht mehr so nötig hat, zu hassen, auf seinem Misstrauen gepaart mit Überheblichkeit zu beharren. Meine Lebenserfahrung spricht dagegen. Wir leben nicht im Paradies. Und das Happy-End der Geschichte besteht darin, zu merken, dass in meiner Brust stets der weiße und der schwarze Wolf miteinander kämpfen. Indem ich dies erkenne, hat der schwarze Wolf seine Übermacht verloren.
Schenke Gott uns den Mut und die Kraft, uns immer wieder unserer Fähigkeit zu lieben zuzuwenden – und uns von unserer Fähigkeit für Hass und Destruktion abzuwenden. Und Gott erhalte uns die innere Verbindung zu so prophetischen Sätzen wie diesem:
„„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, und der Herr von dir fordert: Gottes Worte halten, Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott“ . AMEN.

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