Predigt über Jesaja 35, 3-10 am zweiten Advent 2024

Liebe Gemeinde,

„ich bin der Herr, der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe Unheil. Ich bin der Herr, der dies alles tut.“ Dieser Satz gehört zwar nicht zu unserem heutigen Predigttext, aber er ist die implizite Überschrift meiner Adventspredigt. Es findet sich in demselben alttestamentlichen Buch, aus dem der heutige Predigttext stammt, dem Buch Jesaja (c. 45, 6b-7). Gesagt wurde er wohl von jenem „zweiten Jesaja“, einem namentlich unbekannten Propheten, der unter dem Pseudonym „Deuterojesaja“ in die prophetischen Schriften des Alten Testaments eingegangen ist.

„Ich bin der Herr, der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe Unheil. Ich bin der Herr, der dies alles tut.“

Diesen Satz ist nur für jemand denkbar, der es wagt, einen Blick hinter die Kulissen unseres geläufigen Denkens zu werfen. Das uns vertraute Denken teilt ein und teilt auf: In gut und böse, falsch und richtig, wertvoll und wertlos, Feind und Freund usw. Dieses Denken in Frage zu stellen erfordert Mut. Wird damit doch die vertraute Ordnung, das vertraute Schema, die vertraute Struktur unseres Denkens verlassen. Wer sich auf diesen Weg einlässt, der erlebt heftigste emotionale Turbulenzen. Mit „sich einlassen“ meine ich, wer es wagt, nicht nur über diesen Weg zu reden, sondern ihn zu gehen.

„Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen.“ (Kurt Marti)

Ich will jetzt versuchen, Ihnen etwas davon zu erzählen, wo man hin kommt, wenn man einfach losgeht.

Eines vorweg: Man kommt nicht ins Paradies.

Im Gegenteil: Schritt für Schritt wächst die ernüchternde Erkenntnis: „paradise lost“ – das Paradies ist definitiv verloren – und es gibt keinen Weg zurück!

Wer dies nicht aushält, wer mit aller Kraft an seiner Sehnsucht nach dem Paradies festhält, nach einem Ort der Harmonie, an dem Löwe und Lamm friedlich „nebeneinander lagern“, der wird die folgenden Gedanken und ihren Überbringer, also mich, hassen. „Ich lasse mir von dir doch nicht meinen Glauben nehmen!“ hat mir vor kurzem jemand gesagt. Nun – ich will und kann niemand seinen Glauben nehmen, so mächtig bin ich nicht. Alles was ich kann, ist, etwas zum Bedenken, zum Nach-Denken mitzugeben. Ob sich jemand davon anmuten lässt oder nicht, welche Gefühle diese Predigtgedanken auslösen, habe ich nicht in der Hand. Und es gibt auch keinen Arzt oder Apotheker, den Sie über mögliche Nebenwirkungen fragen könnten… Andererseits: Was ist das für ein Glaube, der sich so leicht erschüttern lässt?

Inspiriert sind meine Predigtgedanken von dem Predigttext für den heutigen Sonntag, er findet sich im Buch des Propheten Jesaja, im 35. Kapitel, die Verse 3 – 10. :

„3 Macht stark die entmutigten Hände, und die strauchelnden Knie mach fest.

4 Sagt zu denen, die verzagt (in ihrem Herzen) sind: Seid stark, fürchtet euch nicht! Siehe, euer Gott! Die Vergeltung kommt, die Vergeltung Gottes, er kommt und wird euch erretten.“

Kurzer Zwischenruf: Der Text beginnt mit einem Appell: „Macht stark! Sagt zu denen, die verzagt sind …“ Die Adressaten des Textes sind also Menschen, die leiden, denen die Kraft ausgeht. Die Gelehrten streiten sich darüber, wie dieser Appell historisch-präzise einzuordnen ist. Dazu kann ich mangels Wissen nichts beitragen. Was aber klar ist, dass es um Menschen geht, deren Seele verletzt ist. Um Menschen, die Traumatisches erlebt haben. Es geht um den Umgang mit Schwäche, mit nicht mehr weiter wissen, nicht mehr weiter können…

Es geht um die Gefühle der „Kapitulation“: „Ich kann nicht mehr…“ Ich vermute, vielen von uns sind solche Gefühle schon einmal begegnet.

Und vielen von uns – vermute ich weiter – sind die ebenso gut gemeinten wie wirkungslosen Trost-Sprüche begegnet: Kopf hoch, wird schon wieder; oder: Nase in den Wind; oder: Denke an jene Menschen, denen es noch viel schlechter geht als dir …

Das ist bestimmt gut gemeint. Es sind gut gemeinte Trost-Worte, die nichts bewirken. Es ist ein billiger, oberflächlicher Trost, eine Vertröstung. Ich glaube im übrigen, es ist die gefühlte Hohlheit der christlichen Botschaft, die viele Menschen dazu geführt hat und führt, der christlichen Religion den Rücken zuzukehren.

Jesaja wartet mit einem anderen Trost auf: „Siehe, euer Gott! Die Vergeltung kommt, die Vergeltung Gottes, er kommt und wird euch erretten.“ Das ist ein Trost, dem Mitglieder der AFD, dem das russische Regime sofort zustimmen würde: Der Trost besteht darin, dass wir „uns unser Land zurückholen!“

„Deutschland den Deutschen!“ wurde auf Mallorca gegrölt. In der russisch-orthodoxen Kirche wird Putin als der Retter christlicher Werte gefeiert!

Die Vergeltung also wird als Rettung erlebt und verheißen. (Zwischenruf ENDE)

Und jetzt weiter im Text:

„5 Dann werden die Augen der Blinden geöffnet werden,

und die Ohren der Tauben werden aufgetan,“ sagt Jesaja.

„6 Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch,

und es wird jubeln die Zunge des Stummen,

denn in der Wüste ist Wasser hervorgebrochen und Flüsse im dürren Land.

7 Und das ausgedörrte Land wird zum Sumpf werden und das dürre Land zu Wasserquellen. Wo zuvor Schakale lagerten, wird Gras und Schilfrohr wachsen.

8 Und es wird dort eine Straße sein, ein Weg,

Weg der Heiligung wird er genannt werden.

Nicht kann ein mit Makeln Behafteter darauf wandern. ER selber geht ihnen den Weg voran, dass auch Toren (Narren) sich nicht verlaufen.

9 Nicht wird dort ein Löwe sein; auch kein Raubtier wird dort gefunden. Gehen werden ihn die Erlösten:

10 Und die Befreiten Jhwhs werden zurückkehren, sie werden zu Zion mit Jauchzen kommen, und ewige Fröhlichkeit wird über ihren Häuptern sein,

Freude und Fröhlichkeit werden sich einstellen und Kummer und Seufzen wird entfliehen.

Die Vergeltung Gottes besteht also der Verheißung, dass mit dem Kommen Gottes hier auf Erden paradiesische Zuständen aufbrechen.

Liebe Gemeinde,

also stimmt das gar nicht, was ich eingangs sagte, dass das Paradies für ewig verloren ist? Also doch Hoffnung auf das Paradies für die Befreiten Jahwes?

So lässt sich die Botschaft Jesajas in jedem Fall verstehen und predigen.

Nur: Ist das wirklich eine Trostbotschaft? Irgendwann – irgendwie wirst du wieder im Paradies sein…

Mir hilft dieser Trost deshalb nicht, weil er mir keine Hilfestellung dafür bietet, wie ich im Hier und Heute mein Leben leben kann und soll. Wie ich im Hier und Heute mit den vielen großen und kleinen Katastrophen so umgehen kann, dass ich weder in Trübsinn versinke noch ignorant werde im Sinne von: „Ist mir doch egal; Hauptsache ich habe meinen Wohlstand und nach mir die Sintflut!“ – Im Angesicht der zunehmenden Überschwemmungen infolge des Klimawandels hat die Redewendung: „Nach mir die Sintflut!“ eine tragische Ironie bekommen.

Mich tröstet auch nicht, wenn ich mir einrede, ich lebe ja nach meinem Tod weiter. Das hilft mir im Hier gar nichts. Und ich glaube es auch nicht – jedenfalls nicht in meiner Individualität, so wie ich mich hier kennen lernte.

Mich tröstet – und das ist für mich wirklicher Trost – mich auf die Wirklichkeit einzulassen, die ich hier vorfinde. Soweit ich sie im Rahmen meiner begrenzten Möglichkeiten denken und erleben kann.

Erstens: Ich lebe. Und zwar heute. Im hier und jetzt.

Zweitens: Aller Stress, den ich erlebe, ist selbst gemacht. In der Wirklichkeit gibt es keinen Stress. Das einzige, was die Wirklichkeit mir „antut“, ist, dass sie je und je ist.

Drittens: Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich zu dieser Wirklichkeit zu verhalten. Ich muss Stellung beziehen. Ob ich will oder nicht. Selbst wenn ich als Einsiedler lebe, ins Kloster gehe: auch dies ist eine Stellungnahme zur Wirklichkeit, die da ist.

Viertens: Jenseits und vor allem Reden ist mein Leben meine Stellungnahme zur Wirklichkeit. Sie gilt. Je kleiner, je jünger ich bin, desto mehr sind in dieser meiner Stellungnahme meine Hoffnungen, meine Illusionen und meine Wünsche über die Realität enthalten. Es sind meine Wünsche darüber, wie ich möchte, dass Leben ist.

Fünftens: Ich (persönlich) bin der Überzeugung, dass es gut ist, die eigenen Grundüberzeugungen, die eigene Matrix, mit der ich mein Leben (und das Leben der anderen) zu verstehen versuche, immer wieder kritisch zu überprüfen und zu hinterfragen. Für mich hat Erwachsen-Werden auch damit zu tun, sich von den kindlichen Illusionen zu verabschieden. Anders als Paulus sehe ich christliches Leben nicht als ein Leben von „Kindern Gottes“.

Ich wünsche mir – gerade auch als Christ – erwachsene Menschen, die gelernt haben, für ihr Handeln Verantwortung zu tragen, die in der Lage sind, ihre Mitmenschen wahr und ernst zu nehmen und sie nicht für ihre eigenen Wünsche und Illusionen zu missbrauchen.

Sechstens: Meine persönliche Matrix ist stark beeinflusst von den Erkenntnissen der Psychoanalyse und der Mystik. Dazu gehört die Anerkenntnis, dass ich mir mein Leben nicht selber geben konnte. Es war der kreative Akt meiner Eltern, durch den mein Leben „auf die Welt kam“. Dazu gehört die Anerkenntnis, dass Rivalisieren ein unvermeidliches Geschehen zwischen Menschen ist. S. Freud hat dies „Ödipuskomplex“ genannt und hat damit eine Grunddynamik menschlichen Lebens entdeckt. Und schließlich gehört zu meiner Matrix die Anerkennung von der Vergänglichkeit allen Lebens. „Was ist schon für immer“, lautet ein kleines, wunderschönes Buch von Katja Lewina, das mir meine Kinder empfohlen haben. Untertitel: „Vom Leben mit der Endlichkeit“. Sie schildert darin in berührender Weise das völlig überraschende Sterben ihres siebenjährigen Sohnes, dem sie ihre eigene Herzerkrankung – von der sie bis dahin nichts gewusst hatte – vererbt hatte.

Siebtens: „Das Leben endet nie“ – dieses Büchlein hat der Zen-Meister und Benediktinerpater Willigis Jäger am Ende seines langen Lebens geschrieben. Es geht „über das Ankommen im Hier und und Jetzt.“

Jäger erzählt folgende Geschichte: „Eine alte Frau bügelte einen Haufen Wäsche. Da trat der Todesengel zu ihr: „Es ist Zeit! Komm!“ Die Frau antwortete: ‚Gut, aber erst muss ich die Wäsche fertig bügeln, wer tut es denn sonst, und ich dann muss ich kochen, meine Tochter arbeitet im Geschäft, sie braucht etwas zum Essen, wenn sie heimkommt. Siehst du das ein?“ Der Engel ging. Eine Zeit später kam er wieder…. Die Frau ging gerade aus dem Haus. „Ich hab jetzt keine Zeit“, sagte sie. „Ich gehe ins Altersheim. Da warten Dutzende von Menschen auf mich, die sehr einsam sind. Die kann ich doch nicht im Stich lassen.“ Der Engel ging. Und so ging es weiter. Immer fand die Frau einen Grund, warum es jetzt gerade nicht möglich war zu sterben.

Als die alte Frau dann eine uralte Frau geworden ist, dachte sie bei sich: „Jetzt könnte der Engel kommen. Nach all der Arbeit und der Mühen muss die Seligkeit des Paradieses doch sehr schön sein.“ Der Engel kam. Die Frau fragte ihn: „Führst du mich jetzt in die Seligkeit?“ Der Engel frage zurück: „Und wo, glaubst du, warst du die ganze Zeit?“

Jäger schreibt dazu: „Wir sind durchtränkt von der Idee, es gäbe eine bessere Welt. Wir meinen, es müsse eine Alternative zum Hier und Jetzt geben, das uns offensichtlich nicht genügt. Wir fordern eine ganz andere Schöpfung – die jetzige hat zu viele Unvollkommenheiten. Sie ist, um es deutlich zu sagen, das Werk eines Stümpers.“ (Jäger, S.74-75)

In den Religionen ist aus diesen Gedanken der Glaube an ein besseres Jenseits, an ein Reich Gottes entstanden, in dem nur Harmonie herrscht. „Kummer und Seufzen“ werden entfliehen, heißt es bei Jesaja. „Löwe und Lamm werden friedlich nebeneinander lagern“, heißt es in der Offenbarung des Johannes.

Die Mystik hingegen sagt: Es gibt gar nichts anderes als das Jetzt. Über das Bewusstwerden unseres Atems können wir dieses Jetzt erleben. „Die Wirklichkeit des menschlichen Lebens dauert ein Einatmen lang“, sagt der Zenmeister Thich Nhat Hanh.

Ein Letztes: Im Erleben des Augenblicks werde ich frei! Befreit von meiner Sehnsucht, es gäbe vielleicht doch die Möglichkeit einer Rückkehr in das Paradies.

In der großartigen Dichtung von J. Milton „paradise lost“ ist es der Satan, der das Paradies nicht verlassen kann. Er kann die Realität dieser Welt, unseres Lebens auf dieser Welt nicht akzeptieren. Anders unsere Vorfahren: Eva und Adam werden zu erwachsenen Menschen, indem sie anerkennen: Es gibt kein zurück! Die Pforten des Paradieses sind geschlossen. Und gerade so sind die Tore, die uns in unser Leben hinein führen, in dem wir immer schon gewesen sind, weit offen, AMEN

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