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Predigt über Jesaja 35, 3-10 am zweiten Advent 2024

Liebe Gemeinde,

„ich bin der Herr, der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe Unheil. Ich bin der Herr, der dies alles tut.“ Dieser Satz gehört zwar nicht zu unserem heutigen Predigttext, aber er ist die implizite Überschrift meiner Adventspredigt. Es findet sich in demselben alttestamentlichen Buch, aus dem der heutige Predigttext stammt, dem Buch Jesaja (c. 45, 6b-7). Gesagt wurde er wohl von jenem „zweiten Jesaja“, einem namentlich unbekannten Propheten, der unter dem Pseudonym „Deuterojesaja“ in die prophetischen Schriften des Alten Testaments eingegangen ist.

„Ich bin der Herr, der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe Unheil. Ich bin der Herr, der dies alles tut.“

Diesen Satz ist nur für jemand denkbar, der es wagt, einen Blick hinter die Kulissen unseres geläufigen Denkens zu werfen. Das uns vertraute Denken teilt ein und teilt auf: In gut und böse, falsch und richtig, wertvoll und wertlos, Feind und Freund usw. Dieses Denken in Frage zu stellen erfordert Mut. Wird damit doch die vertraute Ordnung, das vertraute Schema, die vertraute Struktur unseres Denkens verlassen. Wer sich auf diesen Weg einlässt, der erlebt heftigste emotionale Turbulenzen. Mit „sich einlassen“ meine ich, wer es wagt, nicht nur über diesen Weg zu reden, sondern ihn zu gehen.

„Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen.“ (Kurt Marti)

Ich will jetzt versuchen, Ihnen etwas davon zu erzählen, wo man hin kommt, wenn man einfach losgeht.

Eines vorweg: Man kommt nicht ins Paradies.

Im Gegenteil: Schritt für Schritt wächst die ernüchternde Erkenntnis: „paradise lost“ – das Paradies ist definitiv verloren – und es gibt keinen Weg zurück!

Wer dies nicht aushält, wer mit aller Kraft an seiner Sehnsucht nach dem Paradies festhält, nach einem Ort der Harmonie, an dem Löwe und Lamm friedlich „nebeneinander lagern“, der wird die folgenden Gedanken und ihren Überbringer, also mich, hassen. „Ich lasse mir von dir doch nicht meinen Glauben nehmen!“ hat mir vor kurzem jemand gesagt. Nun – ich will und kann niemand seinen Glauben nehmen, so mächtig bin ich nicht. Alles was ich kann, ist, etwas zum Bedenken, zum Nach-Denken mitzugeben. Ob sich jemand davon anmuten lässt oder nicht, welche Gefühle diese Predigtgedanken auslösen, habe ich nicht in der Hand. Und es gibt auch keinen Arzt oder Apotheker, den Sie über mögliche Nebenwirkungen fragen könnten… Andererseits: Was ist das für ein Glaube, der sich so leicht erschüttern lässt?

Inspiriert sind meine Predigtgedanken von dem Predigttext für den heutigen Sonntag, er findet sich im Buch des Propheten Jesaja, im 35. Kapitel, die Verse 3 – 10. :

„3 Macht stark die entmutigten Hände, und die strauchelnden Knie mach fest.

4 Sagt zu denen, die verzagt (in ihrem Herzen) sind: Seid stark, fürchtet euch nicht! Siehe, euer Gott! Die Vergeltung kommt, die Vergeltung Gottes, er kommt und wird euch erretten.“

Kurzer Zwischenruf: Der Text beginnt mit einem Appell: „Macht stark! Sagt zu denen, die verzagt sind …“ Die Adressaten des Textes sind also Menschen, die leiden, denen die Kraft ausgeht. Die Gelehrten streiten sich darüber, wie dieser Appell historisch-präzise einzuordnen ist. Dazu kann ich mangels Wissen nichts beitragen. Was aber klar ist, dass es um Menschen geht, deren Seele verletzt ist. Um Menschen, die Traumatisches erlebt haben. Es geht um den Umgang mit Schwäche, mit nicht mehr weiter wissen, nicht mehr weiter können…

Es geht um die Gefühle der „Kapitulation“: „Ich kann nicht mehr…“ Ich vermute, vielen von uns sind solche Gefühle schon einmal begegnet.

Und vielen von uns – vermute ich weiter – sind die ebenso gut gemeinten wie wirkungslosen Trost-Sprüche begegnet: Kopf hoch, wird schon wieder; oder: Nase in den Wind; oder: Denke an jene Menschen, denen es noch viel schlechter geht als dir …

Das ist bestimmt gut gemeint. Es sind gut gemeinte Trost-Worte, die nichts bewirken. Es ist ein billiger, oberflächlicher Trost, eine Vertröstung. Ich glaube im übrigen, es ist die gefühlte Hohlheit der christlichen Botschaft, die viele Menschen dazu geführt hat und führt, der christlichen Religion den Rücken zuzukehren.

Jesaja wartet mit einem anderen Trost auf: „Siehe, euer Gott! Die Vergeltung kommt, die Vergeltung Gottes, er kommt und wird euch erretten.“ Das ist ein Trost, dem Mitglieder der AFD, dem das russische Regime sofort zustimmen würde: Der Trost besteht darin, dass wir „uns unser Land zurückholen!“

„Deutschland den Deutschen!“ wurde auf Mallorca gegrölt. In der russisch-orthodoxen Kirche wird Putin als der Retter christlicher Werte gefeiert!

Die Vergeltung also wird als Rettung erlebt und verheißen. (Zwischenruf ENDE)

Und jetzt weiter im Text:

„5 Dann werden die Augen der Blinden geöffnet werden,

und die Ohren der Tauben werden aufgetan,“ sagt Jesaja.

„6 Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch,

und es wird jubeln die Zunge des Stummen,

denn in der Wüste ist Wasser hervorgebrochen und Flüsse im dürren Land.

7 Und das ausgedörrte Land wird zum Sumpf werden und das dürre Land zu Wasserquellen. Wo zuvor Schakale lagerten, wird Gras und Schilfrohr wachsen.

8 Und es wird dort eine Straße sein, ein Weg,

Weg der Heiligung wird er genannt werden.

Nicht kann ein mit Makeln Behafteter darauf wandern. ER selber geht ihnen den Weg voran, dass auch Toren (Narren) sich nicht verlaufen.

9 Nicht wird dort ein Löwe sein; auch kein Raubtier wird dort gefunden. Gehen werden ihn die Erlösten:

10 Und die Befreiten Jhwhs werden zurückkehren, sie werden zu Zion mit Jauchzen kommen, und ewige Fröhlichkeit wird über ihren Häuptern sein,

Freude und Fröhlichkeit werden sich einstellen und Kummer und Seufzen wird entfliehen.

Die Vergeltung Gottes besteht also der Verheißung, dass mit dem Kommen Gottes hier auf Erden paradiesische Zuständen aufbrechen.

Liebe Gemeinde,

also stimmt das gar nicht, was ich eingangs sagte, dass das Paradies für ewig verloren ist? Also doch Hoffnung auf das Paradies für die Befreiten Jahwes?

So lässt sich die Botschaft Jesajas in jedem Fall verstehen und predigen.

Nur: Ist das wirklich eine Trostbotschaft? Irgendwann – irgendwie wirst du wieder im Paradies sein…

Mir hilft dieser Trost deshalb nicht, weil er mir keine Hilfestellung dafür bietet, wie ich im Hier und Heute mein Leben leben kann und soll. Wie ich im Hier und Heute mit den vielen großen und kleinen Katastrophen so umgehen kann, dass ich weder in Trübsinn versinke noch ignorant werde im Sinne von: „Ist mir doch egal; Hauptsache ich habe meinen Wohlstand und nach mir die Sintflut!“ – Im Angesicht der zunehmenden Überschwemmungen infolge des Klimawandels hat die Redewendung: „Nach mir die Sintflut!“ eine tragische Ironie bekommen.

Mich tröstet auch nicht, wenn ich mir einrede, ich lebe ja nach meinem Tod weiter. Das hilft mir im Hier gar nichts. Und ich glaube es auch nicht – jedenfalls nicht in meiner Individualität, so wie ich mich hier kennen lernte.

Mich tröstet – und das ist für mich wirklicher Trost – mich auf die Wirklichkeit einzulassen, die ich hier vorfinde. Soweit ich sie im Rahmen meiner begrenzten Möglichkeiten denken und erleben kann.

Erstens: Ich lebe. Und zwar heute. Im hier und jetzt.

Zweitens: Aller Stress, den ich erlebe, ist selbst gemacht. In der Wirklichkeit gibt es keinen Stress. Das einzige, was die Wirklichkeit mir „antut“, ist, dass sie je und je ist.

Drittens: Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich zu dieser Wirklichkeit zu verhalten. Ich muss Stellung beziehen. Ob ich will oder nicht. Selbst wenn ich als Einsiedler lebe, ins Kloster gehe: auch dies ist eine Stellungnahme zur Wirklichkeit, die da ist.

Viertens: Jenseits und vor allem Reden ist mein Leben meine Stellungnahme zur Wirklichkeit. Sie gilt. Je kleiner, je jünger ich bin, desto mehr sind in dieser meiner Stellungnahme meine Hoffnungen, meine Illusionen und meine Wünsche über die Realität enthalten. Es sind meine Wünsche darüber, wie ich möchte, dass Leben ist.

Fünftens: Ich (persönlich) bin der Überzeugung, dass es gut ist, die eigenen Grundüberzeugungen, die eigene Matrix, mit der ich mein Leben (und das Leben der anderen) zu verstehen versuche, immer wieder kritisch zu überprüfen und zu hinterfragen. Für mich hat Erwachsen-Werden auch damit zu tun, sich von den kindlichen Illusionen zu verabschieden. Anders als Paulus sehe ich christliches Leben nicht als ein Leben von „Kindern Gottes“.

Ich wünsche mir – gerade auch als Christ – erwachsene Menschen, die gelernt haben, für ihr Handeln Verantwortung zu tragen, die in der Lage sind, ihre Mitmenschen wahr und ernst zu nehmen und sie nicht für ihre eigenen Wünsche und Illusionen zu missbrauchen.

Sechstens: Meine persönliche Matrix ist stark beeinflusst von den Erkenntnissen der Psychoanalyse und der Mystik. Dazu gehört die Anerkenntnis, dass ich mir mein Leben nicht selber geben konnte. Es war der kreative Akt meiner Eltern, durch den mein Leben „auf die Welt kam“. Dazu gehört die Anerkenntnis, dass Rivalisieren ein unvermeidliches Geschehen zwischen Menschen ist. S. Freud hat dies „Ödipuskomplex“ genannt und hat damit eine Grunddynamik menschlichen Lebens entdeckt. Und schließlich gehört zu meiner Matrix die Anerkennung von der Vergänglichkeit allen Lebens. „Was ist schon für immer“, lautet ein kleines, wunderschönes Buch von Katja Lewina, das mir meine Kinder empfohlen haben. Untertitel: „Vom Leben mit der Endlichkeit“. Sie schildert darin in berührender Weise das völlig überraschende Sterben ihres siebenjährigen Sohnes, dem sie ihre eigene Herzerkrankung – von der sie bis dahin nichts gewusst hatte – vererbt hatte.

Siebtens: „Das Leben endet nie“ – dieses Büchlein hat der Zen-Meister und Benediktinerpater Willigis Jäger am Ende seines langen Lebens geschrieben. Es geht „über das Ankommen im Hier und und Jetzt.“

Jäger erzählt folgende Geschichte: „Eine alte Frau bügelte einen Haufen Wäsche. Da trat der Todesengel zu ihr: „Es ist Zeit! Komm!“ Die Frau antwortete: ‚Gut, aber erst muss ich die Wäsche fertig bügeln, wer tut es denn sonst, und ich dann muss ich kochen, meine Tochter arbeitet im Geschäft, sie braucht etwas zum Essen, wenn sie heimkommt. Siehst du das ein?“ Der Engel ging. Eine Zeit später kam er wieder…. Die Frau ging gerade aus dem Haus. „Ich hab jetzt keine Zeit“, sagte sie. „Ich gehe ins Altersheim. Da warten Dutzende von Menschen auf mich, die sehr einsam sind. Die kann ich doch nicht im Stich lassen.“ Der Engel ging. Und so ging es weiter. Immer fand die Frau einen Grund, warum es jetzt gerade nicht möglich war zu sterben.

Als die alte Frau dann eine uralte Frau geworden ist, dachte sie bei sich: „Jetzt könnte der Engel kommen. Nach all der Arbeit und der Mühen muss die Seligkeit des Paradieses doch sehr schön sein.“ Der Engel kam. Die Frau fragte ihn: „Führst du mich jetzt in die Seligkeit?“ Der Engel frage zurück: „Und wo, glaubst du, warst du die ganze Zeit?“

Jäger schreibt dazu: „Wir sind durchtränkt von der Idee, es gäbe eine bessere Welt. Wir meinen, es müsse eine Alternative zum Hier und Jetzt geben, das uns offensichtlich nicht genügt. Wir fordern eine ganz andere Schöpfung – die jetzige hat zu viele Unvollkommenheiten. Sie ist, um es deutlich zu sagen, das Werk eines Stümpers.“ (Jäger, S.74-75)

In den Religionen ist aus diesen Gedanken der Glaube an ein besseres Jenseits, an ein Reich Gottes entstanden, in dem nur Harmonie herrscht. „Kummer und Seufzen“ werden entfliehen, heißt es bei Jesaja. „Löwe und Lamm werden friedlich nebeneinander lagern“, heißt es in der Offenbarung des Johannes.

Die Mystik hingegen sagt: Es gibt gar nichts anderes als das Jetzt. Über das Bewusstwerden unseres Atems können wir dieses Jetzt erleben. „Die Wirklichkeit des menschlichen Lebens dauert ein Einatmen lang“, sagt der Zenmeister Thich Nhat Hanh.

Ein Letztes: Im Erleben des Augenblicks werde ich frei! Befreit von meiner Sehnsucht, es gäbe vielleicht doch die Möglichkeit einer Rückkehr in das Paradies.

In der großartigen Dichtung von J. Milton „paradise lost“ ist es der Satan, der das Paradies nicht verlassen kann. Er kann die Realität dieser Welt, unseres Lebens auf dieser Welt nicht akzeptieren. Anders unsere Vorfahren: Eva und Adam werden zu erwachsenen Menschen, indem sie anerkennen: Es gibt kein zurück! Die Pforten des Paradieses sind geschlossen. Und gerade so sind die Tore, die uns in unser Leben hinein führen, in dem wir immer schon gewesen sind, weit offen, AMEN

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Predigt über Römer 14, 7 – 9 (2)

7 Unser keiner lebt sich selber, unser keiner stirbt sich selber. 8 Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. 9 Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.“

Liebe Gemeinde,

der Text ist ein Angriff auf eine bestimmte Art des Denkens, die uns geläufig und selbstverständlich ist. Das Zentrum dieses Denkens ist unser Ich. Das Denken ist Diener und wenn wir so ein großes Pech haben, wie der designierte Präsident von Amerika, Sklave des Egos. So heißt „ich“ auf lateinisch Ego.

Bei ego-zentrischem Denken steht nicht der Erkenntnisgewinn im Zentrum, sondern die Bedürfnisse des jeweiligen Ego.

Der Ego-Zentriker verwendet sein Denken dafür, die Bedürfnisse seines Egos zu befriedigen. Das Ego will sich gut fühlen.

Dazu braucht es – oder meint es zu brauchen -:

Möglichst viel Lust zu erleben. Möglichst viel Unlust zu vermeiden.

Und was so überhaupt keinen Spaß macht, ist, sich ausgeliefert fühlen. Sich ohne Macht, ohnmächtig erleben. Ein Egozentriker ein Macht-Mensch ist.

Macht haben und Macht ausüben ist der Zweck seines Lebens.

Was er nicht sehen will bzw. nicht sehen kann: dass die „andere Seite“ des Macht-Ausübens die Ohnmacht ist.

Und was er schon gar nicht sehen kann: dass in dem Vorgang des Sich-Bemächtigens die eigene Ohnmacht beim Anderen untergebracht wird.

Beispiel: Wenn ich von einem Bettler träume, den ich verachte, weist dieser Traum darauf hin, dass in mir ein Bettler wohnt, mit dem ich nichts zu tun haben will. Den ich verachte.

Martin Luther hat Vorabend seines Todes aufgeschrieben: „Wir sind Bettler, das ist wahr!“

Ich verstehe dies als Umschreibung des paulinischen Gedankens: „Unser keiner lebt sich selber, unser keiner stirbt sich selber.“

Wer diese „Passivität“ nicht aushält, dem bleibt als letzte Möglichkeit nur noch der Suizid.

Es gibt einen bekannten erfolgreichen Mann, der an dem Tag, als erfuhr, dass er an Alzheimer leide, sich erschoss.

Alles ist besser, alles scheint besser, als eigene Ohnmacht zu ertragen.

Und was ist mir der Lösung, die Martin Luther, die Paulus anbietet?

„Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.“

Nun – dieser Satz ist leicht geschrieben, leicht gesagt.

Aber – ist er auch lebbar? Wie geht das?

Wenn ich ihn konkret nehme, wie es viele Christenmenschen machen, dann muss ich glauben, dass es einen Menschen gab, genannt Jesus, der gelebt hat im heutigen Israel, der von den Römern mit dem Tod bestraft worden ist, der gestorben ist und von Gott nach drei Tagen wieder lebendig gemacht worden ist.

Wir beten diese Gedanken in unserem Glaubensbekenntnis.

Obwohl ich hier als Pfarrer vor Ihnen stehe, liebe Gemeinde: Es ist mir nicht möglich, diese Gedanken in dieser Konkretheit zu verstehen.

Heißt: In dieser Konkretheit kann nicht glauben.

Und doch erlebe ich mich nicht als Schwindler, wenn ich diese Sätze in unserem Glaubensbekenntnis spreche.

Wie geht das?

Ich nenne ein Beispiel: Wenn ich sage, heute ist die Sonne aufgegangen, dann ist das als konkrete Aussage falsch. Die Sonne ist ein Fixstern – sie kann weder aufgehen noch untergehen. Um korrekt zu reden müsste ich sagen: Als sich heute die Erde so um ihre eigene Achse und um die Sonne gedreht hat, dass da, wo ich war, die Sonne sichtbar geworden ist …

Das ist zwar viel korrekter als zu sagen, die Sonne ist aufgegangen. Es ist aber auch viel umständlicher.

Nun ist das harmlos. Es geht ja nur um die Beschreibung eines Naturphänomens. Nicht mehr so harmlos ist es, wenn Sprache für die Ausübung von Macht verwendet wird. Dies geschieht immer dann, wenn kategorisiert wird: die Christen, die Katholiken, die Protestanten, die Migranten, die Ausländer, die Psychoanalytiker, die Pfarrer, die Gemeinderäte, die Politiker …

Zunächst einmal sind das alles Menschen. Und Menschen sind verschieden. Menschen sind nicht gleich!

ABER, und das ist etwas völlig Anderes: Menschen haben denselben Wert!

„Die Würde, der Wert eines Menschen ist unantastbar!“

Die gilt im übrigen auch vor Gericht: Es wird nicht über den Menschen, über seine Person gerichtet, sondern über seine Taten!

So schreibt Paulus am Ende unseres Textabschnittes: „Lasst uns nicht mehr miteinander richten, sondern haltet vielmehr das für recht, dem Bruder keinen Anstoß oder kein Ärgernis zu geben!“

Wer diesen Satz ernst nimmt, der wird sich um eine respektvolle, um eine rücksichtsvolle Sprache bemühen. Diese ist Ausdruck eines Denkens, das sich nicht von seinen Ego-Bedürfnissen versklaven lässt.

Ein Denken in Freiheit ist notwendig ein Denken, das Rücksicht auf die Freiheit meiner Mitmenschen nimmt. Und es ist ein Denken, das nicht darauf angewiesen ist, von seinen Mitmenschen bewundert zu werden. Ihm geht es nicht um „me first“. Ihm geht es um Respekt. Was auf deutsch übersetzt „Rücksicht“ heißt.

„Unser keiner lebt (für) sich selber…“.

Dieser Gedanke gleicht einem dunklen Strahl hinter den beleuchteten Schaufenstern, hinter den schönen Fassaden unseres vermeintlich so wohl geordneten Lebens.

Ein gefährlicher dunkler Strahl, der mich zu den Abgründen jener Zeiten führte, wo es noch keine Struktur gab. Wo ich noch keine Struktur hatte. Wo ich noch nicht „Ich sagen“ konnte, weil es kein Ich gab.

Tohu wa bohu nennt die Genesis das. Wörtlich: „Drunter und drüber“, also Durcheinander. Und es vergehen nicht wenige Jahre, bis ein Menschenkind so weit sich entwickelt hat, dass es eine vage Ahnung davon bekommt, „wer ich bin…“ Da steckt sehr viel Arbeit drin. Und so ist es nur natürlich und verständlich, dass es diese mühsam errungene Fähigkeit nicht wieder aufgeben will.

Der Satz von Paulus aber ist ein Frontal-Angriff auf mein Ich: „Unser keiner lebt sich selbst!“

Wie soll das gehen, „nicht sich selbst zu leben“?

Natürlich lebe ich mich selbst. Und ich bin froh, dass ich mich selbst leben kann. Lange genug wurde ich gelebt. Dahin will ich auf keinen Fall zurück!

Lange genug musste ich etwas tun, wovon ich ganz genau wusste, dass es nicht mein Eigenes ist. Im Alten Testament gibt es dafür das Bild von der „Sklaverei in Ägypten.“ Ich kenne nicht wenige (gerade auch) Männer, die sich genau deshalb so sehr auf ihre Rente freuen, weil sie damit endlich sich aus der gefühlten „Zwangsjacke Arbeit“ befreit sind.

„Jetzt geht es nur noch um mich!“ sagen sie.

Oder: Ich tue nur noch, was mir Spaß macht!

Und dann kommt Paulus daher: „Unser keiner lebt sich selbst!“

Nein, danke!

—-

Hier geht es nicht mehr weiter.

Hier gibt es keine sanften Übergänge.

Ab jetzt wende ich mich einer anderen Art und Weise des Denkens zu. Es ist ein Denken, in das Gott hineinfällt. Dass Gott in mein Denken fällt ist Gnade. Das kann ich nicht machen. Was ich kann, ist, Gott möglichst schnell wieder vertreiben. Sich auf den „Einfall“ Gottes in mein Denken einzulassen, ist nämlich ziemlich schmerzhaft. Mein „Ich“ will das nicht.

„Wir neigen zu der Ansicht“, sagt Thich Nhat Hanh, ein vietnamesischer Mönch, „dass wir etwas sind, was länger andauert als unser Einatmen, aber das stimmt nicht. Der Buddha fragte einmal seine Schüler, wie lange ein menschliches Leben dauere. Eine Person sagte, hundert Jahre, eine andere sagte, fünfzig Jahre; wieder eine andere meinte einen Tag und eine Nacht. Dann sagte jemand: ‚Es dauert ein Einatmen lang.’ Der Buddha wandte sich der Person zu und sagte: ‚Ja, du hast die Wirklichkeit des menschlichen Lebens gesehen – es dauert nur einen Einatem lang.’ Und es kann sogar noch kürzer sein, denn während wir einatmen, werden wir schon zu einer anderen Person. Das Ich, das vor dem Einatmen da war, ist nicht mehr das gleiche Ich, nachdem wir eingeatmet haben.“ (Im hier und jetzt zuhause sein S. 104)

„Jetzt ist die Zeit der Gnade.“ Auch ein Paulus-Wort, der alte Wochenspruch für diesen Sonntag. Es ist dasselbe wie: „Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir also leben oder sterben, wir sind des Herrn.“

Die Frage ist, worin wir Halt suchen.

Der breite und geläufige Weg ist, uns von unserem Verstand Halt geben zu lassen. Unser Verstand ist der Berater unseres Ichs. Der Halt, den unser Verstand anbietet, ist die klare Aufteilung der Welt in „mag ich“ – „mag ich nicht“.

Daumen nach oben – Daumen nach unten.

Die Mystik unterläuft dieses Denken.

Im mystischen Denken wird die Klarheit, die mir mein spaltendes Denken anbietet, zerstört.

Wasser ist Unendlichkeit, Geist ist die eine aus der Unendlichkeit auftauchende Welle, entstehend – vergehend.

„Die Welle ist das Meer… sagt der Mystiker Willigis Jäger.

„Das menschliche Leben dauert ein Einatem lang…“

„Leben wir, so leben wir dem Herrn…“

Alles verschiedene Tönungen des Einen. All-Ein.

Zieht den neuen Menschen an, sagt Paulus. Nun lebe nicht mehr Ich, sondern Christus lebt in mir.

Du selbst bist Buddha, heißt es im Zen-Buddhismus.

Also: „Töte Buddha, wenn du ihn triffst…“

„Würde ich Gott irgendwo erkennen, ich würde die Flucht ergreifen.

Ein erkannter Gott ist kein Gott“ (Meister Eckhart, sinngemäßes Zitat)

„Denn siehe, das Gottes Reich ist mitten unter euch.“

Luther übersetzt: „Es ist inwendig in euch.“

Beides stimmt, und beides gehört zusammen:

Mein Atem fließt in mich hinein und aus mir heraus: so ist er inwendig in mir. Aber er gehört mir nicht. Ich habe über meinen Atem Anteil am Windhauch des Lebens. In meinem Atem werde ich zu einem winzigen Teilchen (An-Teil) des unendlichen Lebens. So geschieht Reich Gottes – mitten unter uns. Wir sind nicht mehr von Ich zu Ich bezogen und gefangen, sondern wir beziehen uns auf das Leben selbst.

Das Reich Gottes ist das Leben selbst. Im Reich Gottes zählt vor dem Strich und unter dem Strich – ER oder ES – das Unerkennbare, Unbenennbare, Unbekannte.

Mein kleines Ich ist nicht zerstört, aber es ist überformt, trans-formiert: Nun lebe nicht mehr Ich, sondern ES (Christus „0“ Buddha) lebt in mir.

„Ob wir also leben oder sterben, wir sind des Herrn!“

Der Dativ des „Leben für den Herrn“ transformiert sich in den Genitiv (genitivus possesivus) „des Herrn sein: wir sind des Herrn Eigentum“. „Des Herrn sein“ strebt nach Einssein. Ununterschieden-Werden von Gott. Eins-Werden mit Gott. In diesem Eins-Werden mit Gott erfüllt sich die Inkarnation des Sohnes:

„Dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.“

Verrat, Schmerz, Leiden, Hass, Depression: Es gehört unabdingbar zum Leben dazu. Aber es gibt ein Darüber-Hinaus.

Je weniger wir uns von unserem Ich versklaven lassen, desto mehr Gelassenheit stellt sich ein. Und Freude über Kleinigkeiten. Überall wartet Schönheit auf uns. Wir müssen sie nicht suchen. Sie umgibt uns.

Indem wir „mit den Augen unserer Herzens“ sehen, leuchtet diese Schönheit auf.

Christus einatmen, und im Ausatmen alles loslassen.

Noch einmal Thich Nhat Hanh:

Während ich einatme lächle ich. Während ich ausatme lasse ich los.

Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.

Ich glaube, das ist der Ort, den Rumi meinte, als er sagte: „Jenseits von falsch und richtig liegt ein Ort. Dort treffen wir uns!“

Für mich ist dieser Ort auch diese Jakobuskirche!

Und ich bin dir, lieber Martin, dankbar, dass du mir ermöglichst, hier Gottesdienste zu halten.         AMEN

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Predigt über Hebräer 12, 12 – 17. 22 – 24 am 2. Sonntag nach Epiphanias 2024

Verwandlung, lateinisch Transformation, ist das Thema des heutigen Gottesdienstes. Die Geschichte der Hochzeit zu Kanaan, bei der Jesus das Wasser in Wein verwandelt: Sie ist das Evangelium, die Frohe Botschaft des heutigen Sonntags.

Verwandlung hat mit Veränderung zu tun.

Times are changing“: „Die Zeiten wandeln sich.“

Ein Sinneswandel ist die Veränderung in der Anschauung eines Menschen. Nun aber nicht so, dass Veränderung willkürlich, ohne jede „Form“ ist.

Es ist eine Veränderung mit Konstanten.

Wenn Sie sich Ihre Hände anschauen: Als Sie auf die Welt gekommen sind, waren die sehr anders als heute, es waren nämlich kleine, zierliche Babyhände – und doch sind es damals wie heute Ihre Hände.

Verwandlung heißt also, es bleibt in der Veränderung etwas „erhalten“.

Wenn Wasser in Wein verwandelt wird, so bleibt der Aggregatzustand „flüssig“ erhalten.

Oder, wenn Sie jemanden treffen, den Sie das letzte Mal vor 20 Jahren gesehen haben. Da sagen Sie: Bist du nicht die oder der Soundso? Ich dachte mir: Von irgendwoher kenne ich dich doch …

Das „Gleich-Bleiben„, oder die „Konstante“ ist wichtig für Erkenntnis.

Ansonsten herrscht Chaos. „Tohu wa bohu.“

Die „Verwandlung“, die „Veränderung“ ist wichtig für Wachstum, für Entwicklung. Ansonsten entsteht Erstarrung: „Und täglich grüßt das Murmeltier.“

Verwandlung ist etwas wesentlich Anderes als Abbruch. Wenn ich eine für mich unerträgliche Situation nicht verwandeln kann, muss ich sie „abbrechen“. Dabei habe ich zwei Möglichkeiten: Die eine ist, die Situation als solche zu zerstören, die andere ist, aus der Situation zu fliehen. Von beiden Möglichkeiten wird alltäglich Gebrauch gemacht.-

Unser heutiger Predigttext – er findet sich im Hebräerbrief Kapitel 12 – ist ein Aufruf zum Durchhalten bei allem, was zu ertragen und zu erleiden ist.

„Darum stärkt die wankenden Knie und tut sicherer Schritte mit euren Füßen, dass nicht jemand strauchle wie ein Lahmer, sondern vielmehr gesund werde.“ Mit diesem Appell beginnt er. Dabei ist ein klares Ziel vor Augen: „Jagt dem Frieden nach mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird.“ (Vers 12-14a)

„Heiligung“ bedeutet „heil“, also „ganz“ oder „unversehrt“ werden. Heilige sind „ganze“ Menschen. Und – was ist das, ein „ganzer Mensch“?

Ein ganzer Mensch ist ein Mensch, der alles, was ihn ausmacht, auch zu sich nimmt und bei sich „hält“. Ein ganzer Mensch hat gelernt, immer wieder sich selbst gleichsam über die Schulter zu schauen. Das Fremdwort dafür heißt: Selbstreflexion.

Und er hat gelernt, seine Emotionen und die daraus folgenden Impulse bei sich zu spüren und bei sich zu halten.

Mit dieser Fähigkeit kommen wir Menschenkinder nicht auf die Welt. Ganz im Gegenteil: Wir kommen damit auf die Welt, unsere Emotionen aus uns herauszuschreien. Wenn wir das Glück haben, eine Mutter und einen Vater zu haben, die unser Schreien „ertragen“ im Sinne von „aushalten“ ohne sich dabei aus der Liebe zu uns, zu dem schreienden Baby vertreiben zu lassen – dann haben wir eine gute Chance zu lernen, dass wir auch selbst allmählich unsere vermeintlich unerträglichen Gefühle ertragen. Scheinbar unerträgliche Gefühle wurden dann in erträgliche verwandelt oder modifiziert.

Ein anderes Bild für diese Verwandlung ist unsere Verdauung, Permanent verwandelt unser Körper Nahrung in etwas, was er für sein (körperliches) (Über-)Leben brauchen kann. So wächst unser Körper, so entwickelt er sich.-

Nachdem unser Predigttext so schön begonnen hatte, kippt er. Er kippt in dem Zusammenhang, wo sein Autor – keiner weiß, wer er wirklich war -, nicht mehr bejahende, sondern negative Sätze, besser negative Ermahnungen verwendet: „… und seht darauf, dass nicht jemand Gottes Gnade versäume.“ (V.15a) Gottes Gnade versäumen bedeutet aber, „dass … eine bittere Wurzel aufwächst und Unfrieden anrichtet und viele durch sie verunreinigt werden„. Dies ist vor allem moralisch gemeint: Es geht um den „Hurer“ oder den „Gottlosen„, wie „Esau, der um der einen Speise willen sein Erstgeburtsrecht verkaufte. Ihr wisst ja“, heißt es weiter, „dass er hernach, als er den Segen ererben wollte, verworfen wurde, denn er fand keinen Raum zur Buße, obwohl er sie mit Tränen suchte.“ (V. 15-17)

Dies ist – liest man im Alten Testament nach – schlichtweg falsch. Im 1. Buch Mose, Kapitel 33, 1- 14, wird die berührende Versöhnung zwischen Jakob und seinem Zwillingsbruder Esau geschildert. Jakob hat Sorge, ob Esau auf Rache gegen ihn sinnt, weil er sich das Erstgeburtsrecht erschlichen hatte. Die Realität aber ist: Im Gegenteil: „Esau lief ihm (sc. Jakob) entgegen und herzte ihn und fiel ihn um den Hals und küsste ihn, und sie weinten.“ (V. 4) Keine Rede ist von einem unter einem Fluch lebenden Esau.

Ich weiß nicht, was den Autor des Hebräerbriefes dazu gebracht hat, diese rigiden Muster des Abwertens zu verwenden. Ist es sein eigener Hass, der in Anbetracht der „Hurer“ und „Gottlosen“ bei ihm durchbricht? Den er nicht länger bei sich halten kann. Es ist ja gar nicht so selten, dass ich im Kampf gegen einen vermeintlichen „Feind“ selber Züge von meinem Feind annehme.

Unser Predigttext ist also mit aller größter Vorsicht zu genießen. Die Gefahr ist, ihn als Ermunterung dafür zu lesen, alles, womit wir nicht einverstanden sind, was nicht in unser Denksystem passt, abzuwerten, schlimmer noch, zu verdammen.

Alle Religionen bzw. religiösen Systeme stehen in dieser Gefahr. Dies ist der Grund für die unsägliche Allianz von Religion und totalitärem Denken.

Aktuell hat totalitäres Denken Konjunktur. Nicht nur in Ländern wie China, Russland oder Nordkorea. Leider auch bei uns. Noch sind es nur sogenannte „Randgruppen“. Noch sind sind es nur „Chaoten und Randalierer“. Aber die Gefahr einer Ansteckung ist nicht gering. Und totalitäres Denken ist ein Virus, der weder durch Impfung noch durch Atemschutzmasken sich hemmen lässt. Der moralische Impetus totalitärer Systeme drückt sich in dem aus, was „schwarze Pädagogik“ genannt worden ist. Es ist eine Pädagogik, die der Überzeugung ist, der Mensch sei von Natur aus „böse“; und um dem „Bösen“ Einhalt zu gebieten, muss Bestrafung angedroht und – wenn er nicht anders geht – auch durchgeführt – werden.

Dazu ein – wie ich finde – bemerkenswertes Beispiel aus der aktuellen Gegenwart: Einem Statement der Polizei zufolge sind die Silvesterfeiern diesmal relativ ruhig verlaufen, weil es ein überaus starkes Aufgebot an Einsatzkräften gab. Dahinter steht ein Denken, das unterstellt, dass Menschen aus freien Stücken nicht bereit oder auch nicht in der Lage sind, vernünftig und friedlich miteinander Silvester zu feiern. „Den ‚Chaoten‘ und ‚Randalierern‘ kann man nur mit Druck beikommen!“ heißt es.

Und ich kann verstehen, wenn jemand, der sich dieses Jahr vorgenommen hatte, aus sich heraus nicht zu randalieren, wenn sich der jetzt denkt: Okay, dann werde ich Euch das nächste Mal beweisen, dass ich mich von meinen Aktionen ganz sicher nicht wegen eures Polizeiaufgebots abhalten lasse.

Doch zurück zu unserem Predigttext. Ich habe gesagt, er sei mit großer Vorsicht zu lesen. Mit dieser Einschätzung stehe ich nicht alleine da. Martin Luther schrieb in seinem Vorwort zu seiner Hebräerbrief-Vorlesung: Er biete „eine große Schwierigkeit dadurch, dass er im 6. und 10. Kapitel die Buße den Sündern nach der Taufe stracks verneinet und versagt und Kap. 12,17 sagt, Esau habe Buße gesucht und doch nicht gefunden, was wider alle Evangelien und Briefe des Paulus ist.“ Konsequent hat Luther – trotz Wertschätzung – diesen Brief möglichst weit nach hinten in der Bibel gestellt.

Nun ist es aber wichtig, – und das ist das Wesen konstruktiver Kritik – nicht pauschal etwas oder jemand zu verurteilen. Das Ende unseres Predigttextes ist konstruktiv und ermutigend. Es ermutigt zu der Hoffnung, dass Entwicklung, dass Transformation möglich ist:

… ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln und zu der Festversammlung und zu der Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle, und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das besser redet als Abels Blut.“ (V. 22-24)

Das sind sehr starke Bilder. Da ist die „Stadt des lebendigen Gottes„, zu dem wir Christen gekommen sind. Durch Jesus, den „Mittler des neuen Bundes„. Sein Blut „redet“ anders als das Blut Abels.

Abels Blut hat zum Himmel geschrien! Abel, der Unschuldige, wurde von seinem Bruder Kain erschlagen. Aus Neid und Hass.

Abels Blut schreit zum Himmel – gemeinsam mit dem Blut aller unschuldig Getöteten, aktuell in der Ukraine, in Russland, in Israel, in Palästina!

Und inwiefern „redet das Blut Jesu besser als das Blut Abels?“

Jesu Blut ist das „Blut der Besprengung„. „Besprengung“ ist die kultische Form der Reinigung, die mit Sühnung verbunden ist. Für den Autor des Hebräerbriefes ist es Jesus, der diese Reinigung durchführt, „durch sein eigenes Opfer“ (9, 26). Die Selbsthingabe Jesu, sein Opfer, ermöglicht es uns, zur Stadt des lebendigen Gottes, zum himmlischen Jerusalem zu kommen. Die Hingabe von Gott selbst – in der Gestalt seines eigenen Sohnes – hat Gott mit sich selbst versühnt. Das ist die Sühne, die mit Jesu Opfertod ein für allemal geschehen ist. In der Selbst-Aufgabe Gottes durch seinen Sohn löst sich die Härte seines Hasses, zerreißt der Vorhang der Getrenntheit von Gott und Mensch: Gott ist jetzt – in Gestalt seines Sohnes – einer von uns, dem kein Leid, keine Ohnmacht mehr fern ist. Damit ist eine neue Verbindung, ein „neuer Bund“ zwischen Gott und uns Menschen entstanden, dem wir Jesus Christus, seinem „Gehorsam bis zum Tod“ verdanken. Jesus ist zum „Mittler des neuen Bundes“ geworden, wie es in unserem Predigttext heißt. Oder, mit den Worten eines Gedichtes von Johann Rist:

O große Not! Gott selbst ist tot, am Kreuz ist er gestorben, hat dadurch das Himmelreich uns aus Lieb‘ erworben“.

Das, liebe Gemeinde, ist die große Transformation Gottes, ist Gottes eigene Entwicklung: Von einem abgehobenen, distanzierten, majestätisch-kalten Macht-Gott hin zu einem mitfühlenden, liebevollen, einfühlsamen, barmherzigen Liebes-Gott. Und der Mittler, der Transformator dieses Geschehens ist Jesus!

Damit ergibt sich unsere Aufgabe als Christen-Menschen, die wir durch unsere Taufe in dieses Transformationsgeschehen Gottes eingetaucht worden sind. Ein Geschehen, an dem wir unser Leben lang Anteil haben dürfen.

Gebe Gott, dass wir auch in diesem noch jungen Jahr uns entwickeln dürfen. Hin zu Menschen, die immer wieder die Kraft finden, ihren zerstörerischen Impulsen und ihren „hässlichen“ Gefühlen Einhalt zu gebieten und im „neuen Bund“ mit Gott wachsen können, hin zur lebendigen Fülle eines liebevollen Menschseins. Dazu bedürfen wir eines starken inneren „Mittlers“.

So gebe Gott, dass die Liebe dieses Jesus in uns kräftig werden kann, im Sinne der diesjährigen Jahreslosung: „Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe“ (1. Kor. 16,14) AMEN.

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Gedanken zur Losung am 31.3.2022 im Rahmen eines Friedensgebets

„Sind wir untreu, so bleibt er treu; denn er kann sich selbst nicht verleugnen.“

(2. Timotheus 2, 13)

Friedensgedanken am 31.3.2022

Liebe Gemeinde,

das Wort „treu“ Substantiv „Treue“ und damit zusammenhängend „Vertrauen“ (vgl. auch im Englischen das Wort „tree“) drückt Festigkeit, Bestand aus.

Darauf kannst du dich, kann man sich verlassen.

Nun – wo etwas Positives ist, ist auch etwas Negatives.

Im Deutschen gibt es dafür das Wort, besser die Vorsilbe „un-“

treu – untreu; Glaube – Unglaube.

Die Vorsilbe un- verneint. Darauf verlasse dich mal lieber nicht.

Im Moment heißt es: Auf die Sätze, die aus Russland kommen, dass es einen Truppenabzug gibt usw. kann man sich nicht verlassen. Vielleicht ist es nur Strategie, um sich zu sondieren und dann umso massiver zuzuschlagen.

Worauf kann ich mich wirklich verlassen?

Das ist für diejenigen unter uns, die Gefühle des Zweifelns und des Misstrauens kennen oder von ihnen geplagt werden, ein großes Thema.

Im 2. Brief an Timotheus – die Losung für den heutigen Tag – heißt es:

Auf IHN, auf Gott, kannst du dich zu hundert Prozent verlassen: er bleibt treu.

Warum: „Denn er kann sich nicht selbst verleugnen.“

Gott kann tatsächlich etwas nicht, was wir Menschen nur allzu gut können:

Gott kann nicht lügen. Und wer nicht lügen kann, der kann auch nicht betrügen.

Und wer weder lügen noch betrügen kann, auf den kann man sich verlassen – er ist treu.

Was bedeutet das denn: „sich selbst verleugnen“?

Es bedeutet, sich abwenden von dem, was ich als mein ganz Eigenes, mein ureigenes Denken, Fühlen und Handeln erlebe. Und an dessen Stelle etwas setze, von dem ich meine, das wäre mein Denken, Fühlen und Handeln. Diese Verdrehung des Eigenen findet seinen Ursprung in der Zeit, in der wir Menschenkinder noch sehr biegsam gewesen sind. Wie man eine junge Pflanze wo hin ziehen kann, so kann man auch Kinder „gut ziehen“: Indem man ihnen physische und psychische Nahrung nur dann gibt, wenn sie in die Richtung wachsen, die von dem, der sie „zieht“ und „erzieht“ auch erwünscht ist. Je weniger dieser Er-Zieher in der Lage ist, die eigenen und wirklichen Bedürfnisse der „jungen Pflanze“, genannt Kind, zu sehen, desto selbstverständlicher wird das Kind meinen, das, wohin es da gezogen wird, ist das, wohin es auch wachsen will. Es verwechselt – weil es die Sonne der Wahrheit nicht kennt – das Kunstlicht, unter dem es aufwächst, mit dem wahren Licht, mit der wirklichen Sonne.

Wird es von einem Sonnenstrahl der wirklichen Sonne eher zufällig getroffen, so meint es, dass dies natürlich auch – es kennt ja nichts Anderes – etwas Künstliches ist. Seine Erzieher – die das Kind und sein Denken für sich behalten wollen – bestätigen ihn darin, dass die wirkliche Sonne eine Täuschung und gefährlich ist – von ihr kann man einen Sonnenband kriegen, sie kann Hautkrebs verursachen – während die künstliche Sonne, die als echt ausgegeben wird – zum Wohle für alle ist.

Auf der politischen Ebene findet sich dieses Geschehen insbesondere in totalitären Staaten. Die Sonnte der Demokratie ist für sie so gefährlich, weil hier der Einzelne eine eigene Meinung hat und auch haben darf. Das große gemeinsame künstliche Licht des Gewächshauses wird in ihr nicht benötigt. Das ganz eigene Wachstum, die ganz eigene Meinung, das Eigen-Sein ist erwünscht. Und damit zerfällt die Einigkeit, die den Diktatoren so wichtig ist. Sie verstehen sich als die großen Bewahrer ihres Vaterlandes.

Und haben dabei vergessen, dass die Wahrheit keine Bewahrer braucht. So wie Kinder keine Erzieher brauchen. Man muss sie nirgendwo hinziehen. Es genügt, ihre Bedürfnisse wahr und ernst zu nehmen. Und sie immer wieder einzurahmen in guten, dem Leben dienenden Grenzen.

Voraussetzung dafür ist, ihnen selber eine wahrhaftige Beziehung vorzuleben. In der ich mir und meinen Mitmenschen nichts vormache.

Hierfür ist es gut einem Gott zu vertrauen und sich mit ihm zu verbünden, der sich selbst nicht verleugnen kann, AMEN

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Jenseits von gut und böse

Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem!“

Dieses Wort von Paulus in Römer 12 wäre doch, so dachte ich, ein gutes Leitmotiv für ein Friedensgebet.

Doch dann kamen mir Zweifel: Geht das so einfach: Hier Gutes – dort Böses?

Zweifellos: In ein Land einmarschieren ist böse. Es ist empörend. Es schürt Gefühle von Wut und Hass. Diese Gefühle polarisieren. Und Polarisierungen helfen nicht zum Verstehen.

Sie helfen nur dazu, den eigenen Hass unterzubringen.

So habe ich mich entschieden, Ihnen Gedanken mitzuteilen, die sich nicht für derart polarisierendes Denken eignen. Angeregt wurde ich durch eine alte chassidische Geschichte.

Sie handelt davon, was einen guten Lehrer ausmacht.

Sie handelt von den Grenzen des Rat-Gebens, die ein guter Lehrer kennt und an die er sich hält.

Ich habe die Geschichte auch ausgesucht in einer Zeit, in der die Angst umgeht, in der guter Rat teuer ist.

Grenze des Rats

Die Schüler des Baalschem hörten von einem Mann als von einem Weisen reden. Einige unter ihnen verlangte es, ihn aufzusuchen und seine Lehre zu erfahren. Der Meister gab ihnen die Erlaubnis; sie aber fragten weiter: ‚Und woran sollen wir erkennen, dass er ein wahrer Zaddik ist?’ ‚Erbittet von ihm’, antwortete der Baalschem, ‚einen Rat, wie ihr es anzufangen habt, damit die unheiligen Gedanken euch nicht mehr beim Beten und Lernen stören. Gibt er euch einen Rat, so wisst ihr, dass er der Nichtigen einer ist. Denn das ist der Dienst des Menschen in der Welt bis zur Todesstunde, Mal um Mal mit dem Fremden zu ringen und es Mal um Mal einzuheben in die Eigenheit des göttlichen Namens.’“ (Martin Buber, Chassidische Geschichten, Zürich 1949, S. 151. )

Das Leben des Menschen ist kein: Ich will. Auch kein: Man gönnt sich ja sonst nichts, oder: Das steht mir zu!

Das Leben des Menschen ist ein Dienst.

Ein Dienst, der zu tun ist gerade und genau an der Stelle, an der ein Mensch gerade steht.

Ein Dienst in dem Rahmen, in dem jemand in der Lage ist, ihn zu tun.

Und was ist sein Dienst-Auftrag?

Mal um Mal mit dem Fremden zu ringen… bis zur Todesstunde!“

Also: bis zuletzt!

Was heißt das?

Schnell und oft ist das Fremde eine Bedrohung des Eigenen. Das Fremde ist das mir Unbekannte, das Neue, das Unerhörte. Das Fremde löst in mir etwas aus: Es befremdet mich. Instinktiv und intuitiv versuche ich es einzuordnen, einzugemeinden. Misslingt dies, werde ich es ausstoßen, von mir wegschieben, abschieben. Gelingt auch das nicht, werde ich versuchen, es zu vernichten. Dies erleben wir zur Zeit: Den Diktatoren ist Demokratie fremd und bedrohlich. Sich darauf einlassen würde bedeuten, sich von der Diktatur zu verabschieden. Es würde das vernichten, was mühsam aufgebaut worden ist.

Für mich als Kind einer über siebzigjährigen Friedensepoche sind die grausamen Bilder des Ukraine-Krieges, die Verzweiflung der Menschen, die unmenschliche Kälte der Mächtigen fremd. Sie stören, verstören, passen nicht hinein in meine eigene Sehnsucht nach Wärme, Harmonie und Geborgenheit. Ich erlebe sie als aufdringlich – wie ein Bettler, dessen bloße Anwesenheit mich stört. Ich will nichts mit ihm zu tun haben, erinnert er mich doch daran, wie gut es mir. Sein Betteln ist ein Angriff auf mein Leben.

Lieber schaue ich mir etwas Erbauendes an. Einen Krimi, wo ich von Anfang an weiß, der Böse wird gefasst werden. Er wird nicht davon kommen, Das beruhigt meine Seele.

In der Wirklichkeit ist es so anders: Der oder das Böse, die Lüge und der Betrug, die Täuschung haben die Oberhand. Sie tragen weiße Hemden und Krawatten und sehen sehr gepflegt aus. Zum Zerstören, zum Metzeln haben sie ihre Helfer. Es greift zu kurz, zu sagen, wir sind die Guten, die Anderen sind die Bösen.

Die Frohe Botschaft, das Evangelium ist die gute Nachricht von der Anwesenheit Gottes in dieser Welt – und nicht die schlechte Nachricht von seiner Abwesenheit. Aber wo ist Gott im Grauen? Wo ist er in den eingekesselten ukrainischen Städten? Wo ist er in der Seuche von Corona? Wo ist Gott im Mittelmeer, wo die Flüchtenden ertrinken?

Ich glaube, es ist gut, sich daran zu gewöhnen, dass Gott nicht so da ist, wie ich mir das wünsche. Wie ich meine es zu brauchen.

Gott ist kein Medikament, das ich bei Bedarf nehmen kann.

Gott ist keine Droge, die mir Gelassenheit und Ruhe schenkt.

Und vor allem: Der Gott, dem ich vertraue ist kein Gott der Macht und kein Gott des Sieges.

Die unheiligen Gedanken, die mich beim Beten stören, sind mein Hadern mit der Wirklichkeit, wie sie gerade ist. Sie soll anders sein – Gott, der doch allmächtig ist, soll sie anders „machen“. Er soll meinen Polarisierungen entsprechen, er soll meine Vorstellungen von gut und böse verwirklichen.

Einheben“ heißt: Dieses Hadern in mir Halten und Aushalten. Das ist etwas Anderes, als mich meinem „Genervt-Sein“ zu überlassen.

Akzeptieren, dass ich nicht die Kraft habe, die Wirklichkeit zu verändern. Alles, was ich kann, ist, meine Haltung zu dem, was ich vorfinde, zu verändern. Ich kann mit einem harten, abweisend verbitterten Blick meine Tage leben. Und ich ich kann mit einem weichen, freundlich barmherzig-zugewandten Blick meine Tage leben.

Ich kann mich zerstreut, gehetzt und genervt fühlen – dann ist alles „viel zu viel“ –

und ich kann mich eingerahmt von der Kraft der Liebe fühlen – dann ist zu tun, was eben zu tun ist.

In dem kleinen Rahmen, der mir eben möglich ist.

Es ist diese unscheinbare Kraft der Liebe, die es möglich macht, den Dienst des Menschen, den Dienst von uns Menschen, mal um mal, Tag für Tag, zu erfüllen.

Für die Ausübung selbst gibt es keinen Rat, sagt Baalschem. Ja – wer meint, er hätte einen Rat, eine Handlungsanweisung, der ist kein wirklicher Lehrer. Denn jeder von uns steht in der Tiefe auf seinen eigenen Füßen und hat seinen ganz eigenen, einmaligen Weg durch sein eigenes Leben zu finden.

Und jeder von uns Menschen hat die Freiheit, sich auf diesem Weg von seinem Hass oder von Gottes Liebe leiten zu lassen, AMEN.

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Meditative Predigtgedanken zum 2. Advent

Kopf hoch!

„Richtet Euch auf und erhebt Eure Häupter, denn Eure Befreiung ist nahe!“

Meditative Gedanken zum 2. Advent (5. Dezember 2021)

Blicke nicht zu weit nach oben: Dann läufst du Gefahr, die Stolpersteine deines Weges zu übersehen und hinzufallen.

Blicke nicht zu weit nach unten: Dann läufst du Gefahr, einen krummen Rücken zu bekommen und von dem Leben, das dich umgibt. nichts mehr mitzubekommen.

Stell dich auf deine eigenen Beine.

Selbst-ständig. Aufrechten Hauptes. Aufrichtig!

Sicher auf dem Mutter-Boden der Wirklichkeit stehend in guter Verbindung mit der väterlichen Höhe, die dich umgibt.

Mag sein, dass die Wirklichkeit dessen, was du in jungen Jahren erlebt hast, für deine kleine, junge Seele unerträglich gewesen ist. Vielleicht sind keimende Triebe aus Unachtsamkeit kaputt gegangen. Vielleicht wurden sie auch rücksichtslos abgeschnitten. Vielleicht bist du viel zu lange allein gelassen worden, im Dunkeln gestanden, so dass du welk geworden bist. Und hast dann gierig die wenigen Sonnenstrahlen, die dich beschienen haben, aufgesogen. Oder du bist viel zu lange ungeschützt in der prallen Sonne gestanden, so dass Vieles, was wachsen wollte, verbrannte.

Wie dem auch sei: Kopf hoch!

Was war, das war. Die einzige Chance, die du in der Gegenwart hast, ist: Der Augenblick, in dem du gerade lebst!

Ich persönlich glaube aus eigener Erfahrung: Wenn du in dein Unbewusstes hinab steigst, deine Träume dir merkst und ernst nimmst und aufmerksam bist für deine Gefühle, kannst du dein Jetzt, deinen Augenblick besser verstehen. Und das wiederum hilft dir, die vermeintlich unerträglichen Gefühle von damals besser zu halten und auszuhalten. Du musst sie dann weder an dir selber, an deinem eignen Körper, ausleben noch an deinen Mitmenschen.

Du kannst natürlich auch den Weg wählen, deine Gefühle und die darin liegenden Schmerzen Tag für Tag zu betäuben. Das Preis ist chronische Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Kraftlosigkeit. Nicht selten in Verbindung mit Kopfschmerzen und anderen vegetativen Symptomen.

Und der Preis sind Durchbrüche deiner ungehaltenen Gefühle, für die du dich – wenn du mit dir ehrlich bist – dann wieder schämst.

Ich möchte dich ermuntern, der Wirklichkeit deines Lebens ins Auge zu schauen.

Ich möchte dich ermutigen, das, was du siehst, was du fühlst, was deine Intuition dir sagt, ernst zu nehmen. Versuche es auszusprechen, es in Kontakt mit dir und deinen Mitmenschen zu bringen. Lass dir nichts einreden, was dir nicht einleuchtet. Dann musst du deinen Kopf nicht hängen lassen und beschämt zu Boden schauen.

Versuche bei allem aber auch, dich in die Position deines Gegenübers einzufühlen. Einfühlen heißt, Verständnis für den Anderen zu haben, ohne ihm Recht zu geben.

Das geht nur, indem du dich nicht über deine Mitmenschen erhebst. Deine Arroganz ist nur die andere Seite deiner Depression. Beides hält dich von deinem Leben ab.

Mit erhobenen Kopf durchs Leben gehen heißt nicht, auf die Anderen herabzuschauen. Es heißt:

In der eigenen Mitte zu ruhen.

In ihr spürst du die Kraft der Liebe deines Gottes.

Mit ihr im Bunde wirst du aufhören zu hadern mit dem, wie es gewesen ist.

Mit ihr im Bunde wirst du aufhören zu hoffen, dass es irgendwann anders, besser werden wird.

Mit ihr wirst du auch aufhören dich zu ängstigen vor dem, was kommen wird.

Du weißt es nicht, du kannst es nicht wissen und du musst es auch nicht wissen.

Sei da. Sei da, wo du gerade bist.

Sei ganz da, wo du bist. Mit deinem kühlen Verstand und deinen wohltemperierten Gefühlen.

Drücke dich nicht vor deiner Verantwortung – aber überfordere dich auch nicht.

Aus deiner Mitte heraus kannst du dich vertreten.

Aufrecht und aufrichtig.

Mit Gottes Liebe in deinem Kreuz kannst du dem, was gerade ist, in die Augen schauen.

So wie du deinen Mitmenschen in die Augen siehst.

Wissend, dass auch dies nur ein Augenblick ist.

Dein Leben – die Fülle von Augenblicken. Lebe sie erhobenen Hauptes.

Steht auf und erhebt Eure Häupter, denn Eure Befreiung ist nahe.“

Die Türen deines Gefängnisses sind geöffnet.

Es liegt ausschließlich an dir, ob du den Mut hast, hindurch zu gehen.

Hinein in deine Freiheit.

Dazu verhelfe uns der stets kommende Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn, AMEN.

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Der erste Band meiner Predigten ist auch im Buchhandel erhältlich!

Unter dem Titel: „Gott geschieht im Dritten. Therapeutische Predigten Band 1“ (Fromm Verlag 2012) sind jetzt Predigten nachlesbar. Der Band enthält auch eine ausführliche Einleitung zu meinem Predigtverständnis.

Das Buch umfasst 150 Seiten und kann auch bei mir direkt (über Mail) bestellt werden. Es kostet 30 Euro.

Ein zweiter Band ist in Vorbereitung.

 

In Corona-Zeiten finden Sie einen Gottesdienst zu Karfreitag und Ostern unter folgendem Link:

 

 

 

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Der Seele Nach-Denken. Keynote beim Symposion von systemworx am 10.1.2015

Der Seele Nach-Denken.

„Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne

und doch Schaden nähme an seiner Seele?“ (Markus 8,36)

Von Lothar Malkwitz

(Unveröffentlichtes Manuskript; alle Rechte beim Autor)

VORBEMERKUNG

Andere Klänge“: wörtlich genommen → ist Ausdruck des Denkens im Konkreten.

Es ist wichtig, sich darüber Gedanken zu machen, welche Bedeutung jemand einem Wort, einem Satz verleiht. Wofür er den Satz in seinem Denken verwendet. Es gibt Menschen, die denken ausschließlich im Konkreten. Sie haben den „Transfer“ , die „Transformation“ in einen anderen Bereich nicht gelernt. „Andere Klänge“ sind dann „andere Klänge“. Dass „andere Klänge“ eine Metapher ist, „für etwas Anderes steht“, etwas anderes bedeutet, ist ihnen nicht zugänglich.

Und/oder: es ist gefährlich. Bedrohlich. Denn alles „Andere“ („Fremde“, „Unbekannte“) stellt das „Eigene“ in Frage. Je unsicherer ich meines Eigenen bin, desto bedrohlicher, verunsicherndes ist es, mich in meinem Eigenen in Frage zu stellen.

Wer mich in Frage stellt ist mein Feind!

Das hat damit zu tun, dass wir von früh an ein Denken gelernt haben, das beurteilt.

Das Klingen der Klangschale – „andere“ Klänge: ist „anders“ „besser“ oder „schlechter“ ? Ist systemische Therapie besser oder schlechter als Psychoanalyse?

In solchem Denken ist ein „Gegeneinander“ entstanden:

Tao Kapitel 2:

Erst seit auf Erden ein jeder weiß von der Schönheit des Schönen, gibt es die Hässlichkeit;

erst seit ein jeder weiß von der Güte des Guten, gibt es das Ungute.“

Ich möchte mit Ihnen gemeinsam versuchen, nicht in die Falle des Beurteilens zu tappen. Das heißt: ich will mit Ihnen versuchen, dass wir in einer Atmosphäre uns austauschen, in der Raum ist für das „Andere“, das „Fremde“.

Ein weiterer vertrauter „Klang“ oder eine vertraute „Tönung“ unseres Denkens ist es, kausal zu denken: „warum klingt die Klangschale?“ Darauf bekommt man dann eine naturwissenschaftlich korrekte Antwort:

Die Schwingungen des Schalls breiten sich in alle Richtungen aus. Das heißt, wenn wir reden, hört man das in alle Richtungen, nicht nur in die Sprechrichtung. Dieselbe Auswirkung ergibt sich, wenn man einen Stein gerade ins Wasser fallen lässt. Dabei sieht man die Ausbreitung von Wasserwellen. In der Klangschale bewirken diese Wellen durch das Phänomen der Interferenz ein Vibrieren der Schale, wodurch ein Ton entsteht usw. …“

Sie sehen: naturwissenschaftliches Denken ist konkret. Und es ist kausal: wenn … dann. Im kausalen Denken ist etwas „zerfallen“: nämlich in Ursache und Wirkung. Diese Art zu denken hat Karriere gemacht und es funktioniert hervorragend – für Maschinen. Nur: wir Menschen sind Lebewesen, unsere Seele ist etwas Lebendiges. Diese Art zu denken lässt sich auch auf Moral anwenden: dann findet ein „Zerfall“ in Täter und Opfer statt.

Ich glaube nun, dass unsere Seele eine andere Art des Denkens benötigt und auch selber anders denkt. Nämlich in „Ganzheit“. Ich glaube, dass eine gesunde Seele eine heile Seele ist (und Heil-sein heißt ja wörtlich „ganz“ „unversehrt“ sein – so gesehen waren die „Heiligen“ keine Superhelden, sondern Menschen, die sich um „Ganzheit“ bemüht haben). Und Voraussetzung des Klingens der Klangschale, des Schwingens unserer Seele ist – „aus einem Guss“ – „ganzheitlich“ zu sein.

Das Klingen der Klangschale korreliert mit weiteren Elementen, die zu ihr gehören:

diese Elemente sind: ihre Hohlheit (Leere) – Ihre Freiheit und ihr Ganzsein (aus einem Guss)

Übertragen: eine leere eine freie und eine unversehrte Seele klingt, schwingt…

Aber was ist das? Was ist überhaupt die Seele?

Versuch einer Annäherung:

Wir Menschen sind Säugetiere.

Unser auf der Welt-Sein, unser „Uns-Spüren“ hängt unmittelbar damit zusammen, dass wir Angewiesene sind. In unserer frühen Zeit, als wir klein waren, waren wir abhängig von einer Brust, die uns nährende Milch gab. Milch, die uns wachsen ließ. Dies gilt auch im übertragenen Sinne. Wir brauchen Menschen, die uns begleiten. Gefährten. Menschen, die auch in Gefahr zu uns halten, die versuchen uns zu verstehen. Das tut gut. Das nährt.

Unsere Seele ist das „Speicher-Organ“ (die Schale), in dem unsere Beziehungserfahrungen „abgespeichert“ – „ver-innerlicht“ sind. Und natürlich auch unsere Nicht-Beziehungs-Erfahrungen: unser Allein gelassen werden – unser Gebraucht- und Missbraucht-Werden, unser im Stich-gelassen-Werden usw. Dieses Organ ist bei allem, was wir erleben mit dabei. In ihm ist das Schicksal unseres Hungers nach Nahrung und nach Zuwendung abgespeichert. In ihm ist das Schicksal unserer Enttäuschungen und unseres Hasses abgespeichert. In ihm ist das Schicksal unseres Wertes und unserer gefühlten Existenzberechtigung abgespeichert. In ihm ist das Schicksal unserer Sehnsüchte und unserer Liebe abgespeichert. Und nicht zuletzt: in ihm ist das Schicksal der von uns erlebten Beziehung, die unsere Eltern zu einander hatten, abgespeichert: ihre Liebe, ihr Hass, ihr Nebeneinanderher-Leben, ihre Trauer, ihr Glück, ihr Sich-gegenseitig-Quälen. Glücklich das Baby, das in der Sicherheit einer liebevollen Elternbeziehung aufwachsen darf. Es hat gelernt, dass der „Andere“, der „Fremde“ keine Bedrohung sondern eine Bereicherung bedeutet.

Publikum: meditatives Schweigen (kleine Anleitung)

Erstens: Der Seele Nachdenken

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

die Situation, in der ich gerade bin, dürfte jedem von Ihnen bekannt sein.

Ich stehe vor einer Gruppe, die ich wenig kenne.

Ich habe einen Auftrag. Ich soll ein Referat halten.

Mit dem Auftrag verbinden sich Erwartungen.

Von Ihnen zu mir.

Von mir zu Ihnen.

Aber auch: von mir zu mir selbst.

Und: Von Ihnen zu sich selbst.

Welche Erwartungen das genauer sind, ist nur zum Teil unserem Bewusstsein zugänglich. Zum größeren Teil sind sie unbewusst. Oft merkt man erst im Nachhinein – an einem diffusen Gefühl von Enttäuschung – dass offenbar Erwartungen nicht erfüllt worden sind.

Eine ebenso häufige wie schwierige Erwartung ist die, dass „mir das auch nichts bringen wird.“ Diese Erwartung ist umso stärker, je mehr jemand fremd bestimmt an einer Veranstaltung teilnimmt. Ich denke, Sie kennen das aus Situationen, wo jemand ein Coaching „aufs Auge gedrückt bekommen hat“. Bei mir sind das die „Patienten, die eine Therapie machen müssen, weil mein Arzt, meine Frau … meint, ich brauche eine…“ (Ich arbeite mit solchen Menschen nicht.)

Erwartungen haben es an sich, Druck aufzubauen.

Mir hilft dabei folgende Einsicht:

Nicht ich lerne von Ihnen.

Nicht Sie lernen von mir.

Wir sind gemeinsam auf ein Drittes ausgerichtet, das vielleicht zwischen uns entsteht.

Zwischen uns“ – das heißt: da gibt es einen Raum. Einen „Zwischen-Raum“. Zu diesem gehört z.B., was wir hier allesamt freiwillig beisammen sind. Freiwillig verbringen wir unsere (kostbare) Lebenszeit miteinander! Ich finde es ist nicht unbedeutend – obwohl es so selbstverständlich scheint – sich dies klar zu machen!

Der Seele Nachdenken“ habe ich meine Gedanken genannt.

Wichtig ist dabei: „Nachdenken“ groß zu schreiben. Heißt: ich denke nicht über die Seele nach – sondern es geht um der Seele Nachdenken selbst.

Der Unterschied „äußerlich“ ist winzig: ob man einen Buchstaben klein oder groß schreibt.

Die Bedeutung ist etwas völlig Anderes.

Nachdenken“ klein geschrieben bedeutet: „über die Seele nachdenken“. Damit wird ein Subjekt postuliert, das gleichsam „von außen“ über die Seele nachdenkt. Die Seele wird dann zu einem Gegenstand, über den nachgedacht wird.

Der Seele Nachdenken groß geschrieben heißt: die Seele selbst ist das Zugrundeliegende, ist das Subjekt.

(N.B.: Im Hebräischen heißt Halal: jubeln, Gott preisen. Chalal bedeutet: „entweihen“ und „durchbohren“ – der Unterschied besteht darin, dass dem ersten Buchstaben eine Öffnung fehlt!)

Es ist von größter Bedeutung in unserer alltäglichen Arbeit, auf kleinste Details zu achten.

Zurück und zur Veranschaulichung:

Der Seele Nach-denken“ ist etwas anderes als „über die Seele nachdenken.“ „Über“ scheidet, legt ein „räumliches Darüber-Stehen“ nahe, wie auf einem Berg stehen, von dort aus sich einen „Über“-Blick verschaffen. In diesem Über-Blick kann man das Verständnis der Seele in den verschiedensten Kulturkreisen sich anschauen. Oder man schaut sich an, wie die Seele funktioniert, entwirft eine Lehre über die Seele.

Sie haben wohl schon bemerkt, dass ich anderes mit Ihnen vor habe.

Wir wollen versuchen, gemeinsam einen Weg zu gehen. Und dieser Weg will ermutigen, sich selbst aufzumachen, das Wagnis einzugehen, den Weg zum Erleben der eigenen Seele zu beschreiten. Bereits hier scheint der Weg schnell zu Ende zu sein: kann doch kein Buch/Vortrag dieser Welt das Erleben der eigenen Seele beschreiben. Die „Kunst“ (in des Wortes doppelter Bedeutung) ist es, einen Weg zu finden, der nahe genug am Erleben und entfernt genug von einmaliger Individualität sich bildet.

Der Seele Nachdenken“ bedeutet: „eintauchen“ in das Er-Leben der Seele selbst. Dies ist der psychoanalytische ebenso wie der mystische Zugang zur Seele.

Beispiel: man kann sich darüber austauschen, was das Wort „danke“ in den verschiedensten Sprachen bedeutet, oder man kann versuchen, „dankbar zu werden“. „Erlebte Dankbarkeit“.

Meister Eckhart hat in einer seiner Predigten gesagt: „Wäre das Wort ‚danke‘ das einzige Gebet, das du je sprichst, so würde es genügen.“

Danke“ entstammt etymologisch demselben Stamm wie „denken“. Den „Gedanken“ merkt man noch vom Wortklang her ihre Nähe zu „danken“ an. „Dankendes Denken“ ist ein Denken, das anerkennt: es kann sich nicht selbst, nicht aus sich selbst heraus erschaffen. Dankendes Denken weiß: es verdankt seine Existenz einem oder etwas Anderen. Dankendes Denken ist bezogenes Denken: bezogen in Dankbarkeit. Je tiefer ich meines Lebens als eines Geschenks gewahr werde, desto leichter geht mir das Danklied über die Lippen. Allerdings unter einer Voraussetzung: dass ich bereit bin, dieses Geschenk: „mein Leben“ zu empfangen. Dass ich bereit bin, mich diesem Geschenk: „mein Leben“ hinzugeben. Das Nachdenken der Seele ist ein dankbares. Die undankbare Seele kann nicht nachdenken. Sie muss unendlich wiederholen. „Und täglich grüßt das Murmeltier.“ Sie verwechselt die Gegenwart mit der Vergangenheit. Und auch die Zukunft ist eine Neuauflage der Vergangenheit. Sie merken: hier gibt es keine Zeit mehr. Nur geronnene Ewigkeit. Je gebrochener, „zerfallener“ die Seele ist, desto schwerer hat sie es mit dem nach-denken. Nach-denken bedeutet nämlich: immer tiefer mein Leben in seinem „So-und nicht Anders-Geworden-Sein“ zu akzeptieren. Einschließlich all‘ dessen, was meine Eltern/Erzieher/Gefährten mir schuldig geblieben sind – einschließlich all‘ dessen, was ich meinen Mitmenschen, meinen Eltern/Erziehern/Gefährten schuldig geblieben bin. Dieses Nach-Denken ist nur möglich, wenn „Vergebung“ erlebt werden kann. „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern!“

(Nebenbei: im Griechischen heißt „Dank“ „Charis“: die Grundbedeutung von „Charis“ ist „Geschenk, Gnade“…)

Diese Gedanken beruhigen. Inwiefern? Sie entlasten. Wenn Sie vor einer Gruppe stehen, sich gewissenhaft vorbereitet haben, sich große Mühe geben usw. … das Entscheidende können Sie nicht „machen“ – das Entscheidende ist: was das „anrichtet“, wohin das fällt – Sie wissen es nicht. Es ist ein „Geschenk“

Diese Gedanken beunruhigen: wir haben viel, viel weniger im Griff, als wir meinen. Unsere Gedanken können erhebliche emotionale Turbulenzen bewirken, insbesondere jene, die sich mit der Wahrheit verbünden. Früher konnte man dafür schnell am Kreuz enden. Die Welt hat er nicht gewonnen…

Je stärker die Fähigkeit zu vertrauen, desto erträglicher wird die Beunruhigung. Verschwinden wird sie wohl nie. Leben ohne Ängste kann ich mir nicht vorstellen.

Aber: Je stärker das Vertrauen, desto kleiner die Ängste.

Zu einem starken Vertrauen gehört unabdingbar ein gesundes Misstrauen – sonst handelt es sich nicht um Vertrauen sondern um Naivität. Es geht darum zu erkennen, bin ich in einem gesunden, förderlichen Prozess. Beruflich (auch privat)

Gesund heißt: ganzheitlich – dass es aufs Ganze gesehen stimmt. Dass es aufs Ganze gesehen ein konstruktiver Prozess ist. Die Alternative dazu ist Zerfall. Zerstörung.

Murmelgruppe: Wovor habe ich Angst? Sind meine Ängste diffus oder klar umschrieben?

Kenne ich Beziehungen, die von Vertrauen getragen sind? Worein vertraue ich eigentlich?

Zweitens: ZERSTÖRUNGEN

Das Problem ist, dass auch Krebsgeschwüre wachsen. Und zwar am Beginn in der Regel schmerzlos. Unser deutsches Wort „Wachstumsschmerzen“ bezieht sich auf die Schmerzen eines gesunden Wachstums. Ich weiß nicht genau, was diese Einsicht bedeutet: aber sie scheint mir der Erwähnung wert.

W. Bion hat zerstörerische Beziehungen als „parasitär“ bezeichnet: „In der parasitären Beziehung ist das Resultat für beide Partner zerstörerisch.“ Bion ist der Annahme, dass es im Besonderen der Neid ist, der zu parasitären Beziehungen führt. Neid ist ein sehr frühes Gefühl, in dem sich ein „Ich“ ausgehungert und verarmt fühlt und als einzigen Ausweg die Möglichkeit in Betracht kommt, einen „Wirt“ zu finden, den es „ausbeuten“ kann. Neid kennt keinen „Zwischen-Raum“: die Art der Verbindung ist eine solche, „sich des Anderen zu bemächtigen“. Eine Wahrnehmung des Anderen als „Anderen“ findet nicht statt.

Wie kommt es zu parasitären Beziehungen? Auf der Seite des Parasiten geht es um Existenzängste. Er braucht den Wirt, sonst verhungert er. Im Seelischen braucht der Parasit die Wärme, die Kreativität, die Lebendigkeit des Anderen. Der Wirt – auf der anderen Seite – ist süchtig nach Bewunderung. Diese Sucht macht ihn verführbar für Parasiten. Der Preis ist wie gesagt hoch: er führt zur Zerstörung der Beziehung und – im, schlimmsten Fall – zur Zerstörung von Wirt und Parasit selbst.

Ich habe als Beispiel für parasitäre Beziehungen auf somatischer Ebene bereits die Krebserkrankung genannt. Natürlich finden sich auch in Unternehmen parasitäre Beziehungen. Es ist wichtig, diese zu erkennen. Ein sicheres Element ist, wenn sie es mit Menschen zu tun haben, deren Zentrum es ist, bewundert zu werden. Marilyn Monroe hat einmal gesagt: „Berühmt zu sein ist etwas Wunderbares. Aber es wärmt nicht, wenn dich in der Nacht friert!“

Und natürlich steht hinter dem Drang, berühmt zu sein, eine tiefe Sehnsucht danach, wahrgenommen, gesehen zu werden. Nur in der Bewunderung, bzw. in meinem dringenden Wunsch, bewundert zu werden, vergesse ich, dass es gar nicht um mich, sondern dass es um ein Drittes geht und dass meine Aufgabe es ist, Medium für dieses Dritte zu sein. Dieses Dritte ist der Auftrag/ Job, den ich zu erfüllen habe – in unserem Fall, Ihnen dieses Referat zu halten. Es geht nicht darum, wie Sie mich finden, sondern inwieweit Sie mit den hier geäußerten Gedanken in Schwingung kommen können, oder eben auch nicht.

Eine andere Verführung für parasitäre Beziehungen ist Existenzangst. Wenn ich der Meinung bin, dass ich diesen oder jenen Job unbedingt brauche, sonst gehe ich ein, bin ich maximal verführbar, mich auf einer anderen Ebene ausbeuten zu lassen. Es ist so, dass das Verlassen von parasitären Beziehungen mit heftigen Ängsten einhergeht. Werde ich es überleben, wenn ich sage: das mache ich nicht – oder so mache ich nicht mit usw. ?

Auf der anderen Seite: irgendwo und irgendwie spürt meine Seele, wenn ich sie im Stich lasse oder sogar verrate, indem ich gegen meine tiefen inneren Überzeugungen etwas mache. Sie meldet mir dies zurück in Gefühlen diffuser Unzufriedenheit, leichter Reizbarkeit, depressiver Verstimmungen – und in der Suche nach Betäubungen und Ablenkungen. Auch hier gibt es individuell große Variationsbreiten.

Ich glaube, das verbreitete „burn out“ ist in der Tiefe nichts anderes, als eine ausgebeutete Seele, die nicht mehr kann. Das Problem ist, dies zu erkennen. Viele Menschen kommen zur Therapie (oder ins Coaching?) um „wieder so zu funktionieren wie bisher.“ Sie wollen die Botschaft ihrer depressiven Gefühle nicht „einsehen“ – sie wollen sie nur los haben.

Fragen: An welcher Stelle bin ich selbst in der Gefahr, ein Parasit zu sein?

An welcher Stelle bin ich in der Gefahr, mich als Wirt zur Verfügung zu stellen?

Gibt es Rückmeldungen meiner Seele, die ich ignoriere? Und wenn ja – welche?

Drittens: SCHUTZ VOR KORRUPTION

Korruption, Parasitäres findet stets in einer solchen Beziehung statt, bei der „Zwischen-Raum“ zerstört ist. Es geht um entweder (ich) – oder (du). Es gibt keinen hilfreichen „Dritten“, der die „Beiden“ schützt und hält. Andersherum: in der parasitären Beziehung findet die Korruption, der Betrug am Dritten statt. Der Dritte, das können meine Werte und Überzeugungen sein, das kann der Staat sein, das kann der betrogene Ehemann (oder -frau sein).

Noch einmal anders gewendet: in der parasitären Beziehung ist der „Dritte“ exkommuniziert: wörtlich: er darf nicht mitreden, weil ihm wesentliche Informationen vorenthalten werden. Zur parasitären Beziehung gehört wesentlich Heimlichkeit.

Es ist der gute Rahmen einer Beziehung, der diese vor Korruption schützt. Dies gilt ebenso für unsere Seele.

Eine gesunde Seele ist eine „gerahmte“ Seele. Es ist der Rahmen oder die Umrahmung, über die unsere Klangschale zum Klingen kommt. Sie können zu Rahmen auch „Grenze“ sagen oder „Vereinbarung“, oder „Regel“ oder „Setting“.

Fällt der Rahmen weg, geschieht Zerstörung. Rahmenlos heißt „ungehemmt“, „gierig“ „kein Halten mehr kennen“. Alle Ausbeutung, aller Missbrauch geschieht in Rahmenlosigkeit.

Das Problem ist, dass viele Menschen „Rahmen“ in ihrer Kindheit nicht als Sicherheit spendenden Schutz erleben durften, sondern als (über-)fordernde, hartherzige und bestrafende Instanz erlebt haben. (Das ist der Rahmen vieler Religionen, die meinen, der Weg zu Gott führe darüber, sich selbst und andere zu quälen.) So dass Leben bedeutete, sich Schlupfwinkel und Nischen zu suchen, in denen der gehasste Rahmen „ausgetrickst“ wurde. So dass viele Menschen meinen, sich „ganzheitlich“ („aus einem Guss“) an einen Rahmen zu halten, ist Selbst-Vernichtung. In der Regel wurde dies von den „Großen“, den „Eltern und Erziehern“ vorgelebt.

Jesus hat dies pointiert formuliert, wenn er sagt: „Nicht der Mensch ist um des Sabbats willen, sondern der Sabbat um des Menschen willen!“ (Markus 2,27)

Das heißt aber nun nicht: der Sabbat ist aufzulösen, der Rahmen ist zu vernichten. Im zerstörten Rahmen herrscht Anarchie, Willkür. Jeder ist dem Anderen und sich selbst ausgeliefert. Im totalitären Rahmen herrscht Diktatur. Beides ist nicht lebensdienlich. Beides trägt nicht zu seelischem Wachstum bei.

(Nebenbei: Diesen lebensfördernden Rahmen benötigen wir auch „im Inneren“. Ich arbeite gerne mit dem Modell des „inneren Parlamentes“. D.h., jeder von uns besitzt in seinem Inneren ein „Gremium“, das letztlich Entscheidungen trifft. Je totalitärer dieses innere Parlament strukturiert ist, desto wahrscheinlicher ist die Anfälligkeit für parasitäre Beziehungen im außen. Umso wichtiger ist es, auch die totalitären Stimmen im Innern wahrzunehmen und sie in die demokratisch-parlamentarische Arbeit einzubinden.)

Es geht um einen lebensfördernden Rahmen, der Wachstum ermöglicht und schützt. Dieser Rahmen entsteht wiederum irgendwo „dazwischen“: zwischen Diktatur auf der einen und Willkür auf der anderen Seite.

Unsere Gefahr als Berater, als Therapeuten als Pfarrer aber auch als Eltern ist es, weil wir so gern „die Guten“ sein wollen, den klaren Rahmen zu verwässern. Wer Kinder hat, weiß, dass das Bestehen auf einem klaren Rahmen (alleine einschlafen; Grundregeln beim Essen etc.) mit Wut und Enttäuschung einhergeht. Wenn ich zu bedürftig bin, zu viel Sehnsucht in mir trage, von meinen Kindern, Coachies, Patienten bewundert und geliebt zu werden, stehe ich in großer Gefahr, den wachstumsfördernden Rahmen dafür zu opfern. Das fühlt sich dann „toll“ und „schmerzfrei“ an – ist aber sehr gefährlich. Genau genommen bleibe ich mir selbst und den mir Anvertrauten Wesentliches schuldig.

Wir kommen also zu einer weiteren wesentlichen Fähigkeit, die mich vor Korruption schützt: die Fähigkeit, andere Menschen zu enttäuschen. Diese Fähigkeit hängt unmittelbar mit meiner Kraft zusammen, den Anderen nicht zu brauchen. Es ist nicht die Aufgabe der uns Anvertrauten, uns zu stabilisieren!

(Das ist alles leichter gesagt als gelebt.)

Erst indem ich den Anderen nicht mehr brauche, entsteht eine Freiheit, einander wirklich kennen zu lernen. Im Hebräischen wird für „kennen lernen“, „erkennen“ und „lieben“ dasselbe Wort verwendet: „jada“! („Und Adam erkannt sein Weib.“)

Der sicherste Schutz vor Korruption der eigenen Seele ist die Fähigkeit oder Kunst zu lieben. Und zwar jene Liebe, die mit Erkennen im Bunde ist. In dieser Liebe wächst eine gesunde Seele, die sich ihrer selbst bewusst ist, sich selbst achtet und liebt. Damit korreliert ganz von selber die Achtung des Anderen: „liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Und dies geschieht alles in einem guten, lebensfördernden Rahmen.

Ich komme zum Schluss:

Bernhard von Clairvaux – ein Mönch und Coach, der vor ca. 900 Jahren gelebt hat – hat den Schutz vor Korruption in folgendem Bild ausgedrückt:

Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale und nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt, während jene wartet, bis sie gefüllt ist. Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter. Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen, und habe nicht den Wunsch, freigiebiger zu sein als Gott. Die Schale ahmt die Quelle nach. Erst wenn sie mit Wasser gesättigt ist, strömt sie zum Fluss, wird sie zur See. Du tue das Gleiche! Zuerst anfüllen und dann ausgießen. Die gütige und kluge Liebe ist gewohnt über zuströmen, nicht auszuströmen. Ich möchte nicht reich werden, wenn du dabei leer wirst. Wenn du nämlich mit dir selber schlecht umgehst, wem bist du dann gut? Wenn du kannst, hilf mir aus deiner Fülle; wenn nicht, schone dich.“

Wer diese Gedanken „beherzigt“, sie in sein Herz hinein lässt, der muss davor, die eigene Seele zu korrumpieren, keine Angst haben. Der Rhythmus seines Lebens wird langsamer werden – mehr seiner eigenen Natur entsprechend. Er wird sich selbst und Andere nicht mehr ausbeuten. Er wird auch weniger gefährdet für Fremd-Ausbeutung sein.

Eine gesunde Seele ist zu einer Schale der Liebe geworden. Nicht wegen eines erhobenen Zeigefinders, nicht aus Angst vor Bestrafung hält sie sich an Grenzen, an einen guten Rahmen: sondern aus Liebe. Jene Liebe, von der es heißt:
„sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles – und sie freut sich an der Wahrheit!“ (1. Kor. 13, 7).

Exerzitien: Wie ist mein Verhältnis zu Rahmen und Grenzen? Halte ich die Beschäftigung damit für nebensächlich? Wo trickse ich, wenn es um die Einhaltung eines Rahmens geht? Und warum eigentlich?

Der Seele Nach-Denken. Keynote beim Symposion von systemworx am 10.1.2015 Weiterlesen »

Predigt über 2. Timotheus 1, 7-10 am 16. Sonntag n. Trinitatis (2010)

Liebe Gemeinde,

als ich den ersten Satz unseres heutigen Predigttextes las, musste ich an die Nacht denken, die gerade hinter mir lag. Ich war um 5 Uhr morgens wach geworden und hoffte nach dem altersbedingten Gang auf die Toilette, wieder einschlafen zu können. Über eine Stunde geruhsamer Schlaf könnte vor mir liegen, bis mein Wecker mir freundlich-bestimmt das Ende der Nacht einläuten würde. Aber anstelle eines sanften Einschlummerns spürte ich, wie Gedanken aus ihren Höhlen krochen und sich zwischen mir und meinem Wunsch, dem Morgen entgegen ruhen zu können, stellten. Diesen Gedanken war eines gemeinsam: sie hatten allesamt den Geruch von Furcht, von Sorge, von Bedenken. Die einzige Bewegungsfreiheit, die mir blieb, war, entweder mich um andere, mir nahestehende Menschen zu sorgen, oder um mich selbst. Die furchtsam-düsteren Gedanken selbst ließen sich nicht verscheuchen.

Gott hat uns nicht den Geist der Furcht gegeben.“ Das ist der erste Satz unseres Predigttextes aus dem 2. Timotheusbrief. Das ist ein klarer Satz. Es war offenbar der „Geist der Furcht“, der mir den Schlaf raubte. Das kann ich jetzt rückblickend klar erkennen. Nur in der Situation war mir diese Erkenntnis nicht gegeben. Der Geist der Furcht hatte mein Denken gefangen genommen.

Ich erzähle Ihnen dies so persönlich, liebe Gemeinde, weil sich biblische Texte sehr dazu eignen, so zu tun, als gäbe es diesen „Geist der Furcht“ nicht. Als hätten wir diesen Geist ein für allemal besiegt, in Christus Jesus, unserem Herrn. Der – wie wir vorhin hörten – ja sogar Tote auferwecken kann. Als ginge es darum, nur fest genug an den allmächtigen Retter Jesus Christus zu glauben, und alle Probleme verschwinden „wie von selbst“.

Meine Botschaft ist eine andere. Und sie kommt aus meinem persönlichen Erleben. Als ich angefangen habe, Theologie zu studieren, hatte ich gehofft, ich würde hier etwas finden, was mir meine Ängste und Befürchtungen nehmen könnte. Einen Heiland, einen Retter: danach sehnte ich mich. Texte und Verheißungen gab es genug. Nur irgendwie wollten sie bei mir nicht greifen. Meine Ängste wurden nicht weniger, sondern eher mehr. So wandte ich mich der Psychoanalyse zu. Mit der alten Hoffnung, hier die Rettung zu finden. Auch diese Hoffnung erfüllte sich nicht.

Erst allmählich begann ich zu verstehen, dass die „Hoffnung auf Rettung“ selbst das Problem ist. Sie hat nämlich einen großen Nachteil: sie vertreibt mich aus der Gegenwart. Sie verführt mich dazu, die Gegenwart zu schwächen, weil „das Eigentliche ja erst noch kommt.“ Und je älter ich werde, desto gewisser steht fest: soviel „Eigentliches“ wird nicht mehr kommen.

So ist die „Hoffnung auf Rettung“ nur die Kehrseite des „Geistes der Furcht“. Ein erhoffter Gott, der mich retten wird, ist ein schwacher Gott. Und ein schwacher Gott ist ein Widerspruch in sich.

7 Gott hat uns nicht den Geist der Furcht gegeben, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ So lautet der vollständige erste Satz unseres heutigen Predigttextes. Das sind also Kennzeichen eines starken Gottes: „Kraft, Liebe, Besonnenheit“.

Kraft, griechisch „dynamis“ – Dynamit! Dynamit, das ist Sprengkraft. Mit Dynamit kann man Mauern und Gefängnisse sprengen. Mit Dynamit kann man Verbindungen zwischen Bergen schaffen. Man kann es aber auch zur Zerstörung verwenden. Wie stets, geht es um die Frage der guten Verwendung. Göttliches Dynamit wird verwendet, auf dass die Liebe offenbar werde. Göttliches Dynamit will die Fesseln sprengen, mit denen „der Geist der Furcht“ versucht, uns gefangen zu nehmen. Göttliches Dynamit erweckt Lazarus zum Leben: „Lazarus“ – das heißt „Gott hilft.“ Nicht: Gott wird helfen, sondern Gott hilft, und zwar jetzt. Nicht: es gibt keinen Tod, sondern: das Leben findet hier statt, im Hier und Jetzt. Und gutes Leben fließt aus einem lebendigen „Gott hilft“-Vertrauen.

Die Kraft des Vaters zeugt die Liebe des Sohnes. Die Liebe, das zweite Attribut göttlichen Geistes, ist gezeugt aus Dynamit. Nicht gemacht, nicht fabriziert, sondern gezeugt. Diese dynamische Liebe lässt sich nicht herstellen, manipulieren. Sie geschieht aus und in der Kraft des Schöpfers. Wer dies nicht erträgt, der kann nur gemachte Liebe erleben. Gemachte Liebe ist künstlich hergestellte. Sie gleicht einem Schwimmbecken. Dynamische Liebe hingegen gleicht einem Wildbach, der sich selbst sein Bett sucht. In der gemachten Liebe suchen wir die Beweise der Zuneigung, sind der Beziehung unsicher. Zweifel und Furcht müssen niedergehalten werden. Echte Liebe lebt. Und das ist genug.

Aber nicht maßlos. Oft wird Liebe mit: „ich setze mich über alle Grenzen hinweg“ verwechselt. Das ist der Stoff, aus dem die Liebes-Affären sind, aber nicht die Liebe. Reife Liebe hält sich an Grenzen. Liebe leben heißt, in Grenzen leben. Wildbach – aber nicht Überschwemmung. Die Griechen hatten hierfür das Wort „Besonnenheit“, das für sie auch „geistige Gesundheit“ bedeutete. Gesundheit hat mit Ganzheit zu tun. Eine gesunde Beziehung ist eine Beziehung, die aufs Ganze gesehen stimmt und niemand schädigt. Dies gilt sowohl für die Beziehung zu meinem Körper und zu meiner Seele als auch für die Beziehung zu meinen Mitmenschen. Gesunde Beziehungen geschehen als dynamische Beziehungen, voller Kraft, voller Liebe und voller Maßhaltung. Diese Drei ergänzen sich nicht nur gegenseitig, sondern bauen sich gegenseitig auf, helfen sich gegenseitig zu gutem, fruchtbarem Wachstum. In der Dreiheit von Kraft, Liebe und Besonnenheit wachsen ganzheitliche Beziehungen.

8 Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserem Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener bin, sondern leide mit mir für das Evangelium in der Kraft Gottes.“

Wer in diesem trinitarischen Geist steht und lebt, warum sollte sich der schämen? Schamgefühle und Schuldgefühle sind es, die Lazarus, die „Gott hilft“ in seine Sterbehöhle treiben. Wer als Kind für seine unmittelbare Kraft und spontane Liebe beschämt worden ist, der zieht sich in seine Höhle zurück. In seiner Höhle hat er Graffitis gesprüht, die ihn darin bestätigen sollen, dass es gut ist, seine Höhle nicht zu verlassen. „Dem und dem werde ich nie verzeihen“, heißt so ein Spruch. Oder: „Ich kann nichts, bin nichts wert.“ Oder: „Die anderen haben es besser als ich.“ Oder: „Was bringt es mir, wenn ich auf andere Menschen zu gehe?“ Diese düsteren Leitsprüche schlagen sich in der Seele von Kindern und später Erwachsenen nieder, die in einem Klima von Schuldzuweisung, Vorwürflichkeit und Beschämung aufgewachsen sind.

Wer es nun wagt, sich von der Kraft der Liebe zu neuem Leben erwecken zu lassen, der bekommt es wieder mit diesen Sprüchen zu tun. Darf und kann er sich wirklich von ihnen trennen? Darf und kann er es wagen, seine Sterbe-Höhle zu verlassen? Ohne Schmerz und Leid geht es nicht. Wem die Kraft fehlt, seelische wie körperliche Schmerzen und Leiden zu ertragen, der wird in der Höhle seiner Einsamkeit bleiben. Die „frohe Botschaft“, das Evangelium der Lebendigkeit befreit nur mit Schmerzen. Aber die in ihr steckende „Gott hilft“-Kraft stärkt zugleich auch und ermöglicht, Leid zu ertragen.

9 Er hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem Ratschluss und nach der Gnade, die uns in Jesus Christus gegeben ist vor der Zeit der Welt, jetzt aber offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilands Jesus Christus, der dem Tod die Macht genommen hat und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium.“

Er hat uns berufen, man könnte genauso gut sagen: sie hat uns berufen: sie, das ist die Kraft der Liebe, die uns Menschen täglich ruft, ruft mit heiligem Ruf. Heilig, das heißt heil, unversehrt, ganzheitlich, integrativ, unbeschädigt. Überall, wo echte Liebe ruft, geschieht Heilung, Versöhnung, Wiedergutmachung … und Dankbarkeit.

In Klammern: Echte Liebe ruft niemals zu Hass auf. Wenn fundamentalistische Christen in Amerika zum Hass gegen den Islam aufrufen, öffentlich den Koran verbrennen, dann können sie sich auf viel berufen: aber nicht auf die Botschaft der Liebe. Leider können sie sich aber auf die Bibel berufen, leider können sie sich auch auf viele Stellen in den Briefen des Paulus berufen, nämlich überall da, wo er jenen Vergeltung androht, die nicht seine christliche Mission unterstützen. Bis hin zu jener makabren Stelle im 1. Korintherbrief, wo er für die Todesstrafe bei einem Unzuchtvergehen plädiert. (1. Kor. 5,5) Und leider können sich die Prediger des Hasses auch auf all jene Sätze berufen, die einem christlichen Fundamentalismus das Wort reden. Man kann auch unseren Text fundamentalistisch auslegen: dann ist Jesus Christus der absolute Mensch-Gott, der allen, die an ihn glauben, vor dem Tod rettet – und alle anderen natürlich nicht.

Ich möchte zurückkehren zur Botschaft der Liebe.

Die Kraft der Liebe hat uns berufen, und ruft uns: jeden Tag, jede Stunde … jetzt. Sie ruft uns mit einer leisen Stimme. Sie ruft uns, ohne sich besitzen zu lassen. Sie ruft uns, ohne uns besitzen zu wollen. Sie ist unserem Tun und Machen entzogen. Sie ist auch der Zeit entzogen, sie ist vor aller Zeit und nach aller Zeit und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und was ist die Ewigkeit? Die Ewigkeit ist die Gegenwart des Ein-Atmen und des Aus-Atmen.

Nicht wir Menschen als Individuen sind unsterblich, sondern die Kraft der Liebe, die im Geist maßvoller Besonnenheit webt und wirkt. Diese Kraft der Liebe nennen wir Christus und verbinden sie mit jenem Jesus aus Nazareth, der sie in ganz besonderer Weise gepredigt und gelebt hat. Indem wir Anteil haben an dieser Liebe und in ihr leben, haben wir Anteil am ewigen Leben. Dies ist das „unvergängliche Wesen“, das in und durch Christus „ans Licht gekommen ist“.

Liebe Gemeinde,

schöne Worte, mögen Sie sich jetzt denken, aber kann man sie auch zum Leben verwenden? Habe ich nicht selbst gesagt, dass ich nicht mehr einschlafen konnte, gefangen genommen vom Geist der Furchtsamkeit? Wo war da die Kraft der Liebe?

Stimmt. Und ich vermute, das wird mir immer wieder auch passieren. Deshalb wollte ich Ihnen das sagen. Denn zum Mensch-Sein gehört nicht nur die Liebe, sondern auch der Hass, nicht nur der Mut, sondern auch die Furcht. Und der Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit lässt sich nicht besitzen. Man kann nur auf ihn trauen, man kann um ihn beten, man kann auf ihn hoffen.

Und – wer diesen Geist einmal erleben durfte, der will immer wieder zu ihm zurück kehren.

Als ich aufhörte, mich gegen meine furchtsamen Gedanken zu wehren, als ich aufhörte, meine Schlaflosigkeit zu hassen, begann ich mich zu beruhigen. Und in der Beruhigung zählte ich mein Einatmen und mein Ausatmen. Ich versuchte bis „Neun“ zu kommen. Wenn mich meine Gedanken wegtrieben, fing ich wieder von vorne an.

Und so begann ich zu mir zu kommen. Der Geist der Furcht hat nämlich nur Macht über uns, wenn wir nicht bei uns sind. Im Bei-mir-Sein bin ich in Christus. Und in Christus bin ich eine neue Kreatur. In Christus benötige ich keine Rückzugs-Höhlen mehr. Oder anders: Mein Rückzug ist Christus selbst. So werde ich hinein verwandelt in den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. So atme nicht mehr ich, sondern Christus atmet in mir. Im Einatmen lächle ich meiner Seele zu, im Ausatmen gebe ich meine Seele dankbar hin.

Und dazwischen, zwischen einatmen und ausatmen –

ja dazwischen können wir einen Hauch der Ewigkeit erleben … AMEN.

Predigt über 2. Timotheus 1, 7-10 am 16. Sonntag n. Trinitatis (2010) Weiterlesen »

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