Predigt über Johannes 5, 1-16 am 19. Sonntag nach Trinitatis 2019

Liebe Gemeinde,

heile mich Herr, so werde ich heil, befreie mich, dann bin ich frei.“ (Jer. 17,14)

(M. Luther hatte übersetzt: „… hilf du mir, so ist mir geholfen.“

Dieser Ausruf, ja Appell des Propheten Jeremia, geht mir nahe.

Wer so ruft, wer so bittet, der muss eine Ahnung von Nicht-Heil-Sein haben.

Verbunden mit dem tiefen Vertrauen: „Du kannst mich heilen!“

Und er muss eine Ahnung davon haben, dass sein „Sich-nicht-heil-Fühlen“ zu tun hat mit einem Gefühl, „irgendwie unfrei“ zu sein.

Nicht wenige meiner Patienten sagen sehr früh im Laufe der Zusammenarbeit: „Ich wäre so gerne frei!“

(Fühlt Ihr Euch frei? – Was ist eigentlich „Freiheit“? Tun und Lassen können was man will? Dass einem keiner mehr reinredet?)

Der heutige Predigttext erzählt – wie schon vorher das Evangelium – von einer Heilung – mi Jeremias können wir jetzt auch sagen: Von einer Befreiung.

5, 1 Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem.

Danach“ heißt: Nachdem Jesus einen Todkranken geheilt hatte.

Ein Fest der Juden: Das ist der Rahmen unserer Befreiungsgeschichte. Das ist insofern wichtig, als damit der gesellschaftliche Rahmen genannt wird, innerhalb dessen Jesus handelt. Wir Menschen – völlig egal, was wir machen oder unterlassen – verhalten uns stets zur Gruppe. Auch der Einsiedler, der versucht, alles hinter sich zu lassen, verhält sich zur Gruppe seiner Mitmenschen. So wie es kein Vakuum auf der Erde gibt, so gibt es kein Verhalten/Tun. ohne auf die Gruppe Bezug zu nehmen.

2 Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; 3 in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte.

Die Heilung findet in der Nähe des Schaftores statt, einem der 5 Jerusalemer Stadttore. Dort gibt es einen Teich, Betesda – das heißt auf deutsch „Barmherzigkeit“ -, der Wunder wirken kann. Einer Legende zufolge bewegt ein Engel diesen Teich von Zeit zu Zeit, und wem es als ersten gelingt, in das Wasser zu kommen, der ist geheilt. Auch beim Krank-sein geht es darum, vorne dran – erster zu sein.

Was sind wir Menschen nur für merkwürdige Wesen?

5 Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank.

Ich habe keine Ahnung, ob die Zahl 38 hier eine tiefere Bedeutung hat. Jedenfalls ist der Mann sehr, sehr lange krank. Wir würden heute sagen: seine Krankheit hat sich chronifiziert.

6 Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden?

Das ist bemerkenswert. „Willst du gesund werden?“ Das griechische Wort für gesund heißt: „hygies“; wir kennen es von dem Fremdwort Hygiene. Wörtlich heißt es: wohl leben im Sinne von munter, lebendig sein.

Offenbar ist es nicht selbstverständlich, dass jemand wohl leben will; das jemand „munter“ sein will.. Sigmund Freud hat dies den „Widerstand“ gegen den therapeutischen Prozess, gegen die „Heilung“ oder „Befreiung“ genannt. Dieser Widerstand hat mit dem „Gewinn“ des Krank-seins zu tun. Eine Leitfrage in der psychotherapeutischen Behandlung lautet: Was wird mit dem augenscheinlichen Leiden vermieden? Was wird als noch schlimmer erlebt als das, worunter ich gerade leide? Oder: Warum vermeiden wir mit aller Macht zu erleben, wie frei wir sind?

7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.

Der Kranke sagt, ich habe eine Vorstellung davon, wie ich gesund werden könnte. Diese Vorstellung kann ich aber nicht verwirklichen („realisieren“).

Es ist wichtig, in der therapeutischen Behandlung bzw. im seelsorgerlichen Gespräch genau hinzuhören. Was sagt der Andere und was meint er damit. Und: was meint er nicht. Die allermeisten Menschen haben eine Vorstellung (ein „Konzept“) davon, wie sie gesunden könnten. Verzweiflung stellt sich ein, wenn sie dieses Konzept nicht verwirklichen können. Missmutig, ärgerlich zu werden scheint erträglicher zu sein, als das eigene Konzept, die eigene Vorstellung von Gesundung selbst in Frage zu stellen. Die Vorstellung des Kranken am Teich der Barmherzigkeit ist eine magische: Es müsste ihm nur gelingen, als erster in das Wasser zu kommen. Dazu aber bräuchte er jemanden. Und den gibt es nicht. Oder jetzt vielleicht doch?

8 Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!

Jesus lässt sich auf das Gesundungs-Konzept des Patienten überhaupt nicht ein. Stattdessen provoziert er mit einer Art „paradoxen Intervention“: Einem Gelähmten zu sagen, „steh auf, nimm dein Bett und geh!“ könnte leicht verstärkten Widerstand hervorrufen. „Vielen Dank für Nichts! Genau das ist ja mein Problem, dass ich nicht stehen, geschweige denn gehen kann!“

Der Kranke leidet darunter, nicht auf seinen eigenen Beinen in der Welt stehen zu können. Und er hofft 38 Jahre lang darauf, dass er von außen Hilfe bekommt, dass ihn jemand zu seiner „Erlösung“, zu seiner „Rettung“ trägt. Der Gewinn dieser Haltung ist, selbst klein und abhängig bleiben zu können. Und an der Sehnsucht festzuhalten, es gäbe „da draußen“ einen „Retter“, einen „Erlöser“.

Der Nachteil oder der Preis des Festhaltens an dieser Sehnsucht ist, am Leben nicht wirklich teilnehmen zu können. Irgendwie „draußen“ zu sein. Jesus übergeht dies alles, indem er sagt: „Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!“

9a Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.

Na ja, als jemand, der sich seit 25 Jahren als Psychotherapeut darum bemüht, Menschen dazu zu bewegen, auf eigenen Beinen zu stehen, kann ich da nur lachen. So einfach wenn es ginge!

Und doch ist die zugrundeliegende Idee wahr: Gesund sein hat damit zu tun, frei zu sein; frei zu sein dafür, auf eigenen Beinen zu stehen, den eigenen Weg zu gehen. Und das eigene Schicksal zu (er-)tragen. So verstehe ich das „Bett“, auf dem der Gelähmte liegt: Es ist die Summe all dessen in seinem Leben, was ihn daran gehindert, seiner Wege zu gehen. Anstatt es selbst zu tragen, hat er sich davon runter ziehen lassen, hat er sich davon tragen lassen. Das ist der Gewinn des Abhängig-Bleibens. Solange ich keine Vorstellung davon habe, wie das gehen soll: in Freiheit meiner Wege zu gehen, solange habe ich keine andere Chance, als liegen zu bleiben. Und es mir so gemütlich, wie möglich, auf diesem Bett einzurichten.

Es ist die Angst vor dem Erleben von Freiheit, die mich lähmt! Freisein für mein Leben im heute heißt nämlich auch: Es gibt keine Entschädigung für Erlittenes, keine Wiedergutmachung.

Frei sein für die Gegenwart heißt anerkennen: Alles, was mir widerfahren ist, ist vorbei! Und alles, was ich anderen und mir selbst angetan habe, ist ebenfalls vorbei.

9b Es war aber Sabbat an diesem Tag.

Damit beginnt der zweite Teil unserer Geschichte: Die Einbettung des heilsam-befreienden Geschehens in sein soziales Umfeld oder die Reaktion des religiösen Establishments.

10 Da sprachen die Juden zu dem, der geheilt worden war: Heute ist Sabbat, es ist dir nicht erlaubt, dein Bett zu tragen.

11 Er aber antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin!

12 Sie fragten ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin?

13 Der aber geheilt worden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war fortgegangen, da so viel Volk an dem Ort war.

14 Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre.

15 Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe.

16 Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte.

Das Establishment einer Gesellschaft trägt die Ordnung, die Gesetze, innerhalb derer sich gesellschaftliches Leben bewegt. Seine Aufgabe ist es, für die Einhaltung dieser Ordnung zu sorgen. Es interessiert sich nicht für den Einzelnen, es interessiert sich für die allgemeine Ordnung. Von daher ist der Satz: „Es ist dir nicht erlaubt, am Sabbat dein Bett zu tragen“ völlig korrekt im Sinne dieser Ordnung. Und wenn der Geheilte/Befreite antwortet: „Der mich gesund gemacht hat, der hat mich aufgefordert, mein Bett selbst zu tragen“, dann bleibt das Interesse an der Störung der öffentlichen Ordnung. Das Wunder, dass da einer gesund wurde, interessiert nicht. Ja – es ist gefährlich. Denn offenbar hat da einer zur Unruhestiftung aufgerufen. „Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin?“ Das interessiert.

Der Befreite hat keine Ahnung. Er ist verschwunden. Jesus legt keinen Wert darauf, sein Ego in den Mittelpunkt zu stellen. Ihm geht es um die Befreiung als solche.

Und dann kommt es zu einer zweiten Begegnung: Zum zweiten Mal findet Jesus den nunmehr Geheilten, und zwar im Tempel – also im „Haus Gottes“ – und sagt zu ihm: „Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, dass dir nicht Schlimmeres widerfährt!“

Die Sünde des Gelähmten war keine moralische Übertretung. Die Sünde des Gelähmten war seine Unfähigkeit, sein Lebensschicksal selbst zu tragen. Dies ist er sich schuldig geblieben. Sünde bedeutet in der Tiefe: sich selbst verfehlen. Indem ich mich selbst verfehle, lasse ich das, wozu mich Gott in dieser Welt bestimmt hat, liegen. Lasse ich mein Leben, lasse ich mich selbst liegen. Lasse ich meine Kreativität, meine mir anvertrauten Talente brach liegen. Die Sünde richtet sich gegen meine Lebendigkeit – und so gegen Gott. Gott ist kein fern in den Wolken wohnender „Über-Mensch“ – Gott ist das Leben. In der Kabbala heißt es, Gott ist Atem: Er atmet dich jeden Atemzug aufs Neue ein und er atmet dich aus. Hört er damit auf, fällst du auf der Stelle tot um.

Und: Gott ist die Liebe. Die Liebe zu deinem so und nicht anders gewordenen Leben. Du benötigst die Kraft der Liebe, um mit deinem Leben einverstanden zu werden. Und in diesem Einverständnis wirst du frei für dein Leben, so wie es gerade geschieht.

Heile mich Herr, so werde ich heil, befreie mich, dann bin ich frei.“

Martin Luther, der ebenfalls vom Establishment seiner Zeit verfolgt worden ist, hat das so ausgedrückt:

Da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann ich und will nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Gott helfe mir. Amen.“

Gebe Gott, auch unser Gewissen und unsere Gewissheiten, dass unser Glaube in den Worten Gottes gefangen ist; in jenen Worten, die uns für unsere eigene Lebendigkeit befreien, AMEN.

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