Predigt über Jesaja 12 am 14. Sonntag nach Trinitatis (Thomaskirche Grünwald)

Liebe Gemeinde,

„Sind nicht die zehn rein geworden? Wo sind aber die neun?“

So fragt Jesus in unserem vorhin gehörten Evangelium.

„Hat sich sonst keiner gefunden, um Gott die Ehre zu geben?“

Es geht um Dankbarkeit.

Indem ich ehrlichen Herzens „danke“ sage, erkenne ich an, etwas bekommen zu haben, das ich mir selbst nicht habe geben können. Ich habe mir etwas schenken lassen. Das setzt Offenheit voraus. Und die Anerkenntnis, dass ich nicht alles selber machen kann. Dass der Andere auch etwas weiß, etwas kann.

„Lehre mich Herr, an anderen Menschen unerwartete Talente zu sehen, sie zu fördern und verleihe mir die schöne Gabe, sie auch zu erwähnen“, heißt es in einem Gebet von Theresa von Avila.

Ich habe etwas bekommen, das ich mir selber nicht geben konnte. Damit stehe ich auch in der Schuld des Anderen. Ein weiteres unangenehmes Gefühl. Man bleibt nicht gerne etwas schuldig. „Ich werde mich revanchieren“, sagt man dann. So als müsste man sich dafür rächen, etwas geschenkt bekommen zu haben…

„Wo sind die neun?“ fragt Jesus. Ist er so bedürftig, so darauf angewiesen, dass man sich bei ihm bedankt?

Das gibt es auch. Das hieße: „In der Tiefe habe ich dir das und das gegeben, damit du siehst, wie gut ich zu dir bin! Mehr noch: Wie gut ich überhaupt bin!“ Das sind die Menschen, die sich für Andere aufopfern – aber bitte, es muss auch etwas zurück kommen. „Mama, ihm schmeckt’s nicht!“ So was geht gar nicht. Jetzt habe ich mir so eine Mühe gegeben, und dir schmeckt es nicht!

„Gott die Ehre geben!“ sagt Jesus. Nicht: Das Mindeste wäre doch, sich bei mir zu bedanken. Das ist die narzisstische Ebene: „Ich habe dir oder ihm oder der Institution Kirche so viel gegeben – und was ist der Dank dafür?“ Wer in dieser narzisstischen Ebene stecken bleibt, der steht in großer Gefahr zu verbittern. In der Tiefe geht es nicht um Gott, der immer der fremde Dritte ist („Ich bin, der ich bin …“) sondern um den eigenen Selbstwert. Um seine Stabilisierung.

In unserem heutigen Predigttext – aus dem Buch des Propheten Jesaja – geht es auch um Dankbarkeit, je er ist ein Danklied, ein Dankpsalm. Sein Kontext sind die katastrophalen Erfahrungen, die Israel gerade macht. Sein König Ahas biedert sich (mit viel Geld) bei den mächtigen Assyrern an, mit dem Erfolg, dass Israel zu einem Vasallen der Assyrer wird. Der König übernimmt sogar religiöse Praktiken der Assyrer, was ihm den Zorn des Propheten Jesaja einbringt. Jesaja ist der Meinung, Israel solle auf auf jede Form menschlichen Paktierens und Taktierens verzichten. Die einzige Hoffnung ist „Gott allein“. Und damit verbunden die Hoffnung auf das Kommen eines gerechten Königs. So heißt es kurz vor unserem Predigttext: „Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais (Isai ist der Vater von König David.) und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen“ (Jesaja 11, 1) Sie kennen diesen Text: Es ist die erste Strophe von: „Es ist ein Ros entsprungen, aus einer Wurzel zart …“

Jesajas Botschaft bewegt sich somit stets zwischen Hoffnung und Verzweiflung.

Und inmitten dieser Bewegung taucht nun unser heutiger Predigttext auf, ein Danklied:

Das Danklied der Erlösten

1 Zu der Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, HERR! Du bist zornig gewesen über mich. Möge dein Zorn sich abkehren, dass du mich tröstest. 2 Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht; denn Gott der HERR ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil. 3 Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Brunnen des Heils. 4 Und ihr werdet sagen zu der Zeit: Danket dem HERRN, rufet an seinen Namen! Machet kund unter den Völkern sein Tun, verkündiget, wie sein Name so hoch ist! 5 Lobsinget dem HERRN, denn er hat sich herrlich bewiesen. Solches sei kund in allen Landen! 6 Jauchze und rühme, die du wohnst auf Zion; denn der Heilige Israels ist groß bei dir.

Im Grunde sind es zwei Danklieder: Das erste geht von Vers 1 – 3, das zweite von Vers 4 – 6.

Das erste beginnt mit einer merkwürdigen Verbindung: „Ich danke dir, Herr! Du bist zornig über mich gewesen.“

Ein Dank für den Zorn Gottes? Ist da nicht was verdreht?

Kann ich jemand dankbar sein, der sauer auf mich ist?

Der die Beziehung zu mir abgebrochen hat, kein Interesse mehr an mir hat?

Wohl eher nicht.

Aber gibt es auch einen anderen Zorn? Einen Zorn der mir die Augen öffnet?

Ich finde es zum Beispiel schwer auszuhalten, mit anzusehen, wie jemand seine Talente und Begabungen liegen lässt. Oder auch wie jemand sich gehen lässt. …

Wobei sich natürlich sofort die Frage stellt: Was halte ich denn da nicht aus?

Es ist doch nicht mein Leben. …

Und woher weiß ich, was für den Anderen gut und was für den Anderen schlecht ist?

Ich fürchte, in unserer unbewussten Tiefe ist es so, dass unser Zorn, auch der vermeintlich „gerechte Zorn“, sehr viel mehr über uns selbst aussagt und mit uns selbst zu tun hat, als wir wahrhaben wollen.

Dazu gibt es eine Geschichte von Rumi:

„Ein vernünftiger Mann sagte zu Jesus: ‚Was ist im Leben am Schwersten zu ertragen?‘

Der antwortete: ‚O mein Lieber, das Schwerste ist Gottes Zorn; die Hölle zittert ebenso davor wie wir.‘

Er sagte: ‚Wie kann man sich vor Gottes Zorn schützen?‘

Jesus sagte: ‚Wenn du deinen eigenen Zorn sofort aufgibst.'“

Und Rumi fährt überraschend aktuell fort:

„Wenn deshalb der Zorn sich im Polizisten niederlässt, übertrifft er in seiner Hässlichkeit sogar den Zorn eines wilden Tieres. Welche Hoffnung auf Gottes Gnade bleibt ihm, wenn sich dieser unbegabte Mensch nicht von seiner schlechten Eigenschaft trennt?“

Und dann differenziert er: „Obwohl die Welt nicht ohne solche Leute auskommt, ist diese Feststellung geeignet, die Hörer in die Irre zu führen.

Die Welt kann auch nicht ohne Urin auskommen, aber Urin ist kein quellendes Wasser.“

Ich verstehe das so: Unter den Bedingungen des Lebens in dieser unserer Welt, und wir haben keine andere, gibt es Zorn und muss es Zorn geben. Ein guter Polizist verwendet seinen Zorn dafür, die staatliche Ordnung und damit unser menschliches Zusammenleben zu schützen. Ich würde dafür eigentlich lieber Aggression sagen. ABER: Ein guter Polizist lässt sich von seinem Zorn nicht überfluten und nicht dazu hinreißen, Sätze zu sagen oder Sachen zu machen, die seine Mitmenschen entwürdigen. Wenn er selbst zuschlägt oder jemand aus Zorn erschießt, ist er gerade zu dem geworden, vor dem er uns, die Gesellschaft schützen sollte. (Dieses Beispiel lässt sich auch auf einen guten Politiker, einen guten Lehrer oder auf gute Eltern anwenden.)

Etwas unscharf ausgedrückt: Lass ich mich von meinem Zorn, schlimmer noch Hass „hinreißen“?. Dieses „Sich-Hinreißen-lassen“ ist Ausdruck davon, dass wir unerträgliche Ohnmachtsgefühle nicht länger ertragen können. Eine innere Stimme flüstert mir ins Ohr: Das musst du dir nicht bieten lassen! Endlich geht ein Ventil für den lange unterdrückten Zorn auf. Endlich stimmt meine Moral mir zu: „Jetzt darfst du zuschlagen …“

In der Geschichte gibt es unendlich viele Beispiele für diese Dynamik. Zunächst wird dem Anderen sein Wert, seine Würde, seine Daseinsberechtigung abgesprochen und damit wird die Erlaubnis gegeben, ihn zu quälen, zu foltern und am Ende zu vernichten …

„Wie man sich vor Gottes Zorn schützen?“

„Indem du deinen eigenen Zorn sofort aufgibst“ sagt Jesus bei Rumi.

Prostest!

Dann entwaffne ich mich ja freiwillig und stehe wehrlos da. Hätte die Ukraine ihren Zorn auf die russische Invasion sofort aufgegeben, wäre sie eingenommen worden. Ich muss mich doch verteidigen. Und es muss eine wachsame Polizei geben, die unsere Demokratie schützt.

Sie merken, das Thema ist ganz schön komplex.

„Was heißt das denn: „Sich von seinem Zorn trennen?“

Das heißt: Die Fähigkeit zu behalten, sich nicht von seinem Zorn hinreißen zu lassen. Wut macht dumm! Und dumm heißt in diesem Fall:

Der nüchterne Blick auf das „Ganze“ geht verloren. In meinem Zorn sehe ich nur mehr einen Ausschnitt des Ganzen und halten ihn aber für das Ganze.

Anders ausgedrückt: Ich nehme einen Teil für das Ganze. Ich setzte einen Teil absolut. Damit aber geht die gute und gerechte Ordnung, in der jeder und jede den für sie oder ihn passenden Platz hat, verloren. Als Menschen aber ist es unsere Aufgabe, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken. Dieser Blick bereichert meine Sichtweise und relativiert sie in einem.

Es ist letztlich eine Frage des Platzes, den mein Denken zur Verfügung stellt. Habe ich genug Denk-Raum, auch (für mich) sehr fremde Gedanken an mich heranzulassen? Und: Habe ich genug Trost-Raum, mich an meiner „Sicht der Dinge“ zu erfreuen, auch und gerade, wenn diese Sicht andere Menschen nicht interessiert? Je mehr Raum, je mehr Weite in meinem Denken entsteht, desto überflüssiger wird Zorn. Wenn mich das Anders-Denken, das Anders-Aussehen, das Anders-Sein des Anderen nicht bedroht, warum sollte ich dann zornig werden?

Und genau da kommt Gott ins Spiel. Gott ist unendliche Weite. Gott ist das Wort für die letzte, alles umfassende Ganzheit. Eine Ganzheit, zu der wesentlich gehört, dass sie unerkennbar ist, so wie Gott selbst unerkennbar ist. Wir Christen glauben aber, dass dieser unerkennbar weite Gott sich in ganz besonderer Weise in Jesus Christus bekannt gemacht, christlich „geoffenbart“ hat. Wir Christen glauben, dass Gott in diesem einmaligen und besonderen Menschen Jesus uns Menschen so nahe gekommen ist, dass wir es wagen, von seinem „Sohn“ zu sprechen. Mehr noch: Dass wir es wagen, ihn „unseren Bruder“ zu nennen.

Das ist der Trost, den unsere beiden Danklieder heute anbieten:

„2 Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht; denn Gott der HERR ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil.“

Indem ich dieses Danklied bete, erkenne ich meine Bedürftigkeit an. Und erkenne mein Angewiesen-Sein auf eine Kraft, auf eine Macht, auf eine Energie an, die ich mir nicht selbst geben kann. Wenn ich dies als „unannehmbar“ erlebe, wenn mein Anspruch an mich selbst und an mein Leben mir sagt, du musst aus dir heraus schöpfen, du darfst auf keine andere Kraft angewiesen sein, dann kann ich auch nicht dankbar sein. „Ich habe mir alles selbst aufgebaut. Wenn überhaupt, dann habe ich Grund, mir selbst dankbar zu sein“, sagt diese Stimme. Je mehr Denk-Raum ich dieser Stimme überlasse, desto verbitterter wird mein Leben werden.

Fehlende Dankbarkeit, Enttäuschung und Verbitterung gehören zusammen. Die gemeinsame Quelle, aus der heraus sie fließen ist Hass und aufs engste damit verbunden Neid. Genau hier kommt unsere Freiheit ins Spiel. Es stimmt: Das Erleben von Dankbarkeit lässt sich nicht machen. Genauso wenig, wie das Erleben von Freude oder Schönheit oder Zufriedenheit. Und doch sind wir nicht völlig hilflos und an unserem Hass ausgeliefert.

Denn: Ich kann Einfluss darauf nehmen, wovon ich mich leiten lasse. Wen oder was ich als Wegweiser meines Lebens anerkenne. Auch Jesus konnte nicht verhindern, in der Wüste verführt zu werden. Die Wüste ist der Ort der Leere, wo scheinbar nichts ist. (Was ja in Wirklichkeit gar nicht stimmt!) Im übertragenen Sinne: Wenn ich mich einsam, ungetröstet und unverstanden fühle – da hat die Stimme des Verführers die größte Macht. Ihn entmachten heißt, ihm die Möglichkeit zu nehmen, mein Leben zu beeinflussen. Seinen Einflüsterungen am besten gar nicht zuzuhören. Sie ins Leere laufen lassen. Das setzt eine starke Beziehung zu einem „guten inneren Objekt“ voraus. Jesus lebte aus der Unerschütterlichkeit seiner Vater-Beziehung. Sein Vater war nicht nur irgendwo „da draußen“. Er war tief verankert in seinem Inneren. In dieser liebevollen Vater-Mutter-Beziehung verlieren Hass, Neid und das Bedürfnis nach Rache ihre Macht.

An ihre Stelle tritt das „Reich Gottes“. In ihm gilt: „Siehe mein Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht … mit Freuden schöpfe ich Wasser aus den Brunnen des Heils … und ich danke ihm und lobsinge ihm der da wohnt bei mir…“ AMEN.

(Dr. theol. Lothar Malkwitz, Pfarrer im Ehrenamt und psychoanalytischer Therapeut)

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