Predigt über Apostelgeschichte 16, 23-34 am Sonntag Kantate 2019

Liebe Gemeinde,

unser heutiger Predigttext lässt sich als eine nette Geschichte von der Gefangennahme und der wundersamen Befreiung des Paulus und seines Mitstreiters Silas lesen. Nebenbei wird auch noch der Kerkermeister samt Familie zum rechten Glauben bekehrt. „Nett“ – das ist die kleine Schwester von „besch … eiden“-.

Ich will versuchen, unseren heutigen Text als Impuls dafür verwenden, über Befreiung nachzudenken. Und zwar auf dem Hintergrund des vorhin gehörten Evangeliums, in dem der ungewöhnliche Satz erklingt: „Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ (Matth. 11, 30) Das sagt derselbe Jesus, der unter der Last seines Kreuzes auf dem Weg nach Golgatha zusammen gebrochen ist!

Um sinnvollerweise von Befreiung reden zu können, muss man von einem Gefängnis reden. Wer sich nicht „gefangen“ fühlt, der hat auch kein Interesse an Befreiung. Sich nicht gefangen fühlen, heißt freilich nicht, nicht gefangen zu sein. Wer völlig eins ist mit seiner Gefangenschaft ist, wer meint, es ginge ihm hervorragend gerade so, wie es ist und er spüre keinerlei Gefängnis – der kann mit Befreiungspredigten wenig anfangen. Hinzu kommt, dass bekanntlich das Gefängnis ein ausgesprochen sicherer Ort. Und somit empfehlenswert für alle Sicherheitsbedürftigen. Wir sind zur „Freiheit verdammt“, hat Sartre gesagt. Freiheit ist gepaart mit Unsicherheit. Und Unsicherheit ist ein ekelhaftes Gefühl.

Fühlen Sie sich befreit? Oder gar: Fühlen Sie sich frei? Oder zucken Sie mit den Achseln und denken: Was meint der? Wovon redet der? Will mir der etwas einreden, ich sei gar nicht frei?

Es gibt Menschen, die sagen: Ich habe ein gutes Auskommen, bin materiell abgesichert, könnte ein schönes, freies Leben führen – aber ich schlafe schlecht, bin unruhig, nervös. Ich habe keinen rechten Hunger und dann wieder Heißhunger. Abends trinke ich zu viel Alkohol, um wenigstens ein bisschen zu entspannen. Aber wovon eigentlich? Warum fühle ich mich immer so unter Druck? Ich möchte einfach diese blöden Gefühle loswerden! Die müssen sich doch abschütteln lassen. Ich möchte einfach nur mein Leben genießen. Ist das etwa zu viel verlangt?

Es gibt Menschen, die sagen: Ich arbeite Tag und Nacht, ich „amsle“ mich auf – und bin trotzdem nie zufrieden. Irgendwas treibt mich an – und ich weiß nicht was.

Menschen, die das sagen können, die spüren etwas. Sie spüren Gefühle, zumeist verpackt in Gedanken. Und jetzt ist die Frage, wie es weitergeht: verwende ich meine Energie darauf, das, was ich spüre möglichst nicht ernst zu nehmen. „Das kennt doch jeder!“ „Es kann einem nicht immer gut gehen!“ Und außerdem: was bringt es schon, sich so vagen Gefühlen zuzuwenden? Lenken wir uns lieber ab – vertreiben uns die Zeit! Das schöne oder auch schlimme Wort Zeitvertreib (das es so nur in der deutschen Sprache gibt) ist oftmals gepaart mit „Gefühlsvertreib“. Nur nicht spüren…

Ja – was eigentlich spüren?

Es gibt so einfach-unbequeme Fragen:

Wer bin ich? Was soll ich hier auf dieser Welt? Was ist mein Platz?

Da lieber noch eine Runde schlafen.

Nein, nein – passt schon. Alles ist in Ordnung. Das sind nur manchmal so Stimmungsschwankungen. Die gehören dazu. Und diese blöden Träume, in denen ich verfolgt werde. Aber das ist alles nicht so schlimm.

Es ist verbreitet, Freiheit mit: „Ich kann tun und lassen, was ich will!“ zu verwechseln. Das hat mit Freiheit aber nichts zu tun – das ist Willkür. Und da wir Menschen alle Tiere sind, steht hinter dieser scheinbaren Freiheit die Lust: Ich kann tun und lassen, was ich will, heißt: Ich will Lust erleben und Unlust vermeiden.

Hinzu kommt: Befreiungen sind oftmals mit katastrophalem Zusammenbrüchen verknüpft. Die Befreiung Europas aus der Herrschaft der absolutistischen Monarchen (Sinnbild: der „Sonnenkönig“ – Ludwig XIV. – „der Staat, das bin ich…“) führte in die Wirren der französischen Revolution. … führte zu einem Napoleon, der sich zum Kaiser krönen ließ. Die Befreiung Deutschlands vom totalitären Regime des Nationalsozialismus führte zu einer schweren kollektiven Depression, die nicht durchlitten wurde. Stattdessen wurde sie kompensiert: Die Kompensation hieß „Wirtschaftswunder“. Machen statt fühlen – ein im übrigen verbreiteter Umgang gerade mit depressiven Gefühlen. Und machen ist ein toller Zeitvertreib!

Es gibt Menschen, die intuitiv wissen: Wenn ich das, was ich da vage in mir spüren, ernst nehme, muss ich mein ganzes Leben von Grund auf verändern. Und das ist mit extremer Unlust und Angst verbunden.-

Wie passt nun unser Predigttext in diese Vorüberlegungen?

Hören Sie selbst:

23 Nachdem man sie (gemeint sind Paulus und sein Begleiter Silas) hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Aufseher, sie gut zu bewachen. 24 Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block. 25 Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und die Gefangenen hörten sie.

26 Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, so daß die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen, und von

allen fielen die Fesseln ab.

27 Als aber der Aufseher aus dem Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offenstehen, zog er das Schwert und wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen.

28 Paulus aber rief laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier!

29 Da forderte der Aufseher ein Licht und stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen. 30 Und er führte sie heraus und sprach: Liebe Herren, was muss ich tun, daß ich gerettet werde?

31 Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!

32 Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Hause waren.

33 Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen 34 und führte sie in sein Haus und deckte ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause,

daß er zum Glauben an Gott gekommen war.

Wesentliche Elemente der Geschichte, noch einmal zusammengefasst, sind:

Paulus und seine Mitstreiter sind im „innersten Gefängnis“ – im „Hochsicherheitstrakt“ und die Füße sind noch einmal „in einem Block“ eingesperrt. Sicherer geht es nicht.

Zeitgleich mit dem „Gotteslob“ der Gefangenen geschieht ein Erdbeben und die Gefangenen sind „frei“.

Der Aufseher will sich aus Angst vor seinem „Versagen“ selbst töten.

Die Gefangenen sind aber gar nicht geflohen.

Der Aufseher fragt, wie er gerettet werden kann.

Die Rettung ist der „Glaube an den Herrn Jesus“.

Der Aufseher freut sich gemeinsam mit seinem Haus, dass er „zum Glauben an Gott“ gekommen ist.

Liebe Gemeinde,

unser Predigttext ist eine Befreiungsgeschichte. Sie führt allerdings in eine Freiheit, die viele nicht als Freiheit erleben: Es ist ein frei werden für etwas. Wie schon gesagt, bedeutet vielen Menschen Freiheit, jederzeit tun und lassen zu können, was man will. Das ist eine Freiheit von Zwängen, Abhängigkeiten, Anpassungen, Verpflichtungen. Dahinter versteckt sich der Wunsch oder die Gier nach ungebremster Lust: Es soll jederzeit so sein, wie ich, mein Lust-Ich es haben will. Und ich sehe gar nicht ein, mich an etwas anzupassen, was mich stört. „Freie Fahrt für freie Bürger“ – das war und ist der Slogan, mit dem wider aller Vernunft es in unserem Land nicht möglich ist, ein Tempolimit auf Autobahnen einzuführen. Wer dies für Freiheit hält, dem hat die Botschaft Jesu nichts zu sagen.

Jesus spricht uns nämlich nicht in dem Sinne frei, dass er sagt: „Ihr könnt tun und lassen was ihr wollt.“ Jesus sagt: „Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ (Mt. 11, 29-30)

Das Joch – übrigens vom Wort her stammverwandt mit Yoga – ist üblicherweise verbunden mit „hart“ und „geknechtet“. Es wurde den Zugtieren, vornehmlich Ochsen, aufgesetzt, um eine optimale Kraftübertragung vom Pflug oder dem zu ziehenden Wagen zu erreichen. Freiheit heißt hier, befreit sein von diesem Joch sein, von diesem Gefühl, vor einen fremden Wagen gespannt zu sein. Jesus selbst kennt – wie gesagt – das harte Joch des Kreuzes, unter dem er zusammen gebrochen ist. Aber das Joch, von dem Jesus hier spricht, ist ein ganz anderes: Es ist seine innige, vertrauensvolle, liebevolle Beziehung zu seinem (himmlischen) Vater: „Niemand kennt den Sohn als nur der Vater, und niemand kennt den Vater als nur der Sohn …“

Diese Beziehung ist „leicht“ – denn sie geschieht in Liebe. Und da und nur da, wo die Liebe herrscht – da ist wirkliche Freiheit. Jede Form von Kontrolle, Gängelung, Bemächtigung des Anderen führt aus der Liebe heraus. Es gibt Menschen die sagen: Wenn ich das oder das mache, dann werde ich geliebt. Wenn mich der Andere braucht, wenn ich erfolgreich bin, wenn ich hilfsbereit bin … Das ist eine Täuschung.

Wenn ich mich nützlich mache, dann bin ich nützlich – nicht mehr und nicht weniger. Es kann sein, dass ich ein nützlicher Idiot bin. Wenn ich erfolgreich bin, dann habe ich Erfolg – und das ist es auch schon. Es kann sein, dass ich um meinen Erfolg beneidet werde – und durchaus nicht dafür geliebt werde. Liebe hat mit all dem nämlich wenig zu tun. Liebe lässt sich nicht machen, nicht herstellen. Liebe gibt es nur geschenkt – genauso wie Freude, Dankbarkeit, Reue und eben auch Freiheit …

Wer die Freiheit dieser geschenkten Liebe erlebt, wer in der Freiheit dieser Liebe leben darf – der sein Joch mit dem Joch Jesu getauscht. In dieser Freiheit kehrt Ruhe ein. Aus dieser Freiheit heraus nützen Paulus und Silas ihre Befreiung nicht aus, sie müssen nicht fliehen.

Für mich dies das eigentliche Wunder der Geschichte: Die befreiten Gefangenen bleiben da. Freiheit fühlt sich als gelassene Heiterkeit an: Die innere Getriebenheit löste sich. Offenbar ist es das, was den Kerkermeister erreicht: „Ihr Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde?“ Etwas freier übersetzt heißt das für mich: „Was muss ich tun, dass ich so frei werde, wie ich euch erlebe?“ Was muss ich tun, dass ich befreit werde aus der Gefangenschaft meines alten Denkens, in dem Misstrauen, Absicherung und Kontrolle die Priorität hat. Die Antwort ist einfach: „Nimm Jesu Joch auf dich – glaube an Jesus Christus!“ Und was heißt das konkret und alltagstauglich?

Die Christen müssten erlöster/befreiter aussehen, wenn an Ihrem Glauben etwas dran sein sollte“, sagt Friedrich Nietzsche spöttisch-überheblich. Nun – es stimmt schon: Ich laufe auch nicht alltäglich mit einem Lächeln herum, insbesondere dann, wenn es mir nicht gut geht. Aber es stimmt auch: Die Sorgenwolken sind in der Regel selbstgemachte, sie kreisen um Vergangenes oder um Zukünftiges und verlieren gerade so den Kontakt, die Verbindung zu meiner Gegenwart. Die Gegenwart ist das, was es/sie gerade ist. Nicht mehr und nicht weniger. Sich ihr hinzugeben, sich ihr zu überlassen erleichtert das Leben, die Gegenwart, erheblich! Denn Leben gibt es nur als Gegenwärtiges.

Bleibt noch eine Frage offen, liebe Gemeinde:

Wieso eigentlich soll dieser Text gerade heute, an Sonntag Kantate, gepredigt werden? Diese Frage ist mir tatsächlich erst hier – am Ende meiner Predigt gekommen. Und ich habe gemerkt, dass ich keine Ahnung habe. Was macht man, wenn man keine Ahnung hat? Man schaut, ob jemand Anderes eine Ahnung hat.

Und so habe im Internet mir Predigten von Kollegen zu unserem Text durchgelesen. Und siehe da – die wissen es: Paulus und Silas sangen im Gefängnis. Sie „lobten“ Gott heißt nämlich eigentlich: Sie sangen Hymnen, Loblieder auf Gott. Und das alte Evangelium für den heutigen Sonntag ist auch ein Loblied: Das Loblied Jesu auf die Beziehung zu seinem Vater. „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde …“ Und im neuen Evangelium heißt es: sie fingen an „Gott zu loben mit lauter Stimme …“ Und weiter: „Wenn diese schweigen, werden die Steine schweigen…“ (Lukas 19, 37 und 40)

In diesem Sinne – höre ich jetzt auf zu reden, stattdessen wollen wir singen, und zwar die Hymne der befreiten Seelen, die in und durch Jesus Christus befreit worden sind:

Selig seid ihr, wenn ihr einfach lebt, selig seid ihr, wenn ihr Lasten tragt, selig seid ihr, wenn ihr lieben lernt, selig seid ihr, wenn ihr Güte wagt.

Gebe Gott, dass wir die Kraft haben, unsere Seele für ein seliges Leben zu befreien, AMEN.

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