Liebe Gemeinde,
„Die Liebe sei ohne falsch.“
So über setzt M. Luther das griechische Wort: „anypokritos“. Und so beginnt unser heutiger Predigttext aus dem Römerbrief Kapitel 12.
Ursprünglich heißt anypokritos: nicht erfahren in der Kunst des Schauspielens. Daraus wurde dann „ungeheuchelt“, dass sich jemand nicht verstellt oder nicht „so tut als ob.“
Offenbar kennt Paulus eine Liebe, die „geschauspielert“ ist.
Und nicht nur Paulus: Ich vermute, jeder von uns hat unangenehme Erfahrungen damit gemacht, getäuscht worden zu sein. Oder auch zu täuschen. Etwas sich selbst und anderen vorzuspielen oder gar vorzugaukeln.
In der Jugendsprache gibt es das Wort „schleimen“ für eine bestimmte Art des Vortäuschens. „Sich bei jemanden einschleimen.“ Das schaut dann nach Bewunderung, vielleicht sogar Liebe aus – ist aber mit einer bestimmten Absicht verbunden. Wer sich einschleimt, verspricht sich einen Vorteil davon.
Wirkliche Liebe ist etwas sehr Nüchternes. E. Fromm weist in seinem Klassiker „Die Kunst des Liebens“ darauf hin, dass Liebe häufig verwechselt wird mit Verliebt-Sein. Dieses Gefühl, Schmetterlinge im Bauch zu haben. Und wenn die Schmetterlinge weggeflogen sind, muss man sich eine neue (vermeintliche) Liebe suchen.
Liebe ist etwas Ruhiges. Und etwas sehr Ehrliches. Genauer: etwas Authentisches.
Wenn ich sagen kann: Das bin ich, so denke ich, so predige ich, so lebe ich, dann bin ich in der Liebe. Ohne mich, meine Meinung, meine Art zu leben absolut setzen zu müssen. Ohne zu meinen, meine Art zu denken und zu leben wäre die bessere.
Liebe ist auch etwas Bescheidenes. Und darin doch etwas Klares, Eindeutiges. „Eure Rede sei ja, ja, nein, nein. Was darüber ist, das ist von übel.“ (Matthäus 5,37)
Wenn ich wenig Ahnung davon habe, wer ich bin, verstehe ich das alles nicht wirklich. Dann versuche ich so zu tun, als wäre ich ein Ehemann, ein Lehrer, ein Pfarrer … und in der Tiefe habe ich keine Ahnung, wer ich bin. Ich schlüpfe in eine Rolle hinein und hoffe darauf, dass diese mich rettet. Aber in der Tiefe bin ich gar nicht da. Ich kann die „Rolle“ nicht mit meiner Identität füllen, weil ich meine Identität nicht kenne. Leben fühlt sich an wie „verschleiert“. So zu leben ermüdet.
In der Hochzeit zu Kanaan verwandelt Jesus Wasser in Wein. Indem ich meine Identität mit dem, was ich als Lehrer/Pfarrer/Ehemann bin, fülle, wird aus einer wässrigen Rolle gehaltvolle Wirklichkeit. Dann bin ich Ehemann – und spiele es nicht länger. Dann stehe ich hier wirklich als Pfarrer. Das bin ich jetzt gerade. Und nichts anderes.
„Hasst das Böse.“ So fährt Paulus fort.
„Böse“, „poneros,“ von „Ponos“ Mühe, Mühsal, Schmerz, Qual. Das Böse ist also nicht in erster Linie die moralische Verfehlung. Es hat mit einer Haltung zum Leben zu tun, die M. Luther als „auf sich selbst hin verkrümmt“ bezeichnet hat. „Unsere Natur ist durch die Schuld der ersten Sünde so tief auf sich selbst hin verkrümmt (lat.: tam profunda est in seipsam incurva), daß sie nicht nur die besten Gaben Gottes an sich reißt und genießt, ja auch Gott selbst dazu gebraucht, jene Gaben zu erlangen, sondern das auch nicht einmal merkt, daß sie gottwidrig, verkrümmt und verkehrt alles […] nur um ihrer selbst willen sucht.“
Das ist tatsächlich ein Problem: Solange ich gar nicht merke, dass alles, was ich tue, ich nur um meiner selbst willen tue – solange bin ich chancenlos für weiteres Erkennen. Es gibt keinen Blick über den Tellerrand, keine Möglichkeit, mich selbst zu erkennen.
Aber was heißt: Ich tue es um meiner selbst willen?
Es bedeutet, ich verwende alles, was mir begegnet, dafür, um daraus Selbst-Vergewisserung, Selbst-Bestätigung oder Ähnliches zu beziehen. Die Haltung ist: Ich muss mir beweisen, dass ich das kann. So kreise ich stets um mich selbst.
Und was meint Luther, wenn er sagt, dass der in sich gekrümmte Mensch auch Gott selbst „um seiner selbst willen“ gebraucht?
Das ist ein ähnlicher Gedanke, den Meister Eckhart ein paar 100 Jahre vorher formuliert hatte: „Manche Leute wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen, und wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und des Käses und deines eigenen Nutzens.“
Der in selbst verkrümmte Mensch versucht aus allem seinen eigenen Nutzen zu ziehen. Gerade so, das ist die Konsequenz, bleibt er einsam, getrieben und unglücklich. Er wird nicht satt und kann nicht satt werden. Er hält nicht aus, dass er sich nicht selber satt machen kann.
Die endgültige, Ruhe und Sicherheit gebende Selbstbestätigung geschieht „extra me“. Außerhalb meiner. (Auch eine tiefe Erkenntnis M. Luthers.) Für den in sich selbst gekrümmten Menschen gibt es dieses „außerhalb“ nicht, da es nur ihn gibt. Er kann sich zu sich selbst nicht ins Verhältnis setzen. Und so kann er sich nicht kennen geschweige denn verstehen lernen. Und so ist ihm der Weg zu Gott, der wesentlich „extra me“ sich ereignet, verschlossen. Gott geschieht im Fremden, im Dritten. Und eben dies ist nicht denkbar.
Gott ist wesentlich trinitarisch.
Der auf sich selbst hin verkrümmte Mensch kann sich dem Dritten, dem Fremden nicht öffnen. So bleibt er zutiefst einsam. Und voller Sehnsucht nach Erlösung, die er wiederum meint, sich selbst geben zu müssen. Er findet den Ausgang aus seinem inneren Gefängnis nicht.
Der auf sich selbst hin verkrümmte Mensch ist ein Hochstapler mit den Gefühlen des Triumphs und der Grandiosität auf der einen Seite und mit den Gefühlen des Versagens, tiefer Niedergeschlagenheit auf der anderen Seite. Die unbewusste traurige Dynamik dieses Geschehens ist, dass die eigene Seele, die eigene Kreativität, die eigene Entwicklung als „Brennholz“ für Erfolg, Karriere, Prestige und Status verwendet wird. So verbrennt er sich selbst: „burn out“ beschreibt die Seele, die sich selbst verzehrt. Bei schwerer Magersucht oder bei Menschen, die am Verhungern sind, versucht der Körper in seiner Verzweiflung von sich selbst zu leben!
Liebe Gemeinde,
alles, was jetzt in unserem Predigttext kommt, ist nur dem sich öffnenden Menschen möglich, jenem Menschen, der erkannt, mehr noch erlebt hat: Ich kann nicht aus mir selbst heraus leben. Da unser Predigttext recht lang ist, werde ich mich jetzt auf ein paar Schlaglichter beschränken.
„Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich.“ (In unserer Gesellschaft ist es weniger missverständlich zu sagen: die geschwisterliche Liebe sei herzlich.)
„Herzlich“ heißt: das, was ich gebe, kommt von Herzen. Ohne Hintergedanken. Ohne „Falsch“. Und das, was ich bekomme auch: Ich denke nicht: O Gott, wie kann ich mich bloß dafür revanchieren? Wer von Herzen geben kann, der nimmt auch von Herzen. Nur wer geben kann, kann sich auch beschenken lassen. Nur wer nehmen kann, kann auch geben.
„Einer komme dem Anderen mit Ehrerbietung zuvor.“
Ehrerbietung: Beginnt damit, den Anderen nicht zu ignorieren. Den Anderen wahrzunehmen. Sich in den Anderen einzufühlen. Zu erkennen, was für den Anderen wichtig ist zu wissen. All dies ist dem um sich gekrümmten Menschen unmöglich, da es für ihn den Anderen in der Tiefe nicht gibt. Er verwechselt Ehrerbietung mit öffentlichem Lobpreis: „Ohne Sie ginge hier gar nichts, es ist großartig, was Sie machen…“ Und in der Tiefe spürt man das Hohle dieser pervertierten Ehrerbietung.
„Seid nicht träge in dem, was ihr tun wollt. Seid brennend im Herrn.“
Nicht: brennt die Andersgläubigen nieder, zerstört deren Schriften. Auch nicht: verbrennt Eure eigene Kreativität. Sondern: „brennt im Herrn!“
Brennt in dem, der Euch die Liebe vorgelebt hat. Brennt in dem, der sein eigenes Kreuz getragen hat. Brennt in der Liebe zur Barmherzigkeit Gottes. Sie allein kann das Feuer Eurer Ignoranz, Eures versteckten Hasses, der sich in Schadenfreude, in „hinter dem Rücken jemanden ausrichten“ usw. löschen.
„Dient dem Herrn. Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.“
„Seid fröhlich!“ Der in sich selbst gekrümmte Mensch ist wesentlich missmutig. Das ist die Wahrheit des Kanons: „Wo man singt, da lass dich ruhig nieder; böse Menschen haben keine Lieder.“ Böse Menschen haben keine Lieder: Stattdessen gibt es Triumphmärsche und Kitsch nach Noten.
Und weiter:
„Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft. Segnet, die Euch verfolgen, segnet und verflucht sie nicht. Freut euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden. Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch zu den niedrigen. Haltet euch nicht selbst für klug.“
Diese einfachen Sätze fließen aus einer Haltung zum Leben, die sich nicht erarbeiten lässt. Es ist ein Geschenk, das empfängt, wer sein Herz öffnet. Und auch dies, sein Herz öffnen zu können, ist noch einmal ein Geschenk. Alles was ich als Mensch machen kann, ist, mich davor zu hüten, mir auf mich, auf mein Denken auf meine Schlauheit etwas einzubilden: „Hüte dich vor Selbstherrlichkeit. Selbstherrlichkeit beleidigt Gott, von dem alle Gaben kommen und macht Sünder anmaßend. Doch wenn du wirklich demütig bist, geht dir … auf, dass das kontemplative Gebet frei von Gott verliehen wird, ohne jegliches Verdienst.“ Das kontemplative Gebet ist aber für den unbekannten Verfasser der „Wolke des Nicht-Wissens“ (einer meditativen Schrift aus dem Ende des 14. Jahrhunderts) nichts anderes als der „Impuls der blinden, nackten Liebe zu Gott hin“.
Liebe Gemeinde,
die Gedanken dieser Predigt wurden ausgelöst von dem einfachen Satz: „Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse.“
Ich bin – was „falsche Liebe“ angeht – ein gebranntes Kind.
Martin Luther war das auch. Solche Kinder spüren, dass sie nicht um ihrer selbst willen geliebt werden, sondern für das, was sie den Erwachsenen „geben“. A. Miller hat diese Kinder „begabte Kinder“ genannt. Es ist gefährlich, an dieser Stelle so stecken zu bleiben, dass man sich ein Leben lang als Opfer sieht. Dies führt zu lebenslangem Hass – auf sich selbst wie auf die „Täter“. Hass aber zementiert meine Abhängigkeit.
Der einzige mir bekannte Weg, der wirklich hinaus in die Freiheit des Liebens und damit des Lebens führt, ist die Verwandlung: des Wassers in Wein, des Misstrauens in Vertrauen, des Hasses in Liebe.
Nur Liebe macht frei!
Und diese Verwandlung ist ein permanenter Prozess, den wir nicht selbst „machen“ können. Aber wir können uns ihm überlassen.
Der Katalysator, der diese Verwandlung in Gang bringt, ist die Fähigkeit loszulassen.
Sich und den Anderen sein zu lassen.
Auf Wiedergutmachung und Genugtuung zu verzichten.
Vom Anderen nichts zu erwarten. Schon gar nicht, dass er sich so verändert, wie ich es für richtig halte. Schon gar nicht mit dem Satz: „Ich will doch nur dein Bestes!“ In der Liebe höre ich auf zu wollen. Und so wächst in mir die Kraft der Nüchternheit. Des nüchternen Anerkennens:
„es ist, was es ist.“
Das ist der Weg wirklicher Liebe. Gebe Gott, dass wir immer kräftiger werden dafür, diesen radikalen Weg der Liebe zu gehen, indem wir lernen, immer tiefer und bedingungsloser ja zu sagen zu dem, was gerade geschieht, AMEN.