Liebe Gemeinde,
der Abschnitt unseres heutigen Predigttextes, einem Wort aus dem AT, ist in der neuen Lutherbibel überschrieben mit: „Die große Wandlung“.
Die Wortfamilie von „Wandlung“ ist “winden“. Eine Wand war ursprünglich etwas „Gewundenes“ etwas „Geflochtenes“. „Wandeln“ bedeutet ursprünglich, etwas immer wieder hin und her wenden. Wie ein guter Brotteig immer wieder hin und her geknetet werden muss. S. Freud nennt das „Durcharbeiten“. Wandlung setzt also die Fähigkeit voraus, sich geduldig auf einen Prozess einzulassen, in dem etwas immer wieder hin und her bewegt wird. Bis es schließlich „so weit ist“. „So weit“ heißt im Bild des Brotteiges: dass der Teig nunmehr in den Backofen kommt – „so weit“ heißt im übertragenen Sinne, dass eine wohl-überdachte Handlung ausgeführt wird.
Wandlung vollzieht sich in einem eigenen Rhythmus – der viel langsamer ist, als unser Zeitgeist das wahrhaben will. Das Gegenteil zu Wandlung ist ein schneller Reflex. Eine nervlich bedingte Muskelzuckung. Oder auch Entladung. „Das musste jetzt raus“, heißt es dann. Was „raus muss“ ist meist eine Art „Blähung“ – die nichts mit einem ruhigen, besonnenen Gedanken zu tun hat. Durch die neuen Medien finden derartige Blähungen massenhaft Verbreitung und verpesten die Umwelt.
Was ist nun die große Ver-Wandlung, von der der Prophet Jesaja vor über 2500 Jahren spricht?
„17 Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald (Garten) werden.
18 Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen;
19 und die Elenden (Demütigen) werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten (Dürftigen) unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.
20 Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen (Wüterich) und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten,
21 welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen.
22 Darum spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt (schambleich) dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen.
23 Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – seine Kinder – in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten.
24 Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen. („Die Geistestaumeligen werden den Sinn erkennen und die Hetzer Vernunft erlernen.“) Kursiv: Übersetzung von Martin Buber
Liebe Gemeinde,
träum‘ weiter!
Das war meine spontane erste Reaktion auf diesen Text.
In Träumen kann ich mir die Welt, mein Leben schön träumen. Es gibt Menschen, die verbringen viel Lebenszeit mit Tagträumen. Meistens kommen sie irgendwie groß raus in ihren Träumen, sind Rächer der Schwachen, ziehen die vermeintlich Bösen zur Rechenschaft. Oder finden einen Retter, der sie aus allem Ungemach erlöst.
Ich vermute, dass gerade in den Religionen viele solcher Tagträume untergebracht sind. Sie stabilisieren den eigenen Wert, geben dem Leben Sinn.
Die Frage ist nur: mit wieviel Bestand?
Für die Frage nach dem Bestand – nach dem was besteht auch und gerade in der Krise, im Zweifel – ist es hilfreich, Tagträume von echten, aus dem Unbewussten stammenden Nachtträumen zu unterscheiden. Tagträume eignen sich nicht für die Realität und ihre Bewältigung. Tagträume zerschellen an der Wirklichkeit wie eine Seifenblase, die unsanft auf dem Boden der Tatsachen landet. Tagträume sind dafür gemacht sich abzulenken. Eine Art Narkotikum. Tagträume eignen sich dazu, sich zu entziehen.
Echte Nachtträume hingegen haben den Charakter völliger Überraschung. War wirklich ich das, der das heute Nacht geträumt hat? Gute Träume sind nicht vorhersehbar. Sie sind verschlüsselt. Deshalb ist es naheliegend, sie als „Non-Sense“, als „sinnlose Entladungen des Gehirns“ einzuordnen.
Die moderne Wissenschaft hat es nämlich nicht gerne, wenn sie etwas nicht versteht.
Liebe Gemeinde,
man hat unseren heutigen Predigttext eine Vision genannt. Vision heißt, jemand sieht in eine Zukunft, die Wirklichkeit werden wird. Diese Zukunft kann angenehm sein, sie kann unangenehm sein. Entscheidend ist: der Visionär ist sich dessen, was er sieht, sicher.
Lassen Sie uns im Einzelnen anschauen, was Jesaja in seiner Vision sieht.
Das Besondere an dem Text Jesajas ist es, dass er Wandlungen beschreibt – ohne zu bewerten. Es gibt keine Strafe, es ist keine Rede vom „Zorn Gottes“, den die „Frevler“ zu spüren bekommen. Nein – die Gedanken Jesajas haben auch etwas sehr Schlichtes: sie beschreiben eine verwandelte Wirklichkeit.
„Wohlan, es ist noch eine kleine Weile …“
Wörtlich heißt es: „Ist es nicht nur ein winziges Wenig…“ Also: es steht unmittelbar bevor. Und was?
Zunächst: die Verwandlung der Natur: man hatte den Karmel abgeholzt – und das Holz für den Schiffsbau verwandt, Umweltzerstörung nennen wir das heute –
noch eine kleine Weile, es wird wieder Wald sein, und wo jetzt Wald ist, wird Garten sein. Dies geschieht natürlich nicht von selbst, sondern durch Menschen, die eine neue Haltung zur Natur, zur Schöpfung gefunden haben werden. So ist es schlüssig, dass die nächste Wandlung, die genannt wird, eine Wandlung der Menschen ist:
„Die Tauben werden die Worte (der Heiligen Schrift, also Gottes Wort) hören und aus Dunkel und Finsternis hervor werden die Augen der Blinden sehen.“
Wir haben vorhin im Evangelium die Heilung des Taubstummen gehört. Die große (Ver-)Wandlung, um die es geht, ist eine Heilung. Heilen heißt wörtlich: „ganz machen“. Un-heil ist Zerteiltes, Zersplittertes, Fragmentiertes. Wir Menschen, unsere Seele, trägt eine tiefe Sehnsucht nach Ganzheit. Ausdruck der letzten und tiefsten Ganzheit aber ist Gott selbst. So trägt unsere Seele eine tiefe Sehnsucht nach Gott: „ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir …“ sagt der Heilige Augustinus in seinen Bekenntnissen.
Zu Ganz-sein oder „heil-sein“ gehört auch eine gute, eine gerechte Gesellschaftsordnung. In ihr haben die verbreiteten Mauscheleien, die Idealisierung von Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit, überhaupt das Lügen und Betrügen keinen Platz. In ihr haben auch jene Tyrannen keinen Platz, denen es nicht um eine gute, soziale Gemeinschaft geht, sondern um die Ausbreitung ihrer Macht und ihres Einflusses. Damit verlieren die Spötter ihre Daseinsberechtigung. Die Armen bekommen wieder Freude am Leben: sie sind nicht länger am Rande der Gesellschaft. Und deren Geist verwirrt ist, die „taumeln im Geiste wie Betrunkene“, sie werden Sinn erkennen. Und die, die nur Propaganda machen, „die Hetzer“, sie werden zur Vernunft kommen.
Tja, liebe Gemeinde,
ist das wirklich eine Vision? Was würde Jesaja wohl dazu sagen, wenn er die Geschichte von uns Menschen kennen würde – diese 2500 Jahre nach seiner Vision? Dass er sich leider getäuscht hat, der Wunsch der Vater seiner Gedanken gewesen ist?
Was würde Jesaja zu unserer Wirklichkeit wohl sagen? Dazu, wie die Propagandisten und Populisten wieder Zulauf bekommen, wie die Welt voll Unrecht, Ungerechtigkeit und Lügen ist? Wie selbstverständlich uns der eigene Vorteil ist und damit verbunden das Tricksen und Schummeln? Dazu, wie wir die Natur ausbeuten und weiter das Billigfleisch beim Lidl kaufen? Oder die Kaffee-Tabs aus Aluminium?
Was würde Jesaja zu meinen eigenen Wandlungen und Verwandlungen sagen? Dazu dass mein Körper täglich älter wird, meine Haut faltig, meine Haare grau. Dass ich häufiger müde und erschöpft bin. (Ich vermute, jeder von uns kann mit dieser Aufzählung mühelos fortfahren.)
Nun – Jesaja würde vielleicht sagen: da hast du etwas Wichtiges missverstanden. Mir geht es nicht darum, eine heile Welt zu malen, um damit von dem Leid der Gegenwart abzulenken. Das wäre ein Tagtraum, ein Narkotikum. Dann hätte Karl Marx recht, wenn er sagt: Religion ist Opium für das Volk.
Nein – mir geht es um etwas anderes:
Mir geht es um die Möglichkeit, dass du dich und deine Haltung zur Welt ändern kannst. Ich möchte dir eine andere, verwandelte Blickrichtung aufzeigen. Eine Perspektive, die nicht vom Negativen ausgeht. Ich möchte dir eine Perspektive zeigen, von der ich meine, dass sie heilsam ist: für deinen Körper, für deine Seele und für deinen Geist. Weil sie auf das Ganze ausgerichtet ist – und nicht nur auf Teile.
Meine Perspektive heißt: schau dir an, was möglich ist. Schau dir an, was du alles verändern kannst. Zum Guten, zum Ganzheitlichen hin. Und dann – verwirkliche es! Und zwar heute!
Du kannst jede Minute umkehren.
Du kannst jede Minute dein Denken verwandeln.
Du kannst jede Minute deine Haltung zum Leben verwandeln.
Unter einer Bedingung: dass du genug unter deiner bisherigen Haltung unter deinem bisherigen Denken leidest. Dass du die Nase voll hast von deinen Tricksereien und deinen (Selbst)-Täuschungsmanövern. Dass du keine Lust mehr hast, dir selber dauernd etwas vorzugaukeln.
Ohne Sehnsucht nach Neuem, nach Verwandlung gibt es keine Veränderung.
„Wenn du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Menschen zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Menschen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“ (Aus: Saint Exupéry „Die Stadt in der Wüste“).
Das gilt im übrigen auch für einen guten Kirchenvorstand, für einen guten Pfarrer: wenn du eine Gemeinde bauen willst, dann trommle nicht die Leute zusammen und verteile Aufgaben – sondern lehre sie die Sehnsucht nach der unendlichen Güte, Liebe und Barmherzigkeit Gottes.
Indem ich die Sehnsucht nach Gott lehre, geschieht eine allmähliche Verwandlung der Herzen.
Die heilsame Bewegung hin zu Ganzheit (zu Gott) ist eine integrative Bewegung. Sie schließt ein – und nicht aus. Und in dieser Bewegung kommt das Verschiedene auf einen guten Platz. Ein guter Platz ist ein solcher, an dem ich dem Anderen nichts wegnehme. Auch nicht dem Staat, der auch sein Teil – genannt Steuern – bekommt. Würde jeder auf seinem eigenen Platz sitzen und damit zufrieden sein, wäre die Verwirklichung der Vision Jesajas zum Greifen nahe.
Die Fähigkeit, wirklich meinen ganz eigenen, einmaligen Platz einzunehmen, bedeutet, dass ich alleine sein kann. Auf meinem Platz kann nur ich sitzen niemand sonst. Meinen Lebensrucksack kann nur ich tragen: niemand sonst.
In der Tiefe sind alle Konflikte, die wir mit unseren Mitmenschen haben, Trennungs-Konflikte. Unsere „Enttäuschungen“ über Andere sind nichts als ein Ausdruck davon, dass wir nicht ertragen können, dass und wie der Andere denkt und lebt. Da ist es gut, sich zu fragen: wofür verwende ich eigentlich gerade den Anderen? Bekämpfe ich gerade etwas in ihm, was eigentlich zu mir gehört? Was ich aber unter gar keinen Umständen bei mir entdecken möchte?
Liebe Gemeinde,
der Weg zu Ganzheit, zu Heilung führt immer tiefer hinein in das Annehmen dessen, was gerade ist. In sein Werden und sein Vergehen. Ohne wenn und aber.
Gebe Gott, dass wir diesen Weg alltäglich suchen, finden und zu gehen lernen – bis schließlich unser Herz zur Ruhe kommt im Frieden Gottes, der höher ist als unser Denken und Predigen, AMEN.