Predigt über 1. Thessalonicher 5, 1-10 (2020) – drittletzter Sonntag des Kirchenjahres

Liebe Gemeinde,

wie lange noch?“

Wer Kinder hat, kennt diese berühmt-berüchtigte Frage. Auf der Fahrt in den Urlaub, während einer Wanderung.

Ich kenne sie auch aus meiner Studienzeit. Man sitzt in einer Vorlesung und hat das Gefühl, die Zeit bleibt stehen.

Die Gefühle, die zu dieser Frage gehören, haben insbesondere mit Ungeduld, Langeweile, auch Ärger zu tun: „Es reicht jetzt langsam …“

Bei Kindern würde man sagen: Sie fangen an zu quengeln.

Wie lange noch?“ das ist auch eine Frage der beiden zentralen Texte dieses Sonntags. Im Evangelium fragen die Pharisäer: „Wann kommt das Reich Gottes?“

Jesu Antwort ist knapp: „Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier!, oder: Da!

Denn sehet: Das Reich Gottes ist mitten unter euch“ (Lukas 17, 20-21)

Inwendig in Euch“ übersetzt M. Luther – vielleicht in Anlehnung an Johannes Tauler, den er sehr verehrte.

Hinter der Frage: „Wie lange noch?“ „Oder wann kommt denn endlich…“ steckt freilich nicht nur Ungeduld, sondern auch Sehnsucht. Die Sehnsucht nach etwas „Neuem“. Auch nach Erneuerung. Endlich ankommen. Endlich ein neues Reich, in dem endlich, endlich Frieden und Gerechtigkeit herrschen.

Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen“, heißt es thematisch passend im heutigen Wochenspruch.

Die Erneuerung beginnt schon jetzt – und steht noch aus. In dieser Spannung leben wir alltäglich. Das Reich Gottes ist mitten unter euch – aber nicht so, dass wir seiner habhaft sind. Reich Gottes ist kein Besitz und lässt sich niemals besitzen.

Reich Gottes ist ein Geschehen – unverfügbar, völlig überraschend. Es kommt wie „ein Dieb in der Nacht“ sagt Paulus in unserem heutigen Predigttext.

Hören Sie selbst – es ist das letzte Kapitel des 1. Thessalonicherbriefes (5, 1-11)

„1Von den Zeiten aber und Stunden, Brüder und Schwestern, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; 2denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. 3Wenn sie sagen: „Friede und Sicherheit“, dann überfällt sie schnell das Verderben wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entrinnen.

4Ihr aber seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme. 5Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. 6So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein. 7Denn die da schlafen, die schlafen des Nachts, und die da betrunken sind, die sind des Nachts betrunken. 8Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil.

9Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, die Seligkeit zu besitzen durch unsern Herrn Jesus Christus, 10 der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben. 11Darum tröstet euch untereinander und einer erbaue den andern, wie ihr auch tut.“

Kennen Sie das: Man wartet und wartet auf etwas hin: Ein ersehnter Anruf, ein ersehntes Ereignis – und die Zeit dehnt sich schier unendlich. Und auf einmal – meist dann, wenn man aufgehört hat zu warten, ist es da. Paulus vergleicht dieses „auf einmal mit dem Einsetzen von Geburtswehen, denen man nicht mehr „entrinnen“ kann. „Wenn sie sagen ‚Frieden und Sicherheit‘, dann überfällt sie schnell das Verderben wie die Wehen eine schwangere Frau …“ (V. 3)

Mit diesem Gedanken beginnt eine wertende Dualität, die sich im weiteren Verlauf unseres Textes fortsetzt: Die „Finsternis“ ist „böse“, in ihr kommt der Dieb, der einen überfällt. Der Tag hingegen, Symbol des Lichtes, ist „gut“. Zur Nacht gehört für Paulus schlafen und betrunken sein. Der Gegenpol ist „wachen“ und „nüchtern“ sein. Und natürlich gehören die, denen er den Brief schreibt, zu den „Guten“. „Ihr alle seid Kinder des Lichtes und des Tages.“ Wir sind nicht wie die Anderen, die von „der Nacht und von der Finsternis“ sind. Diese Gedanken sind Ausdruck eines sehr einfachen, polarisierenden Denken, das auf der Grundlage von Gut-Böse-Spaltungen funktioniert. Es hat aktuell große Popularität und ist deshalb so gefährlich, weil es versucht, demokratische Grundwerte zu zerstören. Demokratisches Denken beruht nämlich auf der Einsicht, dass „die absolute Wahrheit“ unerkennbar ist. Sie ist genauso wenig zu besitzen, sie lässt sich genauso wenig „haben“, wie das „Reich Gottes.“

In wirklichem spirituellen Denken geht es nicht um Polarisierung – sondern um Versöhnung. Versöhnung bedingt aber, Verbindungen zu sehen, auf Zusammenhänge hinzuweisen. Ohne die Nacht gibt es keinen Tag und umgekehrt. Und schlafen ist die andere Seite des Wach-Seins und umgekehrt. Und – spannend: In der jüdischen Spiritualität, der Kabbala, heißt es unter Berufung auf Genesis 1, 5: Der Tag beginnt am Abend. (In der Schöpfungsgeschichte heißt es wörtlich: „So ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“) Der Tag ist dann die Ausformulierung oder das Sichtbar-Werden dessen, was in der Nacht des Unbewussten geschehen ist.

Und in der chinesischen Mystik gehören das weiße Yang und das schwarze Yin untrennbar zusammen. Dem weißen Yang werden die Eigenschaften: hell, hoch, hart, heiß, positiv, aktiv, bewegt, männlich zugeschrieben. Das schwarze Yin ist: dunkel, weich, feucht, kalt, negativ, passiv, ruhig, weiblich. Das Bild dazu ist einerseits die „Südseite von Tälern“ (Yang) und andererseits die „Nordseite eines Berges“. Sogar in der deutschen Sprache ist „der Tag“ männlich, „die Nacht“ weiblich. Uns S. Freud vergleicht „die Seele der Frau“ mit dem afrikanischen, dem „dunklen Kontinent“. Entscheidend bei allem ist: Yin und Yang, männlich und weiblich, Tag und Nacht sind einander ergänzende und aufeinander bezogene Bereiche – und genau nicht sich gegenseitig bekämpfende!

Es wird immer wieder darauf hingewiesen, wie sehr Amerika geprägt ist von evangelikalem Denken. Und leider bedient der rassistische Populist Trump die große Sehnsucht dieses Denkens, dass es nämlich nur eine einzige Wahrheit gibt, und dass er in dem Besitz dieser Wahrheit ist. Es gibt bei Paulus (und in allen – insbesondere – monotheistischen Religionen) diese Art des Denkens. Wir stoßen auf sie nicht nur in unserem Predigttext. Das Zentrum seiner Wertungen ist sein Auferstehungsdogma:

Ist Christus aber nicht auferweckt worden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich“ (1. Korinther 15, 14)

Die Wahrheit aber ist: Auch Leben und Sterben ergänzen einander!

Indem ich jetzt versuche, die Gedanken des Paulus von ihrem Absolutheitsanspruch zu befreien, werden sie viel milder.

… wir wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil.“

Dagegen habe ich keine Einwände, auch wenn ich nicht verstehe, weshalb Glaube, Liebe und Hoffnung einen „Panzer“ benötigen. Für mich ist es eher so: Wenn Glaube, Liebe und Hoffnung inwendig in dir leben, so werden sie auch aus dir heraus leuchten. Und dies werden deine Mitmenschen spüren. Glaube, Liebe und Hoffnung sind wesentliche Bausteine, mit denen das Reich Gottes aufgebaut wird. Und: Sie gehören niemandem exklusiv, auch keiner Religion. Indem ich mich freue, dass auch andere Menschen (Religionen) eben diese Baustein verwenden, erübrigt sich Hass, Neid, Gier und Missgunst. Und dann kann ich Paulus wieder sehr zustimmen, wenn er schreibt: „Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn …“

Und wozu sind wir von Gott her bestimmt?

„ … dazu, die Seligkeit zu besitzen durch unsern Herrn Jesus Christus, 10 der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben.“

Man könnte auch – weniger Besitz ergreifend – satt „die Seligkeit zu besitzen…“ übersetzen : „ … das Heil zu erlangen …“

Ich verbinde „Heil“ mit Ganz-Werden. An die Stelle, wo Verbindungen abgeschnitten worden sind, darf wieder etwas zusammen wachsen. Es entstehen neue, eben heilsame Verbindungen. Ich weiß nicht, wie bewusst das Paulus gewesen ist: Aber in seinem Schlussgedanken: „damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben…“ verlässt er auf einmal die Polarisierung von wachen und schlafen. In der heilsamen Gegenwart „unseres Herrn Jesus Christus“ ist es egal, ob wir wachen oder schlafen … !

Von daher möchte ich den Schlussgedanken so verstehen: Jeder Mensch ist dazu berufen, sich auf den Weg des eigenen Ganz-Werdens zu machen. Dies ist ein unendlicher Weg, der jedenfalls bis zur Todesstunde zu gehen ist. Ganz-Werden bedeutet, sich die Ganzheit dessen, was „in einem drin ist“ anzueignen. Und mit den Waffen von Glaube, Hoffnung und Liebe sich nicht von diesem Weg abbringen zu lassen. Wir sind nämlich so erschaffen, dass in uns stets auch die Gegenkräfte sind, die uns von diesem Weg zu unserem Heil-Sein abbringen wollen.

Als Kompass für diesen Weg können uns unsere Nacht-Träume helfen und dienen. Sie sind gleichsam Leuchttürme in der Dunkelheit der Nacht. An ihnen entlang können wir uns orientieren – vorausgesetzt wir haben die Kraft und die Bereitschaft, sie ernst zu nehmen und verstehen zu lernen. Dann nämlich werden unsere Träume zu Brücken, die die Nacht mit dem Tag, die Unbewusstes mit Bewusstem, die Gefühle mit Verstand verbinden. Je stärker diese Verbindungen werden, desto kräftiger wird das Reich Gottes in diese Welt hinein leuchten. Von dem Jesus sagt: Es ist schon da:

Das Reich Gottes ist mitten unter euch!“ AMEN.

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