Liebe Gemeinde,
als ich mit der Vorbereitung dieses Erntedankgottesdienstes begann, dachte ich als erstes über Danken nach. Bin ich eigentlich dankbar? Und wofür bin ich dankbar?
Und – was ist das eigentlich: Dankbarkeit?
Als Kind habe ich gelernt: Wenn man etwas geschenkt bekommt, muss man danke sagen. Völlig egal, ob es einem gefällt oder nicht. Ohne Rücksicht auf die eigenen Gefühle. „Das gehört sich so!“
Von meinen Kindern habe ich die Redewendung: „Danke für nichts!“ gelernt. Sie sagt in nicht-depressiver Weise: Darauf hätte ich jetzt gut verzichten können.
„Du hast gesagt, dass du mir noch Bescheid gibst, ob wir uns treffen. Seither habe ich nichts mehr von dir gehört. Und ich hänge in einer Warteschleife – Danke für nichts!“
Wahrscheinlich kennen Sie das auch: Es gibt Geschenke, auf die man gut und gerne verzichten kann. Und es ist eine Abwägung zwischen Takt und Höflichkeit auf der einen und Authentizität auf der anderen Seite, wie ich damit umgehe. Es gibt aber auch das Andere: Dass jemand nicht aushält, etwas geschenkt zu bekommen. Man fühlt sich verpflichtet, in der Schuld des anderen, meint, sich „revanchieren“ zu müssen. Es bedarf einer großen Offenheit, ein Geschenk als Geschenk anzunehmen.
Ein ehrliches Danke ist die Antwort auf ein Geschenk, das mich in der Tiefe erreicht, berührt hat. Im ehrlichen Danke habe ich keine Angst, dass der Schenker damit Hintergedanken hat, mich manipulieren möchte. Misstrauen zerstört das Erleben von Dankbarkeit. Das Geschenk selbst kann etwas Materielles sein, es kann eine kleine alltägliche Aufmerksamkeit sein, eine freundliche Geste … Danke heißt: Ich nehme wahr, das, was du mir gerade gibst, ist keineswegs selbstverständlich. Und ich nehme wahr: Du hast mich wahrgenommen. Ich nehme deine Aufmerksamkeit und Achtsamkeit wahr.
Und ich freue mich daran, bin dankbar.
Dieses Danke strahlt aus und kommt zurück: Indem ich mich bedanke, heißt das auch: Ich nehme dich wahr und wertschätze, was ich von dir bekommen habe. Wertschätzend wahrnehmen und wahrgenommen werden tut uns Lebewesen gut. Es ist eine Art emotionale Milch, die wir für unser seelisches Wachstum benötigen. Dies hat wohl auch Meister Eckhart so erlebt haben, wenn er sagt:
„Hätte der Mensch nicht mehr mit Gott zu schaffen, als dass er dankbar ist, es wäre genug.“ Und an anderer Stelle: „Wäre das Wort danke das einzige Gebet, das du je sprichst – es würde genügen.“ –
Unser heutiger Predigttext – Sie haben ihn vorhin bereits gehört – ist eine 2500 Jahre alte Predigt von Jesaja. Sie handelt nicht direkt von Dankbarkeit. Und doch predigt Jesaja eine Haltung zum Leben, die ohne Dankbarkeit nicht möglich ist. Er predigt den heilsamen, wohltuenden Zusammenhang von geben und nehmen, von schenken und beschenkt werden. Er predigt, dass eine soziale Lebenshaltung mich heil und gesund macht bzw. erhält. In dieser Haltung wird der Andere, der Fremde, der Nächste in seiner Not wahrgenommen – ohne dass ich mich selbst dabei aufopfere und ohne dass ich dafür eine Gegenleistung erwarte. Jesaja predigt eine Lebenshaltung, die nicht von der eigenen Bedürftigkeit (wenn ich dir das schenke, dann musst du aber auch …) diktiert wird.
Diese Haltung zum Leben lässt sich nicht „machen“. Sie ist ein Geschenk, wie Freude, oder Friede … oder eben Dankbarkeit.
Nun ist es so, dass Sie wahrscheinlich bei dem Anderen oder dem Fremden an andere Menschen außerhalb Ihrer, da draußen denken. An Obdachlose, an Asylbewerber, Arbeitslose oder auch Freunde, denen es gerade schlecht geht usw.
Die Lebenshaltung, die ich meine, bezieht sich zunächst einmal auf den Fremden, den Anderen in mir selbst. Sie bezieht sich auf meinen eigenen Hunger, auf mein eigenes Obdachlos-sein, auf all‘ jene Teile meiner Persönlichkeit, denen ich bei mir keine Unterkunft gewähren will, mit denen ich nichts zu tun haben will. Oder auch, die mir sehr fremd sind. Kurz: Auf mein eigenes Bedürftig-sein, das mir selbst einzugestehen schwer fällt.
In jedem Menschen, in jedem von uns, wohnt ein hungriges Kind. Auch dann und manchmal gerade dann, wenn es an materieller Nahrung nie gefehlt hat. Es gibt einen Hunger und seine Sehnsucht, die in der Welt des Materiellen nicht gestillt werden kann. Es gibt einen Hunger danach, zu sich zu kommen, zu sich nach Hause zu kommen. Erst indem ich meine eigene Bedürftigkeit bei mir finde, kann ich dem Andern, dem Bedürftigen wirklich helfen.
Erst dann kann ich schenken ohne Erwartungen zu haben.
Davon handelt die Predigt des Jesaja in der Tiefe.
Brich dem Hungrigen dein Brot – gib ihm von dem, was du hast. Vielleicht wohnt in dir jemand, der sich danach sehnt, einfach da sein zu dürfen. Nicht von einem Termin zum nächsten zu eilen. Der sich wünscht, dass sein Wert nicht nach seiner Leistung, seinem Erfolg bemessen wird. Der in dem, wie er gerade ist, sich willkommen geheißen fühlt. In seinem Geschlecht einschließlich seiner Sexualität, in seiner Herkunft, in seiner Religion.
Und die im Elend ohne Obdach sind führe ins Haus – nimm bei dir auf, nimm zu dir, was du gerne bei den Anderen unterbringst, womit du selbst aber nichts zu tun haben willst. Deine eigenen schwachen Seiten, deine Trostlosigkeit, deine Traurigkeit, deine Angst: Lass sie in deinem Haus wohnen und kleide sie mit deiner Fürsorge und deiner Aufmerksamkeit. Nimm dich ihrer an – wie sich Christus deiner annimmt!
Und in dem du dich darauf einlässt, beginnst du ganz allmählich, ganzheitlicher, heiler zu werden, es wird allmählich etwas geschehen in und mit dir:
Es wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit (zedeq) wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit (kawod) des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist wird er sagen: Siehe, hier bin ich.
Das ist der „Lohn“ in Anführungszeichen deiner neuen Lebenshaltung: Keine 72 Huris, kein paradiesisches Leben – sondern ein Leben in Beziehung, in beständiger, sicherer Beziehung zu Gott. Und dieses Leben ist erleuchtet von einem Licht, das zart ist wie die Morgenröte: ein Licht des Neuen Tages, des Aufbruchs in ein ganzheitliches Leben. Und gerade so geschieht deine Heilung, dein Ganz-Werden – schneller als du glaubst. Und gerade so lernst du zu verstehen, dass dein Gott-suchen dich von Gott weggeführt hat. Erst im Loslassen deiner Suche, erst im Durchschauen deiner Täuschung, Gott wäre wo anders – erlebst du: Gott ist immer schon da, er umgibt dich von allen Seiten; er kommt und geht wie dein Atem, er belebt dich – wäre Gott nicht da, würdest du auf der Stelle tot umfallen.
Und wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit den Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und die gebeugte Seele sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.
Es ist so verführerisch einfach, mit dem Finger auf die Fehler der Anderen zu zeigen; in der Tiefe zeige ich damit auf meine eigenen Schwächen, die ich unter keinen Umständen bei mir selber wahrhaben will. Das ist meine Selbst-Finsternis. Erst indem ich lerne, mich mit meinen Schwächen zu lieben, indem ich lerne, mir meine Fehler zu vergeben – erst dann kann ich sie mir auch wirklich vergeben lassen. Gottes Gnade, Gottes Vergebung ist vorauseilend: Sie ist immer schon da. Die Frage ist, ob ich den Mut habe, sie mir auch schenken zu lassen. Je tiefer ich Gottes Ja zu meinem so und nicht anders verlaufenen Leben in mich hineinlasse, damit meine Seele nähre, desto leichter und sicherer richtet sich meine gebeugte, bedrückte Seele auf in gesundem Selbst-Bewusstsein: Im Wissen um mich Selbst mit meinen Stärken und Schwächen. Im Wissen um meine Zugehörigkeit als Mensch zu einem unendlich Größeren und Ganzen: zur Schöpfung Gottes.
Und der Herr wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: ‚Einer, der die Risse schließt und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne‘.
Gott verlässt dich nie. Es ist umgekehrt: In den Zeiten deiner gefühlten Gottverlassenheit hast du dich von ihm entfernt. Bist du aber in Beziehung mit Gott, so sprudelt deine innere Quelle. Dann spürst du deine Lebendigkeit, deine Kreativität, deine Freude am Leben. Und aus deinem Gesättigt-sein und deiner Lebendigkeit heraus entdeckst du die Freude am Erneuern und am Ausbessern. Das ist die Aufgabe in der zweiten Lebenshälfte: Sich dem zuwenden, was man hat liegen lassen, verloren gegangene Beziehungsfäden wieder aufnehmen, Wege, die noch brauchbar sind, ausbessern. So geschieht im Zug der Befreiung immer auch ein (Zu-)Rück-Zug im Sinne einer Reperatur und Wiederherstellung dessen, was zerstört worden ist. Es ist, als würde man Schritt für Schritt verwandelt dahin zurückkehren, wo man vor langer Zeit aufgebrochen ist und auf diesem Wege Schäden beseitigen und wieder gut, heil machen, was unheil geworden ist. Und was sich nicht mehr reparieren lässt, oder was einfach nur alt geworden ist, das kommt zum Wertstoffhof – im Inneren wie im Außen.
Liebe Gemeinde,
heute, an Erntedank, ist eine gute Gelegenheit, uns bewusst zu machen, wie wenig selbstverständlich dieses unser Leben ist. Und wie großzügig, ja verschwenderisch, unser Gott des Lebens ist. Dieses dankbare Gedenken tut gut, da es in der Routine unseres Alltags leicht verloren geht. Dann vergessen wir, wie wenig selbstverständlich das alles ist. Wie wenig selbstverständlich diese lange Friedenszeit ist, und dass wir täglich satt werden, einen Beruf haben usw. …
Aber es steht uns frei, alltäglich und selbstverständlich auf Gottes Großzügigkeit zu antworten. Mit einem ehrlichen Danke. Das genügt. AMEN.