Osterpredigt 2018

Predigt über 1. Samuel 2,1-2. 6-8a an Ostern 2018

Liebe Gemeinde,

je älter ich werde, desto befremdeter bin ich von uns Menschen. Und wenn es mir gar nicht gut geht, möchte ich eigentlich kein Mensch mehr sein.

Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ hat Paul Celan in seiner berühmten Todesfuge 1945 gedichtet.

Zerstörung ist eine Meisterschaft jener Lebewesen, die sich selbst Menschen genannt haben.“

Dieser Satz drängt sich mir auf, wenn ich alltäglich Nachrichten lese. Und ich könnte jetzt unzählige Beispiele aufführen für die Zerstörung von natürlichen Lebensräumen, für die Zerstörung von Lebewesen, für die Zerstörung von freiheitlichen Gedanken, für die Zerstörung von Menschen, die versuchen, konstruktiv Opposition zu machen, sich zu wehren, aufzuklären. Und ich lasse nicht gelten, wenn es heißt: die Dinosaurier sind auch ausgestorben, klimatische Katastrophen wie Vulkanausbrüche oder Meteoriteneinschläge gehören nun mal zu diesem Planeten dazu. Der große Unterschied ist: der Klimawandel, das Artensterben, das Insektensterben der Gegenwart ist Menschen gemacht. Es ist KEIN Schicksal. Es ist die Konsequenz der Blödheit von uns Menschen. Unseres Unvermögens, über den Tellerrand von Gier, Habsucht, Ehrgeiz, Neid, Eitelkeit hinaus zu schauen. Und auch die Armut vieler unserer Mitmenschen mag zwar individuell als Schicksal erlebt werden – aber auch sie ist ebenfalls letztlich von uns Menschen gemacht.

Sie können mich jetzt völlig zu recht darauf hinweisen, dass heute Ostersonntag ist. Und dass meine Aufgabe als evangelischer Pfarrer es ist, eine vernünftige Osterpredigt zu halten. Predigen – lateinisch: „praedicare“: „öffentlich ausrufen, preisen, rühmen“. Meine Aufgabe ist es, die „gute Nachricht“, das Eu-Angelion zu verkünden. Die gute Nachricht, dass dieser Mann aus Nazareth, als Verbrecher hingerichtet, dass der lebendig ist, dass seine Predigt weiterwirkt, dass, wer sein Leben diesem Jesus aus Nazareth anvertraut und versucht, mit ihm durchs Leben zu gehen: dass der ebenfalls lebt! Dass seine Lebendigkeit hinein strahlt in mein Leben.

Und dass mit und durch diese Lebendigkeit die Maßstäbe dieser Welt nachhaltig erschüttert sind.

Nach menschlichem Ermessen ist dieser Jesus tot, sind seine Predigten nicht lebenswert, sind bestenfalls schöne Utopie: „… liebe deine Feinde, wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein, lass die Toten die Toten begraben, wer sein Leben behalten will, der wird es verlieren… was nützte es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und doch Schaden nähme an seiner Seele …“

Nach menschlichem Ermessen sieht man am Schicksal dieses Jesus aus Nazareth, wo man mit derart subversiven Gedanken landet: am Galgen, in der Gemeinschaft der Verbrecher.

Erste Erkenntnis meiner Osterpredigt: wer ein zufriedenes, gemächliches Leben sucht, dem sei empfohlen, sich von diesem Jesus aus Nazareth fern zu halten. Diesen Rat hat denn auch die christliche Kirche in trauter Ökumene befolgt und aus einem Outlaw jemanden zum Her-Zeigen gemacht, jemanden, auf den man mit Fug und Recht stolz sein kann.

Das Markusevangelium ist das älteste der vier in den Kanon aufgenommenen Evangelien. Es endet mit dem (vorhin gehörten) Satz: „„Und sie (die Frauen) gingen hinaus und flohen vor dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemand etwas, denn sie fürchteten sich.“

Zweite Erkenntnis: Furcht und Zittern, ja Entsetzen sind wesentliche Bestandteile wirklichen Glaubens. Glaube, wenn er denn den Namen Glaube als „Vertrauen“ verdient: ist die Kraft in mir, diese entsetzlichen Gefühle der Angst zu halten: und halten heißt zuallererst: aushalten. Ich bewundere unsere Zeitgenossen in China, in Russland, in Tschechien, in Amerika, die es wagen, aufdeckend journalistisch tätig zu sein. Sie sind Leidensgenossen Jesu – selbst dann, wenn sie bekennende Atheisten sind.

So weit – so gut!

Aber zurück zu Ostern: Gab es da nicht noch etwas?

Tod wo ist dein Stachel – Hölle, wo ist dein Sieg?“

Wir Christen sind doch die „Narren in Christus“ (Paulus), die am Ostermorgen den Tod auslachen! Oder etwa nicht?

Ein Prediger auf der Suche nach Osterfreude – so könnte ich meine augenblickliche Situation beschreiben.

An dieser Stelle wende ich mich unserem Predigttext zu. Vielleicht hilft er mir/uns weiter.

Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn …“ damit beginnt er. Immerhin!

Wie kam es zu diesem fröhlichen Herzen?

Hören Sie selbst:

2,1 Und Hanna betete und sprach:

Mein Herz springt fröhlich zu DIR, mein Scheitel erhebt sich zu DIR. Weit auf tut sich mein Mund über meinen Feinden, ja, ich freue mich deiner Befreiung.

2,2 Keiner ist heilig wie DU;

ja, keiner ist da ohne dich, keiner ein Felsen wie unser Gott.

2,5 Lasst Euer hochmütiges Reden sein, wie es frech Eurem Mund entfährt. Denn ER ist ein Gott des Wissens; bei ihm werden die Taten abgewogen.

2,6 ER tötet und belebt,

senkt zur Gruft, lässt entsteigen,

2,7 ER enterbt und begütert,

erniedert und hebt auch empor.

2,8 Auf richtet vom Staub er den Armen, den Dürftigen hebt er vom Kot,

sie zu setzen neben die Edlen, übereignet den Ehrenstuhl ihnen.

Ja, SEIN sind die Säulen der Erde, auf sie hat er den Weltkreis gestellt. (Übersetzung von M. Buber)

Liebe Gemeinde,

mein Herz springt fröhlich zu DIR, mein Scheitel erhebt sich zu dir!“ Damit beginnt Hannas Lobgesang. Hanna war die eine der beiden Frauen des Elkana. Sie stand im Schatten der Anderen, der Peninna: die hatte Kinder, Söhne und Töchter – Hanna aber konnte nicht schwanger werden. Dies trug ihr den Spott der Anderen, den Spott der Peninna ein. „Wer der Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen!“

Da tut Hanna ein Gelübde: Falls sie einen Sohn bekommen wird, so betet sie, wird sie ihn Gott weihen! Daraufhin gebiert sie Samuel.

Das schaut nach billiger Freude aus: als wäre ihre Freude nichts weiter als Ausdruck dessen, dass ihr Herzenswunsch in Erfüllung gegangen ist. Sie hat einen Sohn bekommen, einen großen Sohn und Propheten: Samuel mit Namen. Samuel, das heißt „der von Gott Erbetene“ oder auch „der von Gott Erhörte“.

Hannas Freude ist aber keine billige Freude. Hinter Hannas Freude steht ihre Entwicklung. Sie hat erkannt, anerkannt, dass Leben kein Besitz ist.

Dritte Erkenntnis: Leben ist ein Geschenk. Ich kann es mir nicht selbst geben. Alles, was ich kann, ist, es mir zu nehmen. Es zu zerstören.

Die Machthaber können und wollen nicht einsehen, dass es eine Wirklichkeit gibt, da reicht ihre Macht nicht hin. Leben lässt sich nicht „machen“. Das wollen sie nicht wahr haben. Und so müssen sie die ihnen anvertrauten Menschen besitzen. Das ist der Stoff, aus dem die Tragödien innerhalb der Familien und innerhalb von sozialen Gemeinschaften gewebt ist: „du gehörst mir!“ Im Deutschen gibt es das schöne Wort „sich des Anderen bemächtigen.“ Da steckt die Macht drin: „und bist du nicht willig, gebrauch‘ ich Gewalt!“

Demokratie ist die unglaubliche Errungenschaft von uns Menschen, eine Möglichkeit zu finden, diesen Bemächtigungstendenzen Einhalt zu gebieten.

Die Würde des Menschen ist unantastbar!“ Mehr noch: „Die Würde des Lebens ist unantastbar – auch und gerade des nicht-menschlichen Lebens.“ Ich bin kein militanter Vegetarier oder Veganer – aber ich bin der Meinung, dass wenn ich schon Fleisch esse, es in dem Bewusstsein tue, dass jemand sein Leben für mich geopfert hat. Und ich möchte, dass dieses Leben sein Leben in Würde – wir sagen dazu „artgerecht“ – leben durfte. Von daher lehne ich lebensverachtende Massentierhaltung ab.

In Hannas Lobgesang wird auch deutlich, wie schwer es ist, genau da loszulassen, wo ich in der Tiefe verletzt worden bin: „Weit auf tut sich mein Mund über meinen Feinden!“ Natürlich ist das Genugtuung für die vielen Schmähungen und Beleidigungen, die die kinderlose Hanna von ihrer Nebenbuhlerin, der mit Kindern gesegneten Peninna zu ertragen hatte. Genugtuung ist nahe liegendes, ein verständliches Gefühl. Und sie ist gefährlich: ist sie doch eine wesentliche Quelle für den Einsatz von Gewalt. Hinter dem Drang ja Zwang nach Genugtuung steckt die erlittene Verletzung. Und eine gewaltbereite Stimme, die sagt: „das darfst du dir nicht bieten lassen!“ Die sogenannten „Populisten“ der Gegenwart wie der Geschichte fangen ihre Wähler mit genau diesen Parolen. „Lasst Euer hochmütiges Reden, wie es frech Eurem Mund entfährt“ – dieser Satz lässt sich leicht und alltäglich beziehen auf das Gerede und Getwittere derer, die mit ihren Polarisierungen auf Stimmenfang gehen.

Wer in diesen Stimmen, in diesem Denken gefangen ist, für den gibt es kein Verzeihen und keine Vergebung. Für ihn gibt es nur: Genugtuung und Rache. Und ohne verzeihen und vergeben gibt es kein Los-lassen, keine Lösung.

Aber auch wenn Hanna in ihrem Lobgesang gegen ihre Nebenbuhlerin stichelt – eines kann sie: ihr eigenes Kind, ihren Sohn loslassen. Sie muss ihn nicht besitzen, nicht als Trophäe ihres Triumphs gegenüber der anderen Frau verwenden. Sie kann sich einfach nur freuen.

Sie muss ihren Sohn nicht für ihre eigenen ungelösten Probleme missbrauchen. Glücklich das Kind, das in dieser Freiheit mit Eltern aufwachsen darf, das Erleben darf, dass Raum da ist, für seine ganz eigene Entwicklung, für seinen ganz eigenen Weg. Und glücklich die Eltern, die dieses Wagnis eingehen: ihre Kinder wirklich in der Tiefe loszulassen und mit ihrem Vertrauen und ihrer Liebe zu begleiten – und nicht mit ihren Ängsten, Vorwürfen und Misstrauen zu verfolgen.

Khalil Gibran hat dazu gesagt: „Eure Kinder sind nicht Eure Kinder. Sie sind die Töchter und Söhne der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Sie kommen durch Euch aber nicht aus Euch, und sind sie auch bei Euch, so gehören Sie Euch doch nicht!“

Ich freue mich deiner Befreiung!“ betet Hanna. „… deines Heils“ übersetzt M. Luther. Das ist dasselbe: indem ich mich als „ganz“ als „unversehrt“ als „heil“ auf der Welt erlebe, bin ich befreit von meinen hässlichen Gedanken, von meinem Misstrauen, von meiner Gier, von meiner Eitelkeit …

Ich bin befreit für die liebevolle Hingabe an das, was ist – an die Wirklichkeit. Gott ist ein Gott der Gegenwart, sagt Meister Eckhart – und Ausdruck der Gegenwart ist das, was wirkt, was wirklich ist. Der Weg, sich mit dieser „letzten Wirklichkeit“ zu verbinden führt in die Unterwelt des eigenen Unbewussten, wo die Dämonen der Vergangenheit ihr Unwesen treiben. „Hinab gestiegen in das Reich des Todes“ – heißt: da hinkommen, wo ich so gar nicht hin will: wo meine Verletzungen und meine Enttäuschungen sind, wo meine Trauer wohnt und meine Resignation – aber auch mein Hass und meine Rachsucht.

Vierte Erkenntnis: Der Weg in die eigene Freiheit erfordert viel Mut.

Jesus Christus spricht: ich war tot und siehe ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.“ Dieses Wort steht über unserem heutigen Ostergottesdienst. In Verbindung mit Christus – und durch die Taufe sind wir untrennbar mit ihm verbunden – haben wir, hat jeder von uns die Schlüssel zu seiner eigenen Hölle in der Hand. Die Hölle – das sind nicht die Anderen – die Hölle, das bin ich selbst, indem ich mich von meinem eigenen so und nicht anders gewordenen, verlaufenen Leben abwende. So gesehen ist der „Herr der Hölle“, der Teufel, ein armer Teufel: hat er doch keine Ahnung davon, was es heißt zu lieben: sich dem, was und wie es ist zuzuwenden. (Diesen wunderschönen Gedanken verdanke ich – wie so Vieles – Theresa von Avila.)

Liebe Gemeinde,

durch Jesus Christus verfügen wir über den Schlüssel zu unserem Tod und zu unserer Hölle. Damit sind wir auch in der Lage, uns aus unserem Gefängnis zu befreien. Hierzu eine alte Geschichte aus der Tradition des Sufis:

Ein Zinnschmied war zu Unrecht ins Gefängnis gesperrt worden und auf scheinbar wunderbare Weise daraus entflohen. Jahre später wurde er gefragt, wie ihm seine Flucht gelungen sei. Er erzählte: Die Befreiung verdanke ich meiner Frau. Sie ist Weberin. Sie hat den Bauplan des Zellenschlosses in den Teppich hinein gewebt, auf dem ich meine Gebete fünf Mal täglich verrichte. Als ich erkannte, dass in dem Teppich das Schloss meines Gefängnisses hinein gewebt ist, traf ich mit meinen Gefängnisaufsehern eine Absprache. Sie sollten mir Werkzeug bringen und ich würde damit kleine Kunstgegenstände anfertigen, die sie mit Gewinn verkaufen könnten. Sie ließen sich darauf ein – und ich machte von den Werkzeugen die Kunstgegenstände aber auch einen Schlüssel für das Schloss meiner Gefängnistüre. Und so wurde ich frei.“

Ich wünsche Ihnen, liebe Gemeinde, dass Sie das heutige Ostern als das Fest Ihrer Befreiung erleben und feiern dürfen. Ich wünsche Ihnen den MUT zu erleben, dass der Auferstandene immer da wirkt, wo die Liebe keimt. Jene Liebe, die auch Sie umfängt und ihren Nachbarn und ihren Nächsten und Über-Nächsten. Und – man sollte es nicht glauben – in dem Licht dieser Liebe des Auferstandenen bleibt auch an meinem Todfeind noch etwas Liebenswertes.

Das alles geht freilich nur, indem ich den Mut in mir finde darauf zu vertrauen, dass ich selbst in meinem kleinen, endlichen, fehlerhaften Leben mit seinen Irrungen und Wirrungen von Gott so gemeint bin, wie ich geworden bin.

Und dass das vor Gott in Ordnung ist. Schwer in Ordnung, AMEN.

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