Predigten

Verteidigung der Böcke – oder: vom gespaltenen Denken

Predigt über Offenbarung 2, 8-11 am vorletzten Sonntag im Kirchenjahr 2018

Liebe Gemeinde,

wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.“

Mit dieser nicht sehr einladenden Sentenz begann unser heutiger Gottesdienst.

Das passt zu einer bestimmten religiösen Erziehung, die manche von uns kennen werden: „Der liebe Gott sieht alles!“ Oder: „Warte nur, wenn der Nikolaus kommt, der weiß alles, was du gemacht hast.“

Es soll Angst machen. Und die Angst soll dazu führen, sich „richtig“ zu benehmen. „Richtig“ heißt dann: so wie man das macht. Und vor allem: wie ich das von dir erwarte. Wie ich das für richtig halte.

Die alte indogermanische Wurzel von „richtig“ lehrt uns, dass dies ursprünglich gar damit nicht gemeint ist. *Reg-: „aufrichten, lenken, recken, gerade richten“. Dann auch: „richten, führen, herrschen“ Lateinisch: „rectus“ gerade, geradlinig, richtig, recht, sittlich gut. Dazu gehört dann auch „rex“ – der König; „regula“ – die Regel usw.

Wenn wir diese Wurzel von ihrem moralischen Beigeschmack befreien, dann bedeutet sie: es gibt eine Instanz, eine Regel, der gegenüber sind wir „offenbar“.

Wir sind „bekannt“.

Anders ausgedrückt: ich kann mir selber lebenslang etwas vormachen, ich kann mich belügen, „in die eigene Tasche lügen“ – das ändert nichts daran, dass es eine Wahrheit gibt, die steht einfach da. Ich glaube, jeder von uns, jeder Mensch hat in der Tiefe eine Ahnung über sich, wer er wirklich ist, was ihn wirklich bewegt und antreibt. Je „peinlicher“ er diese Ahnung empfindet – desto mehr wird er sein Leben danach ausrichten, diese Wahrheit vor sich selbst und natürlich vor anderen zu verstecken.

Dieses Verstecken kostet viel Energie und führt zu Erschöpfung, Müdigkeit bis hin zu psychosomatischen Beschwerden.

Der Gegenspieler ist meine innere „Regel“ oder Einteilung des Lebens in richtig und falsch, gut und böse. Je verständnisloser meine „innere Instanz“ gegenüber meiner Lebendigkeit ist, je grausamer sie mich bestraft für all das, was mir Freude und Spaß macht, desto „verklemmter“ werde ich leben müssen. Desto mehr wandert meine Lust dann in den „Untergrund“. Das ist der Stoff für die Skandale, wenn etwas „auffliegt“: die Pornoseiten, die ein Politiker besuchte, der sexuelle Missbrauch von Abhängigen usw.

Das ist auch der Stoff, aus der die Überheblichkeit der Moralischen, der „Gut-Menschen“ gewoben ist. Indem ich mich mit meinem vermeintlichen Besser-Sein über die Anderen erhebe, habe ich die Verbindung zu Gott, der die Liebe ist, zerstört.

Eine lieblose Moral führt vor allen Dingen zu einem: zu Hass.

Das vorhin gehörte Evangelium (Matthäus 25,31-46), das ich in seiner Spaltung nicht als „Wort Gottes“, jedenfalls nicht als Wort eines barmherzigen, heilsamen, liebevollen Gottes (an)erkennen kann, ist Ausdruck einer Moral, die nicht auf Liebe sondern auf Hass gründet. Dazu gehört die Schuldzuweisung und die grausame Bestrafung derer, die nicht „recht“ sind – das sind die „Linken“ und die „Böcke“. (Nebenbei: Ich bin noch so erzogen worden, dass es hieß: „Gib die schöne Hand!“ Das war natürlich die Rechte. Ironischerweise war meine Mutter, die mir das beibrachte, selbst Linkshänderin.) Und die „Böcke“ – das sind einfach nur die männlichen Tiere – sie kommen zur Linken und werden grausam bestraft. (Heutzutage werden die männlichen Tiere auf Hühnerfarmen nicht bestraft sondern geschreddert. Sie sind nutzlos. Aber es gibt seit einiger Zeit auch die Möglichkeit Eier zu kaufen, die die männlichen Tiere aufziehen, um sie dann als „Landgockel“ zu schlachten. Dies ist ein ungleich wertschätzender Umgang mit Lebewesen. Und es ist ein Ausdruck moralischer Überheblichkeit, sich besser zu finden und zu fühlen, wenn man Eier aus derartigen Betrieben kauft. Aber es ist ein Ausdruck von Liebe für das Leben, für die Lebewesen, wenn man solche Eier kauft.)

In der grausamen Bestrafung bringt der, der im vermeintlichen „Dienste“ der Moral handelt, seinen eigenen Hass und seine eigene Lust an der Gewalt unter. Wunderschön wird dieser Missbrauch von christlicher Moral in dem Film „Das weiße Band“ dargestellt.

Eine andere Veranschaulichung dieser Moral, deren Quelle Hass ist, sind die Sätze von Herrn Trump: stets gibt es die „Böcke“, das sind die die schuld sind – bei den Waldbränden in Kalifornien sind es die Menschen, die in der Forstverwaltung arbeiten – und stets ist einer völlig unschuldig und macht den besten Job. Und natürlich haben die Waldbrände nichts mit Klimawandel zu tun. …

Nun ist diesem zweifelhaften Evangelium ein Predigttext zugeordnet, der ebenfalls in höchstem Grade missbrauchbar ist. Hören Sie selbst:

Und dem Engel der Gemeinde in Smyrna schreibe: Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und ist lebendig geworden: Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut – du aber bist reich – und die Lästerung von denen, die sagen, sie seien Juden, und sind’s nicht, sondern sind die Versammlung des Satans.

Fürchte dich nicht vor dem, was du leiden wirst! Siehe, der Teufel wird einige von Euch ins Gefängnis werfen, damit ihr versucht werdet, und ihr werdet in Bedrängnis sein zehn Tage.

Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“ (Off. 2, 8-11)

Um gleich mit dem schlimmsten zu beginnen: natürlich ist dieser Text dafür missbraucht worden, den jüdischen Gottesdienst in der Synagoge als „Versammlung des Satans“ zu bezeichnen. Das geht freilich nur, wenn man sich nicht die Mühe macht, den Text genau zu lesen. Nur – wem es darum geht, Hass zu schüren, Propaganda zu machen und zu hetzen – der schaut nicht genau hin. Das erleben wir derzeit von den modernen Propaganda-Machern Tag für Tag. Genau hingeschaut steht da: „die sagen, sie seien Juden, und sind’s nicht, sondern sind die Versammlung des Satans.“ Mit anderen Worten: es sind eben nicht Juden – sondern es sind welche, die sich als Juden ausgeben, das Vorurteil gegenüber den Juden benützen und verwenden für ihre eigenen Hasstiraden. Das ist auch ein verbreitetes Geschehen: um die eigenen Vorurteile zu bestätigen, wird einem Unschuldigen (z.B. Asylbewerber, oder einem Arbeitslosen etc.) die Schuld in die Schuhe geschoben.

Ein aktuelles Beispiel in Pullach: männliche Jugendliche unter 25 Jahren werden derzeit gehäuft aufgehalten und einem Drogentest unterzogen. Mit dem Argument: dass es immer wieder zu Unfällen unter Drogeneinfluss komme. Wenn ich jedoch aufmerksam den Polizeibericht im Isar-Anzeiger lese, bin ich immer wieder überrascht, wie viele alte Menschen schuldhaft in Unfälle verwickelt sind.

Dass deren Fahrtüchtigkeit regelmäßig überprüft wird, ist mir allerdings nicht bekannt.

Aber geht das: ein Denken und Fühlen, bei dem keine „Böcke zur Linken“ entstehen?

Ein Denken und Fühlen ohne Sünden-Böcke?

Lassen Sie es uns anhand einiger Gedanken aus unsrem Predigttext versuchen.

Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut …“

Heißt: vor mir musst du dich nicht verstecken in deiner Bedürftigkeit, in deinem Arm-Sein, in all dem, was du nicht kannst. Ich kenne dich – ich sehe dich, ich nehme dich wahr.

Es gibt eine dazu ein wunderschönes Gedicht von Carl Johann Philipp Spitta:

Herzenskündiger, du mein Gott und Herr!

Ach du weißt es, wie ich’s meine,

was ich bin und was ich scheine,

meines Herzens Grund ist dir klar und kund.

Und weiter:

Vor dir hingestellt,

jede Hülle fällt.

Ach vor deinem Angesichte

steh ich erst im rechten Lichte,

was ich bin vor dir,

das bin ich in mir.

Dies ist nur denk- und dichtbar in einer liebvoll-zugewandten Haltung.

Und so heißt die letzte Strophe:

Gib den Kindesgeist,

der dich Vater heißt!

Dass mit kindlichem Vertrauen

ich dir in die Augen schauen

ja, mich freuen kann,

siehest du mich an.

Dieses Vertrauen ist es, das Veränderung ermöglicht. Denn vor aller Veränderung kommt die Wahrnehmung seiner selbst, die Selbsterkenntnis. Genauer: das Erleben seiner selbst. Und dazu bedarf es eines vorauseilenden Vertrauens, dass diese Bewegung hin zu mir gut geht.

Das soll ich sein?“

Alleine sich dieser Frage zu stellen erfordert Kraft und Mut.

Meinem ungeschminkten „nackten Ich“ in’s Auge zu schauen – wenn „jede Hülle“ fällt. Wenn ich aufhöre, mir selbst etwas vor zu machen. Wenn ich aufhöre, in mein Scheinen zu investieren – und anfange, mich auf mein Sein zu besinnen.

Nur im Sein wendet sich Gott mir, wende ich mich Gott zu. Nur im Sein verbinde und verbünde ich mich mit dem Gott, der sich in Jesus Christus einen Namen gemacht hat: als Gott der armen Leute, als Gott der Leidenden und Bedrängten, als Gott derer, die ohne Macht sind.

Und als Gott der „schwarzen Schafe“ und „Sündenböcke“.

Hier gehört übrigens der Satz hin: „Eher geht ein Kamel durch das Nadelöhr als ein Reicher ins Himmelreich!“ Und zu dem reichen Jüngling: „Verkaufe alles, was du hast, und folge mir nach!“ Damit ist nicht das Verkaufen „im außen“ gemeint. Das ist nicht so schwer. Schwer ist das Verkaufen im Inneren. Die Aufgabe eines Denkens, das ich so sehr gewohnt bin. Eines Denkens, das davon lebt, dass es die „schwarzen Schafe“ oder die „Böcke“ von den „Guten“ trennt.

Wisse, dass das äußere Auge der Schatten des inneren Auges ist: Was das innere Auge sieht, dem wendet sich das äußere Auge zu.“ (Rumi)

Wenn mein inneres Auge mich als Versager, als Nichtsnutz als „nutzlosen Bock“ sieht, werde ich alles darauf setzen, mir und der Welt zu beweisen, keiner zu sein. Dann muss ich z.B. Karriere machen, erfolgreich sein usw. Und dann brauche ich andere Menschen, bei denen ich meine eigenen „Bock-Seiten“ unterbringe: das sind dann die Sozial-Schmarotzer, die Asylbewerber, oder auch die SUV-Fahrer, Reichen, „die da oben“. Entscheidend ist – dass ich all das, was ich bei mir nicht anschauen will, bei den Anderen unterbringe.

Wenn mein inneres Auge die Barmherzigkeit Gottes sieht und ausstrahlt, dann wird diese wie von selbst auf mich und meine Mitgeschöpfe zurück und hinaus strahlen.

Dies alles aber geschieht nur in dem unerschütterlichen Vertrauen darein, dass alles, was mir widerfährt „in Ordnung“ ist. „Richtig“ ist.

Dass ich richtig bin.

Ich weiß aus meinem Alltag: Ich kann das viel leichter predigen als leben.

Alles, was ich kann, ist, mich bei allem, was mir entgegen kommt, möglichst nicht „aus der Liebe raus bringen“ zu lassen. Der Macht der Liebe zu vertrauen und nicht der Macht der Mächtigen. So verstehe ich den Satz: „Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“

Diese liebevollen Gedanken sind Balsam für meine Wunden. In ihnen finde ich Möglichkeiten, nicht mehr die Welt und alles, was ich erlebe, in Täter und Opfer aus einander zu reißen. Mit einem Mal stehen die Böcke auf der linken Seite genauso „aufrichtig“ vor Gott wie die Schafe auf der rechten Seite. Beide, Schafe und Böcke gehören zu mir. Aus dieser Liebe heraus speise ich den Hungrigen in mir und im außen, reiche ich Wasser dem Durstigen. Ohne mich deshalb besser, moralisch „hochwertiger“ zu fühlen. In der Liebe bleibe ich gelassen, auch wenn ich mich sehr ungerecht behandelt fühle. Auch wenn ich verspottet werde. Jesus ist auch verspottet worden.

In dieser Liebe lege ich mein Sinnen auf Rache beiseite. Lasse ich meinen Hass auf die Egoisten dieser Welt ins Leere laufen.

In der Liebe ertrage ich alles – und bleibe frei, indem ich den Anderen nicht mehr verändern muss.

Und dies alles nicht, um einen vorderen Platz im Reich Gottes zu erhalten.

Warum dann?

Weiß ich auch nicht.

Einfach so.

Weil ich so leben will, weil ich gerade so spüre, dass Gott mir nahe ist.

Es mag für viele idiotisch sein.

Es gibt auch eine Stimme in mir, die mich für einen Idioten hält.

Das kann ich nicht ändern.

Ich habe genug damit zu tun, alltäglich ein wenig davon zu leben.

Und jeden Abend zu beten: „Gott sei mir Sünder gnädig!“ AMEN.

Zum Nachklingen der Predigt noch eine Geschichte:

Die Weißen oder die Schwarzen? (Nach A. De Mello)

Ein Schäfer weidete seine Schafe, als ihn ein Spaziergänger ansprach. „Sie haben aber eine schöne Schafherde. Darf ich Sie in Bezug auf die Schafe etwas fragen?“ – „Natürlich“, sagte der Schäfer. Sagte der Mann: „Wie weit laufen Ihre Schafe ungefähr am Tag?“ – „Welche, die weißen oder die schwarzen?“ „Die weißen.“ – „Die weißen laufen ungefähr vier Meilen täglich.“ – „Und die schwarzen?“ „Die schwarzen genauso viel.“ „Und wieviel Gras fressen sie täglich?“ – „Welche, die weißen oder die schwarzen?“ – „Die weißen.“ – „Die weißen fressen ungefähr vier Pfund Gras täglich.“ – „Und die schwarzen?“ – „Die schwarzen auch.“ „Und wieviel Wolle geben sie ungefähr jedes Jahr?“ – „Welche, die weißen oder die schwarzen?“ – „Die weißen.“ – „Nun ja, ich würde sagen, die weißen geben jedes Jahr ungefähr sechs Pfund Wolle zur Schurzeit.“ – „Und die schwarzen?“ – „Die schwarzen genauso viel.“

Der Spaziergägner war erstaunt.

„Darf ich Sie fragen, warum Sie die eigenartige Gewohnheit haben, Ihre Schafe bei jeder Frage in schwarze und weiße aufzuteinel?“

„Das ist doch ganz natürlich“, erwiderte der Schäfer, „die weißen gehören mir, müssen Sie wissen!“ – „Ach so! Und die schwarzen?“ – „Die schwarzen auch“, sagte der Schäfer.

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„Jedermann sei der Demokratie untertan!“

Predigt über Römer 13, 1-7 am 23. Sonntag nach Trinitatis 2018

Liebe Gemeinde,

jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat.“

Mit diesem Appell beginnt unser heutiger Predigttext aus dem Römerbrief.

Warum soll das so sein?

Denn es ist keine Obrigkeit, außer von Gott: wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott eingesetzt.“

Unter weiter:

Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen.“

Und warum dies?

Denn die Gewalt haben, muss man nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke.“

Recht verstanden: die bösen Werke beziehen sich auf die „Untertanen“: sie müssen die Obrigkeit wegen „böser Werke“ fürchten, nicht aber wegen guter Werke.

Dass die Obrigkeit selbst „böse Werke“ tut, das ist für Paulus – jedenfalls in diesem Textabschnitt – undenkbar.

Was ist denn Obrigkeit?

Als Obrigkeit (superioritas) wurden in hierarchisch organisierten Gemeinwesen seit dem späten Mittelalter bis in die Moderne hinein diejenigen Personen oder Institutionen bezeichnet, die rechtmäßig oder auch nur aufgrund eigener Anmaßung (Usurpation) die Herrschaft ausübten und die rechtliche und faktische Gewalt über die Untertanen besaßen. Die Untertanen schuldeten ihrer Obrigkeit Gehorsam.

Historisch unterscheidet man zwischen geistlicher und weltlicher Obrigkeit. Zur Ersteren gehörten die kirchlichen und religiösen Oberen, so etwa der Papst, die Bischöfe und die Äbte, aber auch evangelische Superintendenten. Der Pfarrer galt für seine Gemeinde ebenfalls als vorgesetzte Obrigkeit. Weltliche Obrigkeit waren die Könige, Fürsten, Grundbesitzer usw.“ (Wikipedia)

In diesem Sinne gibt es bei uns keine Obrigkeit mehr: denn der Souverän (der „Inhaber der Staatsgewalt“) das sind Sie und ich: „wir sind das Volk“.

So jedenfalls die Theorie. Von daher kann man sich fragen, inwieweit es überhaupt sinnvoll ist, über einen Text zu predigen, der eine gesellschaftliche Situation voraussetzt, die heute nicht mehr gegeben ist.

Ich möchte den Text als Anregung dafür nehmen, sich Gedanken zu machen über das Thema: Autorität, Macht, Herrschaft und Verführung.

Unser Wochenspruch verweist ja auch auf eine „Obrigkeit“, auf einen König, dessen Reicht nicht in und nicht von dieser Welt ist: „Dem König aller Könige und Herrn aller Herren, der allein Unsterblichkeit hat, dem sei Ehre und ewige Macht.“ (1. Tim. 6, 15-16)

Im Zusammenhang des Timotheusbriefes ist das natürlich Jesus Christus. Sie kennen von romanischen Kirchen die Darstellung Jesu als den „triumphierenden“.

Christus triumphans.

In der Reformation wurde der Christus patiens, der leidende Christus in den Mittelpunkt gerückt.

Triumph und Leiden, Palmsonntag und Karfreitag sind zwei Seiten derselben Medaille. All-Macht (der triumphierenden Christus ist der „Pankreator“) und Ohne-Macht (der einsam am Kreuz sterbende Christus) – auch dies zwei Seiten einer Medaille. Es ist „heilsam“, beide Seiten zusammen zu sehen. Sonst bin ich fixiert,

gefangen in einem „Entweder-oder-Denken“.

Dies ist die Falle, die die Pharisäer Jesus stellen wollten: „nun gingen die Pharisäer und hielten Rat, wie sie ihn bei einem Ausspruch (logos) fangen könnten.“ Es ist die Falle der Zwei. Deshalb hat man die Zwei auch die Zahl des Teufels genannt. Soll ich das, oder das das machen. Ich kann mich nicht entscheiden!

Diese Falle schnappt nur dann zu, wenn es kein Drittes gibt. Das verbreitete Entweder-oder-Denken ist ein Denken in Gefangenschaft: der Durchbruch zum „Dritten“, zum Sowohl-als-Auch führt in die Freiheit. Jesus ist ein Lehrer dieses befreiten Denkens und Erlebens.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Galater 5,1a)!

In der Politik ist das Dritte der zu erringende Kompromiss. „Kompromiss“, lateinisch „compromissum“ „sich gegenseitig versprechen“ bedeutet ursprünglich: „die Entscheidung eines Rechtsstreites einem von beiden Seiten gewählten Schiedsrichter zu überlassen.“ Wie immer im Leben hat auch diese an sich gute Idee einen dunklen Schatten: so entwickelte sich im Französischen das Verbum „compromettre“ – deutsch: „kompromittieren“. Und das bedeutet, dass der Dritte nicht vermittelt, sondern bloß stellt. Und genau darum ging es den Pharisäern: sie wollten Jesus in und mit seinen eigenen Worten fangen und bloßstellen – eben „kompromittieren“.

Jesus antwortet, indem er unterscheidet. Dem Kaiser ist zu geben, was ihm zusteht – und Gott ist zu geben, was diesem zusteht.

Theresa von Avila hatte ähnlich geantwortet, als sie gerade fastete und in eine Tafelrunde kam, wo es leckeren Fasan gab. Man sagte ihr, dass sie wohl nicht mit essen würde, da sie ja fastete. Und sie antwortete heiter: „Fasten ist fasten und Fasan ist Fasan!“ Und ließ es sich schmecken.

Das Entweder-oder-Denken hingegen führt zu dogmatischer Erstarrung und Humorlosigkeit. Das Sowohl-als-auch-Denken entspringt einer heiteren Mitte. Die sogenannten „Populisten“, die zur Zeit soviel Zulauf genießen, sind ausgesprochen humorlose Zeitgenossen. Vielleicht erklärt dies, dass in totalitären Regimen die besten Witze erfunden wurden. Der Witz als Ventil!

Aber zurück zu unserem Predigttext: ich denke es wird ihnen nicht entgangen sein, wie meine Gedanken um den Text des Paulus „mäandern“ – ähnlich der renaturierten Isar. Daran ändert auch der zweite Abschnitt des Textes nichts:

„Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes; so wirst du Lob von ihr erhalten. Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst: sie ist Gottes Dienerin und vollzieht das Strafgericht an dem, der Böses tut. Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen. Deshalb zahlt ihr ja auch Steuer; denn sie sind Gottes Diener, auf diesen Dienst beständig bedacht. So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt.“

Abgesehen vom letzten Satz: „so gebt nun jedem, was ihr schuldig seid“, kann ich dem Text wenig Nahrhaftes abgewinnen. Er lässt sich mühelos für falsche Anpassung und Duckmäusertum missbrauchen. Der Gedanke, dass eine Obrigkeit selbst korrupt geworden ist, dass ein Führer nicht dem Wohl seines Volkes, sondern der Entfaltung seiner eigenen selbstherrlichen Machtgelüste verpflichtet ist, ist nicht denkbar.

Es sei denn, man überschreibt den Text mit unser Gesellschaftsordnung. Dann muss er heißen:

Jedermann sei untertan der Demokratie. Die demokratische Gesinnung habe Gewalt über ihn. Sie ist von Gott eingesetzt. Wer sich der Demokratie widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung. Die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen.“ ( … und die Konsequenzen zu tragen haben…)

Jetzt klingt es mit einem Mal sehr aktuell. Wir erleben eine Zeit, in der es eine verbreitete Wollust gibt, Unordnung zu schaffen. Eine gefährliche Wollust, nein zur guten sich bewährten aber eben auch mühsamen demokratischen Ordnung zu sagen. Es ist die Lust an der Unordnung, die derzeit mehrheitsfähig wird, verbunden mit allzu einfachen Pseudo-Lösungen und der propagandistischen Hetze gegen alles, was sich diesen sogenannten „Lösungen“ in den Weg stellt.

Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit dem Gutem.“ Dieser Satz steht gleichsam vor der Klammer unseres Textes.

Etwas freier übersetzt heißt der Satz für mich: „Nimm dich bei deiner eigenen Nase!“

Denke an deine eigenen Tricks, wenn du deine Steuererklärung machst. Und so gar keine Lust hast, dem Staat zu geben, was des Staates ist. Denke an diese verführerische Stimme in deinem Ohr, die dir zu flüstert: „Merkt doch keiner!“

Denke an deine scheinheilige Rechtfertigung, wenn du sagst: „Sollen doch erst mal die da oben aufhören zu betrügen!“

Oder: „das machen doch alle!“

Lass dich nicht von Bösem überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem!“

Für diese lebenslange Aufgabe hilft unser Wochenspruch:

es gibt einen „Führer“, einen „König“, einen „Herrscher“, dem darf ich wirklich vertrauen; er ist nicht korrupt und nicht korrumpierbar. Er ist Ausdruck jener Wahrheit, die unzerstörbar („unsterblich“) ist. Die der einzig sichere Boden allen Da-Seins ist.

Seinem Weg nachfolgen heißt, den Boden nicht mehr unter den Füßen zu verlieren. Heißt auch: Abschied nehmen von meiner Sehnsucht danach, dass ich „im außen“, in dieser Welt einen Führer finde, der mir meinen Weg weist. Indem ich den Schmerz und die Trauer dieses Abschieds ertrage, wende ich mich dem König zu, dessen Reich nicht in dieser Welt und nicht von dieser Welt ist. Diesem König und nur ihm will ich untertan sein. Je tiefer und fester ich mit ihm verbunden bin, desto freier und sicherer werde ich meinen ganz einmaligen Weg in dieser Welt gehen.

Einen Weg, der mit jedem Schritt aufs Neue entsteht.

Dem König aller Könige und Herrn aller Herren, der allein Unsterblichkeit hat, dem sei Ehre und Macht“, AMEN.

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Predigt am Sonntag Kantate in der Thomaskirche in Grünwald

Predigt über Apostelgeschichte 16, 23-34 am Sonntag Kantate 2018

Liebe Gemeinde,

unser heutiger Predigttext lässt sich als eine nette Geschichte von der Gefangennahme und der wundersamen Befreiung des Paulus und seinen Mitstreitern lesen. Nebenbei wird auch noch der Kerkermeister samt Familie zum rechten Glauben bekehrt. „Nett“ – das ist die kleine Schwester von „besch … eiden“ – habe ich vor kurzem gehört.

Ich möchte versuchen, unseren Text anders zu lesen: als „innere“ Befreiungsgeschichte. Und ich möchte den Text verbinden mit dem vorhin gehörten Evangelium, in dem der ungewöhnliche Satz erklingt: „Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ (Matth. 11, 30) Das sagt derselbe Jesus, der unter der Last seines Kreuzes auf dem Weg nach Golgatha zusammen gebrochen ist!

Um sinnvollerweise von Befreiung reden zu können, muss man von einem Gefängnis reden. Wer sich nicht „gefangen“ fühlt, der hat auch kein Interesse an Befreiung. Befreiung ist dann kein Thema für ihn.

Fühlen Sie sich frei?

Dann ist der heutige Predigttext wahrscheinlich nicht interessant für Sie.

Nun gibt es Menschen, die sagen: was ist nur los? Ich habe alles, bin materiell abgesichert, könnte ein schönes und freies Leben führen – aber ich schlafe schlecht, bin unruhig, nervös. Ich habe keinen rechten Hunger und kann mich nicht wirklich am Leben freuen. Das verstehe ich nicht. Warum kann ich diese Gefühle nicht einfach abschütteln? Und einfach nur mein Leben genießen? Eigentlich habe ich es doch so gut. …

Diese Menschen sind gefangen in Gefühlen, die ihnen das Leben schwer machen. Sie sagen vielleicht: meine Ängste verfolgen mich – oder meine Depression lässt mich einfach nicht los.

Nun ist nicht zu vergessen, dass der sicherste Ort der Welt ein Gefängnis ist. Eingesperrt-Sein und Sicherheit sind Paare.

Und wenn mich etwas nicht los lässt, so kann ich sicher sein, nicht einsam sein zu müssen. Immerhin. Besser eine schlechte Beziehung als gar keine!

Auf der anderen Seite: Frei-Sein ist mit Unsicherheit gepaart. Und all das, was ich wirklich los lasse – das ist dann weg. Dann bin ich ganz allein mit – ja mit wem?

Das ist die große Frage.

Unser Streben nach Sicherheit, nach Vertrautheit, unsere alltägliche Routine kann uns zu Gefangenen unserer selbst machen. Wenn wir in einem Epiphanias-Lied singen: „Jesus ist kommen, nun springen die Bande…“ dann ist die große Frage: was mache ich mit meiner Freiheit? Was mache ich aus meiner Freiheit? Ist es nicht viel beruhigender, sagen zu können: ich kann mich ja gar nicht trennen, oder: ja früher hätte ich das und das machen sollen – aber jetzt: bin ich zu alt dafür.

Und so bleibt alles beim Alten.

Dies gilt für die Botschaft Jesu selbst: „Jesus verkündete das Reich Gottes – gekommen aber ist die Kirche….“

Jesus predigte: „Mein Joch ist sanft …“ – in seinem Namen wurden viel zu viel Menschen vermeintlich „falschen Glaubens“ getötet …

Jesus kritisierte die Pharisäer, das religiöse Establishment seiner Zeit, hart: und ein neues religiöses Establishment kristallisierte sich in seinem Namen heraus.

Ob er das so gewollt hat?

Könnte es so sein, dass wir Menschen keine Freiheit aushalten? Dass wir Freiheit gar nicht wollen? Dass wir für Freiheit nicht erschaffen sind? Das würde den gegenwärtigen Zulauf und die Popularität nicht-demokratisch denkender Politiker erklären. Die Abschaffung der Demokratie im Dienste vermeintlicher Sicherheit. …

Zum Prozess der Befreiung gehören Gefühle von katastrophalem Zusammenbruch. Die Befreiung Europas aus der Herrschaft der absolutistischen Monarchen (Sinnbild: der „Sonnenkönig“ – Ludwig XIV. – „der Staat, das bin ich…“) führte in die Wirren der französischen Revolution. … führte zu einem Napoleon, der sich zum Kaiser krönen ließ und, und, und …

In unserer heutigen Befreiungsgeschichte geht die Befreiung einher mit einer kosmischen Katastrophe – einem Erdbeben. Doch hören Sie selbst:

23 Nachdem man sie (gemeint sind Paulus und sein Begleiter Silas) hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Aufseher, sie gut zu bewachen. 24 Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block. 25 Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und die Gefangenen hörten sie.

26 Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, so daß die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen, und von

allen fielen die Fesseln ab.

27 Als aber der Aufseher aus dem Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offenstehen, zog er das Schwert und wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen.

28 Paulus aber rief laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier!

29 Da forderte der Aufseher ein Licht und stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen. 30 Und er führte sie heraus und sprach: Liebe Herren, was muss ich tun, daß ich gerettet werde?

31 Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig!

32 Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Hause waren.

33 Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen 34 und führte sie in sein Haus und deckte ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause,

daß er zum Glauben an Gott gekommen war.

Wesentliche Elemente der Geschichte, noch einmal zusammengefasst:

Paulus und seine Mitstreiter sind im „innersten Gefängnis“ – im „Hochsicherheitstrakt“ und die Füße sind noch einmal „in einem Block“ eingesperrt. Sicherer geht es nicht.

Zeitgleich mit dem Gebet geschieht ein Erdbeben und die Gefangenen sind „frei“.

Der Aufseher will sich aus Angst vor seinem „Versagen“ selbst töten.

Die Gefangenen sind gar nicht geflohen.

Der Aufseher fragt, wie er gerettet werden kann.

Die Rettung ist der „Glaube an den Herrn Jesus“

Der Aufseher freut sich mit seinem Haus, dass er „zum Glauben an Gott“ gekommen ist.

Liebe Gemeinde,

noch einmal: was ist das mit unserer Freiheit? Für viele Menschen bedeutet Freiheit, jederzeit tun und lassen zu können, was man will. Das ist eine Freiheit von Zwängen, Abhängigkeiten, Anpassungen, Verpflichtungen. Dahinter steckt der Wunsch oder die Gier nach ungebremster Lust: es soll jederzeit so sein, wie ich es haben will. Und ich sehe gar nicht ein, mich an etwas anzupassen, was mich stört. „Freie Fahrt für freie Bürger“ – das war und ist der Slogan, mit dem wider aller Vernunft es in unserem Land nicht möglich, ein Tempolimit auf Autobahnen einzuführen. Wer dies für Freiheit hält, dem hat die Botschaft Jesu nichts zu sagen.

Jesus spricht uns nämlich nicht in dem Sinne frei, dass er sagt: „ihr könnt tun und lassen was ihr wollt.“ Jesus sagt: „Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.“ (Mt. 11, 29-30)

Das Joch – übrigens vom Wort her stammverwandt mit Yoga – ist üblicherweise verbunden mit „hart“, „geknechtet“ usw. Es wurde den Ochsen aufgesetzt, um eine optimale Kraftübertragung vom Pflug oder dem zu ziehenden Wagen z.B. zu erreichen. Freiheit heißt hier, befreit sein von diesem Joch, befreit aus dieser Knechtschaft zu sein. Jesus selbst kennt – wie gesagt – das harte Joch des Kreuzes. Unter dem er sogar gebrochen ist. Aber das Joch, von dem Jesus hier spricht, ist etwas ganz anderes: es ist seine innige, vertrauensvolle, liebevolle Beziehung zu seinem (himmlischen) Vater: „niemand kennt den Sohn als nur der Vater und niemand kennt den Vater als nur der Sohn …“

Diese Beziehung ist „leicht“ – denn sie geschieht in Liebe. Und da und nur da, wo die Liebe herrscht – da ist wirkliche Freiheit. Jede Form von Kontrolle, Gängelung, Bemächtigung des Anderen hat nichts mit Liebe zu tun. Es gibt Menschen die sagen: wenn ich mich nützlich mache, werde ich geliebt. Wenn mich der andere braucht, werde ich geliebt. Das ist ein verhängnisvoller Irrtum. Wenn ich mich nützlich mache, dann bin ich nützlich – nicht mehr und nicht weniger. Liebe hat damit nichts zu tun. Liebe lässt sich nicht machen, nicht herstellen. Liebe gibt es nur geschenkt – genauso wie Freude, Dankbarkeit, echte Reue etc. …

Wer die Freiheit dieser Liebe erlebt, wer in der Freiheit dieser Liebe leben darf – der hat das Joch Jesu auf sich genommen. Aus dieser Freiheit heraus nützen Paulus und Silas ihre Befreiung nicht aus, laufen nicht davon. Das ist das eigentliche Wunder der Geschichte: die befreiten Gefangenen bleiben da. Offenbar ist es das, was den Kerkermeister erreicht: „Ihr Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde?“ Etwas freier übersetzt heißt das für mich: „was muss ich tun, dass ich so frei werde, wie ich euch erlebe?“ Befreit werde von meinem alten Denken des Misstrauens, der Absicherung, der Kontrolle. Die Antwort ist einfach: „nimm Jesu Joch auf dich – glaube an Jesus Christus!“ Das Tun, das alltägliche Leben dieser Antwort ist freilich nicht so einfach.

Bleibt noch eine Frage offen, liebe Gemeinde:

wieso eigentlich soll dieser Text gerade heute, an Sonntag Kantate, gepredigt werden? Diese Frage ist mir tatsächlich erst hier – am Ende einer Predigt gekommen.

Und ich habe gespickt: im Internet mir Predigt von Kollegen zu unserem Text durchgelesen. Und siehe da – die Antwort ist einfach: Paulus und Silas sangen im Gefängnis. Sie „lobten“ Gott heißt nämlich eigentlich: sie sangen Hymnen, Loblieder auf Gott. Und unser heutiges Evangelium ist auch ein Loblied: das Loblied Jesu auf die Beziehung zu seine Vater. „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde …“

In diesem Sinne – lassen Sie uns jetzt singen, lassen Sie uns ein Loblied singen, in dem wir Jesus loben und danken für die Freiheit, die denen geschenkt wird, die den Mut haben, das vertraute Joch liegen zu lassen und Jesu Joch auf sich zu nehmen.

Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude…“ heißt es da, und in der zweiten Strophe:

Jesus ist kommen, nun springen die Bande, Stricke des Todes, sie reißen entzwei …“

AMEN.

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Predigt zu Pfingsten 2018 in der Jakobus- und in der Petruskirche

Predigt über 1. Korinther 2, 12-16 an Pfingsten 2018

Liebe Gemeinde,

es würde das Miteinander-Reden (den „Dialog“) erheblich erleichtern, wenn jeder Sprechende sich die Mühe machte, kurz darüber nachzudenken, wofür er das, was er gerade sagen will, verwendet. Und zwar bevor er den Mund aufmacht.

Wofür eignet sich der Gedanke, den ich gerade äußern will?

Viele Äußerungen eignen sich insbesondere dafür, den eigenen Hass unterzubringen. Schadenfreude – im Volksmund gilt sie als „die schönste Freude“ – lässt sich in Sätzen wie: „das hast du jetzt davon…!“ oder: „Das hätte ich dir gleich sagen können…!“ Oder: „warum hast du nicht … , dann wäre dir das nicht passiert…“ gut unterbringen. Und natürlich auch das dazugehörige Gefühl von Ärger – mit dem inneren Gedanken: „so ein Idiot!“

Auf den ersten Blick nicht gleich sichtbar ist in solchen Gedanken eine Haltung versteckt: die Haltung der Überheblichkeit. Ein unausgesprochenes: „mir wäre so was nicht passiert …“

Unser heutiger Predigttext, ein Abschnitt aus dem 1. Korintherbrief von Paulus, bietet sich für Selbstsicherheit, Selbst-Befriedigt-Sein und Überheblichkeit an. Er bietet sich aber auch dafür an, über dieses nur allzu menschliche und verbreitete Geschehen nachzudenken.

12 Wir aber haben nicht empfangen den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott, daß wir wissen können, was uns von Gott geschenkt ist.

13 Und davon reden wir auch nicht mit Worten, wie sie menschliche Weisheit lehren kann, sondern mit Worten, die der Geist lehrt, und deuten geistliche Dinge für geistliche Menschen.

14 Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geist Gottes; es ist ihm eine Torheit, und er kann es nicht erkennen; denn es muss geistlich beurteilt werden.

15 Der geistliche Mensch aber beurteilt alles und wird doch selber von niemandem beurteilt.

16 Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer will ihn unterweisen« (Jesaja 40,13)? Wir aber haben Christi Sinn.“

Aha! So ist das also.

Etwas salopp, etwas verkürzt zusammengefasst heißt das: die „Deppen“ sind die Anderen – wir hingegen wissen, wie es ist, wie es geht. „Wir haben Christi Sinn!“

Wir haben den Geist!!!

Klasse. Wenn ich uns so anschaue, dann merke ich auch gleich, wie recht Paulus hat:

„We are the Champions … No time for losers – cause we are the champions of the world“

Keine Zeit für Verlierer – weil: wir sind die Champions der Welt!

Champion – ein Wort aus dem Sport – heißt: derjenige sein, der alle anderen aus dem Rennen geworfen hat – schlicht: „der Beste“.

(Nebenbemerkung: Je ehrgeiziger der Champion, desto narzisstisch bedürftiger ist er. Anders ausgedrückt: ist er einmal kein „Champion“, zieht er sich voller Scham und Enttäuschung zurück. So fehlte jüngst einer herausragenden deutschen Fußballmannschaft die gelassene Großzügigkeit, trotz verlorenem Pokalfinale mit den Siegern zu feiern und für die Sieger sich zu freuen .,. )

Doch HALT: unser Held ist doch dieser von der Welt Verachtete, der Ausgestoßene, der inmitten der Verbrecher Hingerichtete!

Ja – das ist alles „Geist der Welt“. Es ist „Geist des natürlichen Menschen“; ihm ist das, was wir erkennen eine „Torheit“. Der natürliche Mensch „kann nichts erkennen“ – „es muss geistlich beurteilt werden!“

Wir aber sind der geistliche Mensch. Von ihm gilt:

„Der geistliche Mensch aber beurteilt alles und wird doch selber von niemandem beurteilt.“ WOH!

Liebe Gemeinde,

„solange wir uns auf Erde befinden, gibt es nichts, was für uns wichtiger ist als die Demut.“ Sagt Theresa von Avila am Anfang ihres zeitlos schönen und immer wieder zu lesenden Buches: „Die innere Burg“. Die Demut – und nur die Demut – sei der „Weg“ zur Vereinigung mit Gott.

Die zitierten Paulus-Sätze klingen nicht demütig. Im Gegenteil: sie sind anfällig für Überheblichkeit. Insbesondere dann, wenn man sie aus ihrem Zusammenhang löst.

Der Zusammenhang ist, dass in der Gemeinde von Korinth sich Gruppen gebildet hatten, die jeweils meinten, die „reine Lehre“, das „bessere Christ-Sein“ zu verkörpern. Das ist auch ein verbreitetes menschliches Phänomen: Gruppen entstehen und zerfallen, und es entstehen wieder neue Gruppen. Meist hat der Zerfall damit zu tun, dass sich eine Gruppe abspaltet, weil sie sich mit dem „Mainstream“ der alten Gruppe nicht mehr identifizieren kann. Der „Mainstream“ nennt diese Abspaltungen dann „Sekten“ (lateinisch: sectio: ursprünglich die Zerstückelung von Gütern bei einem Aufkauf). In den Augen des jüdischen „Mainstreams“ war Jesus ein Sektierer, der Gründer einer „Sekte“. Dasselbe gilt für Martin Luther aus der Sicht des „Mainstreams“ der katholischen Kirche. (Nebenbei: schaut man sich die Geschichte der Psychoanalyse seit ihrer Gründung durch S. Freud an, wird man dasselbe Phänomen entdecken.)

Paulus kämpft in unserem Predigttext um die Einheit der Gruppe. Das „Wir“ soll die Gemeindeglieder in Korinth miteinander verbinden, zusammenschweißen – das „wir“ bedeutet: wir haben doch alle denselben Glauben, denselben Sinn!

Einen Glauben, auf den wir stolz sein können!

Der Kehrseite dieser Art des „Vereinigens“ ist: es bedarf eines Fremden, eines Anderen, eines Nicht-Wir, von dem „wir“ uns absetzen. Auf den wir mit unserem vermeintlichen Glauben und Wissen „herabschauen“. Das ist keine Beziehung in Freiheit, es ist eine Beziehung in Abhängigkeit. Ich brauche die Herabsetzung des Anderen, um mich selber als „gut und richtig“ zu spüren.

Wir haben Christi Sinn!“ Dadurch heben wir uns von den „weltlichen“ Menschen ab. Und das gibt uns Sicherheit. Sicherheit durch Abwertung des Anderen/Fremden.

Diese Art des Denkens wird in den Evangelien, wird von Jesus als pharisäisches Denken bezeichnet.

Im Gleichnis Jesu vom Pharisäer und Zöllner (Lukas 18,9-14) sagt der Pharisäer: „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute …“ Diese seine „Identität“ lebt davon, nicht so „minderwertig“ wie die Anderen zu sein. So wird Religion, wird Glaube zu einer Krücke für die eigene wackelige Identität. Die aktuelle Idee, in allen bayrischen Verwaltungsgebäuden ein Kreuz anzubringen, ist Ausdruck von derartiger Unsicherheit – und nicht Ausdruck eines starken Glaubens. Ein starker Glaube vertraut dem Kreuz – und gerade so wird er es nicht demonstrativ zur Schau stellen.

Ein starker Glaube drückt sich in ebenso klaren wie einfachen Worten aus.

Der Zöllner (auf den der Pharisäer herab blickt) im genannten Gleichnis betet schlicht: „Gott sei mir Sünder gnädig!“

Gnade“ aber, „Erbarmen“ ist ein Geschehen, das sich nicht machen lässt. ES geschieht. ES ist nicht mein Werk, mein Gemachtes, es ist das Werk des Heiligen Geistes, „der weht wann und wo er will…“ Und selig der Mensch, der sein Brausen hört und sich darauf einlassen kann. Selig die Seele, die befreit wurde zum Mitschwingen im Wehen des Heiligen Geistes.

Die Voraussetzung dafür ist tiefe Demut. In ihr lasse ich meine Verdienste und meine Werke los. In ihr ergebe ich mich. In ihr geschieht liebevolle Hingabe – an mein so und nichts anders gewordenes Leben. Deshalb sagt Theresa von Avila:

Solange wir uns auf der Erde befinden, gibt es nichts, was für uns wichtiger ist als die Demut!“

Aber auch hier ist Vorsicht geboten: es gibt nämlich eine „falsche, eine verkleidete“ Demut, eine Demut, die in Wirklichkeit Feigheit ist. Noch einmal Theresa mit scharfer Zunge:

Es gibt Menschen, „die immer im Elend unserer Erde stecken bleiben.“ Ihr Lebensfluss kommt nie „aus dem Schlamm der Ängste“ heraus, „aus der Verzagtheit und Feigheit, die furchtsam fragt, ob man auf mich schaut oder nicht auf mich schaut; ob mir, wenn ich diesem Weg folge, etwa ein Unheil zustößt; ob ich es wagen, kann jenes Werk zu beginnen; ob es Hochmut ist; ob es recht ist, dass eine solch elende Person (wie ich) sich mit einer so hohen Sache wie dem Gebet befasst; ob man mich für etwas Besseres hält. Denn Übertreibungen sind nicht gut, auch nicht in der Tugend! …“ Theresa bezeichnet diese Haltung als „Mattherzigkeit“ – dies habe mit „Demut“ nichts zu tun.

Und sie findet die Ursache dieser Verdrehung in einer „verdrehten Selbsterkenntnis“, die dann entsteht, „wenn wir nicht aus uns heraus gehen.“

Anders ausgedrückt heißt das: echte Selbsterkenntnis ist nur möglich, wenn ich in der Lage bin, mich ein wenig von mir selbst zu entfernen, mich selbst ein wenig „von außen“ zu sehen und zu erkennen. Eben „aus mir heraus gehe“. Erst dann beginne ich nämlich, mich kennen zu lernen. Ohne diese Fähigkeit bleibe ich ein Gefangener meiner selbst, bleibe ich blind für mich.

Aus mir heraus gehen bedeutet freilich: ein Risiko eingehen. Und das erzeugt Angst.

Aus mir heraus gehen bedeutet, ich verlasse meine „Komfortzone“, meine Routine, in der vermeintlich nichts passieren kann. Meine Angst will mich genau davon abhalten. Und ich kann alles dafür verwenden, in der Komfortzone zu bleiben – auch meinen Glauben.

Das ist für mich jeden Tag aufs Neue die große Frage, ob und inwieweit mein Glaube letztlich eine selbstgemachte Seifenblase, eine Halluzination ist. Ob mein Glaube in der Beziehung des Heiligen Geistes empfangen oder von mir selbst gefertigt wurde.

Hierfür kenne ich keine letzte Sicherheit. Allerdings werde ich sofort misstrauisch, wenn mir jemand erklärt, er sei sich sicher, dass sein Leben vom Heiligen Geist erfüllt ist. Aber vielleicht ist mein Misstrauen auch nur Ausdruck meines Neides, dass mir diese Sicherheit nicht gegeben ist.

Liebe Gemeinde,

ich möchte gerne ein Leben leben, in dessen Zentrum steht: „Ich habe Christus im Sinn.“ Und ich kann mir gut vorstellen, dass uns dieser Wunsch verbindet.

Möge meine, möge unsere Seele – wie Hildegard von Bingen betet – dem Wind gleichen, der über die Kräuter weht, und dem Tau, der die Gräser benetzt, und der Regenluft, die wachsen lässt,

möge meine/unsere Seele befreit werden und frei sein von dem Geist des Machens, und des Besser-Wissens,

möge meine/unsere Seele jenem Schiff gleichen, von dem Johannes Tauler dichtete:

Das Schiff geht still im Triebe, es trägt ein teure Last, das Segel ist die Liebe, der Heilig Geist der Mast.“ AMEN.

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Predigt über Jesaja 50, 4-9 am Palmsonntag 2018

Predigt über Jesaja 50, 4-9 am Palmsonntag in der Apostelkirche München-Solln

Liebe Gemeinde,

wir Menschen sind Lebewesen, die alles, was auf sie einströmt bewerten. Wir teilen unwillkürlich – „ohne es wollen“ – ein in gut oder schlecht, richtig oder falsch, angenehm oder unangenehm, schön oder hässlich, wertvoll oder wertlos, nützlich oder unnütz. Daraus fließt dann oft unser Handeln: wir wenden uns zu – oder wir wenden uns ab, wir lassen etwas/jemanden an uns heran oder schließen, scheiden jemanden oder etwas aus. Wir behalten etwas, nehmen etwas auf, oder geben etwas weg. Zunächst einmal läuft dieser Strom des Bewertens völlig unbewusst mit unserem Leben mit. Es erfordert viel Achtsamkeit und Aufmerksamkeit, sich dieses Geschehens bewusst zu machen. Und es erfordert viel Selbst-Erfahrung, die eigenen Maßstäbe, die Quellen, aus denen heraus ich bewerte, mir bewusst zu machen.

Nun ist Bewertung ja nichts anderes als eine Spezialform des Differenzierens, des Unterscheidens. In der Bewertung schwingt etwas mit, wofür Jugendliche ein extrem feines Sensorium haben. Wenn ich sage: „du sitzt hier herum, hörst Musik und ich spüle ab…“ dann klingt das nach Vorwurf: wie kannst du hier faul herum sitzen, siehst du nicht, dass ich arbeite … du könntest mir auch helfen. …

Oder: was täte ich ohne dich, du bist eine große Hilfe – das ist die Bewertung in Richtung Anerkennung, Lob.

In unserer neuen digitalen Gesellschaft heißen die beiden Bewertungen: like oder dislike. Mag ich – mag ich nicht!

Dass nur die Worte neu – das Geschehen selbst aber uralt ist, sieht man am vorhin gehörten Evangelium zum Palmsonntag:

„Hosianna dem König Davids!“ schreit die Menge. Viele, viele „likes“ hätte Jesus da bekommen,

Und dieselbe Menge schreit fünf Tage später: „Kreuzige ihn!“ Aus den „likes“ wurden „dislikes“. Was lernen wir daraus: Bewertungen können sich innerhalb kürzester Zeit massivst verändern.

From Hero to Zero – vom Helden zur Null“: so hat man Aufstieg und Fall von Martin Schulz jüngst beschrieben.

Vom „Messias“ zum „Verbrecher“ – so könnte man die Bewegung von Palmsonntag zum Karfreitag beschreiben. Wobei wichtig ist: dies ist die Perspektive der „Menge“ – und ganz offensichtlich nicht die Perspektive – ja von wem? Geläufig wäre hier zu sagen: die Perspektive Gottes. Profaner könnte man sagen: das kann jedenfalls nicht alles gewesen sein – ansonsten stünde ich nicht hier, gäbe es mich nicht als Pfarrer der evangelisch-lutherischen Kirche. Ansonsten gäbe es überhaupt keine christliche Kirche. Es muss wiederum irgend etwas passiert sein, wodurch aus dem Verbrecher der „Auferstandene“, der „Sohn Gottes“ geworden ist.

Wenden wir das Gesagte auf uns hier an, so bedeutet dies, dass auch jetzt – während ich hier predige -, unentwegt Bewertungen mitlaufen. Wie ein „Hintergrund-Task“. Bei Ihnen, wie bei mir. Und es gibt innere Zensoren, die einen davon abhalten, etwas öffentlich zu sagen, obwohl man es sich insgeheim denkt. Und dann gibt es immer wieder Menschen, denen es offenbar nur ums eines geht: der Wahrheit selbst zu dienen. Sie versuchen in ihrer Rede und in ihrem öffentlichen Auftreten sich nur von der Wahrheit zensieren zu lassen. Nicht selten haben sie diese Radikalität mit ihrem Leben bezahlt.

Unser heutiger Predigttext, liebe Gemeinde, handelt von so jemandem. Seine Rede, seine Botschaft provozierte, er wurde dafür gefoltert, ins Gefängnis gesperrt und am Ende hingerichtet. Wir kennen seinen Namen nicht – da er im Geiste des Propheten Jesaja redet, hat man ihn den zweiten Jesaja, den Deuterojesaja, genannt. Er lebt und wirkt im babylonischen Exil. Nach der Kapitulation Israels 587 v. Chr. wurde die Oberschicht nach Babylonien deportiert. Selbstverständlich galt hier die Religion Babyloniens: eine polytheistische Religion mit einer Vielfalt von Göttern – und einer ausgeprägten Sternenkunde. (Das uns geläufige Horoskop ist hier vor ein paar tausend Jahren entstanden.) Deuterojesaja nun hielt unbeirrt an seinem Glauben, den Glauben an den EINEN Gott Jahwe fest. Dessen Kraft und Größe so unermesslich war, dass er die Götter der Babylonier als Sterne erschuf. Das musste provozieren. Es musste die Mächtigen provozieren. Und so kam es, dass Deuterojesaja am Ende hingerichtet wurde. Sein Wirken und seine Predigt findet sich niedergeschrieben im Buch Jesaja in den Kapiteln 40 – 55. Innerhalb dieses Buches gibt es vier Gedichte, die in verdichteter Form ausdrücken, was jemand, der sich als Jünger Gottes versteht, ausmacht. Man hat diese Gedichte „Gottesknechtslieder“ genannt – der von Gott Erwählte ist zugleich und in einem sein „Knecht“ (Jes 42,1). Hören Sie selbst: das dritte Gottesknechtslied (Jes 40, 4-9). Ich lese in der Übertragung von Martin Buber.

50,4 Gegeben hat ER, mein Herr mir eine Lehrlingszunge.

Dass ich wisse, den Matten zu ermuntern, weckt er Rede am Morgen.

Am Morgen weckt er mir das Ohr, daß ich wie die Lehrlinge höre.

50,5 Geöffnet hat ER, mein HERR, mir das Ohr. Ich aber, ich bin nicht ungehorsam ich bin nicht zurück gewichen.

50,6 Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.

50,7 Mir hilft ER, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, daß ich nicht zuschanden werde.

50,8 Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir!

50,9 Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, Motten werden sie fressen.

Liebe Gemeinde!

Als ich den Text las, dachte ich als erstes: Unsere Zeitgenossen, die derzeit versuchen. in China Opposition zu machen, oder in Russland, oder in Polen … oder auch in Amerika – sie würden sich mit Deuterojesaja sicherlich gut verstehen. Es sind Gesinnungs- und Leidensgenossen. Es sind Menschen, die für Recht und Gerechtigkeit ihr Leben aufs Spiel setzen. Ich empfinde tiefen Respekt vor ihnen. Ich weiß nicht, ob ich über einen derartigen Mut verfügen würde. Und ich bin froh, dass ich (noch?) in einem Land leben darf, in dem die Demokratie – bei aller Anfechtung – Stärke zeigt.

(In Klammern: in diesen Sätzen schwingen ganz viele Bewertungen von mir mit: die „Hochschätzung“ der Werte, die bestimmte Menschen in unserer Gegenwart besonders verkörpern, die Hochschätzung der Demokratie usw. Und es schwingen genauso viele Abwertungen mit gegenüber all jenen Menschen, die ausschließlich in der Ausbreitung ihrer Macht den Wert ihres Lebens erblicken. Wie gesagt: es geht nicht ohne Bewertungen!)

Doch zurück zu unseren Text: was also zeichnet diesen Gottesknecht aus?

Er ist einer, der den Mund aufmacht. „Gegeben hat mir der Herr eine Lehrlingszunge.“ M. Luther übersetzt: „Eine Zunge, wie sie Jünger haben.“

Es ist die Zunge eines Lernenden. Von jemand, der nicht schon alles weiß. Das ist die große Kunst bei einem echten Dialog: dass ich mein Vor-Wissen, meine Vor-Urteile, meine Bewertungen zurückstelle. Nur so bekomme ich ein „offeneres Ohr“ für den Anderen. Und: Sprache ist so unglaublich missverständlich. Deshalb ist es gut, immer wieder nachzufragen: wie meinst du das? Oder zu wiederholen: meinst du das so? Habe ich dich recht verstanden, dass … ?

Dieses „offene Ohr“ erlebt der Gottesknecht als Geschenk, das aus seiner Gottesbeziehung heraus folgt. Es ist ein Geschenk seiner Vertrauens-Beziehung zu seinem Gott. Aus dem Hören auf das Wort Gottes folgt alles weitere: Und so haben wir zu Beginn unseres Gottesdienstes gesungen: „Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr …“

Nun gibt es immer wieder Störgeräusche, die diese Vertrauens-Beziehung erschüttern, ja unterbrechen. Sie stammen aus unverdauten Gefühlen des Ausgeliefert-Seins, der Hilflosigkeit, des Verzweifelt-Seins. Wer diese Gefühle in sich nicht halten kann, der wird haltlos. Und er wird verführbar. Der Nährboden für die großen Hetz-Redner der Geschichte wie der Gegenwart ist stets die Verzweiflung, die Armut, die Bedürftigkeit der Menschen. Deshalb ist das Auseinanderfallen von arm und reich in unserer westeuropäischen Gesellschaft so gefährlich.

Für unseren Propheten jedoch gibt es einen Halt, der offenbar stärker ist als alle Anfechtung: „Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Mir hilft ER, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein.“

Und woraus quillt dies alles? Aus seinem unerschütterlichen Gottvertrauen.

Dies ist der Grund, auf dem Jesaja steht. Oder anders: Jesaja ist radikal der Wahrheit verpflichtet. Er glaubt und vertraut, dass es eine Wahrheit gibt, die alleine Bestand hat.

Dieses Vertrauen verknüpfe ich mit unserem Wochenspruch: „Der Menschensohn muss erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben!“ Ich denke dabei nicht an erster Stelle an ein späteres, jenseitiges Leben – ich denke an ein starkes Leben im Hier und Jetzt. Und ich denke dabei an die Bedeutung der vertikalen Achse. „Erhöhung“ – das ist der aufrechte Gang, das ist ein Leben, das mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität steht und mit dem Scheitel auf Gott hin sich ausrichtet. Es ist ein aufgespanntes und ausgespanntes Leben – im jeweiligen Alltag der Gegenwart. (Nur in Klammern: Auch dieses Bild hat einen alttestamentlichen Hintergrund: es ist die kupferne Schlange, die Moses machen und an einer Stange anbringen musste: sie war lebensrettend für diejenigen, die von einer Schlange gebissen worden sind. Und noch einmal in Klammern: das hebräische Wort für Schlange: „nachasch“ hat denselben Zahlenwert wie das Wort „Messias“. Damit verbindet sich der homöopathische Gedanke des „Heilens mit Gleichem.“)

Aber zurück:

In meinen Ängsten und Unsicherheiten schrumpft mein Leben – es wächst gleichsam nach unten. So drehe ich mich immer mehr um mich selbst, kann die Weite und Freiheit meiner Lebendigkeit nicht mehr spüren. „Krieche am Boden wie eine Schlange“. Ein Leben, das kräftig ist, spannt sich auf. Eine gute innere Spannung drückt sich sogar im Körperlichen aus. Und in dieser Haltung sage ich zu meinen Feinden wie Morpheus zu Mr. Smith: „Komm!“ Oder mit den Worten Jesajas: „Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir!“ Das ist genau der Mut, den wir brauchen. Ein Mut, der aus dem Gott-Vertrauen wächst. Und nur daraus!

Allerdings: dies alles lässt sich nicht machen!!! Hier ist die Macht, das Machbare an ihr Ende gekommen. Dies ist der Grund, dass Jesaja und Jesus und all die bekannten und namenlosen Anderen von den Mächtigen so gehasst worden sind. Und gehasst werden. Sie alle leben der „Macht“ vor, dass sie sich von ihr nicht „bemächtigen“ lassen. Und sogar wenn sie getötet werden – wie Jesaja oder Jesus – so siegt doch die Freiheit des Lebens. Und des Denkens.

Und darauf läuft es einmal mehr hinaus: wird Gott verwendet für Macht und Machbarkeit? Dann landen wir bei einem Missbrauch von Religion, von Gott. An der Stelle der Weite und Freiheit der Wahrheit ist die Enge eines Regimes getreten.

Oder steht Gott für die letzte, unerkennbare, unverfügbare von niemand und niemals in Besitz nehmbare Realität des Seins?

Fühle ich mich dieser Wahrheit, fühle ich mich diesem Gott verpflichtet, dann wird es dunkel in mir. Dann verliere ich alles, woran ich meinte, mich festhalten zu können. Und gerade so werde ich selbst zu Gottes Knecht, „der im Finstern gehen kann, wo ihm kein Strahl ist; er verlässt sich auf SEINEN Namen, er stützt sich auf seinen Gott.“ – und auf sonst nichts, oder mit Theresa von Avila: „solo dios, basta!“ AMEN.

Predigt über Jesaja 50, 4-9 am Palmsonntag 2018 Weiterlesen »

Osterpredigt 2018

Predigt über 1. Samuel 2,1-2. 6-8a an Ostern 2018

Liebe Gemeinde,

je älter ich werde, desto befremdeter bin ich von uns Menschen. Und wenn es mir gar nicht gut geht, möchte ich eigentlich kein Mensch mehr sein.

Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ hat Paul Celan in seiner berühmten Todesfuge 1945 gedichtet.

Zerstörung ist eine Meisterschaft jener Lebewesen, die sich selbst Menschen genannt haben.“

Dieser Satz drängt sich mir auf, wenn ich alltäglich Nachrichten lese. Und ich könnte jetzt unzählige Beispiele aufführen für die Zerstörung von natürlichen Lebensräumen, für die Zerstörung von Lebewesen, für die Zerstörung von freiheitlichen Gedanken, für die Zerstörung von Menschen, die versuchen, konstruktiv Opposition zu machen, sich zu wehren, aufzuklären. Und ich lasse nicht gelten, wenn es heißt: die Dinosaurier sind auch ausgestorben, klimatische Katastrophen wie Vulkanausbrüche oder Meteoriteneinschläge gehören nun mal zu diesem Planeten dazu. Der große Unterschied ist: der Klimawandel, das Artensterben, das Insektensterben der Gegenwart ist Menschen gemacht. Es ist KEIN Schicksal. Es ist die Konsequenz der Blödheit von uns Menschen. Unseres Unvermögens, über den Tellerrand von Gier, Habsucht, Ehrgeiz, Neid, Eitelkeit hinaus zu schauen. Und auch die Armut vieler unserer Mitmenschen mag zwar individuell als Schicksal erlebt werden – aber auch sie ist ebenfalls letztlich von uns Menschen gemacht.

Sie können mich jetzt völlig zu recht darauf hinweisen, dass heute Ostersonntag ist. Und dass meine Aufgabe als evangelischer Pfarrer es ist, eine vernünftige Osterpredigt zu halten. Predigen – lateinisch: „praedicare“: „öffentlich ausrufen, preisen, rühmen“. Meine Aufgabe ist es, die „gute Nachricht“, das Eu-Angelion zu verkünden. Die gute Nachricht, dass dieser Mann aus Nazareth, als Verbrecher hingerichtet, dass der lebendig ist, dass seine Predigt weiterwirkt, dass, wer sein Leben diesem Jesus aus Nazareth anvertraut und versucht, mit ihm durchs Leben zu gehen: dass der ebenfalls lebt! Dass seine Lebendigkeit hinein strahlt in mein Leben.

Und dass mit und durch diese Lebendigkeit die Maßstäbe dieser Welt nachhaltig erschüttert sind.

Nach menschlichem Ermessen ist dieser Jesus tot, sind seine Predigten nicht lebenswert, sind bestenfalls schöne Utopie: „… liebe deine Feinde, wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein, lass die Toten die Toten begraben, wer sein Leben behalten will, der wird es verlieren… was nützte es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und doch Schaden nähme an seiner Seele …“

Nach menschlichem Ermessen sieht man am Schicksal dieses Jesus aus Nazareth, wo man mit derart subversiven Gedanken landet: am Galgen, in der Gemeinschaft der Verbrecher.

Erste Erkenntnis meiner Osterpredigt: wer ein zufriedenes, gemächliches Leben sucht, dem sei empfohlen, sich von diesem Jesus aus Nazareth fern zu halten. Diesen Rat hat denn auch die christliche Kirche in trauter Ökumene befolgt und aus einem Outlaw jemanden zum Her-Zeigen gemacht, jemanden, auf den man mit Fug und Recht stolz sein kann.

Das Markusevangelium ist das älteste der vier in den Kanon aufgenommenen Evangelien. Es endet mit dem (vorhin gehörten) Satz: „„Und sie (die Frauen) gingen hinaus und flohen vor dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemand etwas, denn sie fürchteten sich.“

Zweite Erkenntnis: Furcht und Zittern, ja Entsetzen sind wesentliche Bestandteile wirklichen Glaubens. Glaube, wenn er denn den Namen Glaube als „Vertrauen“ verdient: ist die Kraft in mir, diese entsetzlichen Gefühle der Angst zu halten: und halten heißt zuallererst: aushalten. Ich bewundere unsere Zeitgenossen in China, in Russland, in Tschechien, in Amerika, die es wagen, aufdeckend journalistisch tätig zu sein. Sie sind Leidensgenossen Jesu – selbst dann, wenn sie bekennende Atheisten sind.

So weit – so gut!

Aber zurück zu Ostern: Gab es da nicht noch etwas?

Tod wo ist dein Stachel – Hölle, wo ist dein Sieg?“

Wir Christen sind doch die „Narren in Christus“ (Paulus), die am Ostermorgen den Tod auslachen! Oder etwa nicht?

Ein Prediger auf der Suche nach Osterfreude – so könnte ich meine augenblickliche Situation beschreiben.

An dieser Stelle wende ich mich unserem Predigttext zu. Vielleicht hilft er mir/uns weiter.

Mein Herz ist fröhlich in dem Herrn …“ damit beginnt er. Immerhin!

Wie kam es zu diesem fröhlichen Herzen?

Hören Sie selbst:

2,1 Und Hanna betete und sprach:

Mein Herz springt fröhlich zu DIR, mein Scheitel erhebt sich zu DIR. Weit auf tut sich mein Mund über meinen Feinden, ja, ich freue mich deiner Befreiung.

2,2 Keiner ist heilig wie DU;

ja, keiner ist da ohne dich, keiner ein Felsen wie unser Gott.

2,5 Lasst Euer hochmütiges Reden sein, wie es frech Eurem Mund entfährt. Denn ER ist ein Gott des Wissens; bei ihm werden die Taten abgewogen.

2,6 ER tötet und belebt,

senkt zur Gruft, lässt entsteigen,

2,7 ER enterbt und begütert,

erniedert und hebt auch empor.

2,8 Auf richtet vom Staub er den Armen, den Dürftigen hebt er vom Kot,

sie zu setzen neben die Edlen, übereignet den Ehrenstuhl ihnen.

Ja, SEIN sind die Säulen der Erde, auf sie hat er den Weltkreis gestellt. (Übersetzung von M. Buber)

Liebe Gemeinde,

mein Herz springt fröhlich zu DIR, mein Scheitel erhebt sich zu dir!“ Damit beginnt Hannas Lobgesang. Hanna war die eine der beiden Frauen des Elkana. Sie stand im Schatten der Anderen, der Peninna: die hatte Kinder, Söhne und Töchter – Hanna aber konnte nicht schwanger werden. Dies trug ihr den Spott der Anderen, den Spott der Peninna ein. „Wer der Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen!“

Da tut Hanna ein Gelübde: Falls sie einen Sohn bekommen wird, so betet sie, wird sie ihn Gott weihen! Daraufhin gebiert sie Samuel.

Das schaut nach billiger Freude aus: als wäre ihre Freude nichts weiter als Ausdruck dessen, dass ihr Herzenswunsch in Erfüllung gegangen ist. Sie hat einen Sohn bekommen, einen großen Sohn und Propheten: Samuel mit Namen. Samuel, das heißt „der von Gott Erbetene“ oder auch „der von Gott Erhörte“.

Hannas Freude ist aber keine billige Freude. Hinter Hannas Freude steht ihre Entwicklung. Sie hat erkannt, anerkannt, dass Leben kein Besitz ist.

Dritte Erkenntnis: Leben ist ein Geschenk. Ich kann es mir nicht selbst geben. Alles, was ich kann, ist, es mir zu nehmen. Es zu zerstören.

Die Machthaber können und wollen nicht einsehen, dass es eine Wirklichkeit gibt, da reicht ihre Macht nicht hin. Leben lässt sich nicht „machen“. Das wollen sie nicht wahr haben. Und so müssen sie die ihnen anvertrauten Menschen besitzen. Das ist der Stoff, aus dem die Tragödien innerhalb der Familien und innerhalb von sozialen Gemeinschaften gewebt ist: „du gehörst mir!“ Im Deutschen gibt es das schöne Wort „sich des Anderen bemächtigen.“ Da steckt die Macht drin: „und bist du nicht willig, gebrauch‘ ich Gewalt!“

Demokratie ist die unglaubliche Errungenschaft von uns Menschen, eine Möglichkeit zu finden, diesen Bemächtigungstendenzen Einhalt zu gebieten.

Die Würde des Menschen ist unantastbar!“ Mehr noch: „Die Würde des Lebens ist unantastbar – auch und gerade des nicht-menschlichen Lebens.“ Ich bin kein militanter Vegetarier oder Veganer – aber ich bin der Meinung, dass wenn ich schon Fleisch esse, es in dem Bewusstsein tue, dass jemand sein Leben für mich geopfert hat. Und ich möchte, dass dieses Leben sein Leben in Würde – wir sagen dazu „artgerecht“ – leben durfte. Von daher lehne ich lebensverachtende Massentierhaltung ab.

In Hannas Lobgesang wird auch deutlich, wie schwer es ist, genau da loszulassen, wo ich in der Tiefe verletzt worden bin: „Weit auf tut sich mein Mund über meinen Feinden!“ Natürlich ist das Genugtuung für die vielen Schmähungen und Beleidigungen, die die kinderlose Hanna von ihrer Nebenbuhlerin, der mit Kindern gesegneten Peninna zu ertragen hatte. Genugtuung ist nahe liegendes, ein verständliches Gefühl. Und sie ist gefährlich: ist sie doch eine wesentliche Quelle für den Einsatz von Gewalt. Hinter dem Drang ja Zwang nach Genugtuung steckt die erlittene Verletzung. Und eine gewaltbereite Stimme, die sagt: „das darfst du dir nicht bieten lassen!“ Die sogenannten „Populisten“ der Gegenwart wie der Geschichte fangen ihre Wähler mit genau diesen Parolen. „Lasst Euer hochmütiges Reden, wie es frech Eurem Mund entfährt“ – dieser Satz lässt sich leicht und alltäglich beziehen auf das Gerede und Getwittere derer, die mit ihren Polarisierungen auf Stimmenfang gehen.

Wer in diesen Stimmen, in diesem Denken gefangen ist, für den gibt es kein Verzeihen und keine Vergebung. Für ihn gibt es nur: Genugtuung und Rache. Und ohne verzeihen und vergeben gibt es kein Los-lassen, keine Lösung.

Aber auch wenn Hanna in ihrem Lobgesang gegen ihre Nebenbuhlerin stichelt – eines kann sie: ihr eigenes Kind, ihren Sohn loslassen. Sie muss ihn nicht besitzen, nicht als Trophäe ihres Triumphs gegenüber der anderen Frau verwenden. Sie kann sich einfach nur freuen.

Sie muss ihren Sohn nicht für ihre eigenen ungelösten Probleme missbrauchen. Glücklich das Kind, das in dieser Freiheit mit Eltern aufwachsen darf, das Erleben darf, dass Raum da ist, für seine ganz eigene Entwicklung, für seinen ganz eigenen Weg. Und glücklich die Eltern, die dieses Wagnis eingehen: ihre Kinder wirklich in der Tiefe loszulassen und mit ihrem Vertrauen und ihrer Liebe zu begleiten – und nicht mit ihren Ängsten, Vorwürfen und Misstrauen zu verfolgen.

Khalil Gibran hat dazu gesagt: „Eure Kinder sind nicht Eure Kinder. Sie sind die Töchter und Söhne der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Sie kommen durch Euch aber nicht aus Euch, und sind sie auch bei Euch, so gehören Sie Euch doch nicht!“

Ich freue mich deiner Befreiung!“ betet Hanna. „… deines Heils“ übersetzt M. Luther. Das ist dasselbe: indem ich mich als „ganz“ als „unversehrt“ als „heil“ auf der Welt erlebe, bin ich befreit von meinen hässlichen Gedanken, von meinem Misstrauen, von meiner Gier, von meiner Eitelkeit …

Ich bin befreit für die liebevolle Hingabe an das, was ist – an die Wirklichkeit. Gott ist ein Gott der Gegenwart, sagt Meister Eckhart – und Ausdruck der Gegenwart ist das, was wirkt, was wirklich ist. Der Weg, sich mit dieser „letzten Wirklichkeit“ zu verbinden führt in die Unterwelt des eigenen Unbewussten, wo die Dämonen der Vergangenheit ihr Unwesen treiben. „Hinab gestiegen in das Reich des Todes“ – heißt: da hinkommen, wo ich so gar nicht hin will: wo meine Verletzungen und meine Enttäuschungen sind, wo meine Trauer wohnt und meine Resignation – aber auch mein Hass und meine Rachsucht.

Vierte Erkenntnis: Der Weg in die eigene Freiheit erfordert viel Mut.

Jesus Christus spricht: ich war tot und siehe ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.“ Dieses Wort steht über unserem heutigen Ostergottesdienst. In Verbindung mit Christus – und durch die Taufe sind wir untrennbar mit ihm verbunden – haben wir, hat jeder von uns die Schlüssel zu seiner eigenen Hölle in der Hand. Die Hölle – das sind nicht die Anderen – die Hölle, das bin ich selbst, indem ich mich von meinem eigenen so und nicht anders gewordenen, verlaufenen Leben abwende. So gesehen ist der „Herr der Hölle“, der Teufel, ein armer Teufel: hat er doch keine Ahnung davon, was es heißt zu lieben: sich dem, was und wie es ist zuzuwenden. (Diesen wunderschönen Gedanken verdanke ich – wie so Vieles – Theresa von Avila.)

Liebe Gemeinde,

durch Jesus Christus verfügen wir über den Schlüssel zu unserem Tod und zu unserer Hölle. Damit sind wir auch in der Lage, uns aus unserem Gefängnis zu befreien. Hierzu eine alte Geschichte aus der Tradition des Sufis:

Ein Zinnschmied war zu Unrecht ins Gefängnis gesperrt worden und auf scheinbar wunderbare Weise daraus entflohen. Jahre später wurde er gefragt, wie ihm seine Flucht gelungen sei. Er erzählte: Die Befreiung verdanke ich meiner Frau. Sie ist Weberin. Sie hat den Bauplan des Zellenschlosses in den Teppich hinein gewebt, auf dem ich meine Gebete fünf Mal täglich verrichte. Als ich erkannte, dass in dem Teppich das Schloss meines Gefängnisses hinein gewebt ist, traf ich mit meinen Gefängnisaufsehern eine Absprache. Sie sollten mir Werkzeug bringen und ich würde damit kleine Kunstgegenstände anfertigen, die sie mit Gewinn verkaufen könnten. Sie ließen sich darauf ein – und ich machte von den Werkzeugen die Kunstgegenstände aber auch einen Schlüssel für das Schloss meiner Gefängnistüre. Und so wurde ich frei.“

Ich wünsche Ihnen, liebe Gemeinde, dass Sie das heutige Ostern als das Fest Ihrer Befreiung erleben und feiern dürfen. Ich wünsche Ihnen den MUT zu erleben, dass der Auferstandene immer da wirkt, wo die Liebe keimt. Jene Liebe, die auch Sie umfängt und ihren Nachbarn und ihren Nächsten und Über-Nächsten. Und – man sollte es nicht glauben – in dem Licht dieser Liebe des Auferstandenen bleibt auch an meinem Todfeind noch etwas Liebenswertes.

Das alles geht freilich nur, indem ich den Mut in mir finde darauf zu vertrauen, dass ich selbst in meinem kleinen, endlichen, fehlerhaften Leben mit seinen Irrungen und Wirrungen von Gott so gemeint bin, wie ich geworden bin.

Und dass das vor Gott in Ordnung ist. Schwer in Ordnung, AMEN.

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Predigt über Jesaja 29, 17 – 24 am 12. Sonntag nach Trinitatis 2017

Liebe Gemeinde,

der Abschnitt unseres heutigen Predigttextes, einem Wort aus dem AT, ist in der neuen Lutherbibel überschrieben mit: „Die große Wandlung“.

Die Wortfamilie von „Wandlung“ ist “winden“. Eine Wand war ursprünglich etwas „Gewundenes“ etwas „Geflochtenes“. „Wandeln“ bedeutet ursprünglich, etwas immer wieder hin und her wenden. Wie ein guter Brotteig immer wieder hin und her geknetet werden muss. S. Freud nennt das „Durcharbeiten“. Wandlung setzt also die Fähigkeit voraus, sich geduldig auf einen Prozess einzulassen, in dem etwas immer wieder hin und her bewegt wird. Bis es schließlich „so weit ist“. „So weit“ heißt im Bild des Brotteiges: dass der Teig nunmehr in den Backofen kommt – „so weit“ heißt im übertragenen Sinne, dass eine wohl-überdachte Handlung ausgeführt wird.

Wandlung vollzieht sich in einem eigenen Rhythmus – der viel langsamer ist, als unser Zeitgeist das wahrhaben will. Das Gegenteil zu Wandlung ist ein schneller Reflex. Eine nervlich bedingte Muskelzuckung. Oder auch Entladung. „Das musste jetzt raus“, heißt es dann. Was „raus muss“ ist meist eine Art „Blähung“ – die nichts mit einem ruhigen, besonnenen Gedanken zu tun hat. Durch die neuen Medien finden derartige Blähungen massenhaft Verbreitung und verpesten die Umwelt.

Was ist nun die große Ver-Wandlung, von der der Prophet Jesaja vor über 2500 Jahren spricht?

17 Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald (Garten) werden.

18 Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen;

19 und die Elenden (Demütigen) werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten (Dürftigen) unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.

20 Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen (Wüterich) und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten,

21 welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen.

22 Darum spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt (schambleich) dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen.

23 Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – seine Kinder – in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten.

24 Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen. („Die Geistestaumeligen werden den Sinn erkennen und die Hetzer Vernunft erlernen.“) Kursiv: Übersetzung von Martin Buber

Liebe Gemeinde,

träum‘ weiter!

Das war meine spontane erste Reaktion auf diesen Text.

In Träumen kann ich mir die Welt, mein Leben schön träumen. Es gibt Menschen, die verbringen viel Lebenszeit mit Tagträumen. Meistens kommen sie irgendwie groß raus in ihren Träumen, sind Rächer der Schwachen, ziehen die vermeintlich Bösen zur Rechenschaft. Oder finden einen Retter, der sie aus allem Ungemach erlöst.

Ich vermute, dass gerade in den Religionen viele solcher Tagträume untergebracht sind. Sie stabilisieren den eigenen Wert, geben dem Leben Sinn.

Die Frage ist nur: mit wieviel Bestand?

Für die Frage nach dem Bestand – nach dem was besteht auch und gerade in der Krise, im Zweifel – ist es hilfreich, Tagträume von echten, aus dem Unbewussten stammenden Nachtträumen zu unterscheiden. Tagträume eignen sich nicht für die Realität und ihre Bewältigung. Tagträume zerschellen an der Wirklichkeit wie eine Seifenblase, die unsanft auf dem Boden der Tatsachen landet. Tagträume sind dafür gemacht sich abzulenken. Eine Art Narkotikum. Tagträume eignen sich dazu, sich zu entziehen.

Echte Nachtträume hingegen haben den Charakter völliger Überraschung. War wirklich ich das, der das heute Nacht geträumt hat? Gute Träume sind nicht vorhersehbar. Sie sind verschlüsselt. Deshalb ist es naheliegend, sie als „Non-Sense“, als „sinnlose Entladungen des Gehirns“ einzuordnen.

Die moderne Wissenschaft hat es nämlich nicht gerne, wenn sie etwas nicht versteht.

Liebe Gemeinde,

man hat unseren heutigen Predigttext eine Vision genannt. Vision heißt, jemand sieht in eine Zukunft, die Wirklichkeit werden wird. Diese Zukunft kann angenehm sein, sie kann unangenehm sein. Entscheidend ist: der Visionär ist sich dessen, was er sieht, sicher.

Lassen Sie uns im Einzelnen anschauen, was Jesaja in seiner Vision sieht.

Das Besondere an dem Text Jesajas ist es, dass er Wandlungen beschreibt – ohne zu bewerten. Es gibt keine Strafe, es ist keine Rede vom „Zorn Gottes“, den die „Frevler“ zu spüren bekommen. Nein – die Gedanken Jesajas haben auch etwas sehr Schlichtes: sie beschreiben eine verwandelte Wirklichkeit.

Wohlan, es ist noch eine kleine Weile …“

Wörtlich heißt es: „Ist es nicht nur ein winziges Wenig…“ Also: es steht unmittelbar bevor. Und was?

Zunächst: die Verwandlung der Natur: man hatte den Karmel abgeholzt – und das Holz für den Schiffsbau verwandt, Umweltzerstörung nennen wir das heute –

noch eine kleine Weile, es wird wieder Wald sein, und wo jetzt Wald ist, wird Garten sein. Dies geschieht natürlich nicht von selbst, sondern durch Menschen, die eine neue Haltung zur Natur, zur Schöpfung gefunden haben werden. So ist es schlüssig, dass die nächste Wandlung, die genannt wird, eine Wandlung der Menschen ist:

Die Tauben werden die Worte (der Heiligen Schrift, also Gottes Wort) hören und aus Dunkel und Finsternis hervor werden die Augen der Blinden sehen.“

Wir haben vorhin im Evangelium die Heilung des Taubstummen gehört. Die große (Ver-)Wandlung, um die es geht, ist eine Heilung. Heilen heißt wörtlich: „ganz machen“. Un-heil ist Zerteiltes, Zersplittertes, Fragmentiertes. Wir Menschen, unsere Seele, trägt eine tiefe Sehnsucht nach Ganzheit. Ausdruck der letzten und tiefsten Ganzheit aber ist Gott selbst. So trägt unsere Seele eine tiefe Sehnsucht nach Gott: „ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir …“ sagt der Heilige Augustinus in seinen Bekenntnissen.

Zu Ganz-sein oder „heil-sein“ gehört auch eine gute, eine gerechte Gesellschaftsordnung. In ihr haben die verbreiteten Mauscheleien, die Idealisierung von Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit, überhaupt das Lügen und Betrügen keinen Platz. In ihr haben auch jene Tyrannen keinen Platz, denen es nicht um eine gute, soziale Gemeinschaft geht, sondern um die Ausbreitung ihrer Macht und ihres Einflusses. Damit verlieren die Spötter ihre Daseinsberechtigung. Die Armen bekommen wieder Freude am Leben: sie sind nicht länger am Rande der Gesellschaft. Und deren Geist verwirrt ist, die „taumeln im Geiste wie Betrunkene“, sie werden Sinn erkennen. Und die, die nur Propaganda machen, „die Hetzer“, sie werden zur Vernunft kommen.

Tja, liebe Gemeinde,

ist das wirklich eine Vision? Was würde Jesaja wohl dazu sagen, wenn er die Geschichte von uns Menschen kennen würde – diese 2500 Jahre nach seiner Vision? Dass er sich leider getäuscht hat, der Wunsch der Vater seiner Gedanken gewesen ist?

Was würde Jesaja zu unserer Wirklichkeit wohl sagen? Dazu, wie die Propagandisten und Populisten wieder Zulauf bekommen, wie die Welt voll Unrecht, Ungerechtigkeit und Lügen ist? Wie selbstverständlich uns der eigene Vorteil ist und damit verbunden das Tricksen und Schummeln? Dazu, wie wir die Natur ausbeuten und weiter das Billigfleisch beim Lidl kaufen? Oder die Kaffee-Tabs aus Aluminium?

Was würde Jesaja zu meinen eigenen Wandlungen und Verwandlungen sagen? Dazu dass mein Körper täglich älter wird, meine Haut faltig, meine Haare grau. Dass ich häufiger müde und erschöpft bin. (Ich vermute, jeder von uns kann mit dieser Aufzählung mühelos fortfahren.)

Nun – Jesaja würde vielleicht sagen: da hast du etwas Wichtiges missverstanden. Mir geht es nicht darum, eine heile Welt zu malen, um damit von dem Leid der Gegenwart abzulenken. Das wäre ein Tagtraum, ein Narkotikum. Dann hätte Karl Marx recht, wenn er sagt: Religion ist Opium für das Volk.

Nein – mir geht es um etwas anderes:

Mir geht es um die Möglichkeit, dass du dich und deine Haltung zur Welt ändern kannst. Ich möchte dir eine andere, verwandelte Blickrichtung aufzeigen. Eine Perspektive, die nicht vom Negativen ausgeht. Ich möchte dir eine Perspektive zeigen, von der ich meine, dass sie heilsam ist: für deinen Körper, für deine Seele und für deinen Geist. Weil sie auf das Ganze ausgerichtet ist – und nicht nur auf Teile.

Meine Perspektive heißt: schau dir an, was möglich ist. Schau dir an, was du alles verändern kannst. Zum Guten, zum Ganzheitlichen hin. Und dann – verwirkliche es! Und zwar heute!

Du kannst jede Minute umkehren.

Du kannst jede Minute dein Denken verwandeln.

Du kannst jede Minute deine Haltung zum Leben verwandeln.

Unter einer Bedingung: dass du genug unter deiner bisherigen Haltung unter deinem bisherigen Denken leidest. Dass du die Nase voll hast von deinen Tricksereien und deinen (Selbst)-Täuschungsmanövern. Dass du keine Lust mehr hast, dir selber dauernd etwas vorzugaukeln.

Ohne Sehnsucht nach Neuem, nach Verwandlung gibt es keine Veränderung.

Wenn du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Menschen zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Menschen die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“ (Aus: Saint Exupéry „Die Stadt in der Wüste“).

Das gilt im übrigen auch für einen guten Kirchenvorstand, für einen guten Pfarrer: wenn du eine Gemeinde bauen willst, dann trommle nicht die Leute zusammen und verteile Aufgaben – sondern lehre sie die Sehnsucht nach der unendlichen Güte, Liebe und Barmherzigkeit Gottes.

Indem ich die Sehnsucht nach Gott lehre, geschieht eine allmähliche Verwandlung der Herzen.

Die heilsame Bewegung hin zu Ganzheit (zu Gott) ist eine integrative Bewegung. Sie schließt ein – und nicht aus. Und in dieser Bewegung kommt das Verschiedene auf einen guten Platz. Ein guter Platz ist ein solcher, an dem ich dem Anderen nichts wegnehme. Auch nicht dem Staat, der auch sein Teil – genannt Steuern – bekommt. Würde jeder auf seinem eigenen Platz sitzen und damit zufrieden sein, wäre die Verwirklichung der Vision Jesajas zum Greifen nahe.

Die Fähigkeit, wirklich meinen ganz eigenen, einmaligen Platz einzunehmen, bedeutet, dass ich alleine sein kann. Auf meinem Platz kann nur ich sitzen niemand sonst. Meinen Lebensrucksack kann nur ich tragen: niemand sonst.

In der Tiefe sind alle Konflikte, die wir mit unseren Mitmenschen haben, Trennungs-Konflikte. Unsere „Enttäuschungen“ über Andere sind nichts als ein Ausdruck davon, dass wir nicht ertragen können, dass und wie der Andere denkt und lebt. Da ist es gut, sich zu fragen: wofür verwende ich eigentlich gerade den Anderen? Bekämpfe ich gerade etwas in ihm, was eigentlich zu mir gehört? Was ich aber unter gar keinen Umständen bei mir entdecken möchte?

Liebe Gemeinde,

der Weg zu Ganzheit, zu Heilung führt immer tiefer hinein in das Annehmen dessen, was gerade ist. In sein Werden und sein Vergehen. Ohne wenn und aber.

Gebe Gott, dass wir diesen Weg alltäglich suchen, finden und zu gehen lernen – bis schließlich unser Herz zur Ruhe kommt im Frieden Gottes, der höher ist als unser Denken und Predigen, AMEN.

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1. Sonntag nach Trinitatis 2017

Predigt über Johannes 5,39-47 am 1. Sonntag nach Trinitatis 2017 in der Thomasgemeinde Grünwald

Die Dunkelheit des Vaters, das Licht des Sohnes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit und allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

„5, 39 Ihr sucht in den Schriften, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie sind’s, die von mir zeugen; 5,40 aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet.“

Mit diesem Satz aus dem Munde des johanneischen Christus beginnt unser Predigttext für den heutigen 1. Sonntag nach Trinitatis.

Vielleicht hat Goethe an diesen Satz gedacht, als er seinen Faust in der Studierstube sagen lässt:

Habe nun, ach! Philosophie,

Juristerei und Medizin,

und leider auch Theologie!

Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.

Da steh ich nun ich armer Tor!

Und bin so klug als wie zuvor. …“

Ich fühle mich in diesem Satz sehr persönlich angesprochen. Immer wieder dachte ich, irgendwo muss es doch stehen: es, das mich erlöst, das mich rettet, das mich erleuchtet, das mir Klarheit verschafft.

Ich bekenne: ich bin ein leidenschaftlicher Sucher (gewesen?)

Und ich habe viel gefunden auf meiner Suche: viele kluge Gedanken, die mein Denken geprägt haben und Einfluss auf mein Leben genommen haben. Sie haben mich geweitet und geöffnet. Es gibt so viel Spannendes zu entdecken auf dieser Welt.

Und doch gibt es in alle dem etwas, das mich nicht satt gemacht hat. Und das hat mit diesem merkwürdigen Satz zu tun, den der johanneische Christus sagt:

… ihr wollt nicht zu mir kommen, (auf) dass ihr das Leben hättet.“

Das heißt doch wohl: es gibt etwas, das lässt sich in keinem Buch, in keiner Schrift finden.Und dieses „Etwas“ scheint mit Leben zu tun zu haben. Wobei die feine Unterscheidung zu beachten ist: zwischen „ewigem Leben“ und „Leben“. Christus bietet „Leben“ an. Ob ewig oder nicht – scheint nicht so wichtig zu sein.

Leben.

Leben, das etwas damit zu tun hat, „zu mir zu kommen.“ Das ist etwas Anderes, als sich etwas zu erlesen. Es geht um Erleben. Solange ich suche, bin ich nicht in der Gegenwart. Bin ich nicht (ganz) da. Und es ist kein Zufall, dass „Suche“ mit „Sucht“ zu tun hat. Die Bedeutung aller Sucht hat damit zu tun, mich aus meinem Da-Sein heraus zu katapultieren. In ein trügerisch „besseres“ Da-Sein. Ein Da-Sein, das näher an meinen Wünschen, Erwartungen, Sehnsüchten ist. Sehn-Süchte: schon wieder haben wir die Suche und die Sucht: Sehnsucht könnte nach „Sehens-Sucht“ klingen, ein Streben danach: „gesehen“, wahrgenommen zu werden. Anderherum: solange ich suche, bin ich nicht einverstanden mit meinem Jetz-ist-es-so-und-nicht-anders!

Und was hält mich davon ab, die Suche zu beenden, sie sein zu lassen?

Da gibt es zum einen das Gefühl: mir ist etwas vor enthalten worden. Ich habe etwas nicht bekommen, was mir zugestanden wäre. Worauf ich ein Recht gehabt hätte.

Die Suche ist also auf Wiedergutmachung gerichtet.

Je drängender dieses Gefühl ist, je mehr es mich und mein ganzes Leben versklavt, desto ausgeschlossener ist es, finden zu dürfen.

Oder wo anzukommen.

Da-Sein.

Je tiefer in mich eingebrannt ein Gefühl ist wie: „das hätte niemals passieren dürfen“ – desto geringer sind meine Chancen auf Zufriedenheit.

Und desto sicherer werde ich nicht loslassen von meiner Suche.

Hinzu kommt, dass ich – solange ich Suchender bin – wenigstens irgendwas in der Hand habe.

Ich bestimme, wo ich suche und wo nicht.

Und das gibt mir Sicherheit. Ein Gefühl von etwas kontrollieren können.

Natürlich hätte ich gerne das Leben: aber so wie ich es mir vorstelle.

Wenn ich zu dir, Christus, komme, liefere ich mich aus.

Weiß ich nicht, was da auf mich zukommt.

Das ist ein extrem unangenehmes Gefühl.

Alles aus der Hand geben … Mit leeren Händen stehe ich vor dir …

5,41 Ich nehme nicht Ehre von Menschen; 5,42 aber ich kenne euch, daß ihr nicht Gottes Liebe in euch habt.“

Jetzt wird es richtig hart: wir sind wahrgenommen, „ich kenne euch!“ Wir sind erkannt, durchschaut: „ihr habt nicht Gottes Liebe in euch!“ Gottes Liebe (Genitiv: die Liebe Gottes – aber auch: die Liebe zu Gott) scheint irgendwie im Gegensatz zu der Ehre von Menschen zu stehen. Ich muss aber doch was spüren. Ich brauche Lob. Die Psychologen sind sich darin einig, wie dringend wir Menschen Lob benötigen. Es gibt uns Kraft und Anerkennung.

Gott spüre ich nicht! Wo – bitte – bekomme ich Lob von Gott?

Das Zu-Christus-Kommen bedeutet, auf die Ehre von Menschen zu verzichten. Jedenfalls steht sie nicht mehr im Mittelpunkt. Erst in und mit diesem Verzicht kann die Liebe Gottes in mich hinein kommen, kann sie aufgehen, aufblühen, wachsen und sich entwickeln. Leider ist es aber nicht so, dass die Liebe Gottes einfach da wäre! Wie in einem wundersamen Tausch: ich gebe mein Streben nach Ehre auf – und bekomme Gottes Liebe geschenkt.

Wer dies verheißt ist ein Trickbetrüger.

Ein Scharlatan.

Es ist genau anders: indem mein Ich auf diese Ehre verzichtet, breitet sich ein äußerst unangenehmes Gefühl in mir aus. Es ist so, als würde ich in einen Abgrund fallen. Oder auch als würde das, wovon ich lebe, mir genommen werden. Die Grundlage, der Boden meines Lebens.

Ich muss anerkennen: ich verwende die Ehre von Menschen dafür, dieses innere Loch zu stopfen, diese innere Leere aufzufüllen. Ich muss anerkennen: ich vertraue der Liebe Gottes nicht!

5,43 Ich bin gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen.

Stimmt. Das sind die großen Verführer der Geschichte. Ich möchte ihre Namen nicht nennen, sie haben hier nichts verloren. Alle Verführer leben davon, sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen. Sie setzen ihr „einfaches“ Denken von gut und böse absolut. An anderer Stelle spricht der Christus des Johannesevangeliums vom „Fürsten dieser Welt“ (Joh 15, 11). Der „Fürst dieser Welt“ kann nur bis zwei zählen – in seinem Denken und Erleben ist das Dritte nicht integrierbar. Der Fürst dieser Welt denkt in „Ich zuerst“ und „nach mir die Sintflut!“ Immer wenn es „rein“ wird: die „reine“ Lehre, der „reine“ Glaube, die „einzig richtige Interpretation …“ – dann ist der Fürst dieser Welt aktiv. Der Fürst dieser Welt baut Mauern gegen das Fremde, fühlt sich parasitär ausgebeutet, erlebt und denkt in Macht und Ohnmacht. In diesem Denken ist der Dritte der Feind: ihm wird der Krieg erklärt. Und so bleibt dieses Denken in Zweiheit erstarrt. Was das schöne deutsche Wort: Ver-Zwei-flung wunderbar wiedergibt. Die Kehrseite der Verzweiflung ist der Triumph. Der Fürst dieser Welt ist „great“ und macht alle, die an ihn glauben „great“!

Die große Frage ist: woran glaube ich. „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott“, sagt M. Luther.

Der johanneische Christus fährt fort: „5,44 Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht?“

Ja, möchte ich antworten, die „Ehre, die von dem alleinigen Gott ist“, die zählt in dieser Welt so wenig. Die kann ich mit meinen Sinnen nicht erfassen, mit meinen Gedanken nicht denken. Aber unsere Statussymbole, die kann ich erkennen, mit ihnen kann ich mich schmücken, nach ihnen kann ich mich verzehren.

Was ist das überhaupt: die „Ehre, die von dem alleinigen Gott ist“?

Die „Ehre Gottes“ (hebräisch kawod – griechisch doxa) ist das Leben in Gott hinein und aus Gott heraus. Es ist das, was uns umhüllt, was uns die Luft zum Atmen schenkt. In ihr leuchtet die Wirklichkeit in einem neuen, dreidimensionalen Licht. In ihr wird das Leben lebendig und bunt, in ihr geschieht eine heitere Freiheit.

Wie könnt ihr glauben?

Das Erleben dieser Ehre Gottes ist Ausdruck eines gläubigen Vertrauens.

Ganz wichtig: Jesus sagt nicht: weil ihr nicht glaubt, deshalb werdet ihr verurteilt werden. Ganz im Gegenteil:

5,45 Ihr sollt nicht meinen, daß ich euch vor dem Vater verklagen werde; es ist einer, der euch verklagt: Mose, auf den ihr hofft.

Moses steht hier für das (alttestamentliche) Gesetz, das uns Menschen richtet. Aber nicht nur, denn Christus fährt fort:

5,46 Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben.

5,47 Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?“

Es geht um Glauben! Und Vertrauen!

Selig, wer nicht sieht und doch glaubt!“

Wenn ihr Moses glaubtet, dann würdet ihr erkennen, dass die Gebote für euch gegeben sind. Sie sind nicht Ausdruck eines machthungrigen Gottes, der Unterwerfung will.

Sie sind Ausdruck eines liebenden Gottes, der Leben schützen und bewahren will.

Frei übersetzt bedeuten die 10 Gebote: indem ihr erlebt, dass es eine Kraft gibt, die euch dabei hilft, in eure Freiheit zu kommen, werdet ihr bestimmte Dinge nicht mehr tun. Ihr werdet sie nicht mehr tun, weil ihr sie nicht mehr tun könnt. Euer Herz ist ein anderes geworden, wie Hesekiel (11,19) sagt:

Ich will ihnen ein anderes Herz geben und einen neuen Geist in sie geben und will das steinerne Herz wegnehmen aus ihrem Leibe und ihnen ein fleischernes Herz geben, damit sie in meinen Geboten wandeln …“

Meister Eckhart hat in einer seiner Predigten Jesus dieses Wort in den Mund gelegt: „‚Niemand hört mein Wort noch meine Lehre, er habe denn sich selbst gelassen.'“

Darum geht es. Loslassen bedeutet, sich selbst lassen – auch: „sich selbst in Ruhe lassen, sich selbst sein lassen…“

Sein lassen heißt zunächst einmal: STOP sagen zu den eigenen Angriffen gegen sich selbst: „wie konntest du nur?“ „Warum hast bloß du?“ „Das hast du jetzt davon!“ Dies alles ist Ausdruck einer inneren gehässigen Stimme, die sich gegen das eigene Leben richtet.

Je kräftiger mein STOP wird, desto weniger Chancen hat diese Stimme. Oder mit Martin Luther: hat der „alte Adam“! Luther sagt: täglich muss der alte Adam ersäuft werden. Das ist mühsam, kostet viel Kraft.

Gelassenheit auch dem alten Adam gegenüber wäre ein anderer Weg. Gelassenheit heißt, ihm die Aufmerksamkeit entziehen. Dann erlebe ich, dass ich viel weniger „muss“, als ich immer meine. Dass es gut genug ist, wie es ist. In diesem Geschehen wächst eine neue Kraft in mir: die, mein Leben gerade so, wie es geworden ist, freundlich und liebevoll anzunehmen.

Natürlich bleiben die Herausforderungen: gerade wenn ich müde und erschöpft bin, wenn ich Schmerzen erleide, wenn Menschen, die mir nahe stehen, krank werden, Leid tragen … – dann spüre ich einen Sog, wieder alles in Frage zu stellen.

Auch und gerade meinen Glauben.

Auch und gerade solche Gedanken wie die von der Gelassenheit in Gott.-

Und dann tut der Gedanke gut: dass der Zweifel und das Infragestellen eben auch zu meinem Leben hinzu gehört. Dass auch er seinen guten Platz bekommt. Der Zweifler und der Gläubige: sie sitzen gemeinsam am Tisch.

Dies ist wie ein Brückenschlag, wie ein Regenbogen – hin zur Liebe Gottes.

Und dazu verhelfe uns Gott – dass unser alltägliches Leben geschieht in der Freude, in der Leichtigkeit, in der Heiterkeit eines Lebens, das sich immer müheloser und selbstverständlicher Gott überlassen hat und überlässt, AMEN.

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Pfingsten 2017

Predigt über Johannes 16, 5- 15 in der Jakobuskirche in Pullach an Pfingsten 2017

Die Dunkelheit des Vaters, das Licht des Sohnes und die liebende Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth. (Sach 4,6)

Dieses alttestamentliche Wort umrahmt unseren heutigen Pfingstgottesdienst.

Das Evangelium und der Predigttext – beide aus dem Johannesevangelium – geben diesem Rahmen Inhalt. Substanz. Sie veranschaulichen ein Geschehen, das nicht auf Macht aufgebaut ist – sondern auf Erkenntnis. Und Erkenntnis heißt im Hebräischen auch Liebe.

16,5 Jetzt aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat; und niemand von euch fragt mich: Wo gehst du hin?“

Der Jesus – besser Christus – des Johannesevangeliums spricht nie nur für sich. Er denkt, lebt und erlebt sich stets in Beziehung zu seinem „Vater“. Dies ist nun nicht so besonders, da wir Menschen als Säugetiere Beziehungstiere sind. Wir konnten nur in Beziehung überleben. Und wir konnten nicht anders als die Art und Weise dieser frühen Beziehung (ihre Qualität) zu verinnerlichen. Mit jedem Schluck Milch, den wir als Babys getrunken haben, haben wir auch einen Schluck des „Geistes“, der „Atmosphäre“ mit getrunken, in dem/der wir gefüttert, gestillt worden sind. Mit Geist meine ich das ganzheitliche Empfinden und auf der Welt-Sein unserer frühen Nahrungsquelle. Wir haben ihre Freude gefühlt oder ihre Trauer, wir haben ihren Schmerz gefühlt und ihre Ängste, wir haben ihre Verzweiflung gespürt und ihren Druck, wir haben ihre Zuwendung gefühlt und ihre Liebe … Und jeder von uns hat wenigsten soviel Zuwendung mit getrunken, dass er ins Leben gekommen ist. Sonst wäre er nicht hier.

Und niemand von euch fragt mich: wo gehst du hin?“

Um eine Frage stellen zu können, muss ich auf eine Idee kommen. Muss ich etwas für denkbar halten. Ganz kleine Babys halten es nicht für denkbar, dass die Mutter(brust) (die Quelle des Lebens) sie verlässt. Sie halten es auch nicht für denkbar, dass sie da ist. Ein „Weg und Da“ ist nicht denkbar. Abstrakter: Zeit und Raum ist nicht denkbar. Erst nach einigen Wochen beginnen Babys zu erahnen, dass es in dieser Welt ein Kommen und ein Gehen gibt. Dabei entsteht die Ahnung von Zeit und von Raum. Dies alles geschieht in heftigsten emotionalen Turbulenzen. Es geht um Sein oder Nicht-Sein, um das verzweifelte Gefühl der Leere verbunden mit verhungern. Und da ich eine rudimentäre Erinnerung daran habe, dass es da etwas gibt, was ich brauche um zu leben, entsteht der Gedanke: da gibt es etwas, das mich vernichtet! Das mich verhungern lässt. Der springende Punkt ist: Abwesenheit ist nicht denkbar. Abwesenheit wird gefüllt mit gedachter Anwesenheit eines zerstörerischen Etwas! Daraus – und nicht aus dem Wohlbehagen: wie schön ist das Leben! – entstehen unsere ersten Gedanken! Diese allerersten Gedanken, aus denen die Vernichtungsangst sich ausdrückt, suchen dringend ein Etwas, ein Jemand, das sie hält und beruhigt. Finden sie dies nicht, wird die Verzweiflung immer verzweifelter, die Einsamkeit immer trostloser. In der Panik vieler Menschen, ein Pflegefall zu werden, bildet sich Erinnerung ab: die Erinnerung daran, wie es gewesen ist, klein, abhängig, fremden Mächten ausgeliefert zu sein.

Was wir Menschen brauchen, was uns gesund macht, ist irgend etwas, das uns „hält“, das uns „beruhigt“. Viele Menschen setzen hier auf Autarkie: „ich bin mir selbst der Nächste, das muss ich mir selber geben!“ Jedenfalls muss ich das, was ich brauche, „unter Kontrolle haben!“ Am Anfang was das ganz anders: das was ich brauchte konnte ich eben nicht kontrollieren: es kam über mich – mit einem Mal floss etwas Warmes, Süßes, Wohlschmeckendes in mich hinein, das mir ein unendliches Wohlbehagen und Glücksgefühle bescherte.

Daraus verdichtete sich in unserer frühen Zeit allmählich ein Konzept: da gibt es eine Macht, die mich vernichten will und eine Gegen-Macht, die mir Gutes tut, die mich am Leben erhält.

Menschliches Denken entspringt einer radikalen Aufteilung oder Spaltung der Welt!

16,6 Doch weil ich das zu euch geredet habe, ist euer Herz voll Trauer.“

Es geht um das Ertragen von Trauer. Menschen, die auf Macht und Heer setzen, können nicht trauern. Ihnen fehlt das Gefäß, Trauer zu ertragen. Und so können sie sich nicht einfühlen. Sie bleiben kalt und unbarmherzig. Das Gefäß (die Seele) für Trauer entwickelt sich aus den vielen Erlebnissen, mit unseren frühen Nahrungsquellen: mit wieviel Verständnis und Liebe wurden wir gefüttert? Oder ging es in erster Linie darum, einer Norm zu entsprechen, zu funktionieren. Wollten unsere Eltern ein Baby zum Vorzeigen haben, oder richtete sich ihr Augenmerk auf unser ganzheitliches (körperlich-seelisches) Wachstum? Waren wir als Baby überhaupt erwünscht in unserem eigenen Baby-Sein, oder sollten wir möglichst schnell kleine Erwachsene sein: brav, gut angepasst, gut funktionierend. „Mein Baby/Kind ist so brav!“ Mit diesem Satz einer stolzen Mutter verbindet sich zumeist ein depressives Baby oder Kind.

Das seelisch gesund entwickelte Baby erlebt erstmals diese Trauer mit drei Monaten: die Trauer darüber, dass es nicht die Macht hat, die Mama zu halten: dass die Mama kommt und geht. Die Trauer darüber, dass es das „Rein-Gute“ und das „Rein-Böse“ nicht gibt. Diktatorisches Denken ist zu dieser Trauer nicht fähig. Es kennt keine Mitte, kein Mittelmaß. Und so erschafft es die „Rein-Bösen“, die zu vernichten sind – und die „Rein-Guten“, denen alles zusteht. Religionen eignen sich ebenfalls hervorragend für diese Aufteilung: da sind es dann die „Gläubigen“ und die „Ungläubigen“. Wichtig ist, dass Ich – „mein Ich“ – stets auf der Seite der „Rein-Guten“ steht.

In einer gesunden Eltern-Kind-Beziehung stellt sich immer mehr heraus: es ist gut genug – nicht perfekt, aber ausreichend gut. „Es“ heißt: alle Beteiligten sind gut genug. Und: zum Leben gehört Trennung unweigerlich dazu. Wobei ich unterscheide zwischen einer guten Trennung und katastrophalem Verlassen-Werden.

16,7 Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, daß ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden.“

Genau so ist es. Der johanneische Christus beschreibt eine „gute Trennung“. Eine Trennung, die kräftigt. Das Durchleben und Durchleiden dieser Trennung geht nicht ohne die Schmerzen der Trauer, die Schmerzen des Abschied-Nehmens. Dies aber sind gute Schmerzen: es sind Wachstumsschmerzen für der Seele. Auf diesem Weg erhält die Seele ihr Rüstzeug für ein Leben in lebendigen Beziehungen. Denn Beziehungen, in denen man nicht weggehen darf, in denen Trennung Tabu ist, die sind erstarrt. Oder vereist. In dieser Erstarrung bleibt seelische Entwicklung blockiert. In seelischer Erstarrung bleibe ich untröstlich.

Der Tröster, der Heilige Geist, ist nur über den Weg der Trauer und des Abschiedsschmerzes erlebbar.

Es sind meine Tränen, die dazu verhelfen, meine vereisten Seelenteile aufzutauen.

Es sind meine Tränen, die mir helfen, mich dem Tröster zu öffnen.

16,8 Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht;

16,9 über die Sünde: daß sie nicht an mich glauben;

16,10 über die Gerechtigkeit: daß ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht;

16,11 über das Gericht: daß der Fürst dieser Welt gerichtet ist.“

Indem ich Trost erlebe, oder – personifiziert – den Tröster erlebe, gehen mir die Augen auf. „Ich erwache“.

Und was sehe ich?

Ich erkenne, dass Sünde keine moralische Verfehlung ist. Sünde ist ein Beziehungsgeschehen: es geht um Ur-Vertrauen oder Ur-Misstrauen. Auch dies ist ein Geschehen, das bereits in unserer Babyzeit sich bildet: mit wie viel Urvertrauen gehe ich in die Welt? Im Urvertrauen bildet sich ab, inwieweit ich mich gehalten gefühlt habe – oder fallen gelassen. Aus dem „ungehaltenen“ Baby wird ein „ungehaltener“ Erwachsener. Er ist ausgeliefert seinen ungehaltenen Impulsen, die er verzweifelt über Macht in den Griff zu kriegen versucht. Der vielfach beklagte Egozentrismus („Ich zuerst!“) ist in der Tiefe ein verzweifelter Versuch, sich selber am Leben zu halten. In dieser Verzweiflung ist kein Raum für Rücksicht, Respekt, Sich-selbst-Zurücknehmen. Und damit sind Vertrauen, Los-Lassen, Sich-Fallen-Lassen unmöglich geworden. Dies drückt sich aus in Verspannungen, Kreuzschmerzen, Schlafstörungen, Süchten, die dies alles betäuben sollen… und nicht zuletzt in Überheblichkeit.

Was sind wir nicht alle „great“ – oder etwa nicht?

Indem ich den Tröster erlebe, gehen mir die Augen auf. Was sehe ich noch?

Ich erkenne Gerechtigkeit. Erkenne, dass Gerechtigkeit nicht Gleichheit ist, sondern dass es eine gute Grundordnung mit wohl geordneten Beziehungen gibt. Erkenne, was wie zusammen gehört. So ist gerecht und notwendig, dass Jesus zu seinem Vater geht: genau da gehört er nämlich hin, da ist sein Platz. Das gesunde Kind erkennt und verinnerlicht, dass die Mutter zum Vater gehört, und der Vater zur Mutter. Und dadurch entsteht eine unglaubliche Freiheit: das gesunde Kind ist frei für sein ganz eigenes Leben; es muss sich nicht um das Wohlergehen seiner Eltern kümmern … In einer gesunden Seele lebt ein lebendiges Dreieck: Vater – Mutter – Kind. Und die Schenkel dieses Dreiecks sind liebevoll miteinander verbunden. (In der Trinitätslehre wird dieses Dreieck spirituell gedeutet: wobei der Heilige Geist das Weibliche, mütterliche Element darstellt: Augustinus bezeichnet ihn als das Band der Liebe zwischen Vater und Sohn.)

Und noch ein Drittes eröffnet der Tröster: dass der „Fürst dieser Welt“ gerichtet ist.

Der „Fürst dieser Welt“ kann nur bis zwei zählen – in seinem Denken und Erleben ist das Dritte nicht integrierbar. Der Fürst dieser Welt denkt in „Ich zuerst“ und „nach mir die Sintflut!“ Immer wenn es „rein“ wird: die „reine“ Lehre, der „reine“ Glaube, die „einzig richtige Interpretation …“ – dann ist der Fürst dieser Welt aktiv. Der Fürst dieser Welt baut Mauern gegen das Fremde, fühlt sich parasitär ausgebeutet, erlebt und denkt in Macht und Ohnmacht. In diesem Denken ist der Dritte der Feind: ihm wird der Krieg erklärt. Und so bleibt dieses Denken in Zweiheit erstarrt. Was das schöne deutsche Wort: Ver-Zwei-flung wunderbar widergibt.

Liebe Gemeinde,

das war jetzt ziemlich viel. Und einmal mehr werde ich am Ausgang zu hören bekommen: bei Ihnen muss man immer soviel nachdenken!

Was soll ich dazu sagen?

Dass Denken vor Demenz schützt?

Dass es jedem frei steht, ob der nach-denken will, oder eben nicht?

Oder:

16,12 Ich habe euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen.“

(Das kam jetzt nicht von mir, unser Predigttext geht nämlich noch weiter!!!)

16,13 Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten. Denn er wird nicht aus sich selber reden; sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen.

16,14 Er wird mich verherrlichen; denn von dem Meinen wird er’s nehmen und euch verkündigen. 16,15 Alles, was der Vater hat, das ist mein. Darum habe ich gesagt: Er wird’s von dem Meinen nehmen und euch verkündigen.“

Meister Eckhart beendet seine Predigt über Matthäus 5,3: „Selig sind die Armen im Geiste“ mit folgendem Gedanken:

Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn, solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, solange wird er diese Rede nicht verstehen; denn diese ist eine unverhüllte Wahrheit, die da gekommen ist aus dem Herzen Gottes unmittelbar.“ (Predigt 52)

Und andersherum: je stärker der Mensch dieser Wahrheit gleicht, desto inniger verwandelt sich sein konkreter Glaube an einen konkreten Menschen in die unglaubliche Freiheit des Erlebens, selbst Gottes Tochter oder Sohn zu sein. Zu sein!!Indem ich durch die Taufe diesen Glauben geschenkt bekomme, lebe ich in der Freiheit des dreifaltigen Gottes. Diese Freiheit hat nichts mit Wahl-Freiheit zu tun: es ist „die Freiheit eines Christenmenschen“, befreit zum freudigen Mitwirken im Schöpfungshandeln Gottes. Damit dies möglich wird, muss Jesus zum Vater zurückkehren. Und wir müssen durch den Abschiedsschmerz hindurch gehen.

Dass wir zu Gottes Wahrheit kommen mögen, dass wir Gottes Wahrheit gleichen mögen, dass wir aus Gottes Wahrheit heraus leben mögen – dazu verhelfe uns der dreieinige Gott, der Vater und der Sohn und der Heilige Geist, AMEN.

Und die Liebe des dreieinigen Gottes schütze und erhalte unsere Seele, AMEN.

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Predigt zum Ostermorgen in der Jakobuskirche in Pullach (16.04.2017)

Liebe Gemeinde,

die Auferstehung von Jesus Christus ist eine einzige Katastrophe.

Nichts ist mehr, wie es war.

Dementsprechend endet die gute Nachricht, das Evangelium des ältesten Evangelisten (Markus) mit folgendem Statement:

„Und sie (die Frauen) gingen hinaus und flohen vor dem Grab; denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Und sie sagten niemand etwas, denn sie fürchteten sich.“

Was war da wohl so ängstigend?

Christ ist erstanden!

Das ist doch eine Jubelbotschaft!

Jubilate deo!

„Tod wo ist dein Stachel, Hölle, wo ist dein Sieg?“

… denn sie fürchteten sich!“

Sollten wir Angst vor dem Leben haben?

Sollten wir Angst vor der Lebendigkeit des Lebens haben?

Sollte es so sein, dass es viel beruhigender, sicherer ist, den Toten in seiner Grabhöhle zu balsamieren – als den horror vacui, als das Entsetzen des Nichts zu erleben und zu erleiden: „Was sucht Ihr den Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier!?“

Hier ist – Nichts!

Lass die Toten die Toten begraben“, hatte er gesagt. „Du aber folge mir nach.“

Und: „Wer sein Leben behalten will, der wird es verlieren. Wer es aber verliert um meinetwillen, der wird es erhalten!“

Was nützte es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und doch Schaden nähme an seiner Seele!“

Dunkle Sätze. Wäre es da nicht besser, beruhigender, er wäre tot. Tot geblieben?

Für mich hat das heutige Osterfeuer in ganz persönlicher Weise mit Tod zu tun. In ihm werden etliche der Hölzer verbrannt, die zu Beginn der 80er hier hinter dem Altar standen. Drei nackte, harte Holzkreuze. Ich hatte mich damals sehr leidenschaftlich für diese Kreuze eingesetzt. Sie waren für mich das unbequeme Mahnmal dafür, dass Jesus Christus als Verbrecher hingerichtet worden ist. Sie waren Ausdruck meiner Empörung. Über so Vieles, was ich in meinem Leben und auf der Welt als ungerecht empfand. Und natürlich brachte ich darin auch meine jugendliche Abneigung gegen jegliche Form von „Herrschaft, Macht und Establishment“ unter.

Und heute wurden sie, die Balken auch meines Denkens, wurde sie (die Empörung) dem Osterfeuer übergeben. Sie verbrennen. Und das ist gut so.

Im Leben lässt sich nichts festhalten. Nicht einmal das Leben selbst lässt sich festhalten. Wer sein Leben behalten will, der wird es verlieren. Das einzige, woran ich festhalten kann, ist meine eigene Täuschung über die Wirklichkeit.

So ist es auch eine Verführung, Jesus Christus als den neuen Anker, den neuen Fest-Halter zu benutzen.

Was sucht Ihr den Lebendigen bei den Toten? ER ist nicht hier!“

Jesus Christus lässt sich auch nicht finden in historischen Nachweisen oder gar Beweisen.

Jesus Christus lässt sich finden im Fließen des Lebens selbst.

Als ich des Suchens müde ward, erlernte ich das Finden …“

Indem ich damit aufhöre, Gott verzweifelt zu suchen .. erst da öffnet sich eine neue Möglichkeit: nämlich die, mich von Gott finden zu lassen …“

Mich von Gott finden lassen, heißt nicht: ab jetzt wird alles gut. Heißt nicht: es gibt keine Schmerzen mehr, keine Krankheiten, keinen Tod.

Mich von Gott finden lassen heißt für mich:

meinem so und nicht anders verlaufenen Leben ein tiefes „Einverstandensein“, ein „Ja, in Gottes Namen, so war es … so ist es “ mit zu geben.

In diesem „Ja, in Gottes Namen“ verbrennen die Kreuze meiner Empörung, meines Haderns, meines Nicht-Einverstanden-Seins.

Und darin wächst meine Kraft, Leben hinzunehmen. Zu ertragen.

Und darin wächst die Kraft des mich Hingebens. Mich überlassen an mein Leben, so wie es (geworden) ist und wie es ist und wie es geschehen wird. Mit Angst und Zittern. Mit der Klage: „Herr, lass diesen Kelch an mir vorüber gehen!“ Und doch: „dein Wille geschehe!“

Und daraus erwächst die Kraft, mein Leben, das Leben zu lieben: in seiner Endlichkeit, Vergänglichkeit, Schmerzlichkeit, Ungerechtigkeit.

Und ganz am Ende schimmert eine Hoffnung, vielleicht bei allen Zweifeln selbst liebenswert zu sein. Liebenswert heißt nicht: toll sein. Oder berühmt sein. Oder vorne dran sein. Nichts dergleichen.

Liebenswert-Sein – da schwingt mit: schon in Ordnung zu sein. Oder: gut genug sein. Vielleicht auch: recht sein.

Dass es keinen Grund gibt, ausgeschlossen zu werden.

Die Welt hat versucht, diesen merkwürdigen Jesus aus Nazareth auszuschließen. Er, seine Rede, seine Predigt, seine Person waren unerwünscht.

Vor Gott ist die Welt damit nicht durchgekommen.

Vor Gott und von Gott her heißt es: „Siehe, das ist mein Sohn!“ Wenn ihr euch für mich interessiert, dann wendet euch an ihn. Hört und merkt euch, was er gesagt und getan hat.

Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier.“

Der Auferstandene ist immer da, wo die Liebe keimt.

Es ist so erstaunlich: könnte ich glauben, liebenswert zu sein, könnte ich glauben, von dem lebendigen Gott geliebt zu werden – dann würde diese Liebe natürlich auch auf meine Mitmenschen ausstrahlen. Und mehr noch: auf meine Mit-Tiere, Mit-Pflanzen, auf alles um mich herum.

Dann erstrahlt das Leben in einem neuen Licht. Nichts ist mehr selbstverständlich: alles wird zu einem Geschenk. Sei es nachher der erste Schluck Kaffee, oder das Osterei, oder der Osterschinken.

Und dann wäre und bliebe der Andere auch irgendwo liebenswert. Auch wenn ich mich gerade so sehr über ihn ärgern muss.

Daran wird jedermann erkennen, dass Ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“

Das hat er auch gesagt, dieser merkwürdige Mensch aus Nazareth.

Dessen Botschaft bis heute nicht tot zu kriegen ist.

Von dem es heißt: „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten? Er ist nicht hier!“ AMEN.

Predigt zum Ostermorgen in der Jakobuskirche in Pullach (16.04.2017) Weiterlesen »

Predigt über Markus 12,41 -44 am Sonntag Okuli in der Jakobuskirche Pullach (2017)

Das Scherflein der Witwe“

Liebe Gemeinde,

„Mein Augenmerk ist auf IHN gerichtet“ so übersetzt M. Buber den Psamvers, nach dem unser heutiger Sonntag benannt ist. Sonntag „Okuli“. Wörtlich: der Augen-Sonntag.

Augenmerk klingt hin zu Aufmerken. Zu Aufmerksamkeit.

Meine Aufmerksamkeit ist auf IHN gerichtet.

„Möge Gott mein Genüge sein!“

sagt Theresa – sagt Rumi.

Was bedeutet das? Und: wichtiger noch – ist das alltagstauglich?

Indem Gott mir genügt – falls ich das erlebe, und nicht nur so daher rede – indem Gott mir genügt, wird es ruhig in mir. Still.

In dieser Stille bin ich ganz bei mir, ganz bei der Sache:

„Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geeignet für das Reich Gottes!“ (Unser Wochenspruch)

Klare Aussage. Heißt genau?

Der Bauer zur Zeit Jesu ging mit seiner Pflugschar hinter dem Zugtier her. Um eine gerade Rinne zu pflügen, musste er ganz da sein.

Hierfür ist ein weicher Blick nötig. Sie kennen diesen Blick vom Autofahren: wenn ich auf zu nahe scharf stelle, kann ich nicht mehr gerade fahren. Wenn ich zurück sehe, werde ich sehr schnell im Straßengraben landen.

„Ein weicher Blick“. Das klingt nach träumerisch, verträumt. Stimmt – und stimmt nicht. Beim Autofahren kann ich gerade so fließend, weich – ohne ruckartige Bewegungen fahren.

Dies gilt auch für das zu Fuß gehen.

Ich kann grübelnd Löcher in den Boden bohren. Ich kann abwesend in den Himmel schauen. Beide Male werde ich wenig davon mitkriegen, wo ich gerade bin, was mich umgibt.

Es geht um die Verbindung des weichen Blickes mit Klarheit und Präzision. Ein guter Reiter starrt seinem Pferd keine Löcher in den Rücken. Er schaut aber auch nicht zum Himmel. Sein Blick ist weich im Umfeld dessen, worin er sich bewegt.

Es tut gut, diesen weichen Blick alltäglich zu üben.

Die Verbindung von Klarheit darüber, wohin der Weg geht mit einem träumerischen Sich-anmuten-Lassen von dem, was gerade geschieht.

Es geht um gute Verbindungen. Die andere Art zu sehen ist das Kippbild: ich kippe von dem Einen zum Anderen. Dies ist ein Unvermögen zu sehen. Ich kann keine Ganzheit sehen: nur entweder die Kraniche – oder das Profil.

Die Welt und sich selbst als Kippbild sehen drückt aus: mir fehlt ein inneres Gefäß, das das Eine mit dem Anderen wohlgeordnet verbindet.

Das Leben mit dem Sterben,

die Trauer mit der Freude,

den Schmerz mit der Lust,

das Weiß mit dem Schwarz,

den Hass mit der Liebe …

Ein inneres Gefäß für Ganzheit drückt sich in dem Satz aus: „Möge Gott mein Genüge sein!“

Gerade religiöse Bücher – wie die Bibel oder der Koran – eignen sich jedoch hervorragend dazu, Kippbilder zu erzeugen.

Z.B. unserer heutiger Predigttext aus dem Markusevangelium, Kapitel 12, 41 – 44:

41 Und Jesus setzte sich dem Gotteskasten gegenüber und sah zu, wie das Volk Geld einlegte in den Gotteskasten. Und viele Reiche legten viel ein. 42 Und es kam eine arme Witwe und legte zwei Scherflein ein; das macht zusammen einen Pfennig.

43 Und er rief seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt als alle, die etwas eingelegt haben. 44 Denn sie haben alle etwas von ihrem Überfluss eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte.

Die Botschaft ist schnell und übersichtlich:

was die Witwe macht ist gut, sie ist das Vorbild. Was die Reichen machen ist nicht schlecht, aber irgendwie zu wenig. Die Witwe hat „mehr eingelegt“.

Nun ist es ebenso leicht wie scheinheilig, wenn ich versuche, Ihnen die Witwe als Vorbild zu predigen. Ich gehöre nicht zu den Armen, sondern zu den Reichen. Und ich vermute: die meisten von Ihnen ebenfalls.

Und ich denke gar nicht daran, alles, was ich habe, herzugeben. Mit dem Hergeben habe ich ohne hin keine guten Erfahrungen:

Eine Geschichte aus meiner Kindheit (ich war höchstens 5 oder 6 Jahre alt): ich bekam von meiner Mutter am Kiosk einen Lutscher geschenkt. Da kam eine Bekannte meiner Mutter und sagte: „hast du einen schönen Lutscher. So einen hätte ich auch gerne!“ Meine Mutter zu mir: „Schenkst du ihn der Tante?“ Ich hatte gelernt, dass es gut ist, das zu machen, was man/Mama von mir will. Und hielt ihn der Frau hin. Daraufhin antwortete diese: „Du bist aber lieb. Nein, nein, du darfst ihn schon selber essen!“

Ich kann mich deshalb so präzise daran erinnern, weil ich mich an ein bestimmtes Gefühl erinnere: das der „Matsche im Kopf“. Ich hatte keine Ahnung, was das jetzt alles bedeuten sollte. Und warum ich „lieb“ war. Und warum ich jetzt doch meinen Lutscher selber essen sollte.

Was in dieser Geschichte fehlt, ist ein Dritter. Eine dritte Ebene, die unterscheidet zwischen mein und dein. Der Weg raus führt über die Anerkenntnis: „das ist dein Lutscher. Und es ist deine Entscheidung, was du damit machst. Du kannst ihn essen, du kannst ihn herschenken, du kannst ihn dir aufbewahren.“ Fehlt die Klarheit von mein und dein, von ich und du, entsteht ein mentaler Nebel. Eben „Matsche im Kopf“. Kinder und Jugendliche brauchen für ihre gesunde seelische Entwicklung einen Entwicklungsraum, in dem sie sich selber kennen lernen und erfahren dürfen. Diesem Entwicklungsraum wird in unserem Schulsystem wenig Rechnung getragen. Benotet wird v.a. die Fähigkeit, sich anzupassen. Das wiederzukäuen, was der Lehrer hören will. Freies, selbstständiges Denken ist unerwünscht, da gefährlich. Es verunsichert.

Jesus – unser Jesus – war nicht als Person gefährlich – seine Gedanken waren so gefährlich: „Lass die Toten die Toten begraben!“ „Wer seine Hand vom Pflug nimmt und sieht zurück …“ Hier weht der kühle Wind eines radikal anderen Denkens – das noch in den Evangelien selbst entschärft worden ist.

Scharf wird es dann, wenn ich das, was Jesus sagt, so ernst nehme, dass ich selbst danach leben will. Bei mir verknüpft sich dann die Botschaft Jesu mit der meiner Mutter: gib‘ alles her, was du hast. Der liebe Gott will das so von dir! Zurück bleibt ein vernebeltes Ich. Übrigens: genauso werben Sekten.

Der neuzeitliche Atheismus stammt aus der Aufklärung. Die Aufklärung hat mit der Erkenntnis der Mündigkeit des Menschen zu tun. Der Mensch hat selbst einen Mund – und ist nicht Sprachrohr für einen fremden Mund. Dass jeder mit seinem eigenen Mund spricht und nicht sich einem König, Zar oder Kaiser unterwirft, ist auch die Geburtsstunde unserer derzeit so umkämpften Demokratie. Und wenn es dem Christentum nicht gelingt, hier Stellung zu beziehen, wird es wohl nicht mehr lange existieren. Die christliche Religion muss ihre Alltagstauglichkeit beweisen!

Das Neue, das ich vorschlage – mit dem ich freilich in der evangelische Landeskirche auf wenig bis keine Resonanz stoße -, ist, unseren Predigttext und überhaupt religiöse Texte zunächst als Beschreibung eines inneren Prozess, eines inneren Geschehens zu lesen. Als eine Dynamik in der menschlichen Seele, die sich dann im Außen auswirkt.

Dann würde die Witwe meine Bedürftigkeit repräsentieren. Witwen waren in der damaligen Zeit arme, sehr arme Frauen. Die Witwe steht für meine Bedürftigkeit. Für meine innere Armut. Das einzige, was sie besitzt sind zwei Scherflein. „Scherflein“ klingt nach „scharf“. Und so ist es auch: es ist eine scharfkantige „Scherbe“ – aus Silber oder Kupfer – mit wenig Wert. Ein Scherf entsprach ungefähr einem halben Pfennig. In der Bedürftigkeit, in der Armut ist es naheliegend, verbittert zu werden. In der Armut ist naheliegend das Statement von B. Brecht: „Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral!“ (Sie können das bei sich selbst erleben, wenn Sie hungrig sind, aber kein Essen ist in Sicht. Da ist schnell Schluss mit Geduld und Nächstenliebe. Ähnlich ist es, wenn man Schmerzen erleidet.)

Die Witwe gibt mit ihrem „Scherflein“ auch ihr „Scharfes“ weg. Und es sind zwei Scherflein, die sie weg gibt: die Zwei weist häufig auf Ambivalenz, auf entweder oder hin. Die Witwe opfert ihr Entweder-Oder-Denken.

Ein „Scherf“ ist eine „Scherbe“. Unser Entweder-Oder-Denken ist ein Denken in Scherben: wir sehen immer nur Teile der ganzen Wirklichkeit. Paulus: „jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleich wie ich erkannt bin“ (1. Kor. 13,12).

Die ganze Wirklichkeit ist unerkennbar. Diese Einsicht, dass wir etwas nicht erkennen können, mögen wir nicht.

Die Witwe steht für eine radikal neue Art des Denkens, das die Sicherheit von falsch und richtig losgelassen hat.

Indem ich dies versuche, wird meine Bedürftigkeit leer. Meine Wünsche, meine Sehnsüchte, meine Erwartungen, meine Hoffnungen, mein Verstehen … alles, was mir aus mir heraus Sicherheit gibt, lasse ich los.

Meine Urteile und Verurteilungen, meine Vorurteile und Bewertungen. All das gebe ich dahin.

Und dann wird es still.

Dann stehe ich mit nichts mehr da.

Der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.“

Mit leeren Händen stehe ich da.

Nichts: worauf mich berufen kann.

Nichts: was ich vorweisen könnte.

Nicht einmal Gott kann ich vorweisen – denn Gott selbst ist auch zu jenem Nichts geworden. Auch ihn habe ich dahin gegeben. Das ist die schwerste der drei dunklen Nächte, sagt Johannes vom Kreuz: die Nacht, in der Gott selbst in der Dunkelheit verschwindet.

Jemand hat mir einmal gesagt: als ich schwer krank war und nicht sicher, ob ich wieder auf die Beine komme, da hätte ich mir so gewünscht, Gott zu spüren. Aber da war nichts. Es klang enttäuscht.

Es ist verständlich, aus dieser Enttäuschung heraus – „da ist ja nichts!“ – den Weg abzubrechen. Und sich dem zuzuwenden, wo was ist.

So kam es zum Triumph der Naturwissenschaften über die Geisteswissenschaften. In diesem Triumph ist das Denken und Erleben im Bereich des Nicht-Sichtbaren, Nicht-Greifbaren verarmt. Und verarmt laufend weiter. Welch eine Ironie: wir reichen Westeuropäer sind verarmt! Wir haben keine Zeit mehr, unser Kopf muss ständig irgend einen Gedanken denken, wir brauchen Handy, Fernseher, Radio, wir müssen reisen, von einem Ort zum nächsten, und fotografieren, und Eindrücke sammeln, irgendwas ist immer los, irgendwas ist immer an, brauchen wir, um abgelenkt zu sein, um nicht spüren zu müssen:

es ist nichts!

Vielleicht gibt es ja auch eine Renaissance der Geisteswissenschaften. So wie es eine Renaissance des guten alten Schallplattenspielers gibt – wie in der SZ am Wochenende zu lesen ist.

Merken Sie es: indem ich „guter alter Schallplattenspieler“ sage, werte ich schon wieder. So schnell und so unvermeidbar bewerten wir. Als ich in der Woche mit ein paar Konfirmanden zusammen saß, stellten wir fest: wir werten unentwegt: das war cool, das besch … eiden, das ätzend, das geil, das krass usw. usw. …

In den Bewertungen richten wir uns ein. Unentwegt strömen sie auf uns ein.

Aber indem wir ein klein bisschen dahinter schauen, sind wir ihnen schon nicht mehr so ganz und gar ausgeliefert. Und ab und zu erscheint eine Witwe in uns, die hat die Kraft, dies alles los zu lassen.

Und woran erkennen wir, dass dieses Loslassen ein echtes Loslassen ist – tief aus dem Innern kommend, nicht gemacht, nicht schielend auf Lob, Anerkennung …

Es gibt Augenblicke, da lacht die Seele. Da werden wir durchströmt von einer inneren Heiterkeit. Unsere Augen leuchten und das Leben fühlt sich leicht an. „Mein Joch ist sanft“, sagt Jesus. In diesen Augenblicken haben wir unsere Scherflein des Recht-Habens geopfert. Und stehen lachend mit leeren Händen da.

In diesen Augenblicken ist alles gut.

Möge Gott mein Genüge sein!“ AMEN

Predigt über Markus 12,41 -44 am Sonntag Okuli in der Jakobuskirche Pullach (2017) Weiterlesen »

Predigt über Lukas 10, 38 -42 am Sonntag Estomihi in der Corneliuskirche Karlsfeld (2017)

„Erst seit auf Erden

Ein jeder weiß von der Schönheit des Schönen,

gibt es die Hässlichkeit;

Erst seit ein jeder weiß von der Güte des Guten,

Gibt es das Ungute, das Böse.

Wahrlich:

Sein und Nichtsein entspringen einander;

Schwer und Leicht bedingen einander;

Lang und Kurz vermessen einander;

Hoch und Tief erzwingen einander.

Die Stimme fügt sich dem Ton im Chor;

Und ein Danach folgt dem Zuvor.

Deshalb der Heilige (Ganzheitliche) Mensch:

Er weilt beim Geschäft des Ohne-Tun,

Er lebt die Lehre des Nicht-Redens.

So die Dinge werden geschaffen von ihm,

Doch er entzieht sich ihnen nicht.

Er zeugt aber besitzt nicht;

Er tut, aber er baut nicht darauf.

Ist das Werk vollendet, verweilt er nicht dabei.

Wohl! Nur dadurch, dass er nicht verweilt,

ist nichts, das ihm entginge.“

Mit diesem zweiten Kapitel aus dem Tao-Te-King von Laotse möchte ich Sie, liebe Gemeinde, einstimmen, der geistlichen Musik dieses Gottesdienstes zu lauschen.

Sonntag Estomihi – „sei mir ein starker Fels!“

Ein Fels auf dem ich etwas aufbauen kann.

Ein Grundlage. Ein „fundamentum inconcussum“: ein Fundament, das nicht zerfällt, das steht.

Er tut – aber er baut nicht darauf“ heißt es im Tao. „Ist das Werk vollendet, verweilt er nicht.“

Verweilen bedeutet: selbst zufrieden werden im Sinne von satt sein.

Selig sind die da hungern und dürsten (nach Gerechtigkeit!“) sagt Jesus in den Seligpreisungen.

Die nicht nur in unserer Zeit beliebten Polarisierungen leben von ihrer Zerrissenheit. Polar bedeutet: nur ein Pol ist wesentlich. Nur eines ist richtig. Alles andere ist falsch. Anders ausgedrückt: Verbindungen sind zerstört. Anstelle der Verbindung tritt ein ein entweder – oder. Das verbindende „Und“ ist exkommuniziert. Grautöne sind unerwünscht. Dass es ein „Dazwischen“ geben könnte, ist undenkbar.-

Diese Art des Denkens beruht auf Zerstörung. Kompromissen, Maßvollem, Gemäßigtem ist der Krieg erklärt. Die Art des Denkens benötigt verallgemeinernde Propaganda: die Asylanden sind Terroristen, die Arbeitslosen sind faul, die Juden sind … Diese Art des Denkens verweilt auf einem Pol, um den anderen zu verteufeln.

Ich möchte mit und bei Ihnen eine andere Möglichkeit zu denken (und daraus fließend zu leben) bedenken.

Kehren wir zurück, zum Anfang unseres Gottesdienstes. „Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, auf dass vollendet werde …“ – so lautet unser Wochenspruch.

Jedes Hinaufgehen ist auch ein Hinuntergehen. Das Hohe entsteht durch das Tiefe, der Berg entsteht durch das Tal, Manie entsteht durch Depression. Das sind keine Weil-deshalb-Verbindungen, sondern Beziehungen. Ohne Berg gibt es kein Tal. Ohne Manie gibt es keine Depression, ohne Erwartung gibt es keine Enttäuschung.

Das Leiden geschieht „dazwischen“. Es ist ein Verbindungsleiden. Auf dem Berg oben herrscht Euphorie. Höher, weiter, besser! Dass der Berg bedingt ist durch ein Tal, dass reich bedingt ist durch arm – dies wird verleugnet. Die Verbindung wird gekappt. Je stärker der Drang zum Polarisieren desto notwendiger ist die Täuschung. Wer auf die Täuschung hinweist, wird gefeuert. Gilt als Lügner, als Lügenpresse.

Trump ist nichts Neues. (Nebenbei: nicht Trump ist schlimm. Schlimm ist, dass ihn so viele Menschen gewählt haben.) Am Hofe des Sonnenkönigs ging es genauso zu. Wer etwas in den Augen seiner Majestät Falsches sagte, musste damit rechnen, hingerichtet zu werden. Ein Unvorsichtiger sagte einmal: „alle Menschen sind sterblich!“ Daraufhin schaute ihn der König durchdringend an. Der Unvorsichtige spürte, dass er mit seinem Leben spielte und fügte schnell hinzu: „Eure Majestät ist hiervon selbstverständlich ausgenommen!“

Angst, Todesangst verhindert klares, nüchternes Denken. Es ist der Schmerz der Verbindungen und die Angst vor der nüchternen Realität, die uns Menschen zu polarisierendem Denken verführt!

In unserem heutigen Predigttext geht es scheinbar nicht um Todesangst, nicht um große Gefühle. Es ist etwas Kleines, sehr Alltägliches, was unser Text da beschreibt: der Besuch Jesu im Hause der beiden Schwestern, Martha und Maria.

Lk 10, 38-42

10,38 Als sie aber weiterzogen, kam er in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Martha, die nahm ihn auf. 39 Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria;

die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. 40 Martha aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, daß mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, daß sie mir helfen soll! 41 Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Martha, Martha, du hast viel Sorge und Mühe. 42 Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“

Es geht um Alltag. Glaube muss alltagstauglich sein – sonst ist er nicht glaubwürdig. Maria und Martha haben Besuch, hohen Besuch. Jesus selbst ist da. Martha – nicht Maria – „nahm ihn auf“. Martha scheint die Aktive zu sein, die Extrovertierte, die Tüchtige, die etwas schafft. Maria hingegen sitzt nur da, tut nichts, hört zu. Man hat diesen Text so gedeutet, dass er ein Bild des Lebens sei: Martha steht für die „vita activa“, während Maria für die „vita contemplativa“ steht. Und immer wenn es mehr als eine Möglichkeit gibt – das haben wir vorhin gelernt – entsteht eine Spannung. Diese Spannung hat damit zu tun, dass wir Menschen reflexhaft bewerten: was ist besser, was ist schlechter. Und so könnte man den Text auch deuten, und so wird er auch in der Einheitsübersetzung von 1979 gedeutet: „Maria hat das Bessere erwählt.“

Indem ich sagte, dass wir Menschen reflexhaft bewerten, könnte ich auch sagen: das ist Ausdruck eines rivalisierenden Erlebens, Fühlens. Es entsteht über Vergleichen Sich-Messen, Rivalisieren. Darauf ist unsere Welt gebaut. Das ist im Tierreich nicht anders: Darwin hat es „das Recht des Stärkeren genannt!“ Und auch bei den Pflanzen gibt es das: alles will wachsen, sich ausbreiten, entfalten, „expandieren“. Das ist die Trieb-Natur des Lebens. In ihr gibt es keine Rücksicht, keine Bescheidenheit, kein: ich halte mich für dich zurück. Schauen sie sich die Triebe eines gesunden Obstbaumes an: kreuz und quer will jeder zum Licht hin wachsen! Es ist eine genuin menschliche Idee zu beschneiden – übrigens keineswegs aus Rücksicht, sondern um den Ertrag (des Baumes) zu erhöhen. Auf dieser Triebebene gilt: „Wachstum zuerst!“

Zum Sich-ausbreiten gehört bei uns Menschen das Tun: der homo faber. Martha macht und tut – um ihren Gast zu bewirten. Es gibt Menschen, die verwechseln Rücksicht und Nächstenliebe damit, den Anderen zu füttern, zu überfüttern. Dies ist besonders bei Frauen und noch einmal bei Müttern verbreitet: ich habe das alles für dich getan/gekocht – aber wehe dir, wenn es dir nicht schmeckt! Über dieses „wehe dir“ schleicht sich der Egoismus hinein: letztlich brauche ich es für mich, für meinen Wert, für meinen Stolz, dass ich dich so bemuttern, bekochen kann …

Auf uns übertragen heißt das: ich habe mir soviel Mühe mit meiner Predigt gemacht, also muss die doch ankommen! Wehe Ihnen, Sie wagen es auch nur zu denken: das schmeckt mir gar nicht, was der da sagt!

Das alles ist Martha. Und auch die Klage, das Jammern gehört dazu. Mir ist alles zu viel, warum hilft mir eigentlich keiner, immer muss ich das machen. Der hierin versteckte Egoismus lautet: „wenn ich es nicht mache, wird es nicht gut!“ „Außer mir kann das eh keiner …“ „So wie ich koche, kannst du eben nicht kochen – so wie ich predige … ;)!“

Die Kehrseite der Klage ist die eigene Überheblichkeit.

Und was ist mit Maria? Es scheint ja doch zu stimmen, dass Maria das bessere Teil erwählt hat.

Maria: ein Lob des Nichts Tuns? Ein Lob dafür „alle Vier“ grade sein zu lassen? Also können sich unsere Kinder auf Jesus berufen, wenn wir in ihr unaufgeräumtes Zimmer stürmen, wo sie wieder einmal mit ihrem Handy/Laptop/X-Box abhängen, wenn wir sie mit unseren Fragen und Vorwürfen („Wann räumst du endlich dein Zimmer auf!“ „Hast du schon für die Schule gelernt?!“ „Seit einer Woche bitte ich dich, deinen Abfalleimer zu leeren!“) belästigen. „Chill‘ down“, sagen sie, während sie lässig mit der Fernbedienung den Ton kurzzeitig etwas leiser stellen.

Und sie könnten hinzufügen: „Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden!“

Und wie klingt das alles, wenn die Verbindungen wieder hergestellt sind?

Es beginnt damit, dass Maria und Martha Schwestern sind. Schon ihr Name weißt darauf hin: Sie beginnen beide mit „mar-“. Etwas spekulativ könnte man „mar-“ mit mare: das Meer assoziieren. Das hieße dann: Maria und Martha sind zwei verschiedene Wellen auf dem einen Meer der Unendlichkeit. Martha und Maria sind keine Alternativen, sie gehören zusammen. Nichts tun ist genau so wenig die Lösung, wie tun. Es geht um die gute Verbindung von Tun und Nicht-Tun, von aktiv sein und geschehen lassen, von sich einsetzen und loslassen.

Auf unsere Situation hier übertragen: die Martha in mir hat sich große Mühe gegeben, eine Predigt zu schreiben, die satt macht, die Sie erreicht, mit der Sie etwas anfangen können. Martha nimmt den Urtext zur Hand, übersetzt und macht und tut. Maria in mir sagt: „versuche nichts zu verzwingen, du hast es eh nicht in der Hand, wie es dann sein wird. Lass die Texte auf dich wirken. Und halte die Augen offen, wenn du die Menschen der Corneliusgemeinde siehst. Dann wird dir schon das Rechte einfallen.“

Wenn Martha in eine Kirche geht, dann sucht sie nach dem Kirchenführer, beschäftigt sich mit der Geschichte und Kunstgeschichte des Kirchenbaus usw. Wenn Maria in eine Kirche geht, so lässt sie sich anmuten von dem, was sie sieht. Vielleicht fällt ihr ein Gedicht dazu ein oder eine Melodie.

Und das Entscheidende ist: beides ist gut! Indem wir Maria und Martha in uns in einen konstruktiven Dialog miteinander bringen, bereichern sie unser Denken und Erleben. Und daraus fließt ein integratives Handeln.

Liebe Gemeinde,

Martha und Maria gehören zusammen. In unserer Geschichte schützt Jesus Maria vor der klagenden Überheblichkeit Marthas. Was man vielleicht noch hinzufügen könnte, wäre der Gedanke, dass Maria und Jesus nicht auf Kosten von Marta leben dürfen. Das wäre eine parasitäre Beziehung, bei der die Ausbeutung im Mittelpunkt steht. Solche Beziehungen sind zerstörerisch für alle daran Beteiligten. Zur Polarisierung gehört übrigens auch, den abgewerteten, vermeintlich „minderwertigen“ Pol auszubeuten. In unserer Geschichte ist das die Verbindung, sich das Essen von Martha schmecken zu lassen und sie gleichzeitig für ihre „Dummheit“ oder ihren sogenannten „Aktivismus“ zu kritisieren. Diese Art von Beziehung ist übrigens in Paarbeziehungen gar nicht so selten.

Und damit genug gepredigt. Ich habe meine Gedanken mit einem Zitat aus dem Tao begonnen. Ich möchte schließen mit einer Zen-Geschichte, die ich bei A. de Mello fand.

Die Weißen oder die Schwarzen?

Ein Schäfer weidete seine Schafe, als ihn ein Spaziergänger ansprach. „Sie haben aber eine schöne Schafherde. Darf ich Sie in Bezug auf die Schafe etwas fragen?“ – „Natürlich“, sagte der Schäfer. Sagte der Mann: „Wie weit laufen Ihre Schafe ungefähr am Tag?“ – „Welche, die weißen oder die schwarzen?“ „Die weißen.“ – „Die weißen laufen ungefähr vier Meilen täglich.“ – „Und die schwarzen?“ „Die schwarzen genauso viel.“ „Und wie viel Gras fressen sie täglich?“ – „Welche, die weißen oder die schwarzen?“ – „Die weißen.“ – „Die weißen fressen ungefähr vier Pfund Gras täglich.“ – „Und die schwarzen?“ – „Die schwarzen auch.“ „Und wie viel Wolle geben sie ungefähr jedes Jahr?“ – „Welche, die weißen oder die schwarzen?“ – „Die weißen.“ – „Nun ja, ich würde sagen, die weißen geben jedes Jahr ungefähr sechs Pfund Wolle zur Schurzeit.“ – „Und die schwarzen?“ – „Die schwarzen genauso viel.“

Der Spaziergänger war erstaunt.

„Darf ich Sie fragen, warum Sie die eigenartige Gewohnheit haben, Ihre Schafe bei jeder Frage in schwarze und weiße aufzuteilen?“

„Das ist doch ganz natürlich“, erwiderte der Schäfer, „die weißen gehören mir, müssen Sie wissen!“ – „Ach so! Und die schwarzen?“ – „Die schwarzen auch“, sagte der Schäfer.

Gebe Gott, dass wir uns als weiße und schwarze Schafe gleichermaßen geliebt fühlen und dass wir diese umfassende Liebe ausstrahlen. Gebe Gott, dass wir der Verführung widerstehen, unsere Mitmenschen, die Schöpfung in Gute und Böse, Weiße und Schwarze aufzuteilen. Gebe Gott´, dass wir immer tiefer hineinwachsen in seine allumfassende Liebe AMEN.

Predigt über Lukas 10, 38 -42 am Sonntag Estomihi in der Corneliuskirche Karlsfeld (2017) Weiterlesen »

Predigt über Matthäus 4, 12-17 am 1. Sonntag nach Epiphanias (8.1.2017) in der Petruskirche in München-Solln

Liebe Gemeinde,

„Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder!“ (Röm 8,14)

Mit diesem einfachen Statement aus dem Römerbrief begann unser Gottesdienst.

Das klingt schlüssig. Die einzige Frage, die noch offen bleibt, lautet: Und woran erkenne ich, dass mich der Geist Gottes treibt – und nicht der Geist des – Teufels?

Ich erzähle ihnen eine wahre Begegnung:

Ich habe in meinen jungen Jahren an Gott geglaubt. Dann wurde ich schwanger und bin jeden Sonntag in die Kirche gegangen. Ich habe immer darum gebetet, ein gesundes Kind zu bekommen. Als mein Sohn auf die Welt kam, war sein linker Arm gelähmt. Seither glaube ich nicht mehr an Gott. Und ich war auch nicht mehr in der Kirche“. Dies erzählte mir eine ältere Dame anlässlich eines Beerdigungsgesprächs.

Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.

Die Frage ist: wofür verwende ich Gott? Als Wunsch-Erfüllungs-Maschine? Und wenn sie versagt, wende ich mich von ihr ab. So wie wir das kennen, wie wir das alle gelernt haben: „Wenn du nicht so tust, wie ich dich haben will, dann will ich mit dir nichts mehr zu tun haben.“

Worum sollten wir mit Gott anders umgehen? Ich bin ihm gehorsam, aber dann muss er auch meine Wünsche erfüllen. So kennen wir das doch auch aus unserer Kindheit – und geben es weiter: wenn du brav ist, wirst du belohnt, wenn nicht, dann kommst du in dein Zimmer. Wenn Gott nicht brav ist, will ich mit ihm nichts mehr zu tun haben!So sind wir Menschen: anstatt unsere Meinung über den Anderen, in diesem Fall über Gott zu überprüfen und entsprechend der Realität zu verändern, brechen wir den Kontakt ab. Schließlich haben wir doch Recht und müssen uns das nicht bieten lassen. Wo sind wir denn? Wer sind wir denn?

… manche Leute wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen, und wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und des Käses und deines eigenen Nutzens. So halten’s alle jene Leute, die Gott um äußeren Reichtums oder inneren Trostes willen lieben; die aber lieben Gott nicht recht, sondern sie lieben ihren Eigennutz.“ (Meister Eckhart) Es ist gut, sich ehrliche Rechenschaft darüber zu geben, wofür ich „Gott“ in meinem eigenen Leben verwende. Eckhart weist in seinem deftigen Bild darauf hin, dass „manche Leute“ Gott für ihren Egoismus verwenden. Die Frage ist nicht, was gebe ich Gott, sondern was kriege ich von ihm. Die genannte Dame war ein Stück weiter: sie „fütterte“ Gott mit ihrem Gehorsam, und erwartete dafür die Erfüllung ihrer Wünsche. Im bäuerlichen Denken ist dies völlig in Ordnung: wenn ich meine Kuh gut füttere, erwarte ich „zurecht“, dass sie viel und gute Milch gibt. Wenn sie dies nicht tut, wird sie verkauft oder geschlachtet.

Dies wird Gott nicht gerecht, da Gott nicht „etwas unter anderem ist“. So fährt Eckhart fort: „Alles, worauf du dein Streben richtest, was nicht Gott in sich selbst ist, das kann niemals so gut sein, dass es dir nicht ein Hindernis für die höchste Wahrheit ist.“

Was aber ist „Gott in sich selbst“? „Gott in sich selbst“ ist unerkennbar, die Metapher hierfür ist „Dunkelheit“. Gott geschieht „im Dunklen“. Deshalb beginnt mein Kanzelgruß mit der „Dunkelheit des Vaters.“ Deshalb ist jede Art kausalen Denkens („wenn – dann“) der Versuch einer Bemächtigung Gottes. Deshalb sagt Meister Eckhart an anderer Stelle, dass die einzige, Gott angemessene Art zu beten die ist, „danke zu sagen.“ Jenes „danke“, aus dem heraus ein Denken strömt, das in Danken eingebunden ist. Dieses Denken ist ein bescheidenes. Es erkennt an, dass es sich nicht selbst geschaffen hat. Für die Selbstsetzung des Ich, für ein „ich denke, also bin ich“, eignet sich diese Art des Denkens nicht. „Die Lüge setzt einen denkenden Denker voraus. Die Wahrheit oder wahres Denken setzt keinen Denker voraus – er ist nicht logisch erforderlich.“ (W. Bion)

Es ist die Lüge, die für ein Sein außerhalb Gottes steht, der die Wahrheit „in sich selbst“ ist. Die Reaktion der Dame darauf, dass ihr dringender Wunsch nicht erfüllt worden ist, war kein In-Frage-Stellen ihrer eigenen Annahmen über „Gott und die Welt“, sondern das Ausscheiden Gottes. Sie konnte aus dieser Erfahrung nicht lernen. Und so kann nichts Neues werden. Das Alte, Vertraute hat die Möglichkeit für Neues getötet: „denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, werdet ihr sterben müssen; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Fleisches tötet, so werdet ihr leben.“ (Römer 8)

Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder!“

Hören wir auf diesem Hintergrund unseren heutigen Predigttext:

Mt 04, 12-17

4,12 Als nun Jesus hörte, daß Johannes gefangengesetzt

worden war, zog er sich nach Galiläa zurück.

4,13 Und er verließ Nazareth, kam und wohnte in

Kapernaum, das am See liegt im Gebiet von Sebulon

und Naftali,

4,14 damit erfüllt würde, was gesagt ist durch

den Propheten Jesaja, der da spricht (Jesaja 8,23;

9,1):

4,15 »Das Land Sebulon und das Land Naftali, das

Land am Meer, das Land jenseits des Jordans, das

heidnische Galiläa,

4,16 das Volk, das in Finsternis saß, hat ein

großes Licht gesehen; und denen, die saßen am Ort

und im Schatten des Todes, ist ein Licht aufgegangen.«

4,17 Seit der Zeit fing Jesus an zu predigen:

Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!

Jesus zieht sich zurück. Wir wissen nicht warum. Es steht im Zusammenhang mit der Festnahme von Johannes dem Täufer. Vielleicht will er sich schützen.

Rückzug muss nichts mit Feigheit zu tun haben. Es kann ein Gebot der Stunde sein. Es hat auch nichts mit Mut zu tun, sich leichtfertig in Gefahr zu bringen. Im Rückzug geschieht oft Neues. Auch die Natur hat sich jetzt zurückgezogen. Sie sammelt Kraft für ein neues Jahr.

Vor dem öffentlichen Wirken Jesu hatte er sich in die Wüste zurück gezogen. Um Klarheit zu erlangen darüber, wie sein Weg weiter gehen könnte. Er hat dort mit den bekannten Verführungen gerungen: dem Hunger, der Gier nach Macht und der Eitelkeit. Und seine Antwort war eindeutig:

Möge Gott dein Genüge sein!“

Damit verliert der Verführer seinen Einfluss.

Der Verführer versucht zu täuschen: als wären Sattheit, Macht und Selbst-Verliebtheit das Zentrum des Lebens. Sie mögen reizvoll sein: aber sie befrieden nicht. (Es geht nicht um Befriedigung, es geht um Befriedung!)

Möge Gott dein Genüge sein!“ Indem ich aus diesem Satz heraus lebe, indem ich diesen Satz erlebe … werde ich getrieben vom Geist Gottes. Und so werde ich zu einem Kind Gottes.

Dein Genüge sein“: das bedeutet: gutes Leben geschieht in der Anerkennung und Aufrechterhaltung eines mich und mein Leben begrenzenden Rahmens.

Sebulon und Naftali: das sind die beiden jüdischen Staaten, die (historisch) als erste vernichtet worden sind. Sie stehen für finstere Verzweiflung, für Gottlosigkeit. Hier beginnt die Verkündigung des Evangeliums: der frohen Botschaft von der Güte und Barmherzigkeit Gottes.

Gottlosigkeit bedeutet die Herrschaft der Willkür. „Alles ist möglich.“ Es gibt keine Werte, keine Moral. Es geht drunter und drüber: tohu wa bohu. Gottlosigkeit ist das Geschehen vor der Schöpfung. Und dann geschieht die erste Schöpfungstat im ersten Schöpfungswort: „Es werde Licht!“

In der Dunkelheit beginnt etwas zu leuchten. Das ist etwas Anderes, als die Dunkelheit mit unseren 1000 Watt starken Suchscheinwerfern, genannt Bewusstsein, zu vertreiben. Es ist der dunkle Strahl des dunklen Schauens in der Dunkelheit des Unbewussten.

Dieser dunkle Strahl ist das Licht des Sohnes. Das Licht des Sohnes kann nur ein dunkler Strahl sein, da es aus der Dunkelheit des Vaters heraus gezeugt (nicht geschaffen) wird. Das Schauen mit den Augen des Sohnes führt zu einem erschreckenden: „Ach Gott – wahrhaftig – das bin ja ich!“ „So hat sich also mein Leben entwickelt…“ „So hängt das alles zusammen …“ „Das ist also mein Anteil an dem Geschehen, in dem ich gerade stecke …“

Die Verzweiflung und Gottlosigkeit geschieht an einem Ort, an dem der „Schatten des Todes“ das Leben und die Freude am Leben verdunkelt.

Hier leiden wir die größte Not, vor Augen steht der ewig Tod.“ So heißt es in der 5. Strophe des bekannten Adventsliedes „O Heiland reiß die Himmel auf!“

… die saßen am Ort und im Schatten des Todes, ihnen ist ein Licht aufgegangen …“

Ein Licht ist aufgegangen: es heißt nicht, sie haben sich ein Licht geholt, oder haben sich ein Licht entzündet. Kein Prometheus, der das Feuer von den Göttern stiehlt, um es seinen Geschöpfen, den Menschen, zu bringen.

Das Licht, das da aufgeht, ist nicht so herstellbar, machbar, wie wir das gerne hätten. Es geht auf – wie ein Stern aufgeht. Es geschieht.-

Der zur Verzweiflung führende Schatten des Todes drückt sich aus in einem fehlenden Verständnis für sich selbst. Der Schatten des Todes ist zusammengesetzt aus dem Erleben von Sinnlosigkeit, Verständnislosigkeit, Sprachlosigkeit.

Das erste Licht, das hier aufgeht, ist nichts anderes als der „Logos“, das „Wort“ (Johannesevangelium). Und zwar nicht als beliebiges Wort unter Wörtern, sondern als das Bedeutung, als das Sinn stiftende Wort. Es ist das „gute“ Schöpfungs-Wort. So heißt es nach jedem der 10 Schöpfungsworte: und siehe, es war gut!

Die Gefangennahme von Johannes dem Täufer ist der Versuch, das schöpferische Wort zu entmachten. Genau an dieser Stelle beginnt das Wirken Jesu mit seiner Botschaft: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“

Das ist wörtlich die Botschaft von Johannes, dem Lehrer Jesu.

Auf diesem Boden steht alles Predigen von Jesus. Das „Himmelreich“ ist aber nichts anderes als die Freiheit des Evangeliums gegenüber einem pervertierten Gesetz. Die Dunkelheit des Gesetzes ist seine Lebensfeindlichkeit. Das pervertierte Gesetz stiftet keinen Sinn, sondern setzt sich selbst absolut.

Darin ist es tödlich! Es zerstört Lebendigkeit, Spontaneität, Kreativität.

Jeder religiöser Fanatismus lebt von einem überheblich und selbstgerecht gewordenen gesetzlichen Denken. Das war bei Calvin, der in Genf „seinen“ Gottesstaat errichtete, nicht anders wie es heute bei der IS ist. IS heißt ja: Islamischer Staat – ist also ein Gottesstaat.

Die Freiheit des Evangeliums bringt Licht in dieses Dunkle. An erster Stelle steht der Mensch: nicht als Krone der Schöpfung, sondern als ein Lebewesen unter anderen Lebewesen. An erster Stelle steht die lebendige liebevolle Beziehung zueinander und zwischen einander. An erster Stelle steht die Gemeinschaft des Lebens! „Nicht der Mensch ist um des Sabbats willen – umgekehrt: der Sabbat ist um des Menschen willen!“

Der Weg, der in diese unglaubliche Freiheit hinein führt, verläuft über die „Umkehr“, über das „Tut „Buße!“. Wörtlich heißt das: „verwandelt euer Denken.“ Dies gilt auch für unser westlich-zivilisiertes Denken. Die viel gepriesene Aufklärung ist Ausdruck der Überheblichkeit eines denkenden Ich. Eines denkenden Ich, das sich selbst in die Tasche lügt, indem es meint, es könne sich mit seinem Denken selbst erschaffen.

Es ist die Zeit gekommen, von dieser Überheblichkeit Abschied zu nehmen. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ – dieser bescheidene Gedanke bildet Wahrheit ab. Wissen wird hier für die Selbst-Zurücknahme des eigenen Intellekts verwendet. Sich zurück ziehen, sich hemmen, sich in Bescheidenheit üben: das sind die Tugenden der Stunde – und nicht ein verbissenes, leistungsorientiertes „wir schaffen das!“ Menschlichkeit, Humanität ist nichts zu Schaffendes. Es ist eine Haltung des Sich-öffnens für das Leben.

Darin sehe ich die Bedeutung von Religion in unserer Zeit: den tiefen Respekt für das Leben zu lehren und vorzuleben. Es geht nicht darum, welche Religion „recht hat“, wer den „wahren“ Gott verkündet. Und es geht schon gar nicht darum, Ungläubige zu vernichten. Es geht darum, nährende Gedanken zu denken, zu predigen und zu leben. Dies allein kann Religion glaubwürdig machen.

Und: wer Gott erlebt, wer wirklich Gott erlebt, der kann gar nicht mehr von „seinem“ Gott im Gegenüber zu dem Gott der Anderen reden. Gott ist eins und einer.

Er eignet sich nicht für Betrug, Hass und Gewalt.

Und er eignet sich nicht für Spaltung.

Er eignet sich wohl für Güte, Barmherzigkeit und Liebe – gerade dem Fremden, Unbekanntem gegenüber.

Liebe Gemeinde,
„Welche der Geist Gottes treibt, die sind Kinder Gottes!“

Ich wünsche Ihnen und mir, dass sich in diesem Neuen Jahr der Geist Gottes in unser Leben immer tiefer einnisten möge. Ihn brauchen wir, auf dass uns ein Licht aufgehe. In diesem Licht mögen Worte der Güte und der Wahrhaftigkeit aus unserem Munde strömen. Und dies alles getragen und verbunden mit der tiefen Anerkenntnis:

„Möge Gott mein, möge Gott dein Genüge sein!“ AMEN.

Predigt über Matthäus 4, 12-17 am 1. Sonntag nach Epiphanias (8.1.2017) in der Petruskirche in München-Solln Weiterlesen »

Predigt über Lukas 1, 26-33.38

Predigt über Lukas 1, 26 – 33. 38 am 4. Advent 2016 in der Jakobuskirche

Vorab: der zu predigende Text ist so komplex, dass ich auswählen musste. Ich habe mich dafür entschieden, exemplarisch in die Tiefe zu gehen, anstatt alles irgendwie zu streifen und damit nichts tiefer zu begreifen.

Und: ich predige den Text nicht historisch, sondern „sinnbildlich“.

Ich versuche ihn so zu lesen, wie ich Träume lese. Für dieses Vorgehen berufe ich mich – neben der Psychoanalyse – auf Psalm 126 Vers 1: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden.“

Die Erlösung keimt in der Traumwelt. Der Traum ist eine Art Probe-Denken. In ihm stellt mir mein Unbewusstes vor Augen, was meine Seele gerade bewegt. Je sicherer mein Blick in meiner Traum-Welt ist, desto gelassener kann ich dem Ungemach des Alltags entgegen treten. So löst sich der Drang, die äußere Welt meinen Wünschen und Sehnsüchten passend zu machen. Dies wiederum stärkt meine Kraft, für mich zu stehen und für mich einzustehen. Darin drückt sich mein Dank aus. Mein Dank an den, der mich befreit hat.

Lukas 1, 26 – 38:

1,26 Im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth, 1,27 zu einer Jungfrau, die verlobt war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David; und die Jungfrau hieß Maria.

1,28 Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir!

1,29 Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist das?

1,30 Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria, du hast Gnade bei Gott gefunden. 1,31 Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen Jesus geben. 1,32 Der wird groß sein und Sohn des Höchsten

genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben,

1,33 und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben.

Im sechsten Monat: Der sechste Monat im jüdischen Kalender heißt Elul: er geht von Mitte August bis Mitte September. „Elul“ heißt wörtlich Ernte.

Das dazugehörige Tierkreiszeichen ist die „Jungfrau“.

In diesem Monat geschieht die Vor-Ankündigung der Geburt des Messias an die Jungfrau Maria.

Am sechsten Schöpfungstag werden die Tiere geschaffen und der Mensch. In Klammern: von wegen Krone der Schöpfung: Tiere und Menschen werden gemeinsam, am selben Tag geschaffen. Tiere und Menschen sind „Geschwister“.

Der sechste Wochentag, der Freitag, ist im Jüdischen der Venus zugeordnet: im Französischen „Vendredi“ (Venus-Tag) ist dieser Zusammenhang noch erhalten. Venus (griechisch Aphrodite): die Göttin der Liebe. Und die „sechs“ klingt nach „Sex“. Es geht also um Vereinigung. Auch um Erkenntnis: im Hebräischen bedeutet mit einander schlafen auch „sich erkennen“: „und Adam erkannte sein Weib …“

Am sechsten Tag der Woche gedenken wir auch der Kreuzigung des Messias. Dessen Auferstehung am 8. Tag – wenn man die Tage weiter zählt – stattfindet. Friedrich Weinreb, der Kabbalist, weist darauf hin, dass die Ernte, die am sechsten Tag eingeholt wird, für den siebten und achten Tag reichen muss. Das siebte Jahr ist das Sabbatjahr – hier darf nicht gesät und nicht geerntet werden.

Das sechste Jahr hat in seiner Beziehung zum siebten und achten Jahr mit der Kunst des Nicht-Tuns zu tun. Nicht-Tun heißt nicht faul sein. Nicht-Tun heißt, sich nicht zu schnellem Tun, Machen verführen lassen.

Die Kunst des Nicht-Tuns ist die Kunst, die eigenen Tun-Impulse, Tun-Reflexe zu hemmen.

Im Hebräischen heißt das sechste Tierkreiszeichen „betula“ – Jungfrau. Und zwar in dem Sinne, dass sie etwas Neues auf die Welt bringt, das sich radikal vom Denken dieser Welt unterscheidet.

Dieses Neue ist die Ankündigung von Schwangerschaft und Geburt des Messias. Sie geschieht in der Welt des Nichts-Tuns.

Wir feiern heute die Ankündigung seiner „Empfängnis“ – seines Empfangen-werdens im Schoße der Jungfrau. Jungfrau bedeutet: das Gefäß, in welchem der Messias empfangen werden kann, muss ein radikal neues Gefäß sein, um diesen Messias in sich aufnehmen und halten zu können. „Und niemand füllt neuen Wein in alte Schläuche; sonst zerreißt der Wein die Schläuche, und der Wein ist verloren und die Schläuche auch; sondern man füllt den neuen Wein in neue Schläuche.“ (Mk 2,22)

Und so kam es auch in der Realität: die alten Schläuche, Denkgefäße des jüdisch-religiösen Establishments konnten die Radikalität der Gedanken Jesu nicht fassen, nicht aufnehmen. Um sie zu schützen, wurde ihr Denker gekreuzigt.

Die Diskussion darüber, wie eine Jungfrau schwanger werden kann, ist Ausdruck eines alten, geläufigen Denkens: es ist das naturwissenschaftlich-kausale Denken.

Ein neues, sehr anderes Denken ist ein Denken in Verbindungen. Es nimmt wahr, stellt Bezüge und Beziehungen her: ohne zu (be-)werten. Das uns vertraute alte Denken lebt von Bewertungen. Gut gemacht! Schlecht gemacht! Lob ist auch eine Art von Bewertung. Es gibt Lob-Junkies: ich tue das, aber ich will auch gelobt werden dafür. Die Kehrseite des Lob-Junkies ist der Schmeichler: wie schön! Wie gut! Wie wunderbar! Was die beiden miteinander verbindet ist Eitelkeit.

Das neue Denken bewertet nicht; es beschreibt. Ich sage (dir), was ich wahrnehme. Mehr nicht. Du bleibst frei – du kannst meine Wahrnehmung als Unsinn abtun, du kannst dich von ihr erreichen lassen. Du kannst mit mir reden – du kannst es auch bleiben lassen.

Natürlich ist Lob „schön“ – so wie eine Sahnetorte gut schmeckt.

Aber nahrhafter und auf Dauer bekömmlicher ist ein Butterbrot.

Die Empfängnis des Messias geschieht in der Begegnung zwischen Maria und Gabriel. „Gabriel“ heißt: Mann oder Held Gottes. Es drückt eine starke männliche Kraft aus und hat nichts mit unseren „Engelein“ zu tun. Von Gott, vom Himmel her, ist eine männliche Kraft zu Maria gekommen. (Himmel ist übrigens auch männlich.) Maria – hebräisch Miriam – hat die Wurzel: „mar“ – „bitter“. Und „jam“ Meer. Maria bedeutet also wörtlich: ein Meer voller Bitternis. Im AT meistens in Zusammenhang mit der Bitternis des Sterbens angewendet. So begannen wir unseren Gottesdienst mit einem Gesang, wo es unter anderem heißt: „vor Augen steht der ew’ge Tod…“ Es gibt auch die verzweifelte Bitternis des Verrates: so weinte Petrus, nachdem er Jesus verraten hatte, „bitterlich“. Und es gibt die unzähligen Darstellungen der sogenannten Pieta: Maria weint über ihren toten Sohn.

In diese bittere Verzweiflung hinein geschieht das : „Ave Maria!“

Sie aber erschrak!“

Das Neue ist stets das Unvertraute. Sonst wäre es nicht neu! So gehört das Erschrecken wesentlich zum Erleben von Neuen. Und dann hängt alles davon ab, wie es weiter geht. Wer dieses Erschrecken als unerträglich ängstigend erlebt, der zieht sich reflexhaft zurück. Wendet sich ab. Er muss seine Türen verschließen, verriegeln. Verschlossene Türen geben Sicherheit. Die Polizei hat in der Adventszeit dazu aufgerufen, die Türen gut zu verschließen, da wieder Einbrecher aktiv sind. Das klingt sehr vernünftig. Türen verschließen gehört zu der realen Welt unseres Alltags. Es ist unsere Wach-Welt. Wir aber singen: Macht hoch die Tür, die Tor macht weit! Es scheint da um andere Türen zu gehen, als um unsere Haustüren. In der Traum-Welt unseres Textes erscheint ein Engel und sagt:

Sei gegrüßt, du Begnadete. Der Herr ist mit dir!“

Sie aber erschrak.“

Und der Engel sprach: „Fürchte dich nicht, Maria. Du hast Gnade bei Gott gefunden.“

Im Erschrecken ziehen wir uns zusammen. Das ist eine instinktiv-natürliche Schutzreaktion. Die Gefühle dabei sind eine Mischung aus Angst und Ärger: Was kommt da auf mich zu? Was willst du?

Wäre Maria in ihrem Schrecken erstarrt, sie hätte die Botschaft des Engels nie erfahren.

Du hast Gnade bei Gott gefunden!“

Es ist ein Geschenk, in sich die Kraft erleben zu dürfen, da zu bleiben. Dazu gehört der Mut und die Bereitschaft, dem vertrauten Fluchtinstinkt nicht nach zu geben. Und es bedarf eines inneren Gefühles, sich auch verändern zu können. Schließlich gehört Zähigkeit und Disziplin dazu: nämlich die Bereitschaft, daran alltäglich zu üben.

Es geht um nicht weniger, als das eigene, unendlich vertraute, tausendmal eingeübte Tun zu hemmen. Das ist der menschliche Beitrag zu Gottes Werk: den instinktiven Reflexen nicht nachzugeben. Indem ich meine instinktiven Reflexe hemme, hemme ich mich selbst. Und dadurch entsteht Raum. Raum für Gottes Gnade. Erst dann kann ich dieses „Der Herr ist mit dir!“ erleben. Solange ich vor Gott davon laufe – kann er mich nicht erreichen.

Das setzt freilich voraus, dass ich mir irgendwie meiner natürlichen Reflexe bewusst werde. Und das setzt wiederum voraus, dass ich mich irgendwie für mich selbst „hinter“ diesen Reflexen interessiere. Wenn ich mit der Frage: „wer ist das eigentlich, der jetzt gerade … dem Anderen schmeichelt, beleidigt ist, gehetzt ist, hier steht und predigt…“ nichts anfangen kann … der hat es schwer.

Diese Frage sich stellen heißt die Kraft zu haben, sich selbst, sein aktuelles Tun in Frage zu stellen. Dies geht Hand in Hand mit der Kraft, sich mit sich selbst aus-einander zu setzen. Sich ein wenig von sich selbst zu trennen. So den inneren Drang nach sofortiger Befridegung zu hemmen. Ich weiß: das ist nicht populär. Und es wird auch nicht populär werden. Es hat mit viel seelischer Arbeit, viel Trauer und viel Verzicht zu tun.

Liebe Gemeinde,

die Fähigkeit sich hemmen zu können ist die Voraussetzung dafür, mit dem Messias, dem radikal Neuen schwanger werden zu können. Sich hemmen ist die Fähigkeit, zum Richtigen Nein und zum Richtigen Ja zu sagen. Wer mit dem Messias schwanger geht, der muss zu allem, was mit schneller, dringender Lust-Befriedigung zu tun hat, nein sagen lernen.

Wer mit dem Messias schwanger geht, der hält sich an den guten Rahmen, der für das gesunde Wachstum des Babys im Mutterleib nötig ist. Die Zerstörer des Rahmens, die Verführer erkennt man u.a. an ihrem Drang. Alles „Dringende“, alles, was „dringend“ noch erledigt werden muss, dringend noch dazwischen geschoben wird, dringend auf die Tagesordnung muss, wird zu etwas Ein-Dringendem. Es wird zu einem Geschoss, das den lebendigen Organismus verletzt, im schlimmen Fall zerstört. Ungehemmtheit führt zu Unpünktlichkeit, Hetze und Getriebenheit und vereitelt wohlüberlegtes und ausgewogenes Handeln. Ich habe an anderer Stelle zwischen hektischem Tun und besonnenem Handeln unterschieden. Tun ist Reflex. Eine unkontrollierte Muskelzuckung.

Handeln geschieht aus der gelassenen Sicherheit einer inneren Mitte heraus. Handeln bedarf Geduld und findet in der Zeit statt. Im reflexhaften Tun ist die Zeit zerstört.

Tun ist schnelles Machen.

Handeln ist langsames (er-)zeugen. Und Handeln ist wesentlich sozial: es nimmt den Anderen, die Gruppe wahr und ernst. Tun ist egozentrisch: im Zentrum steht ein schwaches getriebenes Ich, das über Eindringen versucht, sich einen Platz zu erzwingen. Der Andere, die Gruppe dienen dabei vor allem nur als Platz-Beschaffer – sie werden in ihrem Eigen- und Anders-Sein nicht wahrgenommen.

Handeln ist Leben und Er-Leben im Sein.

Tun ist Leben und Er-Leben im Machen.

Gottes Sohn ist gezeugt – nicht gemacht, nicht geschaffen.

Der Messias ist Sohn des lebendigen Gottes – und kein Fake! (Fake kommt von lateinisch facere: machen.)

Unser heutiger Predigttext gibt uns Anteil an dem allerersten Keimen dieser Zeugung.

Am Ende sagt Maria: „mir geschehe, wie du gesagt hast.“

Das ist bedingungsloser Glaube. Das ist aber auch schutzloser Glaube: ich liefere mich freiwillig deinem Wort aus, überlasse deinem Wort die Macht über mein Leben. Das kann ich nur im tiefen Vertrauen in die Güte des Anderen. In sein Mir-wohlgesonnen-sein. Wenn ich angefüllt bin mit schlechten Erfahrungen mit Autoritäten, wenn ich mich von ihnen ausgenutzt und missbraucht fühle, wenn ich in der Tiefe jede Art von Autorität zu hassen gelernt habe, weil ich nicht erleben durfte, von ihnen wahrgenommen worden zu sein – dann werde ich auch jeden Rahmen zerstören. Ich kann nämlich gar nicht glauben, dass es einen Rahmen, dass es Grenzen geben soll, die mich schützen. Einen Rahmen, dem es um meine Lebendigkeit, um meine Entwicklung geht. Reflexhaft verbinde ich Rahmen mit Gängelung, Bevormundung und Vorwurf.

Ich weiß schon, ich habe es wieder einmal falsch gemacht. Bin falsch.“ In diesem beleidigten Gefühl kann ich nichts lernen, kann nichts von dem, was an mich heran getragen wird, aufnehmen, in mich hinein lassen. Ich kann nur mich zurück ziehen. „Red‘ du nur!“ Und ich kann mich entziehen: ich verschwinde einfach. Und da ich im Rückzug immer hungriger, immer gieriger werde, wird mein Bedürfnis etwas zu kriegen, immer dringender. Ich muss – um zu überleben – schnelle Beute machen. So verwandelt sich der Andere/ die Gruppe zu etwas, von dem, von denen ich „haben“ will. Die Kehrseite dieses Empfindens ist: „ich ertrage nicht, wenn du anders bist, als so, wie ich dich brauche!“ Dies ist im übrigen ein großes Thema im Umgang mit pubertierenden Kindern, die zu ihrem Eigenen finden müssen. Und das Eigene ist wesentlich etwas Anderes als das Eigene der Eltern!

Das Entscheidende ist, dass es einen festen und sicheren Rahmen gibt, der der Hemmungslosigkeit Einhalt gebietet. Der starke Führer oder die starke Führung einer Gemeinschaft (und die Keimzelle von Gemeinschaft ist das Elternhaus) ist mit einem starken Rahmen verbunden. Wenn die Führung selbst hemmungslos ist, besessen von Gier und Neid, dann werden die dieser Führung Anvertrauten Schaden nehmen.

Liebe Gemeinde,

ich weiß, das ist alles ziemlich nüchtern und herb. Möglicherweise auch ein wenig unverständlich. Und es steht natürlich jedem frei, das Gehörte möglichst schnell wieder zu vergessen.

Meine eigene Erfahrung ist, dass der Weg der Begegnung mit dem Messias ziemlich nüchtern und herb ist. Meine eigene Erfahrung ist aber auch, dass dieser Weg aus der Bitternis heraus führt und immer tiefer in das hinein führt, womit wir den Gottesdienst heute begonnen haben:

„Freut euch in dem Herr allewege und abermals sage ich: freuet euch, der Herr ist nah!“ (Phil. 4, 4-5)

Gebe Gott, dass sich in uns und unserem Alltag diese „Freue dich!“ ausbreite; gebe Gott, dass wir eine Weihnachtsfreude ausstrahlen die ansteckend wirkt.

Und dies alles getragen von einem einfachen:

Mir geschehe, wie du gesagt hast“, AMEN.

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Predigt am 2. Advent 2016 in der Thomaskirche in Grünwald über Matthäus 24,1-14

Liebe Gemeinde,

steht auf und erhebt eure Häupter: weil eure Erlösung naht!“

Damit begann unser Gottesdienst.

Erhobenen Hauptes: ein schönes Bild für selbst-bewusst, selbst-sicher. Für sich seiner selbst bewusst, seiner selbst sicher sein.

„Weil eure Erlösung naht!“

Die Erlösung löst mich, löst meine Verdrehungen, meine Beschränkungen. Sie löst meine Ängste. Sie löst meine Halsstarrigkeit. Das erhobene Haupt ist mit einem weichen Hals verbunden. Ein weicher Hals der in freie Schultern fließt. Das erhobene Haupt ist der Welt, dem draußen zugewandt. Es lässt die Welt in sich hinein.

Ein erhobenes Haupt ist ein befreites Haupt. Es ist befreit von Druck, von einer gefühlten Unterdrückung, die verbunden ist mit Abwehr.

Ein erhobenes Haupt winkt dem Angreifer zu: Komm! (Wie Morpheus in Matrix.)

Weil eure Erlösung naht! Es geht um Hoffnung.

Die beiden Flügel des Glaubens sind Hoffnung und Furcht!“ sagt Rumi. Hätte ich keine Furcht, bedürfte ich keiner Hoffnung.

Hoffnung und Furcht sind auf die Zukunft gerichtet:

O je – was wird da auf mich zukommen, sagt die Furcht.

Es wird schon nicht so schlimm werden, sagt die Hoffnung.

Nun lehrt uns die Geschichte, dass Erlösung, Befreiung oft mit Katastrophe einher geht. Der Befreiung Deutschland für die Demokratie ging die Kapitulation, der Zusammenbruch Deutschlands voraus.

Die Befreiung Westeuropas hin zur Demokratie verlief über die Katastrophe der Französischen Revolution.

Dies gilt nun nicht nur in der äußeren Welt. Es gilt auch für unsere innere Welt. Unser heutiger Predigttext beginnt mit der Ankündigung der Zerstörung des Tempels:

24,1 Und Jesus ging aus dem Tempel fort, und seine Jünger traten zu ihm und zeigten ihm die Gebäude des Tempels. 24,2 Er aber sprach zu ihnen: Seht ihr nicht das alles? Wahrlich, ich sage euch: Es wird hier nicht ein Stein auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen werde.“

Der Tempel: das ist – in der inneren Welt – der Ort, an dem Gott wohnt.

Paulus bezieht diesen Gedanken auf die Existenz von uns Christenmenschen: „Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört?“ (1. Kor. 6,19)

Dieser Gedanke kann Gefühle der Katastrophe auslösen: ich gehöre nicht mir selbst? Das würde ja bedeuten, dass ich mein Leben nicht im Griff habe?! Dass ich viel weniger kontrollieren kann, als ich glaube?

Gerade wir Männer leben gerne davon, etwas im Griff zu haben. Das verleiht Sicherheit.

Wie geht’s dir?“ heißt ins Männliche übersetzt: „Alles im Griff?“

Nun ist „alles im Griff“ eine große Illusion. Und das Sich-Klammern an Illusionen kann ziemlich anstrengend werden. „Alles im Griff“ heißt: es darf sich nichts meiner Kontrolle entziehen. Leben aber lässt sich nur bedingt kontrollieren. Oder anders: kontrolliertes Leben ist der Tod der Lebendigkeit.

Der Panther

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.“ (Rainer Maria Rilke)

 

Und hört im Herzen auf zu sein …“ – es ist das Bild der Freiheit, das im Herzen aufhört zu sein. Die Freiheit ist zu weit weg von der Wirklichkeit, der Gefangenschaft des Panters … Das Bild der Freiheit zerfällt im Herzen des eingesperrten Panters, der – anders als ein in der Wildnis lebender – in größter Sicherheit lebt.

Der Weg in die Freiheit würde bedeuten, dass die Gitterstäbe zerbersten, die Mauern fallen, dass nicht ein Stein auf dem anderen stehen bleibt. Der Weg in die Freiheit führt in die Unsicherheit.

Was sagt Jesus zu diesem Weg?

In unserem Predigttext folgt jetzt eine apokalyptische Rede – ähnlich der, die Sie bereits in der Version des Matthäus gehört haben. Ich gestehe, dass ich mich damit schwer tue. Solche Predigten eignen sich dazu, Angst und Hass zu schüren – sie eignen sich nicht dazu, die Gegenwart besser zu verstehen. Sie nähren nicht.

Ich beschränke mich auf ein paar Sätze zu Beginn dieser Rede:

Seht zu, daß euch nicht jemand verführe. Denn es werden viele kommen unter meinem Namen und sagen: Ich bin der Christus, und sie werden viele verführen.“

Die heutige Verführung lautet nicht: „ich bin der Christus“ – sie lautet:

Ich mache unser Land wieder zu einem großartigen Land!“

Die heutige Verführung ist der rechts-populistische Nationalismus. Kaiser Wilhelm II. hatte zu Beginn des I. Weltkrieges gesagt: „Ich führe euch herrlichen Zeiten entgegen!“ Und das Volk jubelte ihm zu. Das Verführerische an diesen Gedanken ist das Andocken am Selbstwert eines ganzen Volkes. An diesem Selbstwert kann aber nur angedockt werden, wenn der im Argen liegt. Solange ich „erhobenen Hauptes“ in meinem Leben stehe, brauche ich keine Selbstwert-Aufbauspritze.

Erhobenen Hauptes ist im übrigen etwas völlig anderes als „überheblichen Hauptes“!

Die großen Ver-Führer der Geschichte waren und sind überheblich. Es war und ist ihnen kein Wert, sie hatten und haben nicht das geringste Interesse daran, sich einzuschränken, zu verzichten, sich zu mäßigen. Das hat damit zu tun, dass die Überheblichkeit nur die anderer Seite unerträglicher Minderwertigkeitsgefühle ist.

Deutschland, Deutschland über alles …“ – das war ein Ausdruck dieser Überheblichkeit. Dies führte und führt in die Feindschaft, in den Krieg. So heißt es auch in unserem Text: „24,6 Ihr werdet hören von Kriegen und Kriegsgeschrei;

seht zu und erschreckt nicht. Denn das muss so geschehen; aber es ist noch nicht das Ende da. 24,7 Denn es wird sich ein Volk gegen das andere erheben und ein Königreich gegen das andere …“

Ich gestehe Angst davor zu haben, nicht dass sich ein Volk gegen das Andere erhebt, sondern dass sich in ein und demselben Volk derartige Spannungen und Polarisierungen bilden, dass sie in Gewalt münden. Es ist noch nie gut gegangen, wenn die Kluft zwischen reich und arm zu weit auseinander liegt. Es muss ein vorrangiges Interesse der Reichen, der Führungsschicht sein, diese Kluft zu mildern und zu mindern. Und zwar auch und gerade im eigenen Interesse. Eine Gemeinschaft, in der soziale Gerechtigkeit herrscht, ist viel weniger anfällig für Verführer, als eine Gemeinschaft, in der die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden.

Liebe Gemeinde,

wie schon gesagt: in mir wehrt sich etwas, diesen apokalyptischen Text weiter mit Ihnen durch zu gehen. Er ist auch gar nicht im Geiste Jesu. Er widerspricht nämlich der Grundbotschaft Jesu, dass Gott ein Gott der Gegenwart ist, dass jetzt und hier das Reich Gottes geschieht und dass die Verbindungen und Vernetzungen des Reiches Gottes mit Liebe zu tun haben. Er widerspricht auch den vielfachen Aussagen, die sich dagegen sperren, die Ankunft des Gottesreiches vorherzusagen. „Seid wachsam, denn ihr wisst nicht den Tag, an dem Euer Herr kommt!“ (V. 42)

Seid wachsam!“

Ähneln wir nicht alle dem Mann, von dem der indische Jesuit Anthony de Mello erzählt?

Vor einiger Zeit – sagt er – hörte ich im Radio … von einem Mann, der wieder einmal am Morgen an die Zimmertür seines Sohnes klopft und ruft:

Jim, wach auf!“

Und Jim ruft zurück: „Ich mag nicht aufstehen, Papa.“

Darauf der Vater noch lauter: „Steh auf, du musst

in die Schule!“ „Ich will nicht zur Schule gehen.“

Warum denn nicht? “, fragt der Vater.

Aus drei Gründen“, sagt Jim. „Erstens ist es so langweilig, zweitens ärgern mich die Kinder, und drittens kann ich die Schule nicht ausstehen.“

Der Vater erwidert: „So, dann sag ich dir drei Gründe, wieso du in die Schule musst: Erstens ist es deine Pflicht, zweitens bist du 45 Jahre alt, und drittens bist du

der Klassenlehrer.“

(Wer Kinder, insbesondere Jugendliche zuhause herumliegen hat, der weiß, wie mühsam es sein kann, diese in der Frühe wach zu kriegen!)

Darum geht es: in der Gegenwart des eigenen Lebens anzukommen. Weder mit müßigen Gedanken sich eine dunkle Zukunft ausmalen, noch mit sentimentalen Gedanken der Vergangenheit hinterher zu trauern. „Früher war es besser, in der Zeit, wo es noch kein Handy gab und kein Internet …“ Man kann sich auch mit Gedanken, die sich auf die Vergangenheit richten, quälen. „wie konnte ich nur?“ „warum habe ich mich damals nur so entschieden?“ „Warum ist mir das und das passiert?“ hält genau so vom Leben in der Gegenwart ab wie: „ich habe so Angst davor, dass … ich dement werde, mein Kind keinen vernünftigen Beruf ergreift, mein Partner stirbt usw.“

Liebe Gemeinde,

Theresa von Avila hat das Wort geprägt: „möge Gott dein Genüge sein!“ Ein paar Jahrhunderte vor ihr hat der islamische Mystiker Rumi genau denselben Gedanken geäußert.

Möge Gott dein Genüge sein!“

Damit ausgerüstet, brauchen wir keine Angst vor einem wie auch immer gearteten Gericht haben. Damit ausgerüstet stehen wir – obzwar Sünder – auf der Seite Gottes.

Es gibt eine chassidische Geschichte von Rabbi Sussja, die veranschaulicht, was es bedeutet, wenn Gott mein Genüge ist: „Vor seinem Tod sagte Rabbi Sussja: ‚In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: Warum bist du nicht Moses gewesen. Man wird mich fragen: Warum bist du nicht Sussja gewesen?’“

Das ist der Punkt.

Die Verführung ist zu glauben, ich könne und müsse mir meinen Wert selbst geben. Wiederum ins Männliche übersetzt heißt das: „mein Auto, mein Haus, mein Boot!“

Die Betonung liegt dabei auf MEIN. Von mir selbst geschaffen. Von mir selbst hart erarbeitet. Im Weiblichen ist es wohl mehr: meine Kinder, meine Familie, mein soziales Engagement.

In der kommenden Welt werde ich nicht gefragt werden, ob ich einen Doktortitel habe, ein Haus in Pullach, ein großes Auto. Ich werde auch nicht gefragt werden, wie viele Preise ich gewonnen habe, wie berühmt ich war, wie viele Bücher ich verkauft habe. Die einzige Frage lautet: hast du DEIN Leben gelebt?

Und je sicherer ich antworten kann: ich bin der gewesen, als der ich mich im Laufe meines Lebens entwickelt habe mit allen Täuschungen und Enttäuschungen, mit allem Scheitern und allem Gelingen. Und als der stehe ich jetzt zu mir und vor dir, meinem Gott, wissend, dass ich deiner Liebe und deiner Barmherzigkeit bedarf, um überhaupt leben zu können … indem ich dies erhobenen Hauptes antworte: erlebe ich meinen Advent, meine Ankunft in die grenzenlose Liebe Gottes und die frohe Botschaft von der Geburt des Messias wird mit mir und in mir lebendig.

Dass wir in diese frohe Botschaft hineinwachsen dürfen und dass der Advent des Mensch und menschlich gewordenen Gottes alltäglich uns umhülle und aus uns heraus strahle – das verleihe Gott uns allen, AMEN.

Dass wir in diese frohe Botschaft hineinwachsen dürfen und dass der Advent des Mensch und menschlich gewordenen Gottes alltäglich uns umhülle und aus uns heraus strahle – das verleihe Gott uns allen, AMEN.

Dass wir in diese frohe Botschaft hineinwachsen dürfen und dass der Advent des Mensch und menschlich gewordenen Gottes alltäglich uns umhülle und aus uns heraus strahle – das verleihe Gott uns allen, AMEN.

Predigt am 2. Advent 2016 in der Thomaskirche in Grünwald über Matthäus 24,1-14 Weiterlesen »

Predigt über Philipper 1, 3-11

Predigt über den Brief des Paulus an die Philipper 1, 3-11

am 22. Sonntag nach Trinitatis in der Thomaskirche in Grünwald

Ich danke meinem Gott, sooft ich euer gedenke – was ich allezeit tue in allen meinen Gebeten für euch alle, und ich tue das Gebet mit Freuden – für eure Gemeinschaft am Evangelium vom ersten Tage an bis heute; und ich bin darin guter Zuversicht, daß der

in euch angefangen hat das gute Werk, der wird’s auch vollenden bis an den Tag Christi Jesu.“ (Phil 1, 3-11)

Liebe Gemeinde,

welch‘ eine Begrüßung!

Stellen Sie sich vor, jemand sagt zu Ihnen, oder Sie bekommen eine Mail:

ich bin so dankbar, wenn ich an dich denke. Und ich denke oft an dich! Und ich bete für dich mit Freuden. Ich danke dafür, dass du in der frohen Botschaft lebst, und zwar von Anfang an bis jetzt. Und ich bin zuversichtlich, dass der, der in dir diese gute Entwicklung begonnen hat, der wird sie auch zu ende bringen, bis zu dem Tag, an dem alles klar wird – dem Tag Jesu Christi!“

Wie würden Sie reagieren?

Würden Sie sagen: Moment mal. Woher weißt du das? Kennst du mich so gut? Und angenommen – das stimmte, was du da sagst: müsste es mir dann nicht anders gehen, besser, leichter, heiterer?

Würden Sie sagen: komm‘ zur Sache – was willst du von mir? Mich um Geld anpumpen?

Sie können natürlich auch zurückfragen – was ich Ihnen durchaus zutraue –

und sagen:

Lieber Prediger, bevor du dir über uns den Kopf zerbrichst: wende doch das alles einmal auf dich an.

Denkst du manchmal an uns, die Thomaskirchengemeinde? Betest du auch für uns?

Und bist du dankbar, wenn du an uns denkst? Und zuversichtlich, dass wir in der Gemeinschaft des Evangeliums leben und in einer guten Entwicklung sind …

Wie stehst denn du zu uns, Pfarrer Malkwitz?

Ja – ähm – ganz schön direkt ist das alles.

Finden Sie nicht?

Sollten wir nicht lieber über Paulus reden und sein Verhältnis zur Gemeinde in Philippi? Dann geht uns das alles nicht so nah.

Nein – sollten wir nicht. Jedenfalls nicht so, dass wir uns damit von unserer Beziehung ablenken. Das Evangelium muss nahe gehen – ansonsten ist es kein Evangelium.

Und Nähe entsteht durch Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit in Beziehung.

Von Ihnen zu mir – und von mir zu Ihnen.

Tatsächlich ist es so, dass ich mich auf einen Gottesdienst mit und bei Ihnen freue. Auch wenn ich meine Schwierigkeiten mit dieser Kanzel habe, auch wenn ich mir dieses Altarbild nicht bei mir zuhause aufhängen würde – ich komme ausgesprochen gerne zu Ihnen.

Und ich freue mich jedes Mal, wenn Pfarrer Stalter mir ein paar Gottesdienst-Termine bei Ihnen vorschlägt. Das kommt natürlich erleichternd hinzu: die freundschaftlich-kollegiale Beziehung zwischen Herrn Stalter und mir. Auch hierfür bin ich sehr dankbar.

Dies alles ist keineswegs selbstverständlich.

Auch Ihre Rückmeldungen, dass Sie etwas mit meinen Predigtgedanken oder meinen Gebeten anfangen können. Natürlich tut mir das gut. Auch wenn ich nicht – wie Paulus, als er seinen Philipperbrief schrieb – im Gefängnis sitze.

Beziehung ist immer etwas Wechselseitiges! Ein Geben und Nehmen. Im Guten wie – leider! – auch im Bösen.

Ich denke, für Paulus war das Sich-Erinnern an die Gemeinde von Philippi ein Trost während seines Gefängnisaufenthaltes.

Wie es denn recht und billig ist, daß ich so von euch allen denke, weil ich euch in meinem Herzen habe, die ihr alle mit mir an der Gnade teilhabt in meiner Gefangenschaft und wenn ich das Evangelium verteidige und bekräftige.“ (V. 7)

Es ist gut und ungemein stärkend, gute Beziehungen „im Herzen zu haben“. Obwohl allein, weiß sich Paulus auch im Gefängnis umgeben von einer Gemeinschaft, die sich um das Evangelium schart. Es ist so wohltuend zu wissen, mehr noch zu spüren, dass es Menschen gibt, die sich nicht irreführen lassen von platten populistischen Parolen. Die sich weigern, Feindbildern hinterher zu laufen. Für die in der Tiefe das gemeinsame Menschsein und der Glaube, das Vertrauen an den einen und einzigen Gott zählt, der sich nicht in Religionen oder Konfessionen ein- und aufteilen lässt.

Bei uns in Pullach war heute vor einer Woche ein islamischer Geistlicher, ein Imam, da. Er hat in der Reihe „Sonntags um 6 – ein halbe Stunde für den ganzen Menschen“ die 1. und die 59. Sure aus dem Koran rezitiert.

Es war einfach nur berührend. Mit welch‘ ehrlicher Hingabe hier ein islamischer Kollege seinem Vertrauen in Gott Ausdruck verleiht, ohne irgendeinen missionarischen Impetus.

Indem wir Gott im Herzen tragen, haben wir zugleich die menschliche Gemeinschaft im Herzen. Anders geht es gar nicht. Das vorhin gehörte Evangelium, das bekannte Gleichnis vom „Schalksknecht“, handelt davon, wie Leben für jemand ist, der mit Gott nichts anfangen kann. Er kommt gar nicht auf die Idee, das, was er erlebt hat, dass ihm nämlich seine Schulden erlassen wurden, nunmehr auf sein eigenes Leben und seine Beziehungen zu seinen Mitmenschen anzuwenden. Dafür wird er nicht bestraft – wie häufig falsch ausgelegt wird – sondern er muss nur die Konsequenzen tragen: da ihm Gott fehlt, fehlt ihm die Barmherzigkeit. Er kann Barmherzigkeit weder empfangen noch weiter geben. Und so bleibt er „auf seinen Schulden sitzen“.

Doch zurück zu Paulus, zurück zu unserem Predigttext:

Denn Gott ist mein Zeuge, wie mich nach euch allen verlangt von Herzensgrund in Christus Jesus.“

Paulus hat Sehnsucht nach seiner Gemeinde. Er vermisst sie. Sie können den Grad, mit dem sich jemand auf eine Beziehung eingelassen hat, leicht messen an dem Grad, mit dem jemand vermisst wird. Mit dem er selbst vermisst wird – und nicht das, wofür ich ihn gut gebrauchen konnte. Paulus sagt: „mich verlangt nach euch in Christus Jesus“. Damit ist der „Dritte“ genannt, innerhalb dessen das „Verlangen“ oder „Vermissen“ und „Fehlen“ des Anderen geschieht. Dieser Dritte oder besser die Dimension des „Dritten“ ist lebenswichtig für Beziehungen. Sonst wird man mit Haut und Haaren aufgefressen. Der Dritte ist der Raum dazwischen. Zwischen Ihnen und mir ist der/das Dritte das gemeinsame Bezogensein auf Gott. Es geht nicht um mich – es geht auch nicht um Sie: es geht darum, wie sehr es uns gemeinsam gelingt, dass Gottes barmherziger Geist zwischen uns wirksam werden darf. Es geht auch nicht um diese Predigt, oder um die Schlauheit meiner Gedanken: die dienen ausschließlich als Medium für etwas Drittes: für den Heiligen Geist, der die tote Vater-Sohn-Beziehung zum Leben erweckt hat.

In der christlichen Tradition ist dieser Heilige Geist aber nichts anders als die Liebe: die liebende Verbindung zwischen Vater und Sohn („vinculum caritatis“ hat ihn der Heilige Augustinus genannt.) Und so versteht sich der nächste Satz des Paulus beinahe von selbst:

Und ich bete darum, daß eure Liebe immer noch

reicher werde an Erkenntnis und aller Erfahrung,“

Die Liebe, die reicher werden kann an Erkenntnis und Erfahrung, hat wenig mit jenem rosarot bebrillten Verliebt-Sein zu tun hat, mit dem Liebe oft verwechselt wird. Liebe ist ein sehr nüchternes, die Realität anerkennendes Geschehen: „es ist, was es ist, sagt die Liebe“ (Erich Fried) Und indem die Liebe die Realität anerkennt, kann Erfahrung und Erkenntnis wachsen. Liebe findet nicht in Seifenblasen von Illusionen statt … Sie findet auch nicht in gut gemeinten Ratschlägen statt. Liebe geschieht und wächst in der liebevollen Zuwendung zum Anderen, im geduldigen Ertragen und Mit-Tragen seines So-seins und im tiefen Vertrauen in seine Entwicklungs- und Wachstumsmöglichkeiten. Liebe geschieht im Nicht-schon-vorher-Wissen, was gut für den Anderen ist und was er lassen soll.

Liebe geschieht in Freiheit, die nicht mit Gleichgültigkeit zu verwechseln ist.

In dieser Freiheit könnt ihr selbst „prüfen, worauf es ankommt,

damit ihr lauter und unanstößig seid für den Tag Christi, erfüllt mit Frucht der Gerechtigkeit durch Jesus Christus zur Ehre und zum Lobe Gottes.“

Paulus ermutigt seine Gemeinde zu Mündigkeit. „Prüft, worauf es ankommt – in liebevoller Bezogenheit!“ Damit ihr „lauter und „unanstößig“ seid – im Griechischen heißt lauter: eine Unterscheidung, die im klaren Licht der Sonne Bestand hat. Und „unanstößig“ heißt: den eigenen Weg aufrichtig gehen und nicht mehr oder weniger planlos durchs Leben stolpern.

Liebe Thomasgemeinde,

dazu möchte ich Sie und mich ebenfalls ermuntern. Seien Sie kritisch! Kritisch in Liebe – nicht in Rechthaberei, auch nicht in Besserwisserei.

Bei dir ist Vergebung, dass man dich fürchte!“ Mit diesem Psalmwort begann unser Gottesdienst.

Im Hebräischen gibt es eine Entsprechung zwischen „sich fürchten“ und „sehen“.

Es geht nicht darum, vor Gott Angst zu haben.

Es geht darum, sich von Gott wahrnehmen zu lassen.

Und das kann Angst erzeugen.

Von jenem Gott, der mich tiefer und wahrhaftiger kennt, als ich mich selbst.

Von jenem Gott, vor dem ich mich fürchte, weil ich nicht glauben kann, dass sein Blick liebevoll auf mich fällt. Von jenem Gott, der mir längst vergeben hat, auch das, was ich mir selbst nicht vergeben kann.

Von jenem Gott, der mir nicht glaubt, dass mein Leben bedeutungslos ist.

Von jenem Gott, der sich nicht von mir einreden lässt, ich sei ein Versager.

Von jenem Gott, dem mein gesellschaftlicher Status unwichtig und meine seelische Entwicklung wichtig ist.

Von jenem Gott, vor dem ich mich fürchte, weil ich so unsicher bin, ob ich an meinem Leben, an meiner Bestimmung, an meinem Eigenen vorbei lebe.

Von jenem Gott, den ich brauche, um mich selbst, um meinen Lebensweg zu verstehen.

Von jenem Gott, der mich einhüllt in das Feuer seiner Wahrhaftigkeit.

Dieses Feuer verbrennt meine Täuschungen.

Dieses Feuer vernichtet mein falsches Selbst.

Ich habe Angst, Gott, dass in dem Feuer deines Gerichts von mir nichts übrig bleibt. Was könnte vor deiner Wahrheit bestehen?

Nichts.

Ich gebe auf, Gott. Ich bin gescheitert. Ich habe versagt.

Bei dir ist Vergebung, indem ich dich in mir empfange!“

Bei dir ist Vergebung, indem ich mein Herz dir überlasse!“

Dir, Gott, mich öffnend wird mein Herz durchstrahlt von deiner Liebe,

die ich selbst und aus mir heraus niemals finden und niemals geben kann.

Dir Gott mich öffnend erlebe ich meine eigene Armut, sie verwandelt sich in Reichtum bei dir.

Dir Gott mich öffnend erlebe ich meinen Zweifel und er verwandelt sich in Sicherheit bei dir.

Dir Gott mich öffnend erlebe ich meine Ungeduld und sie verwandelt sich in Ruhe bei dir.

Dir Gott mich öffnend erlebe ich, dass ich geöffnet wurde in, durch und mit deiner geduldigen Liebe.

Damit bin ich mit meiner Predigt genauso wie mit meiner Sprache am Ende.

Was bleibt ist … danke ….

Ich danke meinem Gott, sooft ich euer gedenke …. AMEN.

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Predigt über 2. Timotheus 1, 7 -10 am 16. Sonntag nach Trinitatis 2016

Predigt über 2. Timotheus 1, 7-10 am 16. Sonntag nach Trinitatis in der Jakobuskirche in Pullach (Taufpredigt für Ida Carolina)

Die Dunkelheit des Vaters und das Lichts des Sohnes und die liebende Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

„Denn Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“

Mit Idas Taufspruch beginnt der heutige Predigttext.

Umgedreht heißt das: Der „Geist der Furcht ist nicht von Gott!“

Das griechische Wort für Furcht ist deilias: es meint eine Mischung aus „Verzagtheit und Feigheit“.

Es geht also nicht darum, die Angst abzuschaffen: Angst zu haben, Angst zu erleben gehört zum Mensch-sein dazu. Gesunde Angst schützt vor Tollkühnheit und Übermut. Gesunde Angst ist auf der Seite des Lebens.

Es geht um die Angst, die sich in mir festsetzen möchte. Die sich äußert in Verzagtheit, Feigheit, Lustlosigkeit.

Es geht darum, wenn die Angst mich niederdrückt, mich zum Rückzug aus dem Leben verführt. Wir gebrauchen dafür das zur Sprach-Hülse gewordene Wort „Depression“. Wörtlich: „Nieder-gedrückt-sein.“

Die Geschichte von Lazarus („Gott hilft“) veranschaulicht den Verlauf einer schweren Depression, in der die Lebens-Geister immer mehr versiegen. In der Depression „verschwindet“ der Kontakt, die Beziehung zum Leben – der Depressive wird unerreichbar. Das fühlt sich für die Angehörigen elend an.

Die Frage ist: wer oder was sind denn diese Nieder-Drücker? Und, noch wichtiger: woher beziehen diese Nieder-Drücker ihre Kraft?

Nüchterne Erkenntnis: aus mir selbst! Mein Ich ist der Nährboden.

Kennt ihr den Film „Matrix“?

Die Welt der Maschinen hat die Macht übernommen: und sie beziehen ihre Energie aus den in einer Nährlösung liegenden Menschen. Die Menschen schlafen – und träumen Träume, die sie für die Wirklichkeit halten. Das ist die Matrix, die Scheinwelt, die ihnen vorgegaukelt wird. Die die Menschen für das Leben halten – Das Entscheidende aber ist: die Maschinen legen größten Wert darauf, dass die Menschen nicht aufwachen.

Über den Erwachten hat die Matrix ihre Macht verloren. Sie kann ihn zwar noch töten – aber mehr auch nicht.

Der Erwachte lässt sich von den Verführungen der Matrix nicht mehr einlullen.

Das Erwachen aber ist ein Geschehen, das sich nicht machen lässt.

Es geschieht.

Es geschieht über Hingabe an die Realität, an das, was ist.

In diesem Erwachen höre ich auf, meine eigenen Täuschungen über das Leben zu nähren. Weil sie mir willkommener und angenehmer erscheinen als die nüchterne Wirklichkeit. In dem Erwachen füttere ich nicht mehr meine Illusionen über das Leben, über mein Leben und das Leben der Anderen, sondern erkenne die Wirklichkeit, die Wahrheit meines Lebens an.

Dazu bedarf es eines „Geistes der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“!

Wer Anhänger des HSV oder gar von TSV 1860 München ist, weiß, was das bedeutet! Ohne diesen Geist würde er nicht überleben.

(Allerdings ist anzuerkennen: Fußball gehört auch zu den Vergnügungen innerhalb der Matrix.)

Der Geist, von dem hier die Rede ist, „weht wo er will“. Er ist nicht machbar und nicht fassbar. Das einzig Mögliche ist, sich mit ihm zu verbünden und zu verbinden. Und in diesem Bündnis zu erleben, was er vermag:

er schenkt die Kraft, das Leben gerade auch in seiner Härte, Unverrückbarkeit und Endgültigkeit anzunehmen. Die Kraft zu ertragen, was es zu ertragen gilt: die Schmerzen, körperlicher und seelischer Art, die Enttäuschungen über das, was nicht so lief, wie ich es wollte, wie ich es mir wünschte, wie ich es für richtig hielt.

Wer Kinder hat, weiß, dass diese Enttäuschungen unvermeidlich sind. Kinder haben nämlich die merkwürdige Angewohnheit, ihr Leben selber bestimmen zu wollen. Und selber heißt ganz einfach: nicht so, wie die Eltern es wollen. Es ist gut, sich immer wieder daran zu erinnern, dass wir alle auch Kinder waren und dass wir alle auch unser Leben selber in die Hand nehmen wollten und – hoffentlich – auch in die Hand genommen haben.

Dazu bedarf es des Geistes der Liebe. Liebe heißt ja nicht, den Anderen dann zu mögen, wenn er gerade so ist, wie ich ihn brauche. Das ist nicht Liebe, sondern Bemächtigung des Anderen. In der Wirtschaft heißt das: „feindliche Übernahme“!

Nein – Liebe heißt, die Sympathie (das „Mit-Fühlen“) für den Anderen gerade da aufrecht zu erhalten, wo er nicht so ist, wie ich ihn brauchen kann, wie ich es für richtig halte! Liebe ist die Fähigkeit, mein Ich mit seinen Erwartungen und Wünschen an den Anderen zurückzustellen. Und mich an der Freiheit und Lebendigkeit des Anderen zu erfreuen. Diese Liebe begleitet die Kinder auf dem Weg zum Erwachsen-Werden. Liebevolle Begleitung heißt – auf der anderen Seite – nicht, alles hinnehmen und alles für gut heißen. Es heißt nur, dass die Beziehung stärker ist als der Impuls sie abzubrechen.

Die schmerzhaften Beziehungsabbrüche beruhen auf Enttäuschung. Vermeintlich ist es angenehmer, die Beziehung abzubrechen als sich die eigene Täuschung einzugestehen. Enttäuschung bedeutet ja nur: eine Täuschung ist zu ende.

Neben der Liebe nennt Paulus noch die „Besonnenheit“ als weiteres Erleben des Geistes. Besonnenheit, „sophrosyne“ heißt wörtlich: geistig-seelische Gesundheit; Selbstbeherrschung und Mäßigung.

Es ist spannend zu sehen, wie Paulus fortfährt:

„Darum schäme dich nicht des Zeugnisses

von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener

bin, ….“

Scham, sich schämen ist ein besonders ekelhaftes Gefühl. Paulus spricht das „Fremd-Schämen“ an. Sich für einen Anderen schämen. Ich vermute, viele von uns kennen das. Fremd-schämen ist Ausdruck von mangelnder Abgegrenztheit in Beziehung. Es fehlt das Gefühl für gute Getrenntheit. Kinder können sich von ihren Eltern nicht in dieser Weise abgrenzen. Für sie sind die Eltern die großen Vorbilder, die, die wissen, wie Leben geht. Von daher ist es für sie besonders schwer erträglich, wenn sie das Gefühl haben, irgend etwas stimmt nicht mir ihren Eltern. Ihr erster Reflex ist, sie in Schutz zu nehmen und ihr eigenes Erleben dafür zu opfern. Sie hoffen, dass sie sich täuschen, dass sie das, was sie meinen wahrzunehmen, sich nur einbilden.

Das gibt’s doch nicht!“

Auch den Fans des HSV oder von 1860 ist das Thema „sich schämen“ nicht fremd.

Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen“, hat meine Oma gesagt.

Deutscher Meister in der Relegation!“

Je stärker ich mit etwas/jemand identifiziert bin, desto näher geht mir das, was er/sie/es machen. Desto näher geht mir, wenn der oder das Andere Ziele nicht erreicht, Leistungen nicht erbringt, nicht in der Champions-League spielt. (Sondern um das Überleben in der zweiten Liga kämpft.)

Das ist die große Tragik der Eltern-Kind-Beziehung.

Kinder sind ausbeutbar, weil sie auf die Liebe der Eltern angewiesen sind. Wenn die Eltern zu Kindern werden, die darauf angewiesen sind, dass ihre Kinder in bestimmter Weise funktionieren (Erfolg, Karriere …) – dann wird es für die Kinder wie für ihre Eltern schlimm. Das ist der Stoff, aus dem die Beziehungsabbrüche gewebt sind.

Der Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit ist ein starker Geist. In ihm lösen sich die Verstrickungen. Und so fährt Paulus fort:

… leide mit mir für das Evangelium in der Kraft Gottes.“

Das Evangelium ist nichts weiter als die frohe Kunde, die davon handelt, dass es einen Geist, eine Energie gibt, die dich wirklich meint. Dich: und zwar so, wie du gerade bist. Und nicht nur das: für die du auch noch völlig in Ordnung bist, so, wie du gerade bist. Der es egal ist, in welcher Liga du gerade spielst, auf welchem Tabellenplatz du dich gerade aufhältst. Die dich nicht verändern will.

Die Verbindung zu dieser Energie schaffen wir nicht aus eigener Kraft. Aus eigener Kraft versuchen wir, um Anerkennung zu kämpfen, den Trainer zu wechseln, versuchen uns etwas aufzubauen, versuchen, andere zu betrügen, um selber mehr zu haben, versuchen zu manipulieren, zu bestechen, um unseren Willen zu bekommen usw.

Aus eigener Kraft versuchen wir ein möglichst starkes „Ich will das haben“ zu erzeugen. Dafür müssen wir rackern, kämpfen, bestechen, täuschen, dopen usw …

Vor dieser Kraft, der du willkommen bist – so wie du bist – gibt es dies alles nicht. Es geht „nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem eigenen Vorsatz und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus vor ewigen Zeiten…“

Wir könnten loslassen. Dann hätte die Plackerei ein Ende.

Wir könnten uns in den barmherzigen Schoß Gottes fallen lassen.

Dann würde unser Leben leicht werden.

Wir könnten uns dem Fluss unseres Lebens überlassen.

Hinnehmen, was hinzunehmen ist.

Betrauern, was zu betrauern ist.

Bedauern, was zu bedauern ist.

Und aufhören zu hoffen, dass die Zukunft besser wird.

Und aufhören zu jammern, dass die Vergangenheit nicht gut genug war.

Jedenfalls haben wir überlebt.

Bis heute.

Bis jetzt.

In diesem Geschehen würden wir allmählich wach werden. Wach für die Gegenwart.

Die Gegenwart, in der allein das Leben zu finden ist.

Und warum tun wir’s nicht?

Weil wir Angst haben. Angst davor, die Kontrolle zu verlieren.

Ja, aber“ sagen wir.

Oder hätte ich doch…“

Und außerdem haben wir uns unsere Werte, Ziele, Erwartungen – all‘ das, von dem wir meinen, wie Leben geht – doch so mühsam aufgebaut. Und außerdem wurde uns das auch so mühsam antrainiert. Das soll jetzt alles nichts mehr gelten?

Echt nicht! Das würde ja weh tun. Ziemlich weh tun. Deshalb sagt Paulus: „Leide mit mir für das Evangelium!“

Klingt nicht gut. Warum leiden? Da schlafen wir doch lieber noch ne Runde. So schlecht ist die Matrix doch gar nicht. Und es gibt herrliche Ablenkungen. Jetzt noch viel brillanter in HD. Tolle Graphik. Ein kühles Bier dazu und Chips.

So kriegen wir die Zeit schon rum, oder?

Ähneln wir nicht alle dem Mann, von dem der indische Jesuit Anthony de Mello erzählt?

Vor einiger Zeit – sagt er – hörte ich im Radio … von einem Mann, der an wieder einmal am Morgen an die Zimmertür seines Sohnes klopft und ruft:

Jim, wach auf!“

Und Jim ruft zurück: „Ich mag nicht aufstehen, Papa.“

Darauf der Vater noch lauter: „Steh auf, du musst

in die Schule!“ „Ich will nicht zur Schule gehen.“

Warum denn nicht? “, fragt der Vater.

Aus drei Gründen“, sagt Jim. „Erstens ist es so langweilig, zweitens ärgern mich die Kinder, und drittens kann ich die Schule nicht ausstehen.“

Der Vater erwidert: „So, dann sag ich dir drei Gründe, wieso du in die Schule musst: Erstens ist es deine Pflicht, zweitens bist du 45 Jahre alt, und drittens bist du

der Klassenlehrer.“

Gott hat uns gegeben einen Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Diesen Geist benötigt, wer sich dem eigenen Leben zuwenden will.

Das Leben findet draußen statt! Nicht vorm Handy und nicht vorm PC.

Und das Leben vergeht – egal wie wir es gelebt haben.

Davon handelt der letzte Gedanke unseres Predigttextes, der auch der Wochenspruch ist.

Christus Jesus, der den Tod zunichte gemacht aber Leben und Unvergänglichkeit ans Licht gebracht hat durch das Evangelium.“

Es ist eine Täuschung zu meinen, das eigentliche Leben kommt erst.

Die Unvergänglichkeit ist die Gegenwart. Nur sie ist ewig.

Gegenwart ist das, was aus der Zeit herausgefallen ist.

In der Gegenwart hat die Matrix keine Chance.

Die Matrix ist nichts anderes als die Verführung, sich aus der Gegenwart zurück zu ziehen. In unsere Grabes-Höhlen – oder auch Grabes-Höllen.

Und es ist offen, ob wir überhaupt bereit sind, wie Lazarus unsere Höhle zu verlassen.

Gebe Gott, dass wir die Kraft und den Mut haben aufzuwachen. Gebe Gott, dass wir es wagen, uns seinem Geist zu überlassen, unser Leben in und von diesem Heiligen Geist führen zu lassen.

Eben dem Geist, der in jedem Augenblick da ist, der nur darauf wartet, sich mit uns zu verbünden – dem Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit, AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher und tiefer ist als unsere Vernunft und diese Gedanken, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN.

Predigt über 2. Timotheus 1, 7 -10 am 16. Sonntag nach Trinitatis 2016 Weiterlesen »

Predigt am 11. Sonntag nach Trinitatis 2016

Predigt am 11. Sonntag nach Trinitatis 2016

(Epheser 2, 4-10)

Die Dunkelheit des Vaters und das Licht des Sohnes und die lebensstiftende Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade.“ (1. Petrus 5,5) Mit diesem Wort haben wir unseren Gottesdienst heute begonnen.

Meine Oma hat gesagt: „Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr.“ Das ist so was wie der Minus-Wochenspruch. In dieser Welt, nach den Maßstäben dieser Welt hatte mein Oma Recht.

Nach den Maßstäben dieser Welt hatte auch jene Dame Recht, die bei einem Beerdigungsgespräch mir sagte:

Ich habe in meinen jungen Jahren an Gott geglaubt. Dann wurde ich schwanger und bin jeden Sonntag in die Kirche gegangen. Ich habe immer darum gebetet, ein gesundes Kind zu bekommen. Als mein Sohn auf die Welt kam, war sein linker Arm gelähmt. Seither glaube ich nicht mehr an Gott. Und ich war auch nicht mehr in der Kirche“.

Hätte ich damals den heutigen Predigttext parat gehabt, hätte ich sagen können: „Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es …“ (Eph. 2, 8)

Aber: erstens: hätte, hätte. Fahrradkette …

Zweitens: es hätte auch nichts genutzt.

Jene Dame war sich absolut sicher, dass ihre Enttäuschung ihr zustand. Dass sie recht hatte. Sie war sich sicher, alles richtig gemacht zu haben. Der, der falsch war, der versagt hatte, das war nicht sie, sondern Gott. In ihrer Enttäuschung wandte sie sich von Gott ab. Vielleicht konnte sie so einigermaßen weiterleben, da sie ihre Enttäuschung bei Gott unterbringen konnte. Andere Menschen, die dies nicht können, bringen ihre Enttäuschungen bei ihrem Partner unter, oder bei ihren Kindern, oder wenden sie gegen sich selbst und werden suizidal.

Nun spricht nichts dagegen, Gott als eine allmächtige Instanz zu verwenden, die meine Wünsche dann erfüllt, wenn ich gehorsam bin. Wahrscheinlich hatte die Dame oft und oft als Kind erlebt: wenn sie brav ist, bekommt sie etwas, wenn nicht, will man mit ihr nichts mehr zu tun haben. Da Gott in ihren Augen nicht brav gewesen ist, will sie nun mit ihm nichts mehr zu tun haben. Dies machen wir Menschen gerne und häufig: anstatt unsere Meinung über den Anderen, in diesem Fall über Gott zu überprüfen und in darin sich mit dem Anderen auseinander zu setzen, brechen wir den Kontakt ab. Das ist natürlich einfacher, weniger in Frage stellend, weniger verunsichernd.

Ich bin enttäuscht über dich …“ – das ist ein Satz, den Väter gerne zu ihren Söhnen, Mütter gerne zu ihren Töchtern sagen. Vielleicht noch hinzufügend: „ich habe es dir nur gut gemeint!“

Meister Eckhart hat einen anderen Satz geprägt, der gut hierher passt:

… manche Leute wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen, und wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und des Käses und deines eigenen Nutzens. So halten’s alle jene Leute, die Gott um äußeren Reichtums oder inneren Trostes willen lieben; die aber lieben Gott nicht recht, sondern sie lieben ihren Eigennutz.“ Es ist gut, sich ehrliche Rechenschaft darüber zu geben, wofür ich „Gott“ (und meine Mitmenschen) in meinem eigenen Leben verwende. Eckhart weist in seinem deftigen Bild darauf hin, dass „manche Leute“ Gott für ihren Egoismus verwenden. Die Frage ist nicht, was gebe ich Gott, sondern was kriege ich von ihm. Die genannte Dame war ein Stück weiter: sie „fütterte“ Gott mit ihrem Gehorsam, und erwartete dafür die Erfüllung ihrer Wünsche. Im bäuerlichen Denken ist dies völlig in Ordnung: wenn ich meine Kuh gut füttere, erwarte ich „zurecht“, dass sie viel und gute Milch gibt. Wenn sie dies nicht tut, wird sie verkauft oder geschlachtet.

Dies wird Gott nicht gerecht, da Gott nicht „etwas unter anderem ist“. So fährt Eckhart fort: „Alles, worauf du dein Streben richtest, was nicht Gott in sich selbst ist, das kann niemals so gut sein, dass es dir nicht ein Hindernis für die höchste Wahrheit ist.“

Was aber ist „Gott in sich selbst“? „Gott in sich selbst“ ist unerkennbar, die Metapher hierfür ist „Dunkelheit“. Gott geschieht „im Dunklen“. Deshalb ist jede Art kausalen Denkens („wenn – dann“) eine Bemächtigung Gottes. So sagt Meister Eckhart an anderer Stelle, dass die einzig angemessene Art zu beten die ist, „danke zu sagen.“ Jenes „danke“, aus dem heraus ein Denken strömt, das in Danken eingebunden ist. Dieses Denken ist ein bescheidenes. Es erkennt an, dass es sich nicht selbst geschaffen hat. Es erkennt an, dass es auch die Wirklichkeit nicht selbst schaffen kann. Und es erkennt an, dass es nicht ums Recht haben geht.

Die Reaktion der Dame darauf, dass ihr dringender Wunsch nicht erfüllt worden ist, war kein In-Frage-Stellen ihrer eigenen Annahmen über „Gott und die Welt“, sondern das Ausscheiden, das Exkommunizieren Gottes. Sie konnte aus dieser Erfahrung nicht lernen. Sie konnte sich nur abwenden.

Und so kann nichts Neues werden. Das Alte, Vertraute, die (Sehn-)Sucht nach Erfüllung der eigenen Wünsche, hat die Möglichkeit für Neues getötet.

Uns, die wir tot waren in den Sünden“, sagt Paulus im heutigen Predigttext, hat „Gott, der reich ist an Barmherzigkeit … mit seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat … mit Christus lebendig gemacht.“ (4-5) : „denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, werdet ihr sterben müssen; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Fleisches tötet, so werdet ihr leben.“

Die Taten des Fleisches sind in unserem Evangelium zusammengefasst in dem Gebet des selbstgerechten Pharisäers.

Ich habe was aus meinem Leben gemacht, sagt der Pharisäer. Nicht so wie die Zöllner, die Betrüger, die Ehebrecher. Gott sei Dank, dass ich nicht so bin wie die.

Ich lebe Gott wohlgefällig.

Ich kümmere mich um die Armen.

Ich zahle meine Kirchensteuer, und das nicht wenig.

An Weihnachten gehe ich in die Kirche.

Weil das einfach dazu gehört.

Ich habe mir nichts vorzuwerfen.

Ich muss keine Angst vor dem jüngsten Gericht haben.

Wenn alle Menschen so lebten wie ich, dann sähe diese Welt anders aus.

Ich werfe meinen Müll nicht achtlos auf die Straße.

Aber das mit den Flüchtlingen ist wirklich übertrieben.

Mir wurde auch nichts geschenkt.

Und man sieht ja, was da alles in unser Land herein kommt. Nirgends ist man mehr sicher.

Ich könnte mühelos die Gedanken des Pharisäers weiterspinnen.

Sie merken, die sind mir sehr nahe.

Das liegt daran, dass ich selbst in mir so eine Pharisäer-Seite habe. Die kann auch ganz versteckt sein. Indem ich stolz darauf bin, dass ich nicht so bin wie der Pharisäer.

Die Taten des Geistes geschehen. Ich kann sie nicht machen. Es gibt kein „Ich mache das!“ „Ich schaffe das!“ Dieses Ich ist im Wirken-lassen des Geistes entmachtet.

Das fühlt sich an wie sterben. Das „Lebendig-Werden“ im Geiste („in Christus“, wie Paulus sagt) ist ein „Gleichgestaltet-Werden mit seinem Tod.“ Der Tod ist das Aufgeben der eigenen Wünsche, Erwartungen, Forderungen an das Leben. Was stirbt, das sind meine Illusionen und Täuschungen darüber, ich hätte mein Leben im Griff, hätte es in der Hand. Nichts habe ich in der Hand. Gott begegnen heißt mit leeren Händen da stehen.

Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben: und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es. Nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme.“

Ja – wenn das so ist, dann lege ich meine Hände in den Schoß. Dann werden die Andern schon merken, wie weit sie ohne mich kommen.

Warum bin ich eigentlich so blöd und arbeite so viel. Und halse mir auch noch Ehrenämter auf. Krieg‘ ja eh nichts dafür.

Von wegen Dankbarkeit.

Dass es läuft, ist selbstverständlich.

Und wenn mal was nicht läuft, dann wird gemotzt.

Dann verkauf‘ ich mein Hab und Gut und ziehe auf die kanarischen Inseln.

Und lass den lieben Gott einen guten Mann sein!

Das klingt nach Änderung des Lebens. Ist es aber nicht.

Viele Menschen meinen, Veränderung ist, wenn ich etwas anderes tue. Das ist meistens eine Täuschung.

Veränderung geschieht, indem ich meine Haltung zum Leben, zu mir und zu dem Leben, das um mich herum ist, verändere. Damit dies möglich ist, muss ich mir erst mal meiner Haltung zum Leben bewusst werden.

Dieses berühmte „erkenne dich selbst!“ ist leicht gesagt, schwer gelebt und nicht sehr verbreitet. Wir erkennen lieber den Anderen, beschäftigen uns mit seinen Splittern in den Augen. Das ist leichter und angenehmer.

Wahrhaftige Selbsterkenntnis beginnt mit der Einsicht, dass wir hier mit leeren Händen stehen. Dass wir uns unser Leben nicht selbst geben konnten, dass wir lange Jahre davon abhängig waren, gut genug leiblich und seelisch ernährt zu werden. Je kränkender und beschämender wir dieses Abhängig-sein erlebten, desto intensiver entstand der Wunsch, frei, unabhängig, autonom zu sein.

Das habe ich mir alles selbst geschaffen, sagt der Pharisäer.

Mein Auto, mein Haus …

Das ist wichtig, denn der Pharisäer will unter keinen Umständen danke sagen müssen. Echtes Danke. Erlebtes Danke.

Danke untergräbt die Täuschung der Autonomie.

Danke hieße – ich bin auf jemand Anderen angewiesen.

Danke hieße – ich kann das gar nicht alles alleine.

Danke erinnert mich an den Horror des Ausgeliefert-seins.

Der Pharisäer sagt: „Danke, Gott, dass ich nicht so bin wie die Anderen.“ Und er meint damit: „Ich bedanke mich bei mir, dass ich aus meinem Leben was gemacht habe. Deshalb bin ich nicht so wie die Anderen.“

Paulus, der Sohn eines Pharisäers, selbst zunächst Pharisäer geworden, beschließt unseren Predigttext mit dem Satz: „… wir sind sein (Gottes) Werk geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen.“ (Vers 10)

Wir sind Gottes Werk …“

Selig sind die, die arm sind“, sagt Jesus,

selig sind die, die nicht satt sind,

selig sind die, die nicht schon alles wissen,

selig sind die, die nicht schon am Ziel sind,

selig sind die, die nicht Recht haben,

…“

sie leben auf meine Kosten, sagen die Reichen,

auf meine auch, sagen die Macher.

Wir sind doch die, die anpacken, sagen die Anpacker.

Aus nichts wird nichts sagen sie:

du musst lösungsorientiert denken, sagen die Lösungsorientierten,

außerdem haben wir Recht, sagen die Recht-Haber.

Selig, wer in Verbundenheit und Freundschaft mit seiner Seele leben darf.

Selig wer dankbar sein Leben in den barmherzigen Schoß Gottes zu legen wagt.

Selig, wer es wagt, sich den Fremden zuzuwenden und sich von Gewalt nicht abschrecken lässt.

Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben: und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es.“ AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN

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Predigt über die „anvertrauten Talente“ am 9. Sonntag nach Trinitatis

Predigt am 9. Sonntag nach Trinitatis (Jakobuskirche Pullach)

Matthäus 25,14-30 und Philipper 3,7-11

Die Finsternis des Vaters und das Licht des Sohnes und die lebensspendende Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

ich kenne jemand, der ist beim Hören des heutigen Evangeliums seelisch zusammengebrochen. Sein Leben war zu diesem Zeitpunkt nicht so gelaufen, wie er es sich erhofft hatte. Er war die große Hoffnung seiner Eltern gewesen, und konnte sie nicht erfüllen. Hilfesuchend wandte er sich an die christliche Religion mit ihrem Verständnis für die Schwachen. Und ausgerechnet in dieser Situation hörte er das Gleichnis von den anvertrauten Talenten. Er war sich sicher, sein Los ist das des dritten Knechtes. Er war sich sicher ein „böser und fauler Knecht“ zu sein. In dieser Haltung versuchte er sich das Leben zu nehmen, was ihm ebenfalls misslang. „Nicht einmal dazu bin ich fähig!“ schalt er sich.

Ich kenne jemand anderen, der aus einfachen Verhältnissen kommt. Als Lehrling angefangen hat er sich hochgearbeitet bis zur Spitze in einem DAX-Konzern. Mit eigenem Chauffeur, eigener Yacht usw. Mein Auto, mein Haus, mein Boot.

Wieder jemand anders sagte mir vor kurzem, er gehe nicht regelmäßig in die Kirche. Auch glaube er nicht sehr. Aber er sei sich sicher, dass es ein Jüngstes Gericht geben wird, und da werde er sich entspannt zurück lehnen. Er habe nämlich eine weiße Weste.

So verschieden sind wir Menschen.

Ich habe heute zwar nicht über das Gleichnis zu predigen – aber es bildet doch den Hintergrund unseres heutigen Gottesdienstes. Auch der Wochenspruch gehört zum Thema: „Wem viel gegeben ist, bei dem wird man auch viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man um so mehr fordern.“ (Lk 12,48)

Menschen sind verschieden: es gibt die, die Forderungen als Herausforderungen nehmen. Es gibt die, die sich niemals in Frage stellen.

Und es gibt die, die unter der Last der Forderungen zusammenbrechen.

Sie ziehen sich in eine eigene Welt zurück, in der sie sich sicher wähnen. Es ist von großer Bedeutung sowohl in einer psychotherapeutischen Behandlung wie im alltäglichen Leben, die „Orte des seelischen Rückzugs“ (J. Steiner) eines Menschen zu kennen und zu respektieren. Auf der anderen Seite machen genau diese Orte sehr heftige Gefühle – gerade und besonders dann, wenn ich mit einem anderen Menschen zu tun haben will, wenn ich mich für ihn interessiere, wenn ich ihn liebe.

Das, was der Andere als Rückzug erlebt, erlebe ich, der ich an den Anderen herankommen will, als Abweisung. Je tiefer jemand in seine eigene innere Welt versponnen ist, desto schwieriger hat er es, die Welt da draußen überhaupt noch mitzubekommen. Je bedürftiger ich auf der anderen Seite danach bin, vom Anderen wahrgenommen, gesehen zu werden, desto heftiger werden meine Gefühle sein: ich tue mich dann immer schwerer, noch den Anderen zu sehen, kreise um meine Verletzungen, um meinen Ärger, um mein Nicht-Wahrgenommen-Werden.

Kurzum: was für den einen ein Schutz ist, erlebt der Andere als Abweisung.

Zum Konflikt kommt es, wenn die beiden Bedürfnisse aufeinander prallen: das Bedürfnis nach Rückzug und Schutz und das Bedürfnis nach Wahrgenommen und Gesehen-Werden. Erst wenn es Brücken des Dialogs, des liebevollen Austausches darüber gibt, was eigentlich gerade los ist in der Beziehung, kann die Beziehung wachsen. Kann es „weiter gehen“.

Das harte Gleichnis von den anvertrauten Talenten ist eine drastische Aufforderung, die eigenen, selbst gezimmerten Schutzräume aufzugeben.

Die Botschaft lautet: Du kannst deine Lebendigkeit vergraben. Aber wisse: davon hat niemand etwas. Du am allerwenigsten.

Ein Nachdenken oder gar Verständnis für die Motivation dessen, der das Geld vergräbt, findet allerdings nicht statt. Na ja: wir Menschen mögen es nicht, die Wahrheit über uns und unser Leben zu erfahren. Das ist zu kränkend. Hierin gründet, dass Selbsterkenntnis, seit es Menschen gibt, nicht beliebt ist. Leichter und moderner ist es, ungehemmt dem eigenen Hass Raum zu geben. Nicht genug damit, sich selbst das Leben zu nehmen, am besten auch noch Andere, Unschuldige, mit in den Tod zu reißen.

Welch ein Triumph – welch eine Macht: einen Augenblick lang selbst Herr über Leben und Tod zu sein!

Es geht also um Hass. Und darum, ob es Möglichkeiten gibt, Hass zu verwandeln. Die Idee, die Todesstrafe wieder einzuführen, ist eine Kapitulation gegenüber der Hoffnung, dass sich Hass verstehen und verwandeln lässt. Sie beantwortet Hass mit Vernichtung.

Hass ist soviel einfacher als Liebe. Zerstören ist soviel einfacher als wachsen lassen. Sie merken schon: wachsen lassen. Das heißt, so direkt kann ich nichts machen. So direkt habe ich nichts im Griff.

Liebe hat mit Aushalten zu tun. In der Liebe bleiben heißt, fähig sein, die Impulse, die aus dem Hass stammen, nicht auszuleben. Auch die Worte, die aus dem Hass stammen, nicht auszusprechen. Die Worte des Meckerns, des Jammerns, des Sich- lustig-Machens. Natürlich hinter dem Rücken des Anderen. Liebe erfordert Mut. Hass nicht.

In der Liebe bleiben heißt also zunächst einmal: die Klappe halten. „Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken im eigenen siehst du nicht.“

Zur Zeit werden (wieder) Menschen zu Führern, die unfähig sind, sich selbst in Frage zu stellen. Das Verführerische an diesen Führern sind die einfachen Lösungen, die sie anbieten. Die einfachen Lösungen sind die Lösungen der Macht.

Ich mache das, weil ich es kann!“

Das ist die Position der Macht. Die Kehrseite der Macht ist die Ohnmacht.

Der christliche Glaube, der mich berührt, der Gott, mit dem ich mich verbunden fühle, hat viel mit Ohnmacht zu tun. Und dem Ertragen von Ohnmacht. Und der Stärke, die aus diesem Ertragen erwächst.

Hiervon handelt der heutige Predigttext aus dem Philipperbrief, in dem Paulus über seine Kehrtwende hin zu Christus nachdenkt und sagt:

„ … was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet. Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, damit ich Christus gewinne und in ihm gefunden werde, daß ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott dem Glauben zugerechnet wird.“

Das Problem ist das Einverstanden-sein mit der eigenen Ohnmacht. Dass ich nichts tun kann. Nicht einmal der Glaube ist mein Werk, mein Verdienst: auch er geschieht durch Gott, ist „Gottes Gabe“, wie es im Epheserbrief heißt. Und nicht ich verdiene, erarbeite mir meine Gerechtigkeit, meine Zufriedenheit – sie kommt zu mir, aus dem Glauben an Jesus Christus.

Das mag der moderne Mensch schon gleich gar nicht. Alles mein Verdienst, sagt er. Mein Haus, mein Auto, mein Boot!

Unser Gleichnis von den anvertrauten Talenten legt diese Haltung nahe. Damit wird man ihm aber nicht gerecht. Allerdings darf man dieses Gleichnis nicht kurzschlüssig auf das Leben beziehen. Sonst müssten wir die Milliardäre als besonders vorbildliche, von Gott auserwählte Menschen ansehen.

Geld hat mit Talent, mit Kreativität, mit Lebendigkeit nichts zu tun.

Geld ist Geld und bleibt Geld. Ein Tauschmittel – mehr nicht.

Und: Geld steht für Möglichkeiten. Ich kann mein Geld für Sinnvolles und weniger Sinnvolles verwenden. Und genauso ist es auch mit meinen Talenten. Geld und Talent (Talent war im Griechischen ein Zahlungsmittel) eröffnen Möglichkeiten. Das verbindet sie.

Es hat Vorteile, sich darüber Rechenschaft zu geben, wofür ich mein Geld, meine Begabungen verwende. Für meinen Geiz? Für meinen Neid? Für meine Gier?

Oder für Großzügigkeit, für Dankbarkeit, für die Unterstützung von Projekten, die mir sinnvoll erscheinen. Dieses „Sich-vor-sich-selbst-ehrliche-Rechenschaft-abgeben“, ist nicht sehr beliebt. Ich will gar nicht so genau wissen, was mit mir los ist. Zum Schluss entdecke ich auch noch Leichen im Keller! Das kann sein. Dann weiß ich halt wenig über mich, lebe halb blind durchs Leben.

Die Haltung des dritten Knechtes ist im übrigen die Haltung des depressiven Menschen. Er ist getrieben von seiner Angst und von seinem Hass. „Herr, ich wusste, dass du ein harter Mann bist; dass du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst ein, wo du nicht ausgestreut hast …“

Woher wusste er das? Davon ist keine Rede im Text. Es ist die innere Überzeugung des Knechtes; es ist sein Vorurteil, das er dem Anderen überstülpt. Aus ihm heraus hat er gehandelt. Aus ihm heraus hat er sich selbst gerichtet. Im Grunde genommen ist der ein armer Hund, wer seine Talente aus Hass und Angst vergräbt. Angst und Hass, die aus seinen eigenen Vorurteilen entstanden sind. Er muss gar nirgends hingeworfen werden: er hat sich selbst in die Finsternis katapultiert, wo Heulen und Zähneklappern herrscht. Die Explosionen von Gewalt, die wir derzeit erleben, hängen mit der Haltung des dritten Knechtes zusammen. Es sind Menschen, die nicht mehr erreichbar sind für das Leben, für das Geschenk des Lebens. Am Ende steht ihre Zerstörung: sei es von außen, sei es, dass sie sich selbst richten.

Paulus hat in seiner Kehrtwendung die Lebendigkeit des Lebens erlebt. Er verbindet Leben unmittelbar mit Christus.

Sein Ziel ist es, diesen befreienden Christus zu erkennen:

Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet werden, damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.“ (10-11)

Leben aus dem Evangelium Jesus Christi heraus bedeutet: es geht nicht mehr darum, irgendwelche Forderungen zu erfüllen. Es geht ausschließlich darum, Christus zu erkennen. Und „erkennen“ heißt im Hebräischen: „lieben“. In Klammer: wer Christus in der Tiefe liebt, der kann den Anderen nicht mehr verteufeln. Auch wenn der statt Christus Mohammed oder Buddha oder Maria in das Zentrum seines Glaubens stellt.

In der Liebe zu Christus lerne ich ein Leben zu leben, das nicht mehr angetrieben ist davon, irgendwelchen Terminen, Pflichten, Erwartungen, Forderungen hinterher zu hetzen. Immer mit der bangen Frage im Hinterkopf: bin ich gut genug? Reicht das, was ich zu geben habe? Die Liebe ist auch die einzige Chance, den depressiven Menschen zu erreichen. Der Gott der Liebe sagt übrigens nicht: „Du böser und fauler Knecht!“ Der Gott der Liebe sagt: „wie schade, dass du mit deinem Leben nichts anfängst. … Wie schade, dass dir deine Verweigerungshaltung so wichtig ist … “ Meine Erfahrung mit mir selbst als dem drittem Knecht ist: nicht Drohung oder Bestrafung hilft weiter, auch nicht Überzeugen oder Locken, sondern: aufmerksames Dasein. Und das Eingeständnis: ich kann dir nur bis zu einem gewissen Grad weiter helfen: aus deinem Versteck musst du ganz alleine herauskommen.

In der Liebe zu Christus geschieht die Erleuchtung, dass alles, was zählt, mein Hier-Sein ist. In und mit meiner ganzen Lebendigkeit. Die überschwängliche Erkenntnis Christi ist das überschwängliche Erleben meines Hier-auf-dieser-Welt-Seins. Das so unwahrscheinlich ist und so unvorhersehbar war. Je tiefer ich dies erleben darf, desto wirksamer geschieht Gottes Kraft der Auferstehung von den Toten. Und zwar hier und jetzt – und nicht in einem fernen Jenseits.

Hier an diesem Sonntag, in dieser Kirche, in diesem Augenblick hat jeder von uns – egal ob Frau oder Mann, groß oder klein, alt oder jung, die Möglichkeit, die überschwängliche Erkenntnis Christi zu erleben. Sie wollen wissen wie? Sie wollen wissen, was Sie dann erleben? Ja, genau das ist das Problem.

Lassen Sie sich überraschen! AMEN

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Sinne in Christus Jesus, AMEN.

Predigt über die „anvertrauten Talente“ am 9. Sonntag nach Trinitatis Weiterlesen »

Osterpredigt 2016: Kein Ostergelächter, aber vielleicht ein Osterlächeln

Predigt am Ostersonntag 2016

Die Dunkelheit des Vaters und das Licht des Sohnes und die liebende Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen., AMEN.

Liebe Gemeinde,

fragen Sie sich auch manchmal: wo sind eigentlich die ganzen Jahre meines Lebens hingekommen? Mehr als sechs Jahrzehnte bin ich jetzt auf dieser Welt – und diese Jahrzehnte sind verschwunden. Und mit ihnen sind viele Menschen verschwunden, die mich begleitet haben. Ich vermute, von meinen Lehrern aus der Schulzeit wird kaum mehr einer leben. Oder aus meiner Studienzeit. Die Zeit hat es an sich zu kommen und zu gehen. Wie unser Atem. Die Zeit ist vergänglich.

Was bleibt, sind Erinnerungen. Was auch bleibt ist unser „Ich“. Unser „Ich“ ist eine Konstante in der Zeit. Vor über drei Jahrzehnten stand dieser Kerl, zu dem ich „Ich“ sage, auch schon auf dieser Kanzel. Von außen betrachtet könnte man sagen: viel Neues scheint ihm nicht eingefallen zu sein. Von innen betrachtet gibt es Stimmen, die sagen: muss das wirklich sein? Du könntest jetzt auch ein gemütliches Osterfrühstück mit deiner Familie haben. Aber du musst ja immer predigen. Das ist eine Stimme des Haderns, mit diesem „Ich“-Kerl. Ich denke, sie kennen das auch: Kräfte in Ihnen, die an Ihnen ziehen, die Sie wo anders hin haben wollen, als dorthin, wo Sie hin wollen.

Wir Menschen sind schon seltsame Lebewesen!

Vielleicht möchten Sie mich jetzt daran erinnern, dass heute Ostern ist. Und bis jetzt noch wenig Osterjubel in meiner Predigt zu spüren ist.

Da haben Sie recht!

Ich habe mich mit dieser Osterpredigt schwerer getan, als ich dachte. Ein Felsbrocken lag auf meiner Seele und es dauerte, bis ich zu verstehen begann, dass dieser Felsbrocken mit Erinnerungen zu tun hat. Die vorhin gehörte Lesung aus dem berühmten 15. Kapitel des 1. Korintherbriefes, in dem Paulus von der Auferstehung Christi schreibt, ist der heutige Predigttext. Und er bildete das Zentrum des Denkens meines Doktorvaters, W. Pannenberg, der in seiner Christologie den Nachweis versuchte zu führen, dass die Auferstehung Jesu historisch nachweisbar sei.

Der Felsbrocken auf meinem Denken hat mit der harten Erinnerung zu tun, wie sehr ich dieses Buch und diesen Mann versuchte, als meinen „Retter“ zu erleben.

Das hat wiederum mit meiner Lebensgeschichte zu tun.

Ursprünglich sollte ich für meine Mutter ein „Retter“ sein. Sie hatte ihren ersten Mann durch einen Motorradunfall verloren, ihre dreijährige Tochter aus dieser Ehe war an Leukämie gestorben. Merkwürdig – mich gibt es, nachdem (weil?) andere Menschen verschwunden sind. Ich war von Anfang an ein schwacher Ersatz, schwach auch deshalb, weil ich ein Junge war. Ich habe mir große Mühe gegeben (auch ein Mädchen zu sein) – aber es hat irgendwie nicht geklappt. Auch deshalb, weil ich Tote nicht lebendig machen kann. Das konnte ich auch im Februar dieses Jahres nicht, als meine fünfeinhalbjährige Enkelin (wiederum) an Leukämie starb. Gerne hätte ich gesagt: „talita kumi – steh auf, nimm dein Bett und geh!“ Aber ich stand nur da, ohnmächtig, traurig, fassungslos.

Und jetzt soll ich über diesen Paulustext predigen. Soll predigen, dass es natürlich eine Auferstehung der Toten gibt, weil Christus von den Toten auferstanden ist; wäre er aber nicht von den Toten auferstanden, „so ist euer Glaube nichtig, so seid ihr noch in euren Sünden“ sagt Paulus (1. Kor. 15,17). Und es gibt schließlich ja auch genügend Zeugen, die Christus gesehen haben. Paulus kämpft in diesem Kapitel gegen die These: „es gibt keine Auferstehung der Toten!“ Er verweist auf das, was er selbst empfangen hat, also auf Tradition, die ihm vorlag: „Christus ist gestorben für unsere Sünden nach der Schrift, und begraben worden und auferstanden am dritten Tag nach der Schrift. Und dann verweist er auf die Fülle von „Zeugen“, denen er erschienen ist. Und zuletzt sei er auch ihm selbst erschienen, wobei er sich einerseits als „unzeitige Geburt“ abwertet, um dann zu betonen, dass er „viel mehr gearbeitet (hat) als sie alle“, um dann wieder zu relativieren: „nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die in mir ist.“

Liebe Gemeinde,

ganz ehrlich: mir hilft dieser Text nicht weiter. Er berührt mich nicht. Mir ist es egal, wer Christus wann gesehen hat. Ganz davon abgesehen, dass Wahrheit nicht dadurch entsteht, dass viele Menschen dasselbe sagen. Es gab eine Zeit, da waren sich die Menschen darin einig, dass die Erde eine Scheibe ist, um die sich die Sonne dreht. Das war die anerkannte Wahrheit. Und Galileo Galilei, der etwas Anderes behauptete, war ein Lügner. Und wäre beinahe wegen seiner vermeintlichen Lügen mit dem Tode bestraft worden. Von daher hat sich offenbar doch etwas mit mir verändert. Ich scheine ein Anderer geworden zu sein. Damals klammerte ich mich an diesen Text und an die Theologie meines Doktorvaters. Heute – ist sie mir gleichgültig geworden. Es gibt also doch Veränderung im Leben dieser Konstante „Ich“. Veränderung hat mit der Fähigkeit zu lernen zu tun. Die Fähigkeit zu lernen hat wiederum mit der Kraft zu tun, mir mein Nicht-Wissen einzugestehen.

Diese Gedanken helfen mir weiter. Mein Bestreben ist es, mich mit Wahrhaftigem zu verbinden. Sie ist der Boden, der mich trägt. „Durchdringe mich Heiliger Geist, dass ich selbst unwichtig werde und du alleine bleibst.“ Das ist ein Satz von Jörg Zink, der mir in die Hände fiel, als ich nahe daran wahr, das Vorhaben Osterpredigt aufzugeben. Der Heilige Geist kann ja nichts anderes sein, als der Geist der Wahrheit. Und der Wahrheit ist es egal, von wem sie erkannt wird – auch, ob sie überhaupt erkannt wird. Dass die Erde eine Kugel ist und sich seit ihrer Existenz um die Sonne dreht – das ist ein wahrhaftiges Geschehen, völlig gleichgültig, ob es jemand erkennt oder nicht. Das ist für mich ein überaus tröstlicher Gedanke.

Für meine kleine Osterpredigt heißt das: das Entscheidende sind nicht meine mehr oder weniger klugen Gedanken, das Entscheidende bin auch nicht ich – das Entscheidende ist die Offenheit für eine Kraft, die „von wo ganz anders her“ kommt. Ich bin, mein Ich ist nichts anderes als eine Flöte, die von jemand anderem gespielt wird. Oder eine Orgel, auf der jemand Anderer die Register zieht.

Und Sie, liebe Gemeinde, sind frei, das, was ich zu sagen habe, doof zu finden. Oder ärgerlich. Zu wenig österlich. Oder – keine Ahnung.

Und natürlich freue ich mich, wenn zwischen uns sich dieser Heilige Geist der Wahrhaftigkeit sich ausbreitet, zu wehen und zu schwingen beginnt. Aber – wie wir alle wissen: er weht wo er will – er lässt sich nicht machen.

Und damit beginnt für mich Auferstehung – nicht mit Beweisen, nicht mit Zeugenaussagen, sondern mit: „Zittern und Entsetzen.“ Und sie beginnt mit den Frauen, die nach dem katastrophalen Pessach das tun, was zu tun ist: sie wollen den Leichnam Jesu salben. Sie wollen sich dem Toten zuwenden. Und sind verunsichert. Nichts ist wie gewohnt, wie erwartet. Der Stein vor dem Grab ist weg, das Grab ist leer. Sie „stehen ratlos da“, heißt es bei Lukas. „Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen“ heißt es bei Markus. Eben diese Ratlosigkeit, dieses Entsetzen will ausgehalten werden, damit Neues auferstehen kann. Erst wenn etwas fehlt, wenn da, wo immer etwas war, nichts ist – kommt Routine an ihr Ende. Es sind die Frauen (also weibliche Kräfte in uns), die die Stärke haben, diese „Leere“ auszuhalten. Und damit ihr Nicht-Wissen bezüglich dessen, was los ist. Die Männer aber, so heißt es bei Lukas, hielten die Worte der Frauen für „Geschwätz“ – und glaubten ihnen nicht! Männliche Kräfte tun sich im Ertragen von Angst, Unsicherheit und Nicht-Wissen deutlich schwerer als weibliche. Es dient der Selbst-Beruhigung dieser männlichen Kräfte, mit Weiblichem abwertend und überheblich umzugehen.

Die Frauen also waren unterwegs, das zu machen, „was man mit Toten macht“: mit wohlriechenden Salben zu balsamieren. Und jetzt sind sie ratlos, verängstigt. „Und sie sagten niemand etwas, denn sie fürchteten sich.“ Damit endet das Markusevangelium in seiner ursprünglichen Fassung. Das älteste Evangelium. All‘ die schönen Geschichten von der Begegnung des Auferstandenen – sie sind erst viel später verfasst worden.

Und diese Furcht ist nur allzu berechtigt. Denn die Auferstehung Christi bedeutet, dass ein Denken auferweckt worden ist, in dessen Zentrum die liebevolle Einfühlung in den Anderen, in den Fremden steht. Die Radikalität der Liebesbotschaft dieses Jesus aus Nazareth war es, mit der er sich bei dem religiösen Establishment seiner Zeit so unbeliebt gemacht hatte. Und er verfügte über die Kraft, sich unbeliebt zu machen. Er hielt dies aus im unerschütterlichen Glauben an den, den er seinen Vater nannte, an seinen Gott.

Mit anderen Worten: indem der Weg der Auferstehung über das Kreuz führt – und einen anderen Weg gibt es nicht, wie wir am Karfreitag hier im Gottesdienst eindrücklich erleben durften – bleibt die Auferstehungsfreude gebunden an die Verzweiflung des Gekreuzigten. Ein Abschütteln des Kreuzes führt zu einer triumphierend-überheblichen Kirche und zu einer abgehobenen Theologie. Das Kreuz ist kein Durchgang: aber es wird von der Auferstehung her tragbar – erträglich.

Wenn wir heute als Christen ernst genommen werden wollen, wäre es günstig, wenn wir eine glaubwürdige Botschaft hätten. M.E. schwächt es die Glaubwürdigkeit der christlichen Religion im allgemeinen und die unserer Verkündigung im besonderen, wenn sie – im Chor mit vielen anderen Religionen – unsere Angst vor dem Tod so beantwortet, dass sie die Endgültigkeit des Todes einfach verleugnet. („Wenn du an die Auferstehung der Toten glaubst, dann bedenke, dass alle Menschen auferstehen werden, die Guten und die Bösen. Auch die, mit denen du nie mehr etwas zu haben wolltest!“ hat der große Theologe Karl Barth einmal gesagt. Aber das nur nebenbei.)

Glaubwürdig sein ist freilich etwas ziemlich anderes als beliebt sein. Die Künder der Wahrheit (auf allen Gebieten, in den Naturwissenschaften, in den Geisteswissenschaften – auch Gottes) haben sich oft sehr unbeliebt gemacht. Sie (zer-)stören gemeinsame, liebgewonnene Einsichten. Sie stellen vertraute Sicherheiten in Frage. Jesus gehört zu denen, die sich so unbeliebt machten, dass seine Liquidierung die letzte und notwendige „Lösung“ schien. Die (Denk-)Gefäße des religiösen Establishments seiner Zeit waren ungeeignet, seine Botschaft aufzunehmen. Um die Gefäße zu schützen, wurde der Botschafter vernichtet.

Im Zentrum der Verkündigung am Ostermorgen steht die Umkehr der Blickrichtung. „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“ Im Zentrum steht die Auferweckung der Botschaft von der bedingungslosen Liebe. Mit ihr wird sein Botschafter von selbst lebendig. Alles weitere können wir getrost Gott überlassen. Und diese Botschaft der Unzerstörbarkeit der Liebe halte ich für das Glaubwürdigste, was durch diesen Jesus, den wir als Christus bekennen, in die Welt gekommen ist. Sie ist das Herz des Christentums. Wer Christus predigt, ohne Liebe in sich zu spüren: dessen Glaube ist nichtig!

Liebe Gemeinde,

ich kann mir gut vorstellen, dass meine österlichen Gedanken auch auf Befremden stoßen. Das kann ich leider nicht ändern. Genau genommen hat man ja sowieso keinen Einfluss darauf, was mit veröffentlichten Gedanken gemacht wird. Wozu sie verwendet werden. Wir Menschen lieben das Vertraute und hassen das Fremde. Alles Fremde verunsichert, macht Angst. Und was mir Angst macht, das hasse ich. So einfach ist das. Und so können wir das Fremde ausscheiden – oder gar nicht erst zu uns herein lassen. Wer weiß, ob in dem Fremden nicht Bomben versteckt sind, die uns zerstören werden.

Unsere Angst investiert in Abschreckung. In Obergrenzen. In Zäune und Mauern.

Unsere Liebe investiert in Offenheit. In „An-sich-Heranlassen“. In Abrüstung.

Wie immer ist es gut, einen Mittelweg zu finden: unsere gesunde Angst warnt vor blindem Vertrauen, unsere gesunde Liebe setzt unserer Angst liebevolle Grenzen. In liebevollen Grenzen wächst innere und äußere Sicherheit. In liebevollen Grenzen werden die gemeinsamen Güter gerecht verteilt, so dass keiner hungern und frieren muss. Ich weiß, unsere Wirklichkeit sieht anders aus. Das Hab und Gut aller Menschen ist so verteilt, dass die Hälfte des weltweiten Vermögens einem Prozent der Menschheit gehört; die andere Hälfte teilen sich die verbleibenden 99 Prozent. Zur Veranschaulichung: die Hälfte der Torte bekommt eine Person – die andere Hälfte haben sich 99 Personen zu teilen. Dies wird nicht gut gehen. Und dies kann nicht gut gehen. Und: es hat mit Liebe nichts zu tun.

Ich sage dies nicht, um Ihnen ein schlechtes Gewissen oder Schuldgefühle zu machen. Ich bin selbst Hausbesitzer in Pullach und beabsichtige nicht, es zu spenden. Aber ich bin der Meinung, dass dieses Geschehen wenigstens öffentlich benannt werden muss.

Auch wenn wir daran wahrscheinlich wenig ändern. Aber – was wir können, ist: unser Leben alltäglich in den Dienst der Freundlichkeit, in den Dienst der Liebe zu stellen. Und unserem Hass und unserer Enttäuschung, die natürlich zum Leben auch dazu gehören, Obergrenzen setzen. Dadurch stärken wir unsere Bereitschaft zu lernen. Und es wird leichter, unser Nicht-Wissen zu ertragen. Wir können uns alltäglich in Geduld üben. Und wir können uns alltäglich sagen: „Durchdringe mich Heiliger Geist, damit ich unwichtig werde und du alleine bleibst.“

Mit dieser Haltung wird für mich Leben leichter. Das ist kein triumphierender Osterjubel, eher so eine stille Heiterkeit. Kein Ostergelächter – eher ein Osterlächeln. Ja, tut mir leid, das war’s. Mehr habe ich heute nicht zu sagen, AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unser Denken und Planen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN.

Osterpredigt 2016: Kein Ostergelächter, aber vielleicht ein Osterlächeln Weiterlesen »

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