Predigt über Lukas 10, 38 -42 am Sonntag Estomihi in der Corneliuskirche Karlsfeld (2017)

„Erst seit auf Erden

Ein jeder weiß von der Schönheit des Schönen,

gibt es die Hässlichkeit;

Erst seit ein jeder weiß von der Güte des Guten,

Gibt es das Ungute, das Böse.

Wahrlich:

Sein und Nichtsein entspringen einander;

Schwer und Leicht bedingen einander;

Lang und Kurz vermessen einander;

Hoch und Tief erzwingen einander.

Die Stimme fügt sich dem Ton im Chor;

Und ein Danach folgt dem Zuvor.

Deshalb der Heilige (Ganzheitliche) Mensch:

Er weilt beim Geschäft des Ohne-Tun,

Er lebt die Lehre des Nicht-Redens.

So die Dinge werden geschaffen von ihm,

Doch er entzieht sich ihnen nicht.

Er zeugt aber besitzt nicht;

Er tut, aber er baut nicht darauf.

Ist das Werk vollendet, verweilt er nicht dabei.

Wohl! Nur dadurch, dass er nicht verweilt,

ist nichts, das ihm entginge.“

Mit diesem zweiten Kapitel aus dem Tao-Te-King von Laotse möchte ich Sie, liebe Gemeinde, einstimmen, der geistlichen Musik dieses Gottesdienstes zu lauschen.

Sonntag Estomihi – „sei mir ein starker Fels!“

Ein Fels auf dem ich etwas aufbauen kann.

Ein Grundlage. Ein „fundamentum inconcussum“: ein Fundament, das nicht zerfällt, das steht.

Er tut – aber er baut nicht darauf“ heißt es im Tao. „Ist das Werk vollendet, verweilt er nicht.“

Verweilen bedeutet: selbst zufrieden werden im Sinne von satt sein.

Selig sind die da hungern und dürsten (nach Gerechtigkeit!“) sagt Jesus in den Seligpreisungen.

Die nicht nur in unserer Zeit beliebten Polarisierungen leben von ihrer Zerrissenheit. Polar bedeutet: nur ein Pol ist wesentlich. Nur eines ist richtig. Alles andere ist falsch. Anders ausgedrückt: Verbindungen sind zerstört. Anstelle der Verbindung tritt ein ein entweder – oder. Das verbindende „Und“ ist exkommuniziert. Grautöne sind unerwünscht. Dass es ein „Dazwischen“ geben könnte, ist undenkbar.-

Diese Art des Denkens beruht auf Zerstörung. Kompromissen, Maßvollem, Gemäßigtem ist der Krieg erklärt. Die Art des Denkens benötigt verallgemeinernde Propaganda: die Asylanden sind Terroristen, die Arbeitslosen sind faul, die Juden sind … Diese Art des Denkens verweilt auf einem Pol, um den anderen zu verteufeln.

Ich möchte mit und bei Ihnen eine andere Möglichkeit zu denken (und daraus fließend zu leben) bedenken.

Kehren wir zurück, zum Anfang unseres Gottesdienstes. „Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, auf dass vollendet werde …“ – so lautet unser Wochenspruch.

Jedes Hinaufgehen ist auch ein Hinuntergehen. Das Hohe entsteht durch das Tiefe, der Berg entsteht durch das Tal, Manie entsteht durch Depression. Das sind keine Weil-deshalb-Verbindungen, sondern Beziehungen. Ohne Berg gibt es kein Tal. Ohne Manie gibt es keine Depression, ohne Erwartung gibt es keine Enttäuschung.

Das Leiden geschieht „dazwischen“. Es ist ein Verbindungsleiden. Auf dem Berg oben herrscht Euphorie. Höher, weiter, besser! Dass der Berg bedingt ist durch ein Tal, dass reich bedingt ist durch arm – dies wird verleugnet. Die Verbindung wird gekappt. Je stärker der Drang zum Polarisieren desto notwendiger ist die Täuschung. Wer auf die Täuschung hinweist, wird gefeuert. Gilt als Lügner, als Lügenpresse.

Trump ist nichts Neues. (Nebenbei: nicht Trump ist schlimm. Schlimm ist, dass ihn so viele Menschen gewählt haben.) Am Hofe des Sonnenkönigs ging es genauso zu. Wer etwas in den Augen seiner Majestät Falsches sagte, musste damit rechnen, hingerichtet zu werden. Ein Unvorsichtiger sagte einmal: „alle Menschen sind sterblich!“ Daraufhin schaute ihn der König durchdringend an. Der Unvorsichtige spürte, dass er mit seinem Leben spielte und fügte schnell hinzu: „Eure Majestät ist hiervon selbstverständlich ausgenommen!“

Angst, Todesangst verhindert klares, nüchternes Denken. Es ist der Schmerz der Verbindungen und die Angst vor der nüchternen Realität, die uns Menschen zu polarisierendem Denken verführt!

In unserem heutigen Predigttext geht es scheinbar nicht um Todesangst, nicht um große Gefühle. Es ist etwas Kleines, sehr Alltägliches, was unser Text da beschreibt: der Besuch Jesu im Hause der beiden Schwestern, Martha und Maria.

Lk 10, 38-42

10,38 Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Martha, die nahm ihn auf. 39 Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria;

die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. 40 Martha aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, daß mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, daß sie mir helfen soll! 41 Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Martha, Martha, du hast viel Sorge und Mühe. 42 Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“

Es geht um Alltag. Glaube muss alltagstauglich sein – sonst ist er nicht glaubwürdig. Maria und Martha haben Besuch, hohen Besuch. Jesus selbst ist da. Martha – nicht Maria – „nahm ihn auf“. Martha scheint die Aktive zu sein, die Extrovertierte, die Tüchtige, die etwas schafft. Maria hingegen sitzt nur da, tut nichts, hört zu. Man hat diesen Text so gedeutet, dass er ein Bild des Lebens sei: Martha steht für die „vita activa“, während Maria für die „vita contemplativa“ steht. Und immer wenn es mehr als eine Möglichkeit gibt – das haben wir vorhin gelernt – entsteht eine Spannung. Diese Spannung hat damit zu tun, dass wir Menschen reflexhaft bewerten: was ist besser, was ist schlechter. Und so könnte man den Text auch deuten, und so wird er auch in der Einheitsübersetzung von 1979 gedeutet: „Maria hat das Bessere erwählt.“

Indem ich sagte, dass wir Menschen reflexhaft bewerten, könnte ich auch sagen: das ist Ausdruck eines rivalisierenden Erlebens, Fühlens. Es entsteht über Vergleichen Sich-Messen, Rivalisieren. Darauf ist unsere Welt gebaut. Das ist im Tierreich nicht anders: Darwin hat es „das Recht des Stärkeren genannt!“ Und auch bei den Pflanzen gibt es das: alles will wachsen, sich ausbreiten, entfalten, „expandieren“. Das ist die Trieb-Natur des Lebens. In ihr gibt es keine Rücksicht, keine Bescheidenheit, kein: ich halte mich für dich zurück. Schauen sie sich die Triebe eines gesunden Obstbaumes an: kreuz und quer will jeder zum Licht hin wachsen! Es ist eine genuin menschliche Idee zu beschneiden – übrigens keineswegs aus Rücksicht, sondern um den Ertrag (des Baumes) zu erhöhen. Auf dieser Triebebene gilt: „Wachstum zuerst!“

Zum Sich-ausbreiten gehört bei uns Menschen das Tun: der homo faber. Martha macht und tut – um ihren Gast zu bewirten. Es gibt Menschen, die verwechseln Rücksicht und Nächstenliebe damit, den Anderen zu füttern, zu überfüttern. Dies ist besonders bei Frauen und noch einmal bei Müttern verbreitet: ich habe das alles für dich getan/gekocht – aber wehe dir, wenn es dir nicht schmeckt! Über dieses „wehe dir“ schleicht sich der Egoismus hinein: letztlich brauche ich es für mich, für meinen Wert, für meinen Stolz, dass ich dich so bemuttern, bekochen kann …

Auf uns übertragen heißt das: ich habe mir soviel Mühe mit meiner Predigt gemacht, also muss die doch ankommen! Wehe Ihnen, Sie wagen es auch nur zu denken: das schmeckt mir gar nicht, was der da sagt!

Das alles ist Martha. Und auch die Klage, das Jammern gehört dazu. Mir ist alles zu viel, warum hilft mir eigentlich keiner, immer muss ich das machen. Der hierin versteckte Egoismus lautet: „wenn ich es nicht mache, wird es nicht gut!“ „Außer mir kann das eh keiner …“ „So wie ich koche, kannst du eben nicht kochen – so wie ich predige … ;)!“

Die Kehrseite der Klage ist die eigene Überheblichkeit.

Und was ist mit Maria? Es scheint ja doch zu stimmen, dass Maria das bessere Teil erwählt hat.

Maria: ein Lob des Nichts Tuns? Ein Lob dafür „alle Vier“ grade sein zu lassen? Also können sich unsere Kinder auf Jesus berufen, wenn wir in ihr unaufgeräumtes Zimmer stürmen, wo sie wieder einmal mit ihrem Handy/Laptop/X-Box abhängen, wenn wir sie mit unseren Fragen und Vorwürfen („Wann räumst du endlich dein Zimmer auf!“ „Hast du schon für die Schule gelernt?!“ „Seit einer Woche bitte ich dich, deinen Abfalleimer zu leeren!“) belästigen. „Chill‘ down“, sagen sie, während sie lässig mit der Fernbedienung den Ton kurzzeitig etwas leiser stellen.

Und sie könnten hinzufügen: „Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden!“

Und wie klingt das alles, wenn die Verbindungen wieder hergestellt sind?

Es beginnt damit, dass Maria und Martha Schwestern sind. Schon ihr Name weißt darauf hin: Sie beginnen beide mit „mar-“. Etwas spekulativ könnte man „mar-“ mit mare: das Meer assoziieren. Das hieße dann: Maria und Martha sind zwei verschiedene Wellen auf dem einen Meer der Unendlichkeit. Martha und Maria sind keine Alternativen, sie gehören zusammen. Nichts tun ist genau so wenig die Lösung, wie tun. Es geht um die gute Verbindung von Tun und Nicht-Tun, von aktiv sein und geschehen lassen, von sich einsetzen und loslassen.

Auf unsere Situation hier übertragen: die Martha in mir hat sich große Mühe gegeben, eine Predigt zu schreiben, die satt macht, die Sie erreicht, mit der Sie etwas anfangen können. Martha nimmt den Urtext zur Hand, übersetzt und macht und tut. Maria in mir sagt: „versuche nichts zu verzwingen, du hast es eh nicht in der Hand, wie es dann sein wird. Lass die Texte auf dich wirken. Und halte die Augen offen, wenn du die Menschen der Corneliusgemeinde siehst. Dann wird dir schon das Rechte einfallen.“

Wenn Martha in eine Kirche geht, dann sucht sie nach dem Kirchenführer, beschäftigt sich mit der Geschichte und Kunstgeschichte des Kirchenbaus usw. Wenn Maria in eine Kirche geht, so lässt sie sich anmuten von dem, was sie sieht. Vielleicht fällt ihr ein Gedicht dazu ein oder eine Melodie.

Und das Entscheidende ist: beides ist gut! Indem wir Maria und Martha in uns in einen konstruktiven Dialog miteinander bringen, bereichern sie unser Denken und Erleben. Und daraus fließt ein integratives Handeln.

Liebe Gemeinde,

Martha und Maria gehören zusammen. In unserer Geschichte schützt Jesus Maria vor der klagenden Überheblichkeit Marthas. Was man vielleicht noch hinzufügen könnte, wäre der Gedanke, dass Maria und Jesus nicht auf Kosten von Marta leben dürfen. Das wäre eine parasitäre Beziehung, bei der die Ausbeutung im Mittelpunkt steht. Solche Beziehungen sind zerstörerisch für alle daran Beteiligten. Zur Polarisierung gehört übrigens auch, den abgewerteten, vermeintlich „minderwertigen“ Pol auszubeuten. In unserer Geschichte ist das die Verbindung, sich das Essen von Martha schmecken zu lassen und sie gleichzeitig für ihre „Dummheit“ oder ihren sogenannten „Aktivismus“ zu kritisieren. Diese Art von Beziehung ist übrigens in Paarbeziehungen gar nicht so selten.

Und damit genug gepredigt. Ich habe meine Gedanken mit einem Zitat aus dem Tao begonnen. Ich möchte schließen mit einer Zen-Geschichte, die ich bei A. de Mello fand.

Die Weißen oder die Schwarzen?

Ein Schäfer weidete seine Schafe, als ihn ein Spaziergänger ansprach. „Sie haben aber eine schöne Schafherde. Darf ich Sie in Bezug auf die Schafe etwas fragen?“ – „Natürlich“, sagte der Schäfer. Sagte der Mann: „Wie weit laufen Ihre Schafe ungefähr am Tag?“ – „Welche, die weißen oder die schwarzen?“ „Die weißen.“ – „Die weißen laufen ungefähr vier Meilen täglich.“ – „Und die schwarzen?“ „Die schwarzen genauso viel.“ „Und wie viel Gras fressen sie täglich?“ – „Welche, die weißen oder die schwarzen?“ – „Die weißen.“ – „Die weißen fressen ungefähr vier Pfund Gras täglich.“ – „Und die schwarzen?“ – „Die schwarzen auch.“ „Und wie viel Wolle geben sie ungefähr jedes Jahr?“ – „Welche, die weißen oder die schwarzen?“ – „Die weißen.“ – „Nun ja, ich würde sagen, die weißen geben jedes Jahr ungefähr sechs Pfund Wolle zur Schurzeit.“ – „Und die schwarzen?“ – „Die schwarzen genauso viel.“

Der Spaziergänger war erstaunt.

„Darf ich Sie fragen, warum Sie die eigenartige Gewohnheit haben, Ihre Schafe bei jeder Frage in schwarze und weiße aufzuteilen?“

„Das ist doch ganz natürlich“, erwiderte der Schäfer, „die weißen gehören mir, müssen Sie wissen!“ – „Ach so! Und die schwarzen?“ – „Die schwarzen auch“, sagte der Schäfer.

Gebe Gott, dass wir uns als weiße und schwarze Schafe gleichermaßen geliebt fühlen und dass wir diese umfassende Liebe ausstrahlen. Gebe Gott, dass wir der Verführung widerstehen, unsere Mitmenschen, die Schöpfung in Gute und Böse, Weiße und Schwarze aufzuteilen. Gebe Gott´, dass wir immer tiefer hineinwachsen in seine allumfassende Liebe AMEN.

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