Gottesdienst am 3. Advent 2018 in der Apostelkirche in München-Solln
Liebe Gemeinde,
Eine Lehrerin behandelte in einer Schulstunde moderne Erfindungen.
„Kann einer von Euch eine wichtige Sache nennen, die es vor 50 Jahren noch nicht gab?“ fragte sie.
Ein heller Kopf in der ersten Reihe meldete sich und sagte:
„Ich!“
Stimmt – für mich selbst bin ich am Wichtigsten. Alles, was ist tue, alles was ich unterlasse – ich selbst habe die Konsequenzen zu ertragen. Inwieweit ich mich mir selbst zuwende, inwieweit ich mich von mich abwende, inwieweit ich mit mir nichts zu tun haben will, inwieweit ich mich selbst belüge – stets ist da ein „Ich“ – das so und nicht anders lebt. Vielleicht sagt dieses Ich: „Gerade so will ich leben!“ Vielleicht sagt es aber auch: „Um das, was ich will, ist es noch nie gegangen – aber was bleibt mir übrig. Ich muss halt so leben … Aber eigentlich habe ich das Gefühl, mein Leben wird gelebt.“
Unser heutiger Predigttext lässt sich so auslegen, als ginge es einmal mehr nicht um mich. „Bereitet dem HERRN einen Weg!“ heißt es da. Also wieder: tue was für jemand anderen.
Es sei denn, der HERR, Gott, hat mit mir, mit meinem ureigenen Leben zu tun.
In einer alten chassidischen Geschichte heißt es: Gott wird Rabbi Sussja nicht fragen, ob er Moses gewesen – er wird ihn fragen, ob er Sussja gewesen.
Hier geschieht ein Gott, der sich wirklich für mich interessiert.
Aktualisiert: Gott wird nicht nicht fragen, ob du gute Noten geschrieben hast, ob du gut in der Schule aufgepasst hast, ob du brav gewesen bist und im Gottesdienst nicht geschwätzt hast. Er wird dich auch nicht Fragen, wie hoch du auf deiner Karriereleiter geklettert bist, wie viel Geld du gemacht hast, wie groß dein Haus ist und ob du dir ein eigenes Boot leisten konntest. Auch will er nicht wissen, wie viel du gearbeitet hast, wie sehr du dich für andere „aufgeopfert“ hast …
Er wird dir genau eine Frage stellen: bist du dir selbst nahe gewesen – oder bist du vor dir selbst davon gelaufen? Hast du dich deinen Dunkelheiten angenähert oder hast du sie mit schlauen Worten weg-rationalisiert? Bist du dir selbst treu gewesen oder hast du dich verraten?
Hast du dir die Mühe gegeben, dich selbst kennen zu lernen, oder bist du Anderen hinterher gelaufen? Meintest, cool sein zu müssen, wenn du wie die anderen bist. Meintest toll sein zu müssen, indem du nicht wie die Anderen bist.
Die einzige Frage, die der Mensch gewordene Gott dir stellt, lautet: bist du in Verbindung mit deiner ganz eigenen Wahrheit? Oder folgst du den Stimmen, die dir einreden, wie du sein solltest? Hast du die Kraft, dich von deinen Sehnsüchten nach Harmonie zu trennen und für dich selbst einzustehen?
Sich mit diesen Fragen zu beschäftigen verbinde ich mit dem adventlichen Satz:
„Bereitet dem HERRN einen Weg!“ Er steht im 40. Kapitel des Jesajabuches. Ich lese ihn in seinem Zusammenhang in der Übertragung M. Bubers vor:
„Tröstet, tröstet mein Volk spricht euer Gott
redet zum Herzen Jerusalems und rufet ihr zu,
dass vollendet ist ihr Frondienst, dass abgegnadet ist ihre Schuld,
dass gedoppelt von seiner Hand sie empfängt für ihre Sündenbußen.“
Halten wir hier kurz inne: keine Strafpredigt, keine Gerichtsankündigung steht am Beginn dieser Botschaft. Sondern Trost.
Gottes Zuwendung ist eine liebevoll. Und gerade so tröstlich.
Das Wort „Trost“ gehört zu der indogermanischen Wortgruppe „treu“ und bedeutet „innere Festigkeit“, „innere Sicherheit“. Auch das Wort „trauen“ gehört hierher: jemandem „trauen“ zu können, ihn als „zuverlässig“ zu erleben ist „tröstlich“. Denken Sie auch an das englische „true: wahr, richtig, echt“. Und auch in tree, „Baum“. als Sinnbild von Festigkeit, ist der Stamm von Trost enthalten.
Ein Trost, der das ist, was sein Wortstamm verheißt, verleiht „innere Sicherheit“. Davon zu unterscheiden ist das schnelle Trostpflaster, der „billige“ „Es-wird-schon-wieder-Trost“. Gottesdienste, auch Predigten sind gefährdet für den schnellen, scheinbar tröstenden Kick … und schon am Sonntag Nachmittag ist alles wieder beim Alten. Die alten Ängste, die alten Schmerzen, die alte Enttäuschung …
Deshalb lautet die Überschrift des Trostes: „Rede zum Herzen Jerusalems:“ Erst dann kommt der Inhalt des Trostes: „Die Zeit deiner Sklaverei ist vorbei …“
„Rede zum Herzen Jerusalems!“ heißt: was mich wirklich und wirksam tröstet ist etwas, das tief in mich hineinkommt, was mir zu Herzen geht. Die dem Trost entgegen kommende Bewegung ist ein sich öffnendes Herz. Ein verschlossenes Herz ist untröstlich. Und ein untröstliches Herz ist unersättlich. Nicht satt zu kriegen.
Der Trost, der „Halt und Sicherheit“ geben kann, geschieht über die Öffnung der „Zwei“ zur „Drei“ – zum Dritten. Der Tröster, so wird im Johannesevangelium der Heilige Geist genannt – ist die dritte Person Gottes, die aus der Katastrophe der Kreuzigung des Sohnes im Angesicht des ohnmächtigen Vaters herausführt – hineinführt in die Lebendigkeit des Lebens. Gesundes Leben spielt sich stets in der Mitte ab, irgendwo dazwischen: weder ohnmächtig noch allmächtig. Gesundes Leben setzt sich und die eigene Meinung nicht absolut. Und es stellt sein Licht nicht unter den Scheffel. Genauso wenig, wie es sich selbst überhöht.
Hören wir weiter auf unseren Text:
„Stimme eines Rufers:
In der Wüste bahnt SEINEN Weg,
ebnet in der Steppe eine Straße für unseren Gott.
Alles Tal soll sich heben,
aller Berg und Hügel sich niedern,
das Höckrige werde zur Ebne und das Hügelige zur Senke.
Offenbaren will sich SEIN Ehrenschein, alles Fleisch vereint wird’s sehen.
Ja, geredet hats SEIN Mund.
Stimme eines Sprechers: Rufe!
Er spricht zurück: was soll ich rufen!
Alles Fleisch ist Gras, all seine Anmut der Feldblume gleich!
Verdorrt ist das Gras, verwelkt ist die Blume, da SEIN Windhauch sie angeweht hat.
-Gewiss,
Gras ist das Volk, verdorrt ist das Gras,
verwelkt ist die Blume,
aber für Weltzeit besteht die Rede unseres Gottes.“ (M. Buber)
„Für die Weltzeit besteht die Rede unseres Gottes“. Die „Rede unseres Gottes“ ist das Wort, ist die Sprache. Auch die Sprache ist ein Drittes: sie dient als Medium, als Brücke zwischen mir und Ihnen, allgemeiner: zwischen dem Sprecher und der Welt da draußen. Sie vermittelt (Mitte!) gleichsam zwischen innen und außen. Sie vermittelt aber auch zwischen meinen Gefühlen und meinem Verstand, falls ich mich traue, sie dafür zu verwenden. Wenn Sie Reden von totalitären Machthabern hören, merken Sie, dass der eigene Hass sich dieser Sprache bemächtigt hat. Eine Spielart des Hasses ist Zynismus: „sich lustig machen über!“
„Die Rede unseres Gottes“ ist eine Sprache des Trostes, des Verständnisses und der Güte. In dieser Haltung und nicht in einer überheblich-maßregelnden sind die 10 Gebote (hebräisch 10 Worte) gesagt. Es sind 10 Worte für gerechtes und friedvolles Zusammenleben.
Unsere Herzen zu öffnen für die liebevolle „Rede unseres Gottes“ bedeutet: die eigene Nichtigkeit anzuerkennen. „Alles Fleisch ist Gras, all seine Anmut der Feldblume gleich!“
Das Verrückte ist: der mein Herz öffnende, mein Leben verändernde Trost bedingt das Erleben meiner eigenen Vergänglichkeit. Indem ich meine Vergänglichkeit bejahe, kann ich mich und meine Meinung gar nicht mehr absolut setzen. Die „Rede unseres Gottes“ ist eine Rede des Verständnisses. Aus ihm heraus geschieht Heilung: „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein …“ so heißt es in unserem Evangelium In diesem Verständnis beginne ich in meiner Seele etwas zu erkennen, wofür ich lange Zeit blind gewesen bin. Werde ich beweglich an Stellen, wo ich dachte, ich bin gelähmt. Der Ausschlag meines inneren Druckes mildert sich; für tot Gehaltenes beginnt zu leben. Es wächst in mir zwischen zwischen Up und Down, es entsteht ein Weg, auf dem sich erhobenen Hauptes laufen lässt.
Indem wir Gott den Weg bereiten – und mehr können wir nicht – entstehen Brücken in der zerklüfteten Landschaft unserer Seele. Die eisigen Gipfel meiner Empörung, meiner Überheblichkeit, meines triumphalen Wissensdünkels werden erniedrigt, die schwarzen Jammer-Täler meiner Niedergeschlagenheit werden erhöht. Und so entsteht etwas Mittleres.
Und der Tröster ist der „Mittler“ dieses „Mittleren“.
Die Mitte aber ist das, wo nichts ist. Die Ränder, Pol mit ihren Polarisierungen lassen sich viel leichter in den Griff kriegen.
Wo nichts ist, ist auch nichts zu begreifen.
Und das ist schwer auszuhalten.
Die Mystiker aller Generationen und Religionen haben dieses Nichts ins Zentrum gestellt. Nur ein leeres Gefäß kann etwas anderes aufnehmen, sagen sie.
Deshalb „sollst du schweigen!“ predigt Johannes Tauler. „In diesem mitternächtlichen Schweigen, in dem alle Dinge in tiefster Stille verharren und vollkommene Ruhe herrscht, da hört man das Wort Gottes in Wahrheit. Denn soll Gott sprechen, so musst du schweigen. Soll Gott in dich eingehen, so müssen alle Dinge ihm den Platz räumen.“
Das Fest dieses „mitternächtlichen Schweigens“ ist für mich Weihnachten.
In diesem Sinne – schweige auch ich jetzt – nachdem ich Ihnen vorher noch eine kleine Geschichte erzähle:
„Ein alter Mann konnte stundenlang still in der Kirche sitzen.
Eines Tages frage ihn ein Priester, worüber Gott mit ihm spräche.
Der Mann antwortete: Gott spricht nicht. Er hört nur zu.
Was redest du dann mit ihm? wollte der Priester wissen.
Ich spreche auch nicht, ich höre nur zu.“
AMEN.
Und die Liebe Gottes, die weiter ist als all unser menschliches Reden und Tun, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus AMEN.
Wir wollen jetzt für drei Minuten Gott schweigend zuhören!