Liebe Gemeinde,
Wer an Heilig Abend in der Christvesper gewesen ist, der konnte Gedanken zum Vater-Sein hören. Sehr persönlich hat unser Pfarrer Martin Zöbeley mitgeteilt, dass ihn der Wusch seiner Tochter, von ihm getraut zu werden, sehr berührt hat.Und er hat dieses sein Erleben verknüpft mit der Bedeutung des eigenen Vater-Seins und dass er gespürt hat, wie wichtig er als Vater genau in diesem Moment für seine Tochter gewesen ist. Und es stimmt ja auch: Zu Beginn des Lebens eines Neugeborenen steht die nährende Mutter viel stärker im Zentrum als der Vater; von ihr fließt die lebensspendende Milch in den Körper des Babys. In ihrem Selbstwert verunsicherte Männer können sich dabei leicht überflüssig fühlen – was sie in Wirklichkeit aber überhaupt nicht sind: repräsentieren sie doch den nicht minder lebensspendenden „Dritten“, der eine andere Welt repräsentiert, eine Welt außerhalb der mütterlichen, in der es nur die Zweiheit Baby und Mutter gibt. Jedes Kind aber braucht für seine gesunde seelische Entwicklung beide: Vater und Mutter. Und: Es braucht für sein eigenes, gesundes Wachstum die liebevolle Beziehung zwischen den Beiden, zwischen seinen Eltern.
Je jünger Kinder sind, desto ungeschützter ist ihre Seele, das heißt sie nimmt alles auf, alles in sich hinein. Und da der Verstand noch nicht da ist, der im Sinne unserer Jahreslosung „alles prüft“ (1. Thessalonicher 5, 21), „behält“ die junge Seele nicht nur das „Gute“, sondern alles, was sie erleben muss. Gerade am Anfang eines Menschenlebens fließt mit der Muttermilch eben auch alles an Empfindungen und Fantasien in das Baby hinein, was gerade in der Mutter ist.-
Unser heutiger Predigttext – sie haben ihn vorhin schon einmal gehört – lädt dazu ein, nicht über die Vaterschaft sondern über die „Sohnschaft“ nachzudenken. (Spannend: Das Wort „Sohnschaft“ gibt es im Deutschen nicht!) Mit „Sohnschaft“ ist das eigene Sohn-Sein gemeint, das für jeden Vater gilt, sofern jeder Vater auch ein Sohn ist! (Das Rechtschreibprogramm von Microsoft Word kennt übrigens den Begriff „Sohnschaft“ nicht; es schlägt stattdessen „Sohnschuft“, oder „Sohnchaot“ oder „Sohnschaf“ vor! Welche Vater-Sohn-Beziehung hat wohl der Programmierer dieses Programms erlebt?)
Jeder Sohn wurde gezeugt von einem Vater. (Ich vernachlässige hier die durch moderne Medizin möglich gewordene „künstliche Befruchtung“.)
Von daher gibt es „den Sohn“ nicht ohne „den Vater“ und den Vater nicht ohne den Sohn. Auch unser heutiger Wochenspruch stellt das Sohn-Sein in den Mittelpunkt: „Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und voller Wahrheit.“ (Joh. 1,14b). Nahtlos schließt sich hier unser Predigttext an (auch von Johannes, und zwar aus seinem ersten Brief):
„Und darin besteht das Zeugnis: Gott gab uns das ewige Leben, und eben dieses Leben ist in seinem Sohn. Wer den Sohn in sich hält, der hält das Leben in sich. Wer das Leben nicht in sich hält, der hält auch nicht den Sohn Gottes in sich.
Dies habe ich euch geschrieben, damit ihr wisst, dass ihr das ewige Leben in euch haltet, und zwar die, die vertrauen in den Namen des Sohnes Gottes.“
(1. Joh. 5,11-13)
Liebe Gemeinde,
ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Aber natürlich denke ich, wenn ich von Vater und Sohn höre, als allererstes an meinen eigenen Vater und meine Beziehung zu ihm. Und als zweites an meine Beziehung zu meinen beiden eigenen Söhnen. Und das ist gut so, weil sonst die Gefahr besteht, sich in abstrakten Ideen aufzuhalten, denen der Boden unter den Füßen fehlt.
Meine persönliche Erfahrung – einmal als Vater, einmal als Sohn – „materialisiert“ die idealtypische, die abstrakte Vater-Sohn-Beziehung, von der hier die Rede ist. Es ist gut, wenn ich mir meiner erlebten Beziehung bewusst werde – erst dann kann ich verstehen, kann „das Gute behalten“ und das Nicht-so-Gute transformieren.
Denn darum geht es: „Es ist der Glaube eine feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht“ (Hebräer 11,1) Als Prediger erwarte ich von mir, so zu predigen, dass Sie als meine Hörer etwas damit anfangen können. Mit meiner persönlich erlebten Vater-Sohn-Beziehung habe ich selbst fertig zu werden; sie hat in einer Predigt nichts verloren. Wir müssen uns auch deshalb von dieser konkreten Ebene verabschieden, weil Gott natürlich auch Mutter ist, und sein Sohn natürlich auch seine Tochter. In Gott ist die polare Geschlechtlichkeit unserer Welt „aufgehoben“ (im Hegelschen Sinne): Gott ist Beides: ying und yang, Mann und Frau, Mutter und Tochter oder eben auch Vater und Sohn.
Es ist eine Gratwanderung: Entferne ich mich zu weit von den Vorstellungen der materiellen Welt, wird mein Nachdenken über Gott (und die Welt) anämisch, es fehlt meinen Gedanken die Kraft der Lebendigkeit. Bleibe ich zu sehr im Konkreten nehme ich meinen Gedanken die Möglichkeit, bei Ihnen weiter zu wirken: bei Ihnen, da jeder von Ihnen seien ganz eigene, ganz einmalige Beziehung zu seinem Vater hatte. Es geht also einmal mehr um die Entdeckung des Zwischenraums: zwischen abstrakter Leblosigkeit und konkret-individuellem Erleben.
Wie also, so könnte man das Problem noch einmal anders formulieren, können wir alle – egal ob wir Söhne, Töchter, Mütter, Väter sind – erleben, was Johannes da schreibt: „Gott gab uns das ewige Leben, und eben dieses Leben ist in seinem Sohn“? Die Antwort von Johannes im Duktus seines Briefes (wie auch seines Evangeliums) ist sehr klar: Es geht darum, liebesfähig zu werden. Liebes-fähig-Sein heißt, narzisstisches, um sich selbst kreisendes Machtdenken durch soziales Liebesdenken zu ersetzen.
„Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh. 4, 16b)
Das ist auch so sein Satz, der abstrakt genommen gut klingt. Aber was heißt „Liebe“ konkret? „Ich habe das alles aus Liebe getan!“ Dieser Satz kann als Motiv für mörderische Handlungen verwendet werden. „Wen der Herr liebt, den züchtigt er!“ Wie viele Väter haben aus diesem Satz abgeleitet, dass sie ihren Kindern und besonders ihren Söhnen etwas Gutes tun, wenn sie diese verprügeln. Und wenn die Söhne dann selbst groß und Väter geworden sind, sagen sie, dass ihnen dies nicht geschadet hätte. Kurz um: „Liebe“ lässt sich – wie alles auf dieser Welt – für Wachstum genauso verwenden wie für Zerstörung.
Für mich ist das Besondere und das Bemerkenswerte an der Sohnschaft Jesu:
Gott-Vater und Gott-Sohn sind nicht in konkurrierender Macht aufeinander bezogen. Es geht in ihrer Beziehung gerade nicht darum: Wer ist der Stärkere, wer besiegt wen? Sie sind im Schmerz gemeinsam zu (er-)tragender Ohn-Macht aufeinander bezogen, der Ohn-Macht des Kreuzes. Das ist das Bemerkenswerte an dieser göttlichen Vater-Sohn-Beziehung: Gerade im gemeinsamen Aushalten der Ohnmacht, des Ohne-Macht-Seins, entfaltet sich ihre Stärke. Dieses Aushalten wird zum katastrophalen Wendepunkt: zunächst für die Beziehung der beiden und dann (als Folge) für die Beziehung all derer, die den Mut und das Vertrauen haben, die Katastrophe, die die Verwandlung von Machtdenken in Liebesdenken mit sich bringt, zu ertragen!
Die (scheinbare) Katastrophe, die zur Rettung der Beziehung führt, ist die Zerstörung einer Beziehung, die auf Macht gegründet ist. Dies ist die eigentliche Bedeutung der Kreuzigung Jesu. Das fleischgewordene Wort ist nichts anderes als „das Wort vom Kreuz“! In und aus dieser Zerstörung heraus erwächst das radikal Neue. Das Neue ist das, was wir als „Reich Gottes“ benennen; es ist das „Reich des Sohnes“ – wiederum nicht biologisch-konkret zu verstehen. Die Predigt dieses Reiches ist das Herzstück der Predigt Jesu, die wir auch in diesem Neuen Jahr hören werden und – falls wir das können und wollen – in uns Gestalt annehmen lassen. Im Reich des Sohnes leben heißt: ein Leben nicht mehr aus Macht, Kontrolle, Neid und Misstrauen heraus zu führen, sondern ein Leben aus Vertrauen, Dankbarkeit und Liebe zu wagen.
Ich weiß aus eigener Erfahrung: Das ist viel leichter gesagt als getan. Wer es wagt, sein Leben auf Vertrauen zu gründen, der setzt sich dem Spott und Hohn eines ganzen Systems aus: Jenes Systems, das der Meinung ist, ohne Macht und Kontrolle ist Leben nicht möglich. So manche Dornenkrone wurde und wird dem Ohn-Mächtigen aufgesetzt. Es ist eine große Illusion zu meinen, das „Vertrauen in den Namen des Sohnes Gottes“ führt zu einem unbeschwerten, paradiesischen Leben.
„Wer dies Kind mit Freuden umfangen, küssen will, muss vorher mit ihm leiden groß Pein und Marter viel“ heißt es in einem alten Adventslied.
Das gilt nicht zuletzt auch für uns Pfarrer: Es ist viel leichter, Liebe und Vertrauen zu predigen … als zu leben! Und natürlich ist die Institution Kirche – auf katholischer wie auf evangelischer Seite – voller Beispiele, wo es um Macht, um Sich-Durchsetzen um Recht-Haben – und nicht um Liebe geht.
Wie stark mein Gott-Vertrauen wirklich ist, kann ich daran erkennen, wie es mir geht, wenn mein Leben nicht so läuft, wie ich es mir vorstelle. Wenn die nüchterne Wirklichkeit sich mit meinen Wünschen und Sehnsüchten nicht in Einklang bringen lässt. So lange alles „glatt“ geht, kann ich leicht „im Vertrauen“ leben. Die Gefahr ist die, dass wir – ohne es zu merken – unseren „Glauben“ dafür verwenden, dass unser Leben so läuft, wie wir es haben wollen, und dass wir Gott dafür verwenden, dass er uns doch bitte dafür helfen soll, dass unser Leben nach unseren Vorstellungen und Wünschen abläuft. Die Gefahr ist, dass wir statt an Gott an unser eigenes Ich glauben.
Das dazu passende Stoßgebet lautet: „Ich, mich, meiner, mir – Gott erhalte diese vier!“
Wenn ich versuche zu erleben, wovon Johannes schreibt, wenn ich versuche, den Sohn wirklich in mir zu (be-)halten, dann führt mein Weg notwendig zum Kreuz. Gekreuzigt werden all jene Ich-Wünsche, die mich von Gott trennen. Sie sind es, die mich von meinem eigentlichen, von meinem „wesentlichen“ Leben trennen. Wenn ich versuche, den Sohn in mir zu (be-)halten, dann gebe ich den erschöpfenden Kampf um den Sinn meines Lebens ab. Ich muss nicht länger „Sinn generieren“ – ich muss auch keinen „Sinn machen“. Stattdessen lasse ich los, überlasse mein Ich jener Liebesbeziehung, die zwischen Vater und Sohn im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi offenbart worden ist. Und in diesem Loslassen geschieht das, was unsere Welt so dringend braucht:
Die Verwandlung der Machtbeziehung in eine Liebesbeziehung.
Oder, mit Paul Gerhardt:
„Eins aber hoff ich, wirst du mir, mein Heiland nicht versagen:
dass ich dich möge für und für in, bei und an mir tragen.
So lass mich doch dein Kripplein sein;
komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden.“
Und ich füge hinzu: Auch alle deine Leiden AMEN
Und die Liebe Gottes, die höher ist als all unser menschliches Verstehen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN.