Liebe Gemeinde,
1 Hört doch, was der HERR sagt:
Damit beginnt unser heutiger Predigttext aus dem alttestamentlichen Buch Micha (c. 6). Es geht um hören, um zuhören.
Als Zuhörer bin ich „Empfänger“. Ich empfange ganz viele Mitteilungen auf ganz vielen Ebenen. Wer Erfahrung in der Kommunikation mit Tieren hat, weiß, dass unsere menschliche Sprache nur eine Möglichkeit der Kommunikation ist. Es gibt die vielen Signale, die unser Körper aussendet: mit unseren Augen, mit unserer Gestik, mit unserer Mimik.
Ein aufmerksamer Zuhörer ist ein ganzheitlicher Zuhörer: Er nimmt wahr, was auf ihn einströmt. Und, ganz wesentlich: Er nimmt wahr, ohne zu bewerten.
Dies ist nur möglich, wenn ich einen „Raum“ in mir finde, in dem ich den Anderen „sein lassen“ kann. Das Gegenteil dazu ist der Drang, möglichst schnell etwas zu „ent-gegnen“. Als wäre es gefährlich, einen bewertungsfreien Raum zur Verfügung zu stellen. Als wäre es bedrohlich, dem Gespräch oder der Begegnung Zeit zu lassen. Zei zu lassen, das Gehörte erst einmal auf mich einwirken zu lassen.
Wenn Sie mögen, können Sie immer wieder freundlich wahrnehmen, wie viel Raum und Zeit Sie sich und Ihrem Gegenüber zur Verfügung stellen. Oder wie sehr es Sie drängt, Eigenes „hinzustellen“. Eine häufige Art dies zu tun, ist der Satz: „Ja, das kenne ich auch…“ Ich denke mir manchmal, wirklich? Kennt du mich wirklich so gut, dass du sagen kannst: „Das kenne ich auch!“ Oder verwendest du diesen Satz vor allem dafür, um dich dann mit deinem ausbreiten zu können?
„Hört doch, was der Herr sagt!“
Um diesem Satz des Propheten Micha zu befolgen, brauche ich Raum und Zeit. Die verbreitete Hetze ist ein Ausdruck davon, dass beides – Raum und Zeit – angegriffen sind.
Körperlich drückt sich das in einem flachen Atem aus.
Thích Nhất Hạnh sagt in einen „Worten der Weisheit“:
Jedes Mal, wenn ich einatme, bin ich mir bewusst, dass ich einatme.
Und wenn ich ausatme, bin ich mir bewusst, dass ich ausatme.
Und während ich einatme spüre ich: Mein Einatmen wird tiefer.
Und während ich ausatme, spüre ich: Mein Ausatmen wird länger.
Während ich einatme beruhige ich mich.
Während ich ausatme fühle ich mich erleichtert.
– Das versuchen wir jetzt mal: Meditation –
Auf diesem Hintergrund wollen wir hören, was Gott durch seinen Propheten Micha sagt: Er fordert sein Volk auf, einen Rechtsstreit gegen ihn selbst zu führen:
»Mach dich auf, führe einen Rechtsstreit vor den Bergen, lass die Hügel deine Stimme hören!« 2 Hört, ihr Berge, den Rechtsstreit des HERRN, ihr starken Grundfesten der Erde; denn der HERR will mit seinem Volk rechten und mit Israel ins Gericht gehen!
Das ist starker Tobak! Gott will, dass sein eigenes Volk ihn anklagt: 3 »Was habe ich dir getan, mein Volk, und womit habe ich dich beschwert? Das sage mir!
Etwas einfach – und darin durchaus zu Micha passend – könnte man sagen:
Gott ist sauer! Und zwar so richtig!
Das wird daran deutlich, dass der Satz: „Was habe ich dir getan, mein Volk?“ eine rein rhetorische Frage ist. Gott erwartet keine Antwort. Im Gegenteil – er fährt fort und holt so richtig in seinem Zorn aus: 4 Habe ich dich doch aus Ägyptenland geführt und aus der Knechtschaft erlöst und vor dir her gesandt Mose, Aaron und Mirjam. 5 Mein Volk, denke doch daran, was Balak, der König von Moab, vorhatte und was ihm Bileam, der Sohn Beors, antwortete; wie du hinüberzogst von Schittim bis nach Gilgal, damit du erkennst, wie der HERR dir alles Gute getan hat.«
Gott verweist auf die Heilsgeschichte, die er mit seinem Volk erlebt hat. Seine Befreiung aus Ägypten unter der Führung von Moses, Aaron und Mirjam. Nebenbei – zum Thema Gleichberechtigung: Mirjam wird als Frau in einem Atemzug neben den Männern Moses und Aaron genannt.
Und weiter: Israel möge sich daran erinnern, was der Moabiterkönig Balak gegen es im Schilde führte und was ihm der Seher Bileam antworten musste! Der Moabiterkönig hatte die Sorge, dass das wandernde Volk, das sich auf seinem Gebiet niedergelassen hatte, alles Essbare aufbrauchen würde und dass die israelitischen Tierherden alles Grün fressen würden. Daher versuchte er den Propheten Bileam mit Geld zu bestechen, dass er das Volk Israel verfluche, damit sie das Land verlassen würden. Dank einem Tier – einer Eselin! – ging das schief! Dank er einer Eselin erkannte Bileam – wenn auch widerwillig – den Willen Gottes und verfluchte das Volk Israel nicht! Dazu ein Zitat des jüdischen Philosophen Moses Maimonides:
„Unsere Weisen haben festgestellt, dass es in der Torah ausdrücklich verboten ist, einem Tier Schmerzen zu verursachen, und dass dieses Verbot auf dem Satz beruht: Warum hast du deine Eselin geschlagen?“
Und noch an eine dritte Erfahrung erinnert Gott, an den glücklich verlaufenden Jordanübergang zwischen Schittim und Gilgal! (Dieser Übergang war gefährlich!)
Und das Volk scheint sich von dieser Gottesrede erreichen zu lassen. Etwas kleinlaut antwortet es:
6 »Womit soll ich mich dem HERRN nahen, mich beugen vor dem Gott in der Höhe? Soll ich mich ihm mit Brandopfern nahen, mit einjährigen Kälbern? 7 Wird wohl der HERR Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen von Öl? Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Übertretung geben, meines Leibes Frucht für meine Sünde?«
Wenn ich Gott wäre, würde ich antworten:
„Jetzt weicht Ihr schon wieder aus!“ „Ich will Eure Opfer nicht, Euer frommes Getue, Eure süßlichen Gebete, Eure scheinheiligen Predigten…“
Und in die ratlose Stille hinein kommt dann das entscheidende Wort:
8 Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.
Schauen wir uns die drei „Forderungen“ Gottes an:
Erstens: „Halte dich an Gottes Wort“, übersetzt Luther. Wörtlicher heißt es: „Übe Recht“. Halte es ein, befolge es!
Was Recht ist und was Unrecht, das hat Jahwe seinem Volk mit den „Zehn Worten“ (die fälschlich als 10 Gebote übersetzt wurden) mit auf dem Weg gegeben. Eine Richtschnur, in der es klare Aussagen über ein gutes Leben gibt. Halte dich an das Recht, sagt der Herr, brich es nicht! Umgehe es nicht! Beuge es nicht! Sondern tue es! Und du kannst es tun, indem du dich immer wieder daran erinnerst, dass du frei bist, dass ich dein Gott bin, der dich aus Ägypten, dem Land in dem du Sklave deiner Lust und Unlust gewesen bist, befreit hat!
Nun gibt es Menschen, die meinen, sie seien immer im Recht. Dies kann zu sehr „unmenschlichen“ Menschen führen. Recht tun ist verbunden mit Empathie. So heißt es zweitens:
„Liebe Güte!“
Das hebräische „Chäsäd“ (Güte) bedeutet:
Verbundenheit, Gemeinschaftssinn, Solidarität. Das Wort kommt öfter vor, z.B. auch im Psalmwort: Danket dem Herr, denn er ist freundlich und sein Chäsäd währet ewiglich. Seine Güte übersetzt Luther.
Es geht um die Verbundenheit des Lebendigen!“ Indem ich mich eingebunden erlebe in die vielfältige Gemeinschaft des Lebendigen, entwickle ich Verständnis für das (mir) Fremde, „Andere“. Aus diesem Verständnis heraus entsteht Achtung und Respekt gegenüber dem Anderen. Dem Fremden.
Achtung und Respekt gerade auch dann, wenn ich mich nicht respektiert, wenn ich mich in meinem Eigenen nicht geachtet fühle. Das ist die Herausforderung: Chäsäd/Güte lieben heißt: Ich muss mich nicht mehr rächen, nicht mehr den Anderen spüren lassen, was er mir angetan hat. Oder, anders:
Ich habe die Kraft, es gut sein zu lassen. Das ist die Kraft des Ausatmens!
Dies kann nur aus der Liebe heraus geschehen.
Und noch einmal mit Thích Nhất Hạnh:
Während ich einatme, lächle ich.
Während ich ausatme, lasse ich los.
Und in diesem Loslassen geschieht die dritte Anweisung Gottes:
„Gehe bescheiden mit deinem Gott!“
Wer mit Gott geht, versucht nicht länger in blindem Gehorsam Regeln zu befolgen. Er schaut auch nicht hochnäsig auf die herab, die in seinen Augen zu wenig „fromm“ sind. Die scheinheilige Frage: „Womit soll ich mich dem Herrn nähern, mich beugen vor dem Gott in der Höhe?“ lenkt vom Wesentlichen ab.
„Du Menschenkind, stelle dich auf deine Füße, so will ich mit dir reden“ – sagt Gott zu dem Propheten Hesekiel (Hes. 2, 1)! Gott will ihrer selbst und so ihres Selbst bewusste Menschen. Dies aber sind mutige Menschen.
Wer mit Gott geht, verfügt über einen aufmerksamen, einen wachen Blick – und einen aufrechten Gang.
Und wer mit Gott geht, der lebt aus der Vergebung heraus:
Gerade so, wie wir eingangs hörten:
„Bei dir ist Vergebung, dass man dich fürchte!“
Im Sinne von: Bei dir ist Vergebung, dass man dich respektiere!
Im Akt des Vergebens geschieht letztes Loslassen:
„Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“
In diesem Loslassen geschieht Beides:
In dem ich vergebe, wird mir vergeben.
Vergeben heißt auch – und nicht zuletzt: sich selber zu vergeben. Aufzuhören, mit sich und dem eigenen Leben zu hadern. Liebevoll anzuerkennen, dass es mir „damals“ nicht anders möglich gewesen ist, zu leben und zu handeln, wie ich es halt getan habe.
Und so und nur so kann ich mich dem Augenblick, dem, was jetzt gerade ist, zuwenden.
Und das ist die letzte Atemübung von Thích Nhất Hạnh:
Während ich einatme verweile ich im gegenwärtigen Augenblick.
Während ich ausatme genieße ich diesen einmaligen Augenblick.
Ja, liebe Gemeinde, wir dürfen im Gottesdienst auch genießen…. Amen.