„Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein auf sie!“ (Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis 2022)

Liebe Gemeinde,

ich bin froh und dankbar, dass Menschen vor ich weiß nicht wie viel 1000 Jahren auf die geniale Idee gekommen sind, die Schrift zu erfinden.

Sie entlastet mein älter werdendes Gehirn erheblich und grenzt meine zunehmende Vergesslichkeit ein.

Indem ich mir etwas aufschreibe, „steht es da“. D.h., ich kann darauf zugreifen – vorausgesetzt freilich, ich habe nicht vergessen, wo der Zettel oder das Notizbuch liegt, auf den ich es mir aufgeschrieben habe.

Schrift hat also was mit der Idee von Beständigkeit zu tun, mit Dauer. Und damit (auch) mit Verlässlichkeit.

Ich habe heute über die einzige Stelle im NT zu predigen, die uns erzählt, dass Jesus geschrieben habe. Es ist zu vermuten, dass er des Schreibens nicht mächtig gewesen ist. Inwieweit er lesen konnte, wissen wir nicht. Und auch in dieser Stelle erfahren wir nicht, was er geschrieben hat. Es bleibt ein Geheimnis. Oder auch eine Leerstelle. Ich vermute, damit will der Autor unserer Geschichte etwas hervorheben, etwas markieren.

Aber eines nach dem anderen: Ich lese Ihnen jetzt erst mal die Geschichte vor: Sie steht bei Johannes im 8. Kapitel, die Verse 3 bis 11.

Die Schriftgelehrten und die Pharisäer aber bringen eine Frau, die beim Ehebruch ergriffen worden war, und stellen sie in die Mitte 4 und sagen zu ihm: Lehrer, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. 5 In dem Gesetz aber hat uns Mose geboten, solche zu steinigen. Du nun, was sagst du? 6 Dies aber sagten sie, ihn zu versuchen, damit sie etwas hätten, um ihn anzuklagen. Jesus aber bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie aber fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie. 8 Und wieder bückte er sich nieder und schrieb auf die Erde. 9 Als sie aber dies hörten, gingen sie, einer nach dem anderen, hinaus, angefangen von den Älteren; und er wurde allein gelassen mit der Frau, die in der Mitte stand. 10 Jesus aber richtete sich auf und sprach zu ihr: Frau, wo sind sie? Hat niemand dich verurteilt? 11 Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh hin und sündige von jetzt an nicht mehr!

Liebe Gemeinde,

ich will Ihnen an ein paar Gedanken Anteil geben, die mir gekommen sind, als ich mich auf diese Predigt vorbereitete:

Erstens:

„Sie sagten das, um ihn zu versuchen, damit sie etwas finden, um ihn anklagen zu können.“

Es ist wesentlich zu erkennen, welche (verborgene) Absicht/Strategie der Andere mit dem, was er sagt und/oder tut, verfolgt. Wenn jemand damit eine Strategie verfolgt, ist der offene Dialog zerstört. Der Dialog wird für Manipulation missbraucht. Er dient nicht mehr dazu, miteinander einen vernünftigen dritten Standpunkt zu erarbeiten. Er dient dazu, etwas über den Anderen zu erfahren, ohne dass ich das, was ich erfahren will, offen anspreche. Die Grundlage für diese Art des Miteinanders ist Misstrauen. Ich denke, wir alle kennen dies. Umgangssprachlich heißt das: „Nicht mit offenen Karten spielen.“ In einer Diktatur ist die Grundlage sozialen Miteinanders Misstrauen. Aber leider nicht nur dort. Inwieweit kann ich dem Anderen glauben, mich auf ihn verlassen, ihm vertrauen? Inwieweit kann ich mich auf mich selbst verlassen und mir vertrauen? Wie verführbar bin ich selbst? Wer versucht zu manipulieren, der ist auch selbst anfällig für Manipulation. Der verführte Verführer.

Zweitens: In unserer Geschichte geht es um Moral. Die Pharisäer, also das damalige religiöse Establishment, versuchen Jesus zu überführen als einen, der sich nicht an das von Mose gegebene Gesetz hält. Das ist verständlich: Er und seine Jünger erregen immer wieder Anstoß, wenn sie z.B. am Sabbat Ähren ausreißen, oder wenn Jesus am Sabbat Kranke heilt. Die Pharisäer von damals wie die Pharisäer von heute denken, es genüge, mechanisch sich an irgendwelche Regeln zu halten. Zur Zeit versteckt sich unter der Überschrift „gendern“ viel pharisäisches Gedankengut. Pharisäische Moral ist eine selbstgerecht gewordene Moral. Ein wesentliches Kennzeichen ist ihre Überheblichkeit. Pharisäische Moral will sich selbst an die Stelle Gottes setzen, will selbst richten.“Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ – von diesem Paulus-Wort hält pharisäische Moral nichts. Und sein Urheber, Paulus, hält sich selbst auch immer wieder nicht daran: Z.B. in seinen Hasstiraden im ersten Korintherbrief gegen jene, die in seinen Augen „Unzucht“ treiben.

Schließlich: Pharisäische Moral ist eine äußerliche Moral: Es genügt ihr, wenn jemand „von außen betrachtet“ nach bestimmten vorgegebenen Regeln lebt. Pharisäische Moral ist eine „Moral des schönen Scheins“.

Drittens: Von daher wird einmal mehr verständlich, wie anstößig ja skandalös Jesu Antwort gewesen sein muss – so Anstoß erregend, dass man übrigens unseren Text erst Jahrzehnte nach der Fertigstellung des Johannesevangeliums in das Evangelium eingefügt hat! Und was ist jetzt das Anstoß Erregende an Jesu Antwort?

Zunächst einmal antwortet Jesus überhaupt nicht! Er schweigt.

Er schreibt mit seinen Fingern in den Sand. Diese Geste unterbricht den Mechanismus der Verurteilung. Es ist ein break.

Aber – mehr noch – Es ist keine sinnlose Übersprungshandlung – sondern eine Handlung mit hohem Symbolgehalt:

Der schreibende Finger erinnert nämlich an den Gottesfinger, der auf dem Berg Sinai die beiden Tafeln beschrieben hat. Die 10 Gebote – von Gott eigenhändig geschrieben! Nur dass in unserer Geschichte nicht gesagt wird, was da geschrieben wird.

Und dann – nachdem die Pharisäer nicht aufhören Jesus zu bedrängen, fällt der berühmte Satz: ‘Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.’ Dadurch lenkt Jesus die Aufmerksamkeit von der Beschuldigten weg auf die Schuld der Beschuldiger. Denen, die meinen, den Gotteswillen genau zu kennen, wird klar, dass auch sie auf die Barmherzigkeit Gottes angewiesen sind. Mit diesem schlichten Satz läuft der Hass und das Richten der Pharisäer ins Leere. Das Geniale an diesem Satz ist, dass er weder Partei für die Frau noch für die Pharisäer ergreift. Stattdessen stellt er das moralisch-überhebliche Denken selbst in Frage.

Viertens: Ein persönlicher Einschub: Mir ist pharisäische Moral nicht fremd. Ich glaube, wer sich entscheidet Pfarrer – egal ob evangelisch oder katholisch – zu werden, den beschäftigt unausweichlich die Frage: „Was ist ein gutes Leben?“

Ich persönlich bin immer dann besonders gefährdet für moralische Überheblichkeit, wenn ich besonders empört bin über das Verhalten von jemanden Anderen. Und ich bin dann besonders empört, wenn dieses Verhalten meinen Idealen und meinen Werten nicht entspricht. Hinter meinen Idealen und meinen Werten aber ist meine Bedürftigkeit und meine Abhängigkeit versteckt. Genauer: Das Gefühl, dass der Andere durch ein bestimmtes Verhalten mich stabilisieren soll. Wenn er dies nicht tut, weil er in meinen Augen seinem Auftrag als Politiker oder Chef oder Pfarrer nicht gerecht wird, werde ich gehässig. Vor kurzem stieß ich auf den Satz:

„Sich über Andere aufregen ist so, wie wenn man selbst Gift trinkt und darauf hofft, daran würde der Andere sterben.“

Fünftens:

Am Ende unserer Geschichte bleiben die Ehebrecherin und Jesus übrig.

Augustinus sagt das so: „Nur zwei blieben zurück, die Erbarmenswerte und die Barmherzigkeit“ (misera et misericordia) sagt. Und damit bleibt die Frage übrig:

Kann die Erbarmenswerte die ihr gewährte Barmherzigkeit nehmen?

Dies klingt ganz einfach – und gehört doch zum Schwersten:

Im Letzten ist es die Fähigkeit, sich selbst zu vergeben.

Das Schwierigste ist nämlich nicht, dass Gott uns vergibt.

Gott ist die Vergebung – er kann gar nicht anders als zu vergeben.

Das Schwierigste ist, diese Vergebung an sich heran zu lassen.

Eben: sich selbst zu vergeben.

Und warum ist das so schwer? Weil es ein Angriff auf meine Identität ist. Auf meine Selbst-Definition.

Wenn ich mich als den oder die definiere, zu der oder dem wesentlich „betrügen“ gehört (oder lügen, oder stehlen, oder Gewalt anwenden…), dann werde ich dies auch tun. Und ich werde es mit schönreden: Steuerhinterziehung hat doch nichts mit Betrug zu tun – das machen doch alle. Eine Affäre haben: Wen verletze ich denn damit, solange es nicht aufkommt? Kann denn Liebe Sünde sein?

Unabdingbare Voraussetzung für die Möglichkeit, mich zu ändern, ist, dass ich mich erreichen lasse. Je narzisstischer ein Mensch ist, desto weniger lässt er sich erreichen. Für ihn ist jedes in Frage gestellt werden eine Kränkung seines Selbstwertes.

Sich in Frage stellen lassen heißt, bereit sein, Leiden auf sich zu nehmen.

Das ist der berühmte „Leidensdruck“, der Menschen in die Therapie führt. Ohne ihn ist therapeutisches, also auf Veränderung ausgerichtetes Arbeiten unmöglich.

Nur wer an sich selbst leidet, wird veränderbar.

Und nur wer veränderbar wird, wird vergebungsfähig.

Wichtig ist das „an sich selbst leiden“. Wer darunter leidet, wie die Anderen sind, und meint, die Lösung wäre es, dass sich die „Anderen“ ändern sollen – auch er ist nicht vergebungsfähig. Auch er kann mit dem Satz, „dir sind deine Sünden vergeben“, in der Tiefe nichts anfangen.

Sechstens:

Indem ich mir von Gott vergeben lasse, vergebe ich mir selbst. Blicke ich mit weichen barmherzigen Augen auf mich selbst, auf mein gelebtes Leben. Oder: Leuchtet in meinen Augen die Barmherzigkeit Gottes. Paulus hat das so gesagt: „Nun aber lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir!“ Und Dietrich Bonhoeffer hat gesagt: Christsein heißt, von der Auferstehung her zu leben.

Der Weg dorthin ist ein Leidensweg. Eine Passionsgeschichte, die mit der Kreuzigung des „alten Lebens“ endet. Die große Frage ist, ob damit auch der Lebensweg endet. Dann wäre die Kreuzigung keine Kreuzung, sondern eine Sackgasse.

Oder ob es ein danach, ein jenseits der Kreuzigung gibt.

Die große Frage ist, ob es eine Verwandlung meiner Erbärmlichkeit gibt.

Gott will nämlich nichts Anderes, als meine Erbärmlichkeit in seine Barmherzigkeit hinein verwandeln. Dieses Verwandelt-Werden fühlt sich an. Es hat nichts mit romantischer Harmoniesehnsucht zu tun. Es fühlt sich als ein schmerzhafter Transformationsprozess an.

In der christlichen Mystik wird dafür häufig das Bild des Feuers verwendet. Meister Eckhart z.B. beschreibt es so:

„Wenn das Feuer seine Wirkung tut und das Holz entzündet und in Brand setzt, so macht das Feuer das Holz ganz fein und ihm selbst ungleich und benimmt ihm Grobheit, Kälte, Schwere und Wässrigkeit und macht das Holz sich selbst, dem Feuer, mehr und mehr gleich; jedoch beruhigt, beschwichtigt noch begnügt sich je weder Feuer noch Holz bei keiner Wärme, Hitze oder Gleichheit, bis dass das Feuer sich selbst in das Holz gebiert und ihm seine eigene Natur und sein eigenes Sein übermittelt, so dass alles ein Feuer ist, beiden gleich eigen, unterschiedslos ohne Mehr oder Weniger. Und deshalb gibt es, bis es dahin kommt, immer ein Rauchen, Sich-Bekämpfen, Prasseln, Mühen und Streiten zwischen Feuer und Holz. Wenn aber alle Ungleichheit weggenommen und abgelegt ist, so wird das Feuer still und schweigt das Holz.“

Gebe Gott, dass wir den Mut und die Kraft aufbringen, uns immer tiefer hinein verwandeln zu lassen in Gottes Barmherzigkeit.

Gebe Gott, dass wir den Mut und die Kraft aufbringen, das göttliche Feuer seiner Liebe zu uns zu ertragen – solange, bis unser Herz in Liebe zu Gott erglüht und es keinen Unterschied mehr gibt zwischen Gott und uns, AMEN.

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