„7 Unser keiner lebt sich selber, unser keiner stirbt sich selber. 8 Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. 9 Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.“
Liebe Gemeinde,
der Text ist ein Angriff auf eine bestimmte Art des Denkens, die uns geläufig und selbstverständlich ist. Das Zentrum dieses Denkens ist unser Ich. Das Denken ist Diener und wenn wir so ein großes Pech haben, wie der designierte Präsident von Amerika, Sklave des Egos. So heißt „ich“ auf lateinisch Ego.
Bei ego-zentrischem Denken steht nicht der Erkenntnisgewinn im Zentrum, sondern die Bedürfnisse des jeweiligen Ego.
Der Ego-Zentriker verwendet sein Denken dafür, die Bedürfnisse seines Egos zu befriedigen. Das Ego will sich gut fühlen.
Dazu braucht es – oder meint es zu brauchen -:
Möglichst viel Lust zu erleben. Möglichst viel Unlust zu vermeiden.
Und was so überhaupt keinen Spaß macht, ist, sich ausgeliefert fühlen. Sich ohne Macht, ohnmächtig erleben. Ein Egozentriker ein Macht-Mensch ist.
Macht haben und Macht ausüben ist der Zweck seines Lebens.
Was er nicht sehen will bzw. nicht sehen kann: dass die „andere Seite“ des Macht-Ausübens die Ohnmacht ist.
Und was er schon gar nicht sehen kann: dass in dem Vorgang des Sich-Bemächtigens die eigene Ohnmacht beim Anderen untergebracht wird.
Beispiel: Wenn ich von einem Bettler träume, den ich verachte, weist dieser Traum darauf hin, dass in mir ein Bettler wohnt, mit dem ich nichts zu tun haben will. Den ich verachte.
Martin Luther hat Vorabend seines Todes aufgeschrieben: „Wir sind Bettler, das ist wahr!“
Ich verstehe dies als Umschreibung des paulinischen Gedankens: „Unser keiner lebt sich selber, unser keiner stirbt sich selber.“
Wer diese „Passivität“ nicht aushält, dem bleibt als letzte Möglichkeit nur noch der Suizid.
Es gibt einen bekannten erfolgreichen Mann, der an dem Tag, als erfuhr, dass er an Alzheimer leide, sich erschoss.
Alles ist besser, alles scheint besser, als eigene Ohnmacht zu ertragen.
Und was ist mir der Lösung, die Martin Luther, die Paulus anbietet?
„Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.“
Nun – dieser Satz ist leicht geschrieben, leicht gesagt.
Aber – ist er auch lebbar? Wie geht das?
Wenn ich ihn konkret nehme, wie es viele Christenmenschen machen, dann muss ich glauben, dass es einen Menschen gab, genannt Jesus, der gelebt hat im heutigen Israel, der von den Römern mit dem Tod bestraft worden ist, der gestorben ist und von Gott nach drei Tagen wieder lebendig gemacht worden ist.
Wir beten diese Gedanken in unserem Glaubensbekenntnis.
Obwohl ich hier als Pfarrer vor Ihnen stehe, liebe Gemeinde: Es ist mir nicht möglich, diese Gedanken in dieser Konkretheit zu verstehen.
Heißt: In dieser Konkretheit kann nicht glauben.
Und doch erlebe ich mich nicht als Schwindler, wenn ich diese Sätze in unserem Glaubensbekenntnis spreche.
Wie geht das?
Ich nenne ein Beispiel: Wenn ich sage, heute ist die Sonne aufgegangen, dann ist das als konkrete Aussage falsch. Die Sonne ist ein Fixstern – sie kann weder aufgehen noch untergehen. Um korrekt zu reden müsste ich sagen: Als sich heute die Erde so um ihre eigene Achse und um die Sonne gedreht hat, dass da, wo ich war, die Sonne sichtbar geworden ist …
Das ist zwar viel korrekter als zu sagen, die Sonne ist aufgegangen. Es ist aber auch viel umständlicher.
Nun ist das harmlos. Es geht ja nur um die Beschreibung eines Naturphänomens. Nicht mehr so harmlos ist es, wenn Sprache für die Ausübung von Macht verwendet wird. Dies geschieht immer dann, wenn kategorisiert wird: die Christen, die Katholiken, die Protestanten, die Migranten, die Ausländer, die Psychoanalytiker, die Pfarrer, die Gemeinderäte, die Politiker …
Zunächst einmal sind das alles Menschen. Und Menschen sind verschieden. Menschen sind nicht gleich!
ABER, und das ist etwas völlig Anderes: Menschen haben denselben Wert!
„Die Würde, der Wert eines Menschen ist unantastbar!“
Die gilt im übrigen auch vor Gericht: Es wird nicht über den Menschen, über seine Person gerichtet, sondern über seine Taten!
So schreibt Paulus am Ende unseres Textabschnittes: „Lasst uns nicht mehr miteinander richten, sondern haltet vielmehr das für recht, dem Bruder keinen Anstoß oder kein Ärgernis zu geben!“
Wer diesen Satz ernst nimmt, der wird sich um eine respektvolle, um eine rücksichtsvolle Sprache bemühen. Diese ist Ausdruck eines Denkens, das sich nicht von seinen Ego-Bedürfnissen versklaven lässt.
Ein Denken in Freiheit ist notwendig ein Denken, das Rücksicht auf die Freiheit meiner Mitmenschen nimmt. Und es ist ein Denken, das nicht darauf angewiesen ist, von seinen Mitmenschen bewundert zu werden. Ihm geht es nicht um „me first“. Ihm geht es um Respekt. Was auf deutsch übersetzt „Rücksicht“ heißt.
„Unser keiner lebt (für) sich selber…“.
Dieser Gedanke gleicht einem dunklen Strahl hinter den beleuchteten Schaufenstern, hinter den schönen Fassaden unseres vermeintlich so wohl geordneten Lebens.
Ein gefährlicher dunkler Strahl, der mich zu den Abgründen jener Zeiten führte, wo es noch keine Struktur gab. Wo ich noch keine Struktur hatte. Wo ich noch nicht „Ich sagen“ konnte, weil es kein Ich gab.
Tohu wa bohu nennt die Genesis das. Wörtlich: „Drunter und drüber“, also Durcheinander. Und es vergehen nicht wenige Jahre, bis ein Menschenkind so weit sich entwickelt hat, dass es eine vage Ahnung davon bekommt, „wer ich bin…“ Da steckt sehr viel Arbeit drin. Und so ist es nur natürlich und verständlich, dass es diese mühsam errungene Fähigkeit nicht wieder aufgeben will.
Der Satz von Paulus aber ist ein Frontal-Angriff auf mein Ich: „Unser keiner lebt sich selbst!“
Wie soll das gehen, „nicht sich selbst zu leben“?
Natürlich lebe ich mich selbst. Und ich bin froh, dass ich mich selbst leben kann. Lange genug wurde ich gelebt. Dahin will ich auf keinen Fall zurück!
Lange genug musste ich etwas tun, wovon ich ganz genau wusste, dass es nicht mein Eigenes ist. Im Alten Testament gibt es dafür das Bild von der „Sklaverei in Ägypten.“ Ich kenne nicht wenige (gerade auch) Männer, die sich genau deshalb so sehr auf ihre Rente freuen, weil sie damit endlich sich aus der gefühlten „Zwangsjacke Arbeit“ befreit sind.
„Jetzt geht es nur noch um mich!“ sagen sie.
Oder: Ich tue nur noch, was mir Spaß macht!
Und dann kommt Paulus daher: „Unser keiner lebt sich selbst!“
Nein, danke!
—-
Hier geht es nicht mehr weiter.
Hier gibt es keine sanften Übergänge.
Ab jetzt wende ich mich einer anderen Art und Weise des Denkens zu. Es ist ein Denken, in das Gott hineinfällt. Dass Gott in mein Denken fällt ist Gnade. Das kann ich nicht machen. Was ich kann, ist, Gott möglichst schnell wieder vertreiben. Sich auf den „Einfall“ Gottes in mein Denken einzulassen, ist nämlich ziemlich schmerzhaft. Mein „Ich“ will das nicht.
„Wir neigen zu der Ansicht“, sagt Thich Nhat Hanh, ein vietnamesischer Mönch, „dass wir etwas sind, was länger andauert als unser Einatmen, aber das stimmt nicht. Der Buddha fragte einmal seine Schüler, wie lange ein menschliches Leben dauere. Eine Person sagte, hundert Jahre, eine andere sagte, fünfzig Jahre; wieder eine andere meinte einen Tag und eine Nacht. Dann sagte jemand: ‚Es dauert ein Einatmen lang.’ Der Buddha wandte sich der Person zu und sagte: ‚Ja, du hast die Wirklichkeit des menschlichen Lebens gesehen – es dauert nur einen Einatem lang.’ Und es kann sogar noch kürzer sein, denn während wir einatmen, werden wir schon zu einer anderen Person. Das Ich, das vor dem Einatmen da war, ist nicht mehr das gleiche Ich, nachdem wir eingeatmet haben.“ (Im hier und jetzt zuhause sein S. 104)
„Jetzt ist die Zeit der Gnade.“ Auch ein Paulus-Wort, der alte Wochenspruch für diesen Sonntag. Es ist dasselbe wie: „Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir also leben oder sterben, wir sind des Herrn.“
Die Frage ist, worin wir Halt suchen.
Der breite und geläufige Weg ist, uns von unserem Verstand Halt geben zu lassen. Unser Verstand ist der Berater unseres Ichs. Der Halt, den unser Verstand anbietet, ist die klare Aufteilung der Welt in „mag ich“ – „mag ich nicht“.
Daumen nach oben – Daumen nach unten.
Die Mystik unterläuft dieses Denken.
Im mystischen Denken wird die Klarheit, die mir mein spaltendes Denken anbietet, zerstört.
Wasser ist Unendlichkeit, Geist ist die eine aus der Unendlichkeit auftauchende Welle, entstehend – vergehend.
„Die Welle ist das Meer… sagt der Mystiker Willigis Jäger.
„Das menschliche Leben dauert ein Einatem lang…“
„Leben wir, so leben wir dem Herrn…“
Alles verschiedene Tönungen des Einen. All-Ein.
Zieht den neuen Menschen an, sagt Paulus. Nun lebe nicht mehr Ich, sondern Christus lebt in mir.
Du selbst bist Buddha, heißt es im Zen-Buddhismus.
Also: „Töte Buddha, wenn du ihn triffst…“
„Würde ich Gott irgendwo erkennen, ich würde die Flucht ergreifen.
Ein erkannter Gott ist kein Gott“ (Meister Eckhart, sinngemäßes Zitat)
„Denn siehe, das Gottes Reich ist mitten unter euch.“
Luther übersetzt: „Es ist inwendig in euch.“
Beides stimmt, und beides gehört zusammen:
Mein Atem fließt in mich hinein und aus mir heraus: so ist er inwendig in mir. Aber er gehört mir nicht. Ich habe über meinen Atem Anteil am Windhauch des Lebens. In meinem Atem werde ich zu einem winzigen Teilchen (An-Teil) des unendlichen Lebens. So geschieht Reich Gottes – mitten unter uns. Wir sind nicht mehr von Ich zu Ich bezogen und gefangen, sondern wir beziehen uns auf das Leben selbst.
Das Reich Gottes ist das Leben selbst. Im Reich Gottes zählt vor dem Strich und unter dem Strich – ER oder ES – das Unerkennbare, Unbenennbare, Unbekannte.
Mein kleines Ich ist nicht zerstört, aber es ist überformt, trans-formiert: Nun lebe nicht mehr Ich, sondern ES (Christus „0“ Buddha) lebt in mir.
„Ob wir also leben oder sterben, wir sind des Herrn!“
Der Dativ des „Leben für den Herrn“ transformiert sich in den Genitiv (genitivus possesivus) „des Herrn sein: wir sind des Herrn Eigentum“. „Des Herrn sein“ strebt nach Einssein. Ununterschieden-Werden von Gott. Eins-Werden mit Gott. In diesem Eins-Werden mit Gott erfüllt sich die Inkarnation des Sohnes:
„Dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.“
Verrat, Schmerz, Leiden, Hass, Depression: Es gehört unabdingbar zum Leben dazu. Aber es gibt ein Darüber-Hinaus.
Je weniger wir uns von unserem Ich versklaven lassen, desto mehr Gelassenheit stellt sich ein. Und Freude über Kleinigkeiten. Überall wartet Schönheit auf uns. Wir müssen sie nicht suchen. Sie umgibt uns.
Indem wir „mit den Augen unserer Herzens“ sehen, leuchtet diese Schönheit auf.
Christus einatmen, und im Ausatmen alles loslassen.
Noch einmal Thich Nhat Hanh:
Während ich einatme lächle ich. Während ich ausatme lasse ich los.
Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.
Ich glaube, das ist der Ort, den Rumi meinte, als er sagte: „Jenseits von falsch und richtig liegt ein Ort. Dort treffen wir uns!“
Für mich ist dieser Ort auch diese Jakobuskirche!
Und ich bin dir, lieber Martin, dankbar, dass du mir ermöglichst, hier Gottesdienste zu halten. AMEN