„Am Tag der Zerstörung“
Liebe Gemeinde,
unser heutiger Sonntag heißt Israelsonntag. Gedacht als Erinnerungssonntag. Er steht zeitlich in Zusammenhang mit dem jüdischen Festjahr, und zwar dem 9. Aw. Aw ist in dem von Israel übernommenen babylonischen Kalender der 5. Monat im Jahr. (Er liegt zwischen Juli und August nach unserer Zählung.) Am 9. Aw erinnert sich die jüdische Gemeinde traditionell der Zerstörung des „ersten Tempels“ von Jerusalem 586 v.Chr., der Zerstörung des „zweiten Tempels“ 70 n.Chr., der blutigen Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes 135 n.Chr. und der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492. Erst der Holocaust hat in unseren Tagen einen eigenen Gedenktag erfordert.-
Das sind alles keine schönen Erinnerungen, an denen wir heute in Solidarität mit unseren jüdischen Brüdern und Schwestern teilhaben. Hinzu kommen unsere eigenen Erinnerungen an Leid, das wir Anderen zugefügt haben und Leid, das wir selbst zu ertragen hatten. Und das alles gilt nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch und besonders für die Gegenwart: Es gibt keine Gegenwart ohne Leid in dieser Welt – ohne Leid, das wir zufügen – sei es Anderen, sei es uns selbst; – und ohne Leid das wir zu ertragen haben, das uns zugefügt wird.
Und wie geht die jüdische Gemeinde mit solch leidvollen Erinnerungen um?
Nun … – sie erzählen einander Geschichten. Dahinter steht die Idee, dass von Geschichten etwas Heilsames ausgehen kann. Vorausgesetzt, wir lassen uns mit Herz und Seele auf sie ein. Ansonsten bleibt es bei einer „erbaulichen“ Geschichte. Wellness ohne Tiefgang.
Ich möchte heute über eine Geschichte predigen, die gerne am 9.Aw erzählt wird. Martin Buber hat sie in seinen „Chassidischen Erzählungen“ gesammelt.
Sie lautet:
Am Tag der Zerstörung
„Man fragte Rabbi Pinchas: ‚Warum soll, wie uns überliefert ist, der Messias am Jahrestag der Zerstörung des Tempels geboren werden?’
‚Das Korn’, sprach er, ‚das in die Erde gesät ist, muss zerfallen, damit die neue Ähre sprieße. Die kraft kann nicht auferstehen, wenn sie nicht in die große Verborgenheit eingeht. Gestalt ausziehen, Gestalt antun, das geschieht im Augenblick des reinen Nichts. In der Schale des Vergessens wächst die Macht des Gedächtnisses. Das ist die Macht der Erlösung. Am Tag der Zerstörung, da liegt die Macht auf dem Grunde und wächst. Darum sitzen wir an diesem Tag am Boden, darum gehen wir an diesem Tag auf die Gräber, darum wird an diesem Tag der Messias geboren.“
Man fragte Rabbi Pinchas so fängt die Geschichte an.
Es ist unüblich, dass „man“ fragt. Üblicherweise weiß „man“; was zu tun und zu lassen ist. „Man“ kennt den neusten Trend, „man“ weiß, was gerade angesagt ist. Wer keine Fragen stellt, will auch keine Antworten. Wird „man“ konfrontiert mit der Frage nach tieferem Sinn, wird „man“ gereizt. „Das macht man halt so“, ist die Nicht-Antwort. Man funktioniert ungedacht-routiniert, im Schwarm. Nur nicht auffallen! Nur nicht persönlich, nur nicht wesentlich werden!
Wenn unsere Geschichte mit „man fragte“ beginnt, ist das schon sehr ungewöhnlich. Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass von der Geburt des Messias erzählt wird.
Man ist immer auf der Suche nach einem „Messias“ – nach Einem, den man bewundern kann, einem Star. Auch hier geht es keinesfalls um Persönliches. Man schwimmt auf der Welle mit. Hauptsache, es gibt jemand, der die Welle in Gang bringt. Wer der Trendsetter ist, ist dem „Man“ völlig egal. Hauptsache er garantiert Gefühle von „Dazugehören“, „Dabeisein“, „mitschwimmen“ … und darin „hype“ sein. Von daher ist es völlig unverständlich, wenn die Geburt dieses Messias mit Zerstörung verbunden wird. Das versteht „man“ nicht. Und so kommt es zu der Frage:
Warum soll, wie uns überliefert ist, der Messias am Jahrestag der Zerstörung des Tempels geboren werden?
Natürlich drückt sich in der Frage des Man seine gelernte Art zu denken aus, wie „man eben denkt“: in Kausalität (warum), in Raum (Tempel) und in Zeit (am Jahrestag). Kausalität, Raum und Zeit sind durch „Zerteilungen“ (Spaltungen) entstanden. Diese sind Ausdruck keimend-differenzierenden Denkens: Das anfängliche „Ein und Alles“, in dem es „drunter und drüber“ (tohu wa bohu) geht, wird unterschieden in vorher und nachher, in innen und außen, in Ursache und Wirkung. So entsteht Ordnung. Ordnung, die davon lebt, dass das eine mit dem anderen nicht vermischt wird. Der Täter ist nicht das Opfer, innen ist nicht außen, vorher ist nicht nachher, rechts ist nicht links. In diese – auf den ersten Blick – scheinbar klare Ordnung hinein passt kein Denken, dem zufolge der Messias am Jahrestag der Zerstörung des Tempels geboren werden soll. Geburt des Messias ist Heil, ist Erlösung, ist Freude pur. Zerstörung des Tempels ist Zerstörung der Identität, ist Strafe, ist Trauer, ist Zusammenbruch. Beides „in eins“ zu denken gefährdet die mühsam errungene stabilisierende Ordnung, die „man braucht, um zu (über)leben“. Die vermeintliche Rettung ist das „Warum?“ zu verstehen. Wenn man weiß, warum, ist die vermeintliche Sicherheit wieder hergestellt. Also wird: „Warum?“ gefragt.
Ein weiterer Hinter-Grund für die „Warum?“-Frage ist eine gewisse Beunruhigung des „Man“. Was beunruhigt ist die „Überlieferung“. „Überlieferung“ ist Tradition – sie wird als Verbündeter des Man erwartet und gewertet: „Weil man das schon immer so gemacht hat…“ ist die Vermählung von Tradition und Man (Brauchtum). Das Man denkt und fühlt mit jeder Faser konservativ. Es kann mühelos und ohne einen Hauch von Beunruhigung alles Neue ignorieren, aus der schlichten Begründung heraus, dem Neuen fehle die Tradition. Oder auch: „Das passt nicht zu uns!“ Das Alte hingegen, das Überkommene, das Bewährte, „das, was schon immer so gewesen ist“, kann und soll nicht einfach weggewischt werden; das käme einer Revolution gleich und Revolutionen sind dem Man fremd. So fragt das Man: „Was soll diese Tradition, die die Zerstörung des Tempels mit der Geburt des Messias zusammen fügt?“)
Und der Rabbi antwortet:
„’Das Korn’, sprach er. ‚das in die Erde gesät wird, muss zerfallen, damit die neue Ähre sprießt.’“
Mit dieser Antwort hat man nicht gerechnet, kann man nicht gerechnet haben. Der Antwortende scheint in Gedanken nicht da zu sein. Hat er die Frage überhaupt gehört? Was hat „das Korn, das in die Erde fällt…“ mit der Zerstörung des Tempels zu tun? Und was hat Beides mit der Geburt des Messias zu tun?
Gute Antworten verbünden sich nicht mit den Fragen. Gute Antworten werden selbst zu Samenkörnern, tragen Wachstumsmöglichkeiten in sich. Gute Antworten machen satt, indem sie selbst „ungesättigt“ sind. Der Lehrer, der „Zaddik“, „tut nichts statt deiner, was du schon selber zu tun erstarkt bist;“ sagt Martin Buber. „Er nimmt deiner Seele keinen Kampf ab, den sie selber bestehen muss, um ihr besonderes Werk in der Welt zu vollbringen.“ Dies gelte auch und gerade „für die Beziehung zu Gott: Der Zaddik (Lehrer) hat seinen Chassisidim (Schüler) den unmittelbaren Zugang zu Gott zu erleichtern, nicht zu ersetzen.“1
(In Klammer: Es wäre günstig, wenn sich jede Pfarrerin und jeder Pfarrer am Beginn eines Gottesdienstes diesen Satz vor Augen führt! Er bewahrt nicht nur vor Überheblichkeit sondern auch vor unnötigem Druck! Und da solche Sätze gefährlich sind, wende ich ihn jetzt auf mich an. „Lothar, nimm dich nicht so wichtig!“)
Doch zurück zu unserer Geschichte: Rabbi Pinchas entkleidet die Frage ihrer kausalen Konkretheit und führt sie weiter – hinein in die dunkle Tiefe des Lebendigen selbst:
Das Korn muss zerfallen, damit die neue Ähre sprießt. Oder, anders gewendet: „Die Kraft kann nicht auferstehen, wenn sie nicht in die große Verborgenheit hinein geht.“
Die heilsam-berührende Kraft hängt daran, wie weit sie das in der menschlichen Seele Verborgene erreicht. Hierfür muss sie in des Menschen Seele „hinein-gehen.“ Dieses „Hineingehen“ ist ein Hinabsteigen: „hinabgestiegen in das Reich des Todes.“ Das Reich des Todes ist das Reich der Dunkelheit des Nicht-Wissens. Nicht-Wissen, was meine Predigt-Gedanken bei Ihnen auslösen. Nicht-Wissen, woher diese Gedanken kommen. „Es geschieht“ – „es geschehen lassen““: das ist es, was uns Menschen mit unserem überdimensionierten Gehirn solche Mühe bereitet.
Wirklich Neues, das in sich die Potenz zur Fruchtbarkeit trägt, entsteht aus der Dunkelheit. Es bleibt dem hellen Licht des Verstandes verborgen. Diese Verborgenheit will ertragen werden. Sie wird so ertragen, dass ich mich selbst davon abhalte, das bekannte „Licht des Verstandes“ einzuschalten. Nur im Dunkeln kann das „Leben der Dunkelheit“ wahrnehmend erkannt werden. Der Mystiker Dionysios Pseudareopagita hat das Bild des „Strahles der Finsternis“ geprägt. Dieser Strahl leuchtet, indem die blendenden Suchscheinwerfer unserer Rationalität ausgeschaltet worden sind. Dies ist unser Beitrag auf dem Weg zur Erlösung. Er besteht in einem Nicht-Tun: In einem Vermeiden, den naheliegenden Verstand zu gebrauchen. Dagegen prostestiert der Verstand aufs Schärfste. Er erlebt dies als seine „Tötung“. Und er rächt sich mit energischer Abwertung. Was lernt ihr bei Euren Meistern? fragt ein Gegner der chassidischen Bewegung. „Nichts“ ist die lächelnde Antwort.
Und so fährt Rabbi Pinchas fort:
Gestalt ausziehn, Gestalt antun, das geschieht im Augenblick des reinen Nichts.
Das Weizenkorn zerfällt im dunklen Schoß der Mutter Erde. Solange es dazu nicht bereit ist, findet kein Wachstum, keine Entwicklung statt. Die Bereitschaft zum Zerfall, die Bereitschaft, sich von Gott für Gott zerstören zu lassen – dies ist wohl der schwierigste Schritt auf dem dunklen Weg des Wachsens in Gott hinein. Des Wachsens zum eigenen authentischen Selbst . „Reines Nichts“ macht Angst, panische Angst. Die Alten nennen es den „horror vacui“ – das Erschrecken des Erlebens, dass „Nichts“ ist.
Dieser Schritt – weil so schwierig – ist besonders anfällig für Selbst-Betrug. Dann wird ein Phönix aus der Asche „gezaubert“, an die Stelle zerstörerischer Verwandlung tritt die Statik von „Ausziehen“ und „Anziehen“, von Verschwinden und Dasein, von Tod und Auferstehung. Wenn am Karfreitag schon klar ist, dass übermorgen Ostersonntag ist, werden die Gefühle der Ungewissheit vermieden. An die Stelle eines je und je von Neuem zu durch-leidenden Prozesses tritt ein erstarrtes „Kippbild“. So wird der „Augenblick des reinen Nichts“ vermieden. So wird auch vermieden, wozu der Weg des lösenden Vergessens führt:
In der Schale des Vergessens wächst die Macht des Gedächtnisses.
Die Macht des Gedächtnisses entsteht in der Kraft des Sich-Erinnerns. Es ist das Nicht-Erinnerte, das scheinbar Nicht-Erinnerbare, das quält. Was nicht er-innert werden kann, kann nicht in die Person „hinein-genommen“ werden. Damit kann es nicht verdaut werden. Stattdessen blockiert und quält es gedächtnis- und gedankenlos. Eine nur scheinbare Befreiung ist das „Hinaus-Stoßen“, das im selben ein „Hinein-Stoßen“ in den „Anderen“ ist. So wird der Aus-Wurf zum Vor-Wurf an den Anderen.
Es geht um ein Wachsen der Erinnerung, des Gedächtnisses, der Sprache des Gedenkens, um es schließlich „gut sein lassen zu können“. (Beides stimmt: „gut sein lassen können“ und „gut sein lassen können“.) Die „Schale des Vergessens“ ist das „Containment“, innerhalb dessen der echte Los-Lösungsprozess sich vollzieht. Der bekannte Spruch: „Kaum ist Gras über etwas Schlimmes gewachsen, schon kommt ein Kamel und frisst es weg“ – ist das Gegenteil dessen, was hier gemeint ist. In der Schale des Vergessens wird nichts mehr zugedeckt; von daher bedarf es auch keines „zudeckenden“ Grases.
Im Gedächtnis – und nur darin – geschieht jene äußerst schmerzhafte „Ver-Wandlung“. Es ist die Vermeidung eben dieses Schmerzes, die vielen Menschen den Weg in die Freiheit blockiert. Die Macht des Gedächtnisses ist die Macht, das erlebte Leid, den erlebten Schmerz, „wieder“ zu sich zurückzunehmen. Und zwar so, dass anerkannt wird: Dies war mein Weg, gerade so und nicht anders. Indem ich damit einverstanden werde, indem ich aus tiefstem Herzen zu diesem meinen Weg ja zu sagen gelernt habe, kann ich endlich die quälend-blockierenden „Spaltungen“ in Täter und Opfer gut sein lassen. Endlich muss ich keine Schuldigen mehr suchen und auch keine Rache mehr üben für das mir Zugefügte. Ich muss auch nicht mehr beleidigt sein und mich zurück ziehen. Und schließlich muss ich mich nicht mehr schuldig fühlen für das Leid, was ich Anderen zufügte. Für dieses Geschehen gibt es ein traditionelles Wort, über das leicht zu predigen, das schwer zu leben ist: Das Wort heißt „Vergebung“!
„Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldiger!“
Auf dem Weg dieser doppelten Vergebung werde ich frei: Frei vor Gott. Frei für Gott.
Endlich, endlich kommt meine Seele nach Hause. Das Haus meiner Seele aber ist Gott selbst. In seinem Schoß ruhend lächelt sie ihrem Leben entgegen:
Die Seele ist auf ihren eigenen Grund gekommen:
Das ist die Macht der Erlösung.
Am Tag der Zerstörung, da liegt die Macht auf dem Grunde und wächst.
Darum sitzen wir an diesem Tag am Boden, darum gehen wir an diesem Tag auf die Gräber, darum wird an diesem Tag der Messias geboren. AMEN.
1Erzählungen der Chassidim, Zürich, S. 21.