Predigt über 3. Moses 19, 1-3. 13- 18. 33-34 am 13. Sonntag nach Trinitatis 2024

Liebe Gemeinde,

unser heutiger Predigttext ist ein Abschnitt aus dem sogenannten „Heiligkeitsgesetz“. Es findet sich im 3. Buch Mose (Leviticus), Kapitel 17-26. In ihm geht es um die Beziehung zwischen der Heiligkeit Jahwes und der Heiligung Israels. Letztere – die Heiligung Israels – stellt das Hauptmotiv dafür da, bestimmte Gesetze zu befolgen.

Dahinter steht die grundlegende Frage: „Was soll ich tun?“ Oder: „Wie soll ich leben?“

Diese Frage entspricht nicht unserem Zeitgeist. Zeitgeist konform ist die Frage:

„Wie will ich leben?“

Unser Zeitgeist meint, es gäbe ein selbstbestimmtes Ich.

Er nennt es „Freiheit“!

Ein Ich, das sich von nichts und niemandem etwas vorschreiben lässt.

Für dieses Ich ist Religion nichts weiter als Ausdruck von Unmündigkeit und selbst gewählter Abhängigkeit.

Der freie Mensch braucht keine Religion.

Er braucht Religion gerade so wenig, wie die freie Marktwirtschaft keine Regularien von außen braucht: Sie reguliert sich selbst.

Ich halte diese Art von Freiheit für eine Illusion unseres Zeitgeistes. In Wirklichkeit sind wir Menschen doch ziemlich abhängig und ziemlich ausgeliefert: und zwar nicht nur vom Klima.

Zunächst einmal sind wir uns selbst ausgeliefert: unseren Ideen oder Anschauungen von dem, was wir für das Leben halten.

Und es ist ein großer Unterschied zwischen dem, wofür ich etwas oder jemanden halte und dem, wie „er“, „sie“ oder „es“ wirklich ist.

Immanuel Kant hat dies als das „Ding an sich“ bezeichnet.

Und hinzugefügt: Es sei unerkennbar. Wir können uns der Wirklichkeit bestenfalls annähern.

Dazu passt eine wunderbare chassidische Geschichte:

Die Schüler des Baalschem hörten von einem Mann als von einem Weisen reden. Einige unter ihnen verlangte es, ihn aufzusuchen und seine Lehre zu erfahren. Der Meister gab ihnen die Erlaubnis; sie aber fragten weiter: „Und woran sollen wir erkennen, ob er ein wahrer Zaddik ist?“ „Erbittet von ihm“, antwortete der Baalschem, „einen Rat, wie ihr es anzufangen habt, damit die unheiligen Gedanken euch nicht mehr beim Beten und Lernen stören. Gibt er euch einen Rat, so wisst ihr, dass er der Nichtigen einer ist. Denn das ist der Dienst des Menschen in der Welt bis zur Todesstunde, Mal um Mal mit dem Fremden zu ringen und es Mal um Mal einzuheben in die Eigenheit der göttlichen Namen.“ (M. Buber 1949, S. 151).

Ein weiser Mensch weiß um die Grenzen seiner Erkenntnismöglichkeiten. Und weil er das weiß, bleibt er „auf dem Teppich“, bleibt er „geerdet“.

Auch dies entspricht nicht unserem Zeitgeist: Er meint allwissend zu sein. Und weil er das meint, lässt er sich auch von niemandem etwas sagen.

„Von dir und deinem Gott werde ich mir gerade sagen lassen, was ich tun soll!“

Und genau damit beginnt unser heutiger Predigttext:

Und der Herr redete mit Mose und sprach: Rede mit der ganzen Gemeinde der Israeliten und sprich zu ihnen:„Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott“.

So lautet der göttliche Appell: „Ihr sollt heilig sein!“

Darum geht es. Dies ist Euer Job, Eure Aufgabe als Menschen.

Ihr sollt heilig sein!

Von der Struktur her entspricht das dem sogenannten „Dekalog“, den 10 Geboten, die Sie alle kennen. Auch Sie beginnen ja nicht mit einer Handlungsanweisung, sondern mit einem Statement: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.“ (Exodus 20, 2) Und in der Beziehung zu mir wirst du … und dann folgen die „Zehn Worte“ die wir fälschlich als „Zehn Gebote“ bezeichnen. Es sind in Wahrheit Worte für ein gesundes, gelingendes Leben.

Und darum geht es: Dem Leben dienende Sprache, dem Leben dienende Gesetze für eine dem Leben dienende Gemeinschaft zu finden. Dazu gehört auch eine dem Leben dienende Erziehung.

Sie lässt den Anderen sein. Sie sagt ihm nicht, was er zu tun und zu lassen hat. Sie erteilt ihm keine Ratschläge, die bekanntlich auch „Schläge“ sind.

„Gibt er euch einen Rat, so wisst ihr, dass er der Nichtigen einer ist.“

Dem Leben dienende Erziehung lässt frei.

Und sie weiß darum, dass jedes Lebewesen einen guten Rahmen benötigt, innerhalb dessen es wachsen kann.

Den Anderen frei lassen heißt gerade nicht, ihn seiner Gier, seiner Hemmungslosigkeit, seiner Destruktivität selbst zu überlassen.

Die Freiheit, die ich meine, hat nichts mit dem schwer erträglichen Slogan: „Freie Fahrt für freie Bürger!“ zu tun. Auch nichts mit dem arroganten: „Man gönnt sich ja sonst nichts!“

Frei-lassen hat damit zu tun, einen Rahmen zur Verfügung zu stellen, innerhalb dessen die Seele wachsen, sich entwickeln kann. Einen Rahmen, der stark genug ist, den uns Menschen innewohnenden destruktiven Impulsen Einhalt gebietet. Und der großzügig genug, um gesundes Wachstum zu fördern.

Ein guter Rahmen ermöglichst Wachstum, indem er Destruktivität hemmt. Dieser Rahmen ist insofern ein „heiliger“ Rahmen, als er auf Ganzheit ausgerichtet ist. Eine Ganzheit, die zu einem Leben „aus einem Guss“ (Martin Buber) führt.

Ein solcher guter Rahmen – bei weitem nicht der einzige – findet sich im Alten Testament in den berühmten „Zehn Geboten“, die wie gesagt eigentlich „Zehn Worte“ heißen. Eine Variante davon ist das Heiligkeitsgesetz, aus dem der heutige Predigttext stammt:

13 Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken noch berauben. Es soll des Tagelöhners Lohn nicht bei dir bleiben bis zum Morgen. 14 Du sollst dem Tauben nicht fluchen und sollst vor den Blinden kein Hindernis legen, denn du sollst dich vor deinem Gott fürchten; ich bin der HERR. 15 Du sollst nicht unrecht handeln im Gericht: Du sollst den Geringen nicht vorziehen, aber auch den Großen nicht begünstigen, sondern du sollst deinen Nächsten recht richten. 16 Du sollst nicht als Verleumder umhergehen unter deinem Volk. Du sollst auch nicht auftreten gegen deines Nächsten Leben; ich bin der HERR. 17 Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst. 18 Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der HERR. 

Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen und die Alten ehren und sollst dich fürchten vor deinem Gott; ich bin der HERR. 33 Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. 34 Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott.

Das also ist der Kompass für denjenigen, der aus der Heiligkeit Gottes heraus leben möchte. Das wird schon daran deutlich, dass diese „Du-sollst-Gebote“ immer wieder unterbrochen werden von: Ich bin der HERR, euer Gott!

Die Gebot wollen in der Beziehung zu Gott und aus ihr heraus gelesen und verstanden werden, entsprechend der Überschrift: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig!“

Dieses „In-Beziehung-zu-Gott-leben“ ist nicht sehr modern.

Und es ist vergiftet. Vergiftet durch ein Bild von Gott, das Gott mit Moral verwechselt. Mit schwarzer Pädagogik. Über Jahrhunderte hinweg wurde und wird Gott als verlängerter Arm einer autoritären Erziehung missbraucht.

Dass unsere jungen Menschen diesen Gott und die dahinter stehende Haltung ablehnen, ist verständlich und gut. So einen Gott braucht niemand!

Ganz davon abgesehen, dass er ohnehin eine Fiktion, ein Hirngespinst ist.

Wenn der aktuelle Bundeskanzler es ablehnt, bei seinem Amtseid den Zusatz „so wahr mir Gott helfe“ hinzuzufügen, so vermute ich, dass er genau dieses Bild eines autoritären persönlichen Gottes verinnerlicht hat und von ihm sich abwendet.

Was wir brauchen, ist, das Erleben eines Gottes, der uns frei lässt, indem er unsere Grenzen schützt. Der streng gegenüber unserer Destruktivität ist und liebevoll zu unseren Fehlern und Irrtümern.

Dies wäre so entlastend.

Es würde die eigene Verantwortung relativieren. In Bezug setzen. Und uns dadurch vor einem Gefühl des Überfordert-Seins schützen.

Ich allein kann nichts ausrichten. Aber ich muss auch nichts ausrichten.

Ich kann nur in Beziehung etwas bewirken. In Beziehung zu Gott und daraus fließend in Beziehung zu meinem Mitmenschen, zu meinem Nächsten.

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“

Aktuell, in unserer von Spaltungen bedrohten Gesellschaft, heißt das:

Der Andere ist genauso ein Mensch wie du. Selbst wenn er noch so gegenteiliger Meinung ist wie du, vergiss nicht: Er hat genauso Gefühle wie du, er hat Wünsche, er hat Sehnsüchte, er blickt auf dieselbe Welt wie du – auch wenn er sie aus einer völlig anderen Perspektive sieht, wie du.

Es ist so verführerisch, „mit gleicher Münze zurückzuzahlen.“ Sich zu rächen für Erlittenes. Den Anderen zu diskreditieren, kurz zu „dissen“.

Das kannst du natürlich machen. Nur: Dann machst du dich abhängig vom Anderen, du re-agierst. Und damit ist es vorbei mit deiner Freiheit.

Gott aber, der dein Leben heiligt, hat dich dazu erschaffen, dass du in deiner Freiheit agierst. Dafür hat er dir seine Gebote gegeben – sie stärken dein seelisches Immunsystem und machen dich weniger anfällig dafür, von den gängigen gesellschaftlichen Spaltungen angesteckt zu werden.

Zum Abschluss möchte ich noch einmal eine chassidische Geschichte zu Wort kommen lassen. Sie stammt von Rabbi Mendel von Kossow und handelt davon, wie wichtig es ist, bei aller eigenen echten oder vermeintlichen Rechtschaffenheit die Menschlichkeit nicht zu vergessen.

Rabbi Mendel sagte: „Wenn du Deinen Nächsten einen Fehler begehen siehst, dann beschuldige ihn nicht, denk dir: ‚Nach welchen Ausreden würde ich suchen, um mich zu rechtfertigen?'“ Diese Rechtfertigung sollst du auch für ihn suchen und dich bemühen, ihn zu entschuldigen. Und so ist die Schrift zu verstehen: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.'“

Oh – wie schön ist dieser jüdische Humor. Auch er ist heilig! AMEN.

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