Predigt über Jesaja 50, 4-9 am Palmsonntag in der Apostelkirche München-Solln
Liebe Gemeinde,
wir Menschen sind Lebewesen, die alles, was auf sie einströmt bewerten. Wir teilen unwillkürlich – „ohne es wollen“ – ein in gut oder schlecht, richtig oder falsch, angenehm oder unangenehm, schön oder hässlich, wertvoll oder wertlos, nützlich oder unnütz. Daraus fließt dann oft unser Handeln: wir wenden uns zu – oder wir wenden uns ab, wir lassen etwas/jemanden an uns heran oder schließen, scheiden jemanden oder etwas aus. Wir behalten etwas, nehmen etwas auf, oder geben etwas weg. Zunächst einmal läuft dieser Strom des Bewertens völlig unbewusst mit unserem Leben mit. Es erfordert viel Achtsamkeit und Aufmerksamkeit, sich dieses Geschehens bewusst zu machen. Und es erfordert viel Selbst-Erfahrung, die eigenen Maßstäbe, die Quellen, aus denen heraus ich bewerte, mir bewusst zu machen.
Nun ist Bewertung ja nichts anderes als eine Spezialform des Differenzierens, des Unterscheidens. In der Bewertung schwingt etwas mit, wofür Jugendliche ein extrem feines Sensorium haben. Wenn ich sage: „du sitzt hier herum, hörst Musik und ich spüle ab…“ dann klingt das nach Vorwurf: wie kannst du hier faul herum sitzen, siehst du nicht, dass ich arbeite … du könntest mir auch helfen. …
Oder: was täte ich ohne dich, du bist eine große Hilfe – das ist die Bewertung in Richtung Anerkennung, Lob.
In unserer neuen digitalen Gesellschaft heißen die beiden Bewertungen: like oder dislike. Mag ich – mag ich nicht!
Dass nur die Worte neu – das Geschehen selbst aber uralt ist, sieht man am vorhin gehörten Evangelium zum Palmsonntag:
„Hosianna dem König Davids!“ schreit die Menge. Viele, viele „likes“ hätte Jesus da bekommen,
Und dieselbe Menge schreit fünf Tage später: „Kreuzige ihn!“ Aus den „likes“ wurden „dislikes“. Was lernen wir daraus: Bewertungen können sich innerhalb kürzester Zeit massivst verändern.
“From Hero to Zero – vom Helden zur Null“: so hat man Aufstieg und Fall von Martin Schulz jüngst beschrieben.
Vom „Messias“ zum „Verbrecher“ – so könnte man die Bewegung von Palmsonntag zum Karfreitag beschreiben. Wobei wichtig ist: dies ist die Perspektive der „Menge“ – und ganz offensichtlich nicht die Perspektive – ja von wem? Geläufig wäre hier zu sagen: die Perspektive Gottes. Profaner könnte man sagen: das kann jedenfalls nicht alles gewesen sein – ansonsten stünde ich nicht hier, gäbe es mich nicht als Pfarrer der evangelisch-lutherischen Kirche. Ansonsten gäbe es überhaupt keine christliche Kirche. Es muss wiederum irgend etwas passiert sein, wodurch aus dem Verbrecher der „Auferstandene“, der „Sohn Gottes“ geworden ist.
Wenden wir das Gesagte auf uns hier an, so bedeutet dies, dass auch jetzt – während ich hier predige -, unentwegt Bewertungen mitlaufen. Wie ein „Hintergrund-Task“. Bei Ihnen, wie bei mir. Und es gibt innere Zensoren, die einen davon abhalten, etwas öffentlich zu sagen, obwohl man es sich insgeheim denkt. Und dann gibt es immer wieder Menschen, denen es offenbar nur ums eines geht: der Wahrheit selbst zu dienen. Sie versuchen in ihrer Rede und in ihrem öffentlichen Auftreten sich nur von der Wahrheit zensieren zu lassen. Nicht selten haben sie diese Radikalität mit ihrem Leben bezahlt.
Unser heutiger Predigttext, liebe Gemeinde, handelt von so jemandem. Seine Rede, seine Botschaft provozierte, er wurde dafür gefoltert, ins Gefängnis gesperrt und am Ende hingerichtet. Wir kennen seinen Namen nicht – da er im Geiste des Propheten Jesaja redet, hat man ihn den zweiten Jesaja, den Deuterojesaja, genannt. Er lebt und wirkt im babylonischen Exil. Nach der Kapitulation Israels 587 v. Chr. wurde die Oberschicht nach Babylonien deportiert. Selbstverständlich galt hier die Religion Babyloniens: eine polytheistische Religion mit einer Vielfalt von Göttern – und einer ausgeprägten Sternenkunde. (Das uns geläufige Horoskop ist hier vor ein paar tausend Jahren entstanden.) Deuterojesaja nun hielt unbeirrt an seinem Glauben, den Glauben an den EINEN Gott Jahwe fest. Dessen Kraft und Größe so unermesslich war, dass er die Götter der Babylonier als Sterne erschuf. Das musste provozieren. Es musste die Mächtigen provozieren. Und so kam es, dass Deuterojesaja am Ende hingerichtet wurde. Sein Wirken und seine Predigt findet sich niedergeschrieben im Buch Jesaja in den Kapiteln 40 – 55. Innerhalb dieses Buches gibt es vier Gedichte, die in verdichteter Form ausdrücken, was jemand, der sich als Jünger Gottes versteht, ausmacht. Man hat diese Gedichte „Gottesknechtslieder“ genannt – der von Gott Erwählte ist zugleich und in einem sein „Knecht“ (Jes 42,1). Hören Sie selbst: das dritte Gottesknechtslied (Jes 40, 4-9). Ich lese in der Übertragung von Martin Buber.
50,4 Gegeben hat ER, mein Herr mir eine Lehrlingszunge.
Dass ich wisse, den Matten zu ermuntern, weckt er Rede am Morgen.
Am Morgen weckt er mir das Ohr, daß ich wie die Lehrlinge höre.
50,5 Geöffnet hat ER, mein HERR, mir das Ohr. Ich aber, ich bin nicht ungehorsam ich bin nicht zurück gewichen.
50,6 Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.
50,7 Mir hilft ER, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, daß ich nicht zuschanden werde.
50,8 Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir!
50,9 Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, Motten werden sie fressen.
Liebe Gemeinde!
Als ich den Text las, dachte ich als erstes: Unsere Zeitgenossen, die derzeit versuchen. in China Opposition zu machen, oder in Russland, oder in Polen … oder auch in Amerika – sie würden sich mit Deuterojesaja sicherlich gut verstehen. Es sind Gesinnungs- und Leidensgenossen. Es sind Menschen, die für Recht und Gerechtigkeit ihr Leben aufs Spiel setzen. Ich empfinde tiefen Respekt vor ihnen. Ich weiß nicht, ob ich über einen derartigen Mut verfügen würde. Und ich bin froh, dass ich (noch?) in einem Land leben darf, in dem die Demokratie – bei aller Anfechtung – Stärke zeigt.
(In Klammern: in diesen Sätzen schwingen ganz viele Bewertungen von mir mit: die „Hochschätzung“ der Werte, die bestimmte Menschen in unserer Gegenwart besonders verkörpern, die Hochschätzung der Demokratie usw. Und es schwingen genauso viele Abwertungen mit gegenüber all jenen Menschen, die ausschließlich in der Ausbreitung ihrer Macht den Wert ihres Lebens erblicken. Wie gesagt: es geht nicht ohne Bewertungen!)
Doch zurück zu unseren Text: was also zeichnet diesen Gottesknecht aus?
Er ist einer, der den Mund aufmacht. „Gegeben hat mir der Herr eine Lehrlingszunge.“ M. Luther übersetzt: „Eine Zunge, wie sie Jünger haben.“
Es ist die Zunge eines Lernenden. Von jemand, der nicht schon alles weiß. Das ist die große Kunst bei einem echten Dialog: dass ich mein Vor-Wissen, meine Vor-Urteile, meine Bewertungen zurückstelle. Nur so bekomme ich ein „offeneres Ohr“ für den Anderen. Und: Sprache ist so unglaublich missverständlich. Deshalb ist es gut, immer wieder nachzufragen: wie meinst du das? Oder zu wiederholen: meinst du das so? Habe ich dich recht verstanden, dass … ?
Dieses „offene Ohr“ erlebt der Gottesknecht als Geschenk, das aus seiner Gottesbeziehung heraus folgt. Es ist ein Geschenk seiner Vertrauens-Beziehung zu seinem Gott. Aus dem Hören auf das Wort Gottes folgt alles weitere: Und so haben wir zu Beginn unseres Gottesdienstes gesungen: „Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr …“
Nun gibt es immer wieder Störgeräusche, die diese Vertrauens-Beziehung erschüttern, ja unterbrechen. Sie stammen aus unverdauten Gefühlen des Ausgeliefert-Seins, der Hilflosigkeit, des Verzweifelt-Seins. Wer diese Gefühle in sich nicht halten kann, der wird haltlos. Und er wird verführbar. Der Nährboden für die großen Hetz-Redner der Geschichte wie der Gegenwart ist stets die Verzweiflung, die Armut, die Bedürftigkeit der Menschen. Deshalb ist das Auseinanderfallen von arm und reich in unserer westeuropäischen Gesellschaft so gefährlich.
Für unseren Propheten jedoch gibt es einen Halt, der offenbar stärker ist als alle Anfechtung: „Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Mir hilft ER, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein.“
Und woraus quillt dies alles? Aus seinem unerschütterlichen Gottvertrauen.
Dies ist der Grund, auf dem Jesaja steht. Oder anders: Jesaja ist radikal der Wahrheit verpflichtet. Er glaubt und vertraut, dass es eine Wahrheit gibt, die alleine Bestand hat.
Dieses Vertrauen verknüpfe ich mit unserem Wochenspruch: „Der Menschensohn muss erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben!“ Ich denke dabei nicht an erster Stelle an ein späteres, jenseitiges Leben – ich denke an ein starkes Leben im Hier und Jetzt. Und ich denke dabei an die Bedeutung der vertikalen Achse. „Erhöhung“ – das ist der aufrechte Gang, das ist ein Leben, das mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität steht und mit dem Scheitel auf Gott hin sich ausrichtet. Es ist ein aufgespanntes und ausgespanntes Leben – im jeweiligen Alltag der Gegenwart. (Nur in Klammern: Auch dieses Bild hat einen alttestamentlichen Hintergrund: es ist die kupferne Schlange, die Moses machen und an einer Stange anbringen musste: sie war lebensrettend für diejenigen, die von einer Schlange gebissen worden sind. Und noch einmal in Klammern: das hebräische Wort für Schlange: „nachasch“ hat denselben Zahlenwert wie das Wort „Messias“. Damit verbindet sich der homöopathische Gedanke des „Heilens mit Gleichem.“)
Aber zurück:
In meinen Ängsten und Unsicherheiten schrumpft mein Leben – es wächst gleichsam nach unten. So drehe ich mich immer mehr um mich selbst, kann die Weite und Freiheit meiner Lebendigkeit nicht mehr spüren. „Krieche am Boden wie eine Schlange“. Ein Leben, das kräftig ist, spannt sich auf. Eine gute innere Spannung drückt sich sogar im Körperlichen aus. Und in dieser Haltung sage ich zu meinen Feinden wie Morpheus zu Mr. Smith: „Komm!“ Oder mit den Worten Jesajas: „Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir!“ Das ist genau der Mut, den wir brauchen. Ein Mut, der aus dem Gott-Vertrauen wächst. Und nur daraus!
Allerdings: dies alles lässt sich nicht machen!!! Hier ist die Macht, das Machbare an ihr Ende gekommen. Dies ist der Grund, dass Jesaja und Jesus und all die bekannten und namenlosen Anderen von den Mächtigen so gehasst worden sind. Und gehasst werden. Sie alle leben der „Macht“ vor, dass sie sich von ihr nicht „bemächtigen“ lassen. Und sogar wenn sie getötet werden – wie Jesaja oder Jesus – so siegt doch die Freiheit des Lebens. Und des Denkens.
Und darauf läuft es einmal mehr hinaus: wird Gott verwendet für Macht und Machbarkeit? Dann landen wir bei einem Missbrauch von Religion, von Gott. An der Stelle der Weite und Freiheit der Wahrheit ist die Enge eines Regimes getreten.
Oder steht Gott für die letzte, unerkennbare, unverfügbare von niemand und niemals in Besitz nehmbare Realität des Seins?
Fühle ich mich dieser Wahrheit, fühle ich mich diesem Gott verpflichtet, dann wird es dunkel in mir. Dann verliere ich alles, woran ich meinte, mich festhalten zu können. Und gerade so werde ich selbst zu Gottes Knecht, „der im Finstern gehen kann, wo ihm kein Strahl ist; er verlässt sich auf SEINEN Namen, er stützt sich auf seinen Gott.“ – und auf sonst nichts, oder mit Theresa von Avila: „solo dios, basta!“ AMEN.