Predigten

Predigt über 2. Mose 16, 2-3.11-18 am 7. Sonntag nach Trinitatis in Pullach

Predigt über 2. Mose 16, 2-3. 11-18 im Rahmen eines Taufgottesdienstes

am 7. Sonntag nach Trinitatis in Pullach (2014)

Liebe Gemeinde,

unser heutiger Predigttext aus dem 2. Buch Mose ist eine weitere Geschichte, die vom Hunger und vom Satt-Werden handelt. Und – wie in der Kirche nicht anders zu erwarten – dass Gott es ist, der sättigt.

Das ist nicht sehr befriedigend im Anbetracht des Hungers auf dieser Erde. Und im Anbetracht der extrem ungleichen Verteilung von Menschen, die (zumindest scheinbar) satt sind, und solchen, die Hunger leiden, ja an Hunger sterben.

Was uns Menschen als Gemeinschaft nicht möglich zu sein scheint, ist, eine Ordnung zu schaffen, in der jeder Mensch genug hat. Genug zum Leben.

Und so schön diese alten Geschichten aus der Bibel auch sind – offensichtlich gelingt es uns nicht, ist es der Menschheit auch in 2000 Jahren nicht gelungen, sie zu verwirklichen.

Die Speisung der 5000 und die Geschichte vom Manna (dies ist der heutige Predigttext) – das sind schöne Geschichten (geblieben). Ihre Umsetzung, ihre Verwirklichung ist noch nicht geschehen.

Nun gehört zum Satt-Sein dazu, dass es kein Zustand ist. Satt-sein lässt sich nicht halten. Es ist kein Besitz. Satt-sein ist ein Element innerhalb der Bewegung des Lebens. Und damit, dass sich Leben nicht besitzen lässt, dass Leben kommt und wieder vergeht – damit tun wir Menschen uns so schwer. So beginnt unser Predigttext mit der Unzufriedenheit der Gemeinschaft der Israeliten:

„Da murrte die ganze Gemeinde der Israeliten gegen Moses und gegen Aaron in der Wüste. Die Söhne Israels sprachen zu ihnen:

‚Wären wir doch durch die Hand Gottes gestorben im Land Ägypten, als wir saßen überm Fleischtopf, und uns satt aßen am Brot. Doch ihr habt uns da in diese Wüste geführt, um dieses Volk Hungers sterben zu lassen.’“

Die berühmten Fleischtöpfe Ägyptens stehen für eine bestimmte Lebenshaltung: „Die sichere Versorgung hat höchste Priorität. Dafür wird ein Leben in Sklaverei in Kauf genommen.“

Man könnte so sagen: je mehr Angst wir davor haben, verhungern zu müssen, desto bereitwilliger unterwerfen wir unser Leben und unsere Freiheit unseren Bedürfnissen nach Absicherung. Nach der Devise: „Der sicherste Ort ist ein Gefängnis.“

Es geht also um die Fähigkeit, Unsicherheit zu ertragen. Unsicherheit heißt: nicht wissen, wie „es ist“, was morgen sein wird, wie ich im Alter versorgt bin usw. Unsicherheit aushalten hat mit dem ertragen von Angst zu tun.

Hunger ist eine Empfindung, die mich mit einem Mangel konfrontiert. Hungrig sein heißt: „Mir fehlt was“. Ich spüre eine Leere, und die soll verschwinden. Die will ich nicht haben. Die „Kinder Israels“ spüren diese Leere auf ihrer Wüstenwanderung. Sie haben Ägypten verlassen: das Land, in dem sie versklavt waren, aber auch das Land, in dem sie satt waren.

Das Erleben von Leere, von Unzufriedenheit ist häufig begleitet mit einem Konjunktiv: hätte ich doch, wäre ich doch, wie konnte ich nur so doof sein. Das ist die Gegenbewegung zu dem Streben nach Freiheit, nach Ausbruch aus dem Gefängnis der Unselbständigkeit. Ich vermute, es gehört zum Mensch-sein dazu, beide Seiten in sich zu tragen: das Streben nach Neuem, nach Freiheit, nach Selbstständigkeit und die Angst davor, in dieser Freiheit unter zu gehen, zu verhungern. Wie viel Freiheit kann ich mir leisten? Diese Frage muss jeder für sich beantworten und diese Frage beantwortet jeder von uns in seinem alltäglichen Handeln mit seinen kleinen und großen Entscheidungen.

Das Erleben von Unzufriedenheit ist häufig verknüpft mit einem weiteren Element: dem des Abwälzens von Schuld: die Anderen sind schuld, dass es mir so geht. Die Anderen, das sind die, von denen ich mich abhängig gemacht, die ich mir zu Führern „gemacht“ habe. Wir vergessen gerne, dass wir uns selbst unsere Führer, unsere Chefs machen. Die Kehrseite davon ist, dass es einfacher ist, in der Position des Kindes zu bleiben. Murren, motzen, in der Opposition bleiben ist viel einfacher, als die Arbeit der Regierung zu übernehmen. „Ihr habt uns in diese Wüste geführt! Und jetzt geht es uns so schlecht!“ M. Luther hat schon recht, wenn er die Gemeinschaft der Israeliten als „Kinder Israels“ übersetzt.

Ich denke, sie wissen wie die Geschichte weiter geht: Gott nährt seine Kinder, nährt die Kinder Israels mit Wachteln am Abend und Manna am Morgen. (Für die Naturwissenschaftler unter uns: es gibt in der Tat in bestimmten Gegenden der Wüste Wachtelschwärme, die vom Mittelmeer heraufziehen und sehr schwerfällig sich bewegen – deshalb leicht zu fangen sind. Und das „Manna“, abgeleitet vom Hebräischen „man hu“ „was ist das?“ ist das Sekret von Schildläusen, das essbar und sehr eiweißhaltig ist.)

Die Botschaft ist einfach: Gott sättigt.

Mich befriedigt diese Botschaft nicht. Würde sie stimmen, müsste das Problem des Hungers längst gelöst sein. Ich finde, so wie sich die Geschichte entwickelt, schreibt sie kindliches Denken geradezu fest. Wir können eben nichts tun, um satt zu werden – wir müssen auf einen Gott warten, der – wenn wir Glück haben (oder genug glauben?) – uns was zum Essen gibt. Und was ist mit denen, die verhungern? Haben die dann Pech gehabt? Sie merken – diese Gedanken führen direkt: entweder zu einer Abwendung von Gott, dass es nämlich Gott gar nicht gibt – oder zu einer Vergiftung Gottes in dem Sinne, dass er offenbar ein grausamer Willkürherrscher ist, der die Einen satt macht und die Anderen verhungern lässt.

Für mich gibt es nur einen Weg, der hier weiter hilft und weiter führt, nämlich, sich von der kindlichen Vorstellung von einem Gott, der da irgendwo im Himmel sitzt und unsere Geschicke lenkt und leitet, zu verabschieden. Indem ich Abschied nehme von dieser meiner kindlichen Vorstellung von Gott, komme ich vielleicht in die Lage, Gott wirklich zu finden. Besser: wird es mir vielleicht möglich, mich von Gott auffinden zu lassen. Denn „Ich“, mein kleines Ich kann Gott nicht finden. Es kann sich nur bereit halten, sich finden zu lassen. Verstehen wird es dies nie. Dafür ist unser Ich nicht gemacht. Es muss auch nicht verstehen, dass Gott in mir, in jedem von uns wohnen möchte. Das äußere Zeichen dieses Wohnung-Nehmens ist in unserer Tradition die Taufe. Und der Weg der christlichen Existenz führt von der Taufe bis hin zu dem Gedanken: Gott wohnt in mir. Oder wohne ich in ihm? Denn: je tiefer Gott in mich hinein kommt, desto weniger weiß ich noch: wohnt jetzt Gott in mir oder wohne ich in ihm? Und so entstehen merkwürdige Sätze wie der, mit dem wir unseren Gottesdienst begonnen haben: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.“ (Eph. 2,19)

Wobei für mich die Heiligen nicht irgendwelche Supermenschen waren, sondern Menschen, die ihrem eigenen Ganz-Sein nahe gekommen sind. Und genau dies macht satt. Unser verbreiteter Irrtum ist zu meinen, satt-sein, Sättigung findet im Außen statt. Besitz anhäufen, Karriere machen, Status bekommen – das ist alles ganz nett, aber es ist ungeeignet, wirklich und in der Tiefe satt zu machen. Satt-werden hat in der Tiefe damit zu tun, bei sich selbst „angekommen“ zu sein. Eine immer deutlichere Ahnung davon zu bekommen, wer ich bin, und was mich zu dem gemacht hat, der ich bin. Das ist ein langer und mühsamer Weg, durchaus vergleichbar mit einem langen Zug durch die Wüste. Besonders schwer und schmerzhaft ist das Ertragen der eigenen Enttäuschungen und Verführungen, das Entdecken der eigenen Fleischtöpfe, die mich dazu verleitet haben, den Weg zu mir nicht zu gehen. In der griechischen Mythologie ist es übrigens die Geschichte von Odysseus, der es ebenfalls so schwer hat, zu sich nach Hause zu kommen. Immer wieder lässt er sich „bezirzen“, „vergisst“, wozu er eigentlich da ist, was er eigentlich, sein Eigenes betreffend, will.

Das Nach-Hause-Kommen, das wahrhaftige Zu-sich-selbst-Finden ist es, was Menschen heiligt. In unserer Tradition ist es die Eucharistie oder das Abendmahl, wo wir Gott „sinnenfällig“ in uns hinein nehmen und so zu Mitbürgern in seinem Hause werden. Indem wir dies jetzt gemeinsam erleben, sind wir gemeinsam bezogen auf eine unsichtbare Mitte, die keiner von uns besitzen kann. Die keinem von uns zur Verfügung steht. Auch mir als Pfarrer nicht. Und das ist gut so. Und in dieser Bezogenheit respektieren wir einander in unserer gewachsenen Verschiedenheit und Andersartigkeit. Und erleben uns als Mitbürger in jenem Haus der Gemeinschaft, das auf IHN verweist, jenem unsichtbaren und unerkennbaren Gott, der sich doch in Jesus Christus als Grenzen überwindende Liebe gezeigt hat.

Indem wir seine Liebe in uns hineinlassen, nähren wir unsere Seele. Es kann gut sein, das dieses Nähren sich mit Tränen vermischt. Tränen sind Ausdruck dessen, dass unsere Seele verdaut. Und verdauen ist ein Zeichen dafür, dass Sättigung geschieht. Und so ist alles gut, so wie es ist. AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN.

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Familiengottesdienst am 6. Sonntag nach Trinitatis zum Thema: „Abschied-Nehmen“ (2014)

Predigt am Familiengottesdienst, 6. Sonntag nach Trinitatis

Thema: „Abschied-Nehmen“

Liebe Kinder, liebe Gemeinde,

kennt ihr das, dass einem so richtig langweilig ist?

Dass man nicht weiß, was man tun soll?

Auf nichts Lust hat?

Die Zeit scheint still zu stehen.

Man kann mit sich, mit dem, was da ist, nichts anfangen.

Man fühlt sich eingehüllt in einen dicken Schleier.

Als wäre man in ein Fass mit dickflüssigem Honig gefallen.

Alles zieht sich, klebt an einem …

Wie kommt man da wieder raus?

Man lenkt sich ab!

Wir Männer stürzen uns in Arbeit. Karriere ist angesagt.

Und in Hobbys.

Jedenfalls machen, tun. Heim-werken.

Frauen stürzen sich auch in Arbeit. Und auf die Kinder.

Die müssen gut sein in der Schule. Und der Haushalt muss gepflegt werden.

Und schön muss man auch sein.

Ab ins Fitness-Studio!

Nur nicht stehen bleiben.

Nicht nach-denken.

Keine Leere erleben.

Immer auf Achse.

Immer weiter.

Sich-Gehetzt-Fühlen ist nichts anderes als die Kehrseite unerträglicher Langeweile.

Unsere Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen verwenden ein kleines Ablenkungsgerät. Es ist charmant, ja smart. Daher hat es seinen Namen: „Smartphone“. Das steht für: stets erreichbar sein, stets im Kontakt (mit anderen) sein. Schnell mal schauen, wie der Wetterbericht ist. Oder wie die Aktienkurse stehen. Schnell mal ein Foto schicken, wo ich gerade bin. Was ich gerade esse. Oder eine Nachricht bekommen.

Da gibt es keine Langeweile mehr. Kein Allein-Sein.

Von daher sind die Texte, die wir in diesem Gottesdienst gehört haben ziemlich out!

Sie sind so sehr out, dass sie wahrscheinlich auch unverständlich sind.

Was bedeutet das: „Ich habe dich erkannt, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein?“

Oder: „Ich bin bei euch alle Tage, bis ans Ende der Welt“?

Was sind das für komische Ideen: man müsse einander zähmen, sich vertraut machen? Und dann tut es auch noch weh! Dann erleidet man auch noch Abschiedsschmerz.

Und genau darum geht es: wir Menschen unterscheiden uns in der Tiefe viel weniger von anderen Lebewesen, als wir uns das gerne einreden. In der Tiefe lieben wir alles, was Lust macht – und vermeiden das, was Unlust macht. Und Schmerz – ist nun mal nicht lustig.

Unsere Texte beschreiben im Grunde ein sehr einfaches Geschehen:

die Schönheit, das Bewegende und Berührende des Sich-Einlassens kostet. Es hat seinen Preis. Den Preis bezahlen wir mit den Gefühlen, die wir beim Abschied-Nehmen erleben.

Aber – warum ist das so? Warum tut scheiden weh? Was ist das für ein Schmerz?

Es ist das Erleben von Vergehen. Von Nicht-Halten-Können. Es ist das Erleben von Ohnmacht. Wir waren alle einmal Kinder. Haben als Kinder gefühlt und gehandelt. Und diese Gefühle sind nicht verschwunden, sind in uns lebendig geblieben, leben in uns – mal bewusster, mal unbewusster. Wir haben als Kinder intensiv erlebt, wie es unseren Eltern geht. Und ich vermute, gar nicht so wenige von uns haben die Verzweiflung ihrer Eltern (oder ihrer Mutter) gespürt, ihre Ohnmacht. Und wir wollten ihnen helfen. Jedes Kind will, dass seine Eltern glücklich sind. Und wir haben nicht verstanden, dass wir unsere Eltern nicht glücklich machen können. Dass wir ihnen das, was ihnen in der Tiefe fehlt, nicht geben können. Und so haben wir uns selbst als ungenügend gefühlt, als diffus schuldig, als welche, die zu wenig geben.

Und so haben wir gelernt, unsere Ohnmacht mit Schuld zu verknüpfen. Als wären wir daran schuld, dass wir unsere Mutter/Eltern nicht „retten“ konnten. (Und später unseren Paterner etc.) Und so plagen wir uns, und überfordern uns. Und so wird es eng, und immer enger, und wir haben das Gefühl, wir kriegen keine Luft mehr.

Und genau hier kommen unsere Texte, kommt Gott ins Spiel. Aber erst, wenn wir ausatmen. Keine Luft kriegen heißt ja, den Atem anhalten. Sich von der verbrauchten Luft in der Lunge nicht trennen zu können. Und dies blockiert, sich auf Neues einzulassen.

Unsere Texte sagen: wer ausatmet, bekommt frische Luft. Wer sich einlässt, bekommt Neues dazu. Einlassen bereichert. Über das Einlassen entstehen neue Verbindungen, neue Synapsen werden verschaltet: auf einmal verbindet sich das Weizenfeld mit der Haarfarbe des kleinen Prinzen. Aus einer Rose unter vielen wird „meine“ Rose. Aus vielen Hunden aus dem Tierheim wird „unser“ Hund. Aus einer Frau unter vielen wird „meine Frau“.

Aus einer Religionspädagogin wurdest du unsere Melitta. Und wir wurden „deine“ Jakobusgemeinde. Und jetzt nehmen wir wieder Abschied von einander. Das tut weh. Aber es tut auch gut, dass es weh tut. Heißt es doch: da ist etwas passiert zwischen uns. Wir sind uns nicht gleichgültig geblieben. Wir haben uns einander vertraut gemacht. Und dieses Geschehen verändert alles! Es gibt kein „zurück“ mehr. Es gibt keine Jakobuskirche mehr ohne Melitta Bordon. Völlig egal, ob du leibhaftig noch da bist oder nicht.

Das ist das Unglaubliche an dem Sich-Einlassen: es ist wie Vater oder Mutter werden: ist man es einmal geworden, kann man es nie mehr nicht sein!

So verstehe ich den Satz: „Ich bin bei euch, alle Tage bis an der Welt Ende!“ in der Tiefe. Gott hat sich eingelassen: auf unser Menschsein, unser Lebendig-Sein, auf unser Lebewesen-Sein. Dahinter gibt es kein zurück mehr! Und die Botschaft, das Geschenk dabei ist: es ist gut so – du bist (gut) genug. Du musst nicht etwas können, was dich überfordert! An unserer Vergänglichkeit, daran dass Leben kommt und vergeht, können wir alle nichts ändern.

Aber genau das macht natürlich auch Angst. Indem ich spüre, dass es kein Zurück mehr gibt, spüre ich auch, dass meine große Freiheit des „Alles ist möglich“ vorbei ist. Indem diese „eine“ Rose zu „meiner“ Rose wird, verzichte ich auf alle anderen Rosen. Der Weg des Einlassens ist ein Weg des Verzichtes. „Ich hätte schon gerne einen Hund, aber dann bin ich ja so angehängt!“ Genau so ist es. Sich-einlassen heißt sich kümmern, Verantwortung tragen. Sich freiwillig „anzuhängen“. Und das ist weit weg von der Lust des „alles ist möglich – ich mache was ich will!“ Sich-Einlassen bildet unser Leben ab: vom Anfang bis zum Ende. Im „Möglichkeitsraum“ gibt es kein Sterben!

Und so ist Sich-einlassen notwendig verbunden mit heftigen Gefühlen von Un-Lust, ja von Hass auf das „Angebunden-sein!“ Indem ich mich einlasse, muss ich ertragen, dass ich den Anderen nicht besitzen kann. Sich-Einlassen ist etwas völlig Freiwilliges. Und dann ist auszuhalten, dass er/sie ein Eigenleben führt – und letztlich seinen eigenen Tod stirbt.

So erinnert uns jeder wirkliche Abschied auch daran, dass lebendige Beziehungen sich nicht besitzen lassen. Nur Totes lässt sich besitzen!

Alles Lebendige ist ein Geschehen, ist ein Geschenk!

Und alles Lebendige ist vergänglich.

Unvergänglich ist das Leben selbst. Ist das, aus dem heraus alles Lebendige war und wird und sein wird. In unserer Tradition nennen wir dies Gott.

Und so gilt beides: wir haben dich, liebe Melitta, als Geschenk zu deinem Mann dazubekommen. Quasi als „donum superadditum“. Und jetzt nehmen wir wieder Abschied. Und sagen danke für all das, was wir von dir bekommen haben. Und wie der Fuchs das Weizenfeld mit dem kleinen Prinzen verbindet, so verbinde ich selbstgemachte Leberpastete mit dir. Und Apfel-Zwiebel-Chutney. Und deine unnachahmliche Art, Geschichten zu erzählen. Und deinen Humor. Und jeder von uns, der sich auf dich eingelassen hat, wird etwas mit dir verbinden. Und so bleibst du da, auch wenn du gehst. Und umgekehrt hoffe ich, dass wir auch bei dir bleiben – auch wenn du hier nicht mehr bist.

Und das ist alles so und das ist alles gut so.

Und so bleiben wir gemeinsam in dem, der da war und der da ist und der da sein wird. Der, von dem wir erkannt sind, der, dem wir gehören, der, von dem gilt:

Denn siehe: ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende. AMEN.

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Predigt über 1. Thess. 3, 1-5 am 5. Sonntag nach Tr. in Pullach

Predigt über 1. Thess. 3,1-5 am 5. Sonntag nach Trinitatis (Jakobuskirche)

Die Dunkelheit des Vaters, das Licht des Sohnes und die Liebe des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.“

Als ich des Suchens müde wurde, erlernte ich das Finden!“

Dies, liebe Gemeinde, ist das Motto – nicht nur dieses Gottesdienstes. Es scheint auch mein ganz persönliches Motto zu sein. Es ist nämlich so, dass ich keineswegs diesen Gottesdienst gesucht hätte. Viel mehr anders herum: der Gottesdienst scheint mich gesucht und gefunden zu haben.

Bis Freitag um 11 Uhr wusste ich, was ich an diesem Wochenende machen werde. Das schöne Wetter genießen, faulenzen, mich ein bisschen auf den Familiengottesdienst am kommenden Sonntag vorbereiten. Und dann kam der Anruf von Frau Schmidt, dass Pfarrer Hofmann im Krankenhaus sei, Herr Höhne nicht erreichbar – und ob nicht ich… Ich sagte zu – in dem Wissen: ich werde eine alte Predigt verwenden. Dann hält sich die Vorbereitungszeit in Grenzen.

Doch erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.

Es ist ja so, dass jeder Sonntag seinen eigenen Schwerpunkt, seinen eigenen Fokus besitzt. Wochenspruch, Evangelium, Lesung aus einem Brief oder dem AT und Predigttext bilden eine organische Einheit. Bilden etwas ab. Ich merkte schnell, dass ich diese Einheit störe, dass ein Fremdkörper in den heutigen Gottesdienst kommt, wenn ich eine Predigt zu einem Text halte, der nicht hierher gehört. Außerdem – schlimmer noch – alte Predigten sind für mich wie Wein, der bereits ein paar Tage in einer geöffneten Flasche gestanden ist: man kann sich noch daran erinnern, dass er einmal gut geschmeckt hat – aber es ist sinnvoller, ihn zum Kochen zu verwenden.

So wurde es Samstag morgen und ich erzählte meiner Frau mein Dilemma. Ich hoffte, sie würde mir dabei helfen, wie ich eine ältere, in der Thomaskirche gehaltene Predigt zum 4. Sonntag nach Trinitatis gut heute zum 5. Sonntag nach Trinitatis unterbringen könnte. Das sehr kreative Gespräch endete damit, dass ich an meinem Schreibtisch landete, um Ihnen das sagen zu können, was ich Ihnen gerade sage.

Und um eine neue Predigt zu schreiben – die für heute, die zu diesem Gottesdienst gehört. Und so kam es, dass mich mit dem Gottesdienst diese Texte gefunden haben.

Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es.“ (Eph. 2,8)

Das ist der Wochenspruch. Ins Weltliche übersetzt: du kannst Gott nicht finden: alles was du kannst, ist, dich von ihm finden zu lassen. „Als ich des Suchens müde wurde, erlernte ich das Finden …“

Und so kann ich den Petrus und die anderen Fischer verstehen: sie waren des Suchens, des Fischens müde geworden, mit leeren Netzen waren sie zurück gekehrt. Sie wussten aus Erfahrung: am Tag zu Fischen ergibt keinen Sinn, da würde man sicher nichts fangen. Gegen diese Erfahrung rät Jesus, noch einmal hinaus zu fahren. Und siehe da – sie machen einen großen Fang.

So weit – so gut. Aber: lässt sich, – und wenn ja wie? – diese Geschichte in unseren Alltag hinein verstehen? Soll das jetzt mein großer Fang sein, dass ich, anstatt das schöne Wetter zu genießen, eine Predigt schreibe? Um mit ihr Menschen zu fischen, die sich wahrscheinlich gar nicht fischen lassen wollen!

Schon wieder gerate ich in das Suchen. Jetzt heißt das Suchen: wenn ich mir schon die Mühe mache, eine neue Predigt zu schreiben, dann muss ich aber auch etwas davon haben. Dann sollte die Kirche wenigstens einigermaßen gefüllt sein.

Ich vermute sie kennen das: jetzt habe ich mir solche Mühe gegeben, dann musst du aber auch… (gut gekocht – schmecken; Geschenk – gefallen;

Die Kehrseite davon ist: das darf unter keinen Umständen passieren!

Was passiert denn da, wenn jemand sagt: „Mama, es schmeckt mir nicht…!“

Oder: mit dem Geschenk – kann ich jetzt ehrlich gesagt nicht so viel anfangen.

Es passiert – das Erleben von Trennung.

Es passiert die Erkenntnis: der Andere ist ein Lebewesen, genauso wie ich: und er führt ein Eigenleben, ein eigenes Leben, ein von mir getrenntes Leben.

So ist das von Beginn unseres Lebens an: schon als Embryos führten wir im Mutterleib ein von der Mutter getrenntes Leben: hatten unser eigenes Herz, unsere eigenen Organe, unseren eigenen Blutkreislauf…

Und das kleine Baby hat eine eigene Verdauung, erleidet eigene Schmerzen, hat seine eigene Freude.

Aber nicht allein. Das Baby kann nur in Beziehung überleben.

Als Säugetiere sind wir auf Beziehung angewiesen. Tun wir alles dafür, dass uns Beziehung nicht verloren geht. Dahinter steht die Angst. Die Angst davor, alleine nicht zu überleben. Es ist diese Todesangst, die uns dazu verführt, uns unseres Lebens bemächtigen zu lassen. Es ist dieselbe Todesangst, die uns dazu verführt, uns des Anderen zu bemächtigen. Zu glauben, wir könnten das Leben, den Anderen kontrollieren. Zu glauben, wir hätten alles im Griff. In den Griff gebrachtes Leben ist gewürgtes Leben.

Es ist die Angst, die uns übersehen lässt, dass sich Leben nicht besitzen lässt. Oder anders: dass besessenes Leben Leben im Gefängnis, Leben in der Sklaverei, Leben im Würgegriff der Angst ist.

Es ist die Angst vor dem Erleben unseres Alleinseins, die uns davon abhält, das Land unserer Freiheit zu betreten.

Ich meine mit Freiheit die Fähigkeit des Sich-Einlassens auf. Die Fähigkeit sich finden zu lassen. Es ist der freie Mensch, der in Freude betet: „Dennoch bleibe ich stets an dir , denn du hältst mich an deiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat …“ (Psalm 73)

Dennoch – heißt: trotz aller täglichen Anfechtungen, Verführungen, Illusionen, trotz meines vermeintlichen Besser-Wissens etwas im Griff zu haben – lasse ich los, ergebe ich mich in „Deinen Willen“…

Dein Wille geschehe…“ so betet der freie, der befreite (erlöste) Mensch.

In Beziehung frei zu sein – das ist das Geschenk, die Gnadengabe Gottes! Die wir uns nur schenken lassen können. Und wie soll das gehen? In radikalem Vertrauen. Vertrauen worauf? Auf die Kraft des Augenblickes. Die Kraft des Augenblickes ist neutral. Ich habe keinerlei Anspruch darauf, dass irgendetwas „gut“ geht. Es ist ein Missbrauch unserer Geschichte zu meinen, ich muss es also so machen wie Petrus, dann werde ich reich belohnt. Das ist ein Trick – kein wirkliches Loslassen.

Der heutige Predigttext aus dem 2. Brief an die Thessalonicher (3,1-5) fügt sich hier ein: Paulus bittet um das Gebet der Gemeinde nicht für sich selbst, wohl aber dafür, dass sein eigenes Tun der Wahrheit dient:

Er schreibt: „“…betet für uns, liebe Brüder, dass das Wort des Herrn sich ausbreite und gepriesen werde wie bei euch und dass wir erlöst werden von den falschen und bösen Menschen; denn der Glaube ist nicht jedermanns Ding. Aber der Herr ist treu; der wird euch stärken und bewahren vor dem Bösen. Wir haben aber das Vertrauen zu euch in dem Herrn, dass ihr tun werdet, was wir gebieten. Der Herr aber richte eure Herzen aus auf die Liebe Gottes und auf die Geduld Christi.“

Kleine Kinder beten: Lieber Gott, bitte mach‘ dass …

Karikatur im Heute Journal: der deutsche Papst – der argentinische Papst:

Der in Gott erwachsen Gewordene betet um die Verbreitung des Wortes Gottes. Was ist das?

Das Wort Gottes ist das Erleben eines ganz tiefen Ja zu meinem So-geworden-Sein. In diesem Ja, so bin ich, ja „das ist mein ganz Eigenes … Fühlen, Denken, Empfinden…“ in diesem Ja geschieht die Erlösung von den falschen und bösen Menschen in mir. Das ist so wichtig, das Falsche und Böse in mir anzuerkennen – ansonsten bin ich einer, der den Splitter stets im Auge des Anderen sucht.

Das Falsche und Böse in mir schaut freilich so aus wie das Unmoralische, das, „was man nicht tut“. In Wirklichkeit, und auf dem Grunde – ist es all das, was mich versklavt, mich von meinem eigentlichen Geworden-Sein abhält, was mich stört als der zu leben, als der ich von Gott her wahrhaftig gemeint bin.

Böse heißt im Griechischen „poneros“: wörtlich ist es das „Schwere“, das, was mich „runter zieht“. Und falsch heißt im Griechischen „atopos“, wörtlich das, was am falschen Ort sich befindet. Wenn ich mich schwer („depressiv“) fühle, und daran etwas ändern möchte, ist es notwendig zu schauen, was in meinem Inneren an einem falschen Ort steht. Dies fühlt sich so an, wie es den Fischern am See Genezareth gegangen ist: absolut strange! Verrückt! Wenn ich mich schwer fühle, heißt das doch, dass der Andere, das Leben, mein Schicksal daran schuld ist. Heißt das doch: im außen muss sich etwas ändern. Und genau das ist der Irrtum!

Das Einzige, was (s)ich ändern kann, das bin ich selbst. Und genau das lässt sich nicht machen. „Als ich des Suchens müde wurde, erlernte ich das Finden.“ Noch genauer: ließ ich mich finden. Ließ ich mich von einer Kraft, die ich Gott nenne, finden. Diese Kraft fühlt sich nach Liebe an und nach Strenge, nach Freiheit und nach Verantwortung. Und in dieser Kraft fühle ich mich gemeint: gemeint als den von Gott und vor Gott Befreiten: befreit zur liebevollen Verantwortung für das eigene Leben und das Leben meiner Mitgeschöpfe.

In der Freiheit dieser Verantwortung habe ich diese Predigt geschrieben!

In dieser Freiheit gibt es kein Jammern und Murren – das Wetter ist so schön, warum tust du dir das an. In dieser Freiheit gibt es kein: warum tust du mir das an, warum tut das Leben mir das an, warum muss ich so etwas überhaupt erleben.

In dieser Freiheit bleiben auch Sie frei: sie können mit dem Gehörten umgehen, wie es Ihnen beliebt: es aufnehmen, es liegen lassen, es für Blödsinn halten.

In dieser Freiheit gebiete ich meinen eigenen schweren und ungeordneten Strebungen Einhalt.

Und in dieser Freiheit ertrage ich in Geduld und Liebe, was das Leben mit mir vorhat – heute und an jedem neuen Tag bis zum Ende meines Lebens. AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und unsere Sinne in Christus Jesus, AMEN.

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Predigt zu Pfingsten 2014: „Das Gesetz des Geistes …“

Predigt am Pfingstsonntag 2014 in der Petruskirche Forstenried über Römer 8, 1-2 und 10-11

Liebe Gemeinde,

das Nachdenken über den Heiligen Geist lehrt, dass Gott in sich selbst bezogen ist. Wir glauben nicht an einen ein-fältigen- wir glauben an einen dreifaltigen Gott. Zu der aufopfernden Vater-Sohn-Beziehung kommt als dritte „Person“ in Gott der Heilige Geist hinzu. Der Hl. Augustinus nennt ihn „vinculum caritatis“, „Band der Liebe“. Die Art und Weise, in der Gott mit sich selbst in Beziehung steht, in der der Vater mit dem Sohn in Beziehung steht, ist die der Liebe.

Es ist gesagt worden, dass es letztlich nur zwei Arten von In-Beziehung-Sein gibt: die des Hasses und die der Liebe. Beide Arten des In-Beziehung-Seins finden sich mannigfaltig in der Bibel – und in allen Religionen. Und es ist eine Illusion zu glauben, eine der beiden Arten ließe sich auslöschen: der naheliegende Gedanke, es gehe darum, den Hass zu eliminieren, ihn „auszulöschen“ – ist noch einmal voller Hass. Vernichten, Eliminieren, Liquidieren, Exkommunizieren – dies sind allesamt Bestrebungen, die nicht von Liebe, sondern von Hass gespeist werden.

Der Beginn der Liebe ist die Anerkennung der Wirklichkeit – ohne wenn und aber. „Es ist, was es ist.“

Es ist das, was ich gerade zu erleben habe. Was mir widerfährt.

Der Beginn der Liebe verbindet sich mit der Fähigkeit zu ertragen und zu erdulden. Liebe beginn da, wo mein Ich des „Kämpfens gegen“ müde wird.

Es soll nicht geschehen durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist….“

Liebe beginnt da, wo vernünftige Einsicht wirksamer wird, als die Macht des Tuns. Die Macht des Machens.

Liebe beginnt mit dem Aushalten von Ohnmacht.

Liebe beginnt mit dem Tragen und Ertragen des eigenen Kreuzes. Dazu bleibt mir freilich nichts anderes übrig, als das, was ich zu tragen habe, kennen zu lernen. Ansonsten ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich verhaftet bleibe in Vorwürfen gegenüber den Anderen.

Ein großer Vorteil, über die „Anderen“ zu reden, über sie mir Gedanken zu machen, an ihrer Stelle zu fühlen ist: sich die Mühsal der Selbst-Erkenntnis zu ersparen. Selbsterkenntnis ist mühsam, weiß ich doch nie so genau, was dabei heraus kommt…

Und eines ist klar: beschäftige ich mich mit mir selbst, komme ich sehr bald an die Stelle, an der ich anerkennen muss: mein Leben ist mir geschenkt; es vergeht. Ich kann mein Leben nicht festhalten, nicht besitzen. Ich kann es nicht „im Griff haben!“

Gerade wir Männer haben doch so gerne „alles im Griff“!

Die Jünger Jesu hatten ebenfalls mit Vergänglichkeit zu kämpfen. Der überraschende Tod ihres Meisters war ein Schock für sie gewesen. Es gab zwar einige wenige sog. „Erscheinungen“ des Auferstandenen – aber: es war doch nicht mehr so, wie früher.

ER fehlte.

Pfingsten ist das Fest, das verdeutlicht: Gottes Wirken ist da am Mächtigsten, wo wir unsere vertraute Welt des Sichtbaren und Erkennbaren verlassen. Verlassen heißt, indem wir uns „leer machen“, indem wir unsere Urteile und Vor-Urteile zurück stellen, unser „so-wird-es-sein-wissen“ zurückhalten.

Paulus unterscheidet im 8. Kapitel seines Briefes an die Römer (daraus ist unser heutiger Predigttext) zwischen „dem Gesetz des Geistes, der lebendig macht“ und „dem Gesetz der Sünde und des Todes.“ Ich verbinde das Gesetz des Geistes mit der Fähigkeit, in Abwesenheit von „sinnlichen Dingen“ zu denken. Das ist eine Fähigkeit, die auch ein Mathematiker benötigt. Es ist die Fähigkeit zu abstrahieren.

Das „Gesetz des Geistes, der lebendig macht“ beinhaltet aber noch etwas anderes: die Fähigkeit, dass Denken der Lebendigkeit, dem Leben gerecht wird. Und Leben ist ein Geschehen, das sich nicht machen lässt: es eignet sich eher zum Bestaunen.

Das Gesetz des Geistes führt zur Kapitulation meines mir selbst gemachten Denkens: in dieser Kapitulation ergibt es sich in das Denken Gottes.

Niemand will sich dem Heiligen Geist lassen“ sagt Johannes Tauler in seiner auch heute noch höchst lesenswerten Pfingstpredigt vor gut 600 Jahren. Das hatte und hat damit zu tun, dass wir unseren Wert, unsere Daseinsberechtigung, unseren Stolz daraus beziehen, was wir alles selber können. „Selber machen“: das ist nicht nur das Leitmotiv von Kindergartenkindern.

Und inzwischen können wir ganz viel selber machen – nur das Leben – das müssen wir uns nach wie vor schenken lassen.

Und nicht einmal ein guter Gedanke lässt sich produzieren: er fällt uns ein, er fällt in uns hinein. Das gilt auch für unsere nächtlichen Träume: echte aus dem Unbewussten quellende Träume sind überraschend, unvorhersehbar, nicht gemacht. Wie wenig wir Menschen in Wahrheit machen können, wie ausgeliefert wir in Wahrheit sind: dies ist schwer auszuhalten. Darin liegt begründet, dass wir vielleicht gar nicht von dem Gesetz der Sünde und des Todes freigemacht werden wollen. Denn ein großer Vorteil dieses Gesetzes ist seine Vorhersehbarkeit.

Das Gesetz der Sünde und des Todes ist ein geschlossenes System. Das beruhigt und gibt Sicherheit. In diesem Gesetz ist die Welt scheinbar in Ordnung. Weiß ist weiß und schwarz ist schwarz. Gut ist gut und böse ist böse. Ursache und Wirkung sind klar von einander geschieden. Täter und Opfer ebenfalls. Weil der Mensch von Gott abgefallen ist, deshalb musste er seinen eigenen Sohn opfern, um die Menschheit zu erlösen. Dies ist ein Denken aus dem Gesetz der Sünde heraus. Es beansprucht zu wissen, was in Gott vorgeht. Es geht davon aus, als wäre Gott ebenso kleinlich wie so mancher Mensch.

Das Gesetz des Geistes beginnt mit der Anerkenntnis eigenen Nicht-Wissens. Eigenes Nicht-Wissen anerkennen bedeutet im selben Atemzug auch das Nicht-Wissen über den Anderen anzuerkennen. Mehr noch: es bedeutet anzuerkennen, dass ich nicht weiß, was hier jetzt gerade zwischen uns geschieht. Ich habe keine Ahnung, auf welchen Boden meine Gedanken bei Ihnen fallen. Indem ich das anerkenne, weht durch unsere Beziehung ein Geist von Freiheit. Ich bin frei, meine Gedanken zu äußern, Sie sind frei, diese für sich zu verwenden. Einschließlich der Verwendung, sich von dem, was ich sage abzuwenden.

Auch das gehört zum Gesetz des Geistes hinzu: die Freiheit in Beziehung ist auch eine Freiheit dazu, den Anderen zu verlassen. Ich glaube, dass unterschätzt wird, wie sehr wir als Menschen auf Beziehung angewiesen sind. Und wie hoch die Verführung ist, sich mit toten Dingen zu „beschäftigen“ – ganz einfach deshalb, weil diese uns nicht verlassen können. Freiheit, Lebendigkeit ist nicht haltbar. Sogar unser Leben selbst, das wir so selbstverständlich meinen zu „haben“, wird uns eines Tages verlassen. Es wird ein letztes Ausatmen geben, dem kein Einatmen mehr folgt.

Paulus gehört zu denjenigen, die die Endlichkeit unseres Lebens verleugnen. Er wird nicht müde, in sehr konkretistischer Weise ein „ewiges Leben“ zu postulieren. So auch am Ende unseres Predigttextes: „Wenn aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen. Wenn nun der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt.“ (V. 10-11)

Meines Erachtens schwächt es die Glaubwürdigkeit der christlichen Religion, wenn sie, gemeinsam mit vielen anderen Religionen, die Angst vor dem Tod so „beantwortet“, dass sie die Endgültigkeit des Todes einfach verleugnet. „Wenn du an Christus glaubst, wirst du ewiges Leben haben“.

Ich habe als junger Mann versucht, mich mit diesen Gedanken zu trösten – und bin so Pfarrer geworden. Mein Doktorvater wollte beweisen, dass J. Chr. Von den Toten auferstanden ist – im Sinne eines historischen Beweises.

Rückblickend muss ich sagen: mir hat diese Art zu denken keinen Trost gegeben – sie hat mich aber überheblich gemacht gegenüber Anders-Denkende. Im nach hinein stellt es sich mir so dar, dass mich andere Gedanken zu sehr verunsicherten. Ich vermute so etwas auch bei Paulus: er hat sein ganzes religiöses System, in dem er aufgewachsen ist, geopfert – für Christus. Und so muss er darum kämpfen, dass dies nicht umsonst gewesen ist. Es darf nicht umsonst gewesen sein! Die Enttäuschung wäre zu groß. Und so heißt es in seiner bekannten Stelle, die heuer an Ostern zu predigen war: „Ist Christus aber nicht auferstanden, so ist euer Glaube nichtig; … so sind auch die in Christus Entschlafenen verloren …. hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendsten unter den Menschen…“ (1. Kor. 15)

Hier entsteht eine bemerkenswerte Militanz des Denkens. Der Verfasser des Hohen Liedes der Liebe, „die Liebe trägt alles, duldet alles …“ scheint hier keine Liebe zu kennen. Ein in Frage stellen der konkreten Auferstehung Christi von den Toten wird nicht geduldet….

Aber warum ist das so wichtig? Die Kraft der Predigt dieses Jesus aus Nazareth, die Kraft seiner Gedanken und Gleichnisse, die Wucht seiner Botschaft der Liebe – warum genügt dies nicht? Denken wir an das vorhin gehörte Evangelium:

Johannes 14, 23-27: „Wer mich liebt, wird mein Wort halten und mein Vater wird ihn lieben. Aber der Tröster, der heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch erinnern, was ich euch gesagt habe.“

Liebe Gemeinde,

wenn wir als Christen ernst genommen werden wollen, wäre es gut, wenn wir eine glaubwürdige Botschaft hätten. Und noch besser wäre es, wenn wir eine Botschaft hätten, die einen Beitrag zu den Problemen unserer Welt leistet.

Es geht um den Geist dieses Jesus aus Nazareth. Seinen Geist einatmen bedeutet, sich mit seinen Predigten und Gleichnissen zu beschäftigen. Sie auf sich wirken zu lassen, sie zu verinnerlichen, seine Predigt der Liebe nicht nur zu predigen, sondern glaubwürdig zu leben. Ohne darauf zu schielen, was ich „davon habe“, wenn ich das tue.

Aus dem Geist der Freiheit heraus zu leben bedeutet in Freiheit zu leben – ohne sich von Kosten- und Nutzenerwägungen abzulenken. Der kapitalistischen Frage: „Was habe ich davon“ können wir heiter antworten: „Nichts!“ Der Geist, der frei macht, der Geist Jesu Christi ist kein Haben-Geist – er ist ein Geist des Seins. Da-sein – hier und jetzt, mit allen Fasern unseres Lebens, unseres Körpers, unserer Seele – das ist es, was du davon hast. Und je stärker du dich auf dein Dasein einlässt, desto stärker darf der Andere da sein. Desto weniger belastet oder bedroht dich das Dasein des Anderen.

Indem du bist, lässt du den Anderen sein. Es geht gar nicht anders.

Nur wenn du wackelst, wenn du selbst unsicher bist, wirst du anfangen, am Anderen herum zu ziehen. So als müsse er dir Stabilität geben. Als wäre es beruhigend, einen Gleichgesinnten zu haben. Aber was nützt es, gemeinsam einen „falschen“ Weg zu gehen? Der Weg wird davon nicht „richtiger“.

Suche nicht nach Gleichgesinnten – suche nach Wahrheitsgesinnten! Auch eine Botschaft des Rabbi aus Nazareth: „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh. 8, 32) Und der Träger der Wahrheit ist der Heilige Geist. Er ist es, der die Wahrheit der Predigt Jesu bestätigt hat. Dafür ist es nicht wichtig, ob er leibhaftig von den Toten auferstanden ist. Viel wichtiger ist, dass er in seiner Botschaft weiter lebt, dass seine Botschaft weiter wirkt. Und das tut sie bis heute.

Es ist die Botschaft der Kraft der Liebe.

Hildegard von Bingen hat diese Kraft in einem ihrer wunderschönen Gebete mit dem Heiligen Geist verbunden:

Belehre mich

mit dem Hauch des Heiligen Geistes,

dass reines Wasser aus mir sich ergieße,

Tränen entströmen

dem Seufzen nach guten Taten,

und Wohlgeruch dufte

aus heiligen Werken.

Am Tag will ich wirken

die Tugend des Gleichmuts

und salben des Nachts

alle Schmerzen.“ AMEN.

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Predigt am Gründonnerstag 2014 in der Jakobuskirche in Pullach über Hebräer 2, 10 – 18

Predigt am Gründonnerstag 2014 über Hebräer 2, 10-18

in der Jakobuskirche in Pullach

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und Jesus Christus unserem Herrn, AMEN.“

Liebe Gemeinde,

„Denn es war angemessen, dass Gott, für den und durch den das All ist und der viele Söhne zur Herrlichkeit führt, den Urheber ihrer Rettung durch Leiden vollendete.“

So lautet der erste nicht ganz leicht zu verstehende Satz unseres ebenfalls nicht ganz leicht zu verstehenden Predigttextes für heute Abend. Der erste Satz aus dem zweiten Kapitel des Hebräerbriefes, Vers 10: „Es war angemessen, dass Gott, für den und durch den das All ist und der viele Söhne zur Herrlichkeit führt, den Urheber ihrer Rettung durch Leiden vollendete.“

Rettung und Leiden scheinen zusammen zu gehören. Es war angemessen, dass der Urheber der Rettung leiden muss – mehr noch: „durch Leiden vollendet wurde“.

Wir verbinden „Leiden“ mit Unangenehmen, mit Schmerzen. Wir wollen nicht leiden. Es gibt aber ein altes deutsches Wort, das drückt Leiden ganz anders aus: „ich kann dich gut leiden“. „Ich kann dich gut ertragen“ – „Ich mag dich gerne.“ Und die „Vollendung“ einer Beziehung hat mit dem Ertragen gerade auch von Leiden zu tun: dies erst macht eine Beziehung wirklich stark. Dahinter steckt die nüchterne Einsicht, dass der Andere nicht dazu da ist, mir meine Wünsche an ihn zu erfüllen. Oder mir meine Ängste zu nehmen.

Ein glaubwürdiger Retter ist selber seinen Leidensweg gegangen.

Ein glaubwürdiger Retter ist einer von uns Menschen – er hat sein Leben gelebt, er steht im Leben. Ein glaubwürdiger Retter ist kein unverwundbarer Held, der im Grunde über den Dingen schwebt. Der Retter und der zu Reteende – sie stehen auf einer Stufe.

So fährt der nächste Vers fort:

Denn er, der heiligt, und sie, die geheiligt werden, sie stammen alle von einem ab; deshalb schämt er sich nicht, sie Brüder zu nennen.“

Schämen verweist auf Überheblichkeit und Demütigung, verweist auf ein zwischenmenschliches Gefälle.

Schämen geschieht in einer Herrschaftsbeziehung, in einem „von oben herab“.

Wahrscheinlich kennen die meisten von uns nicht nur Gefühle von Scham, sondern auch von Beschämt-worden-sein. Es geht so schnell – und ist oftmals gar nicht böse gemeint, sondern nur fehlende Einfühlung in den Anderen – zu beschämen. Am schnellsten geht es mit Kindern: sie in ihrer Schwäche oder in ihrer Fehlerhaftigkeit bloß zu stellen.

Sich Schämen und beschämt werden ist ein Geschehen, in welchem der gute Zwischen-Raum, der gute Beziehungsraum zwischen zwei Menschen zerstört wird. Das viel zu tiefe Eindringen des Einen in den Anderen führt zu Scham und Beschämung.

Der Weg heraus führt über den Dritten. (So wie Raum erst über die dritte Dimension entsteht.)

Die jetzt folgenden Zitate aus dem AT erden die Bedeutung des „Retters“ in zweierlei Hinsicht – durch eine Erinnerung an die Prophetie des AT und durch die Rückbeziehung des Retters auf Gott. Der Retter steht in der Gemeinschaft – er ist nicht der „große Einsame“, der für und an der Stelle der Gemeinschaft leidet. Das Psalmwort:

„Ich will deinen Namen verkündigen meinen Brüdern, inmitten der Gemeinde dir lobsingen“ (Ps 22,23) verweist auf eine geschwisterliche Gemeinschaft, deren Zentrum nicht die Retterbeziehung sondern die Gottesbeziehung ist. Der „Retter“ verkündigt und erneuert diese fröhliche Gottesbeziehung. Die beiden daran sich anschließenden Jesajazitate sind ebenfalls auf den Dritten bezogen:

„Ich will auf IHN mein Vertrauen setzen“ und „Seht, ich und die Kinder, die Gott mir geschenkt hat.“

Der Autor des Hebräerbriefes ist offenbar darum bemüht, die Energie des Retters in die Gemeinschaft hinein zu stellen, sie für die Gemeinschaft fruchtbar werden zu lassen.

Daraus ergeben sich Erkenntnisse dafür, was einen „guten“ Retter auszeichnet. Ein guter Retter hat seine eigenen Bedürfnisse nach Macht, Bewunderung, Geltungsstreben durchgearbeitet. Mit durcharbeiten meine ich, dass er den schmerzvollen Weg der Selbsterkenntnis gegangen ist. Er hat erkannt, dass es gute Beziehung, dass es Gemeinschaft zerstört, wenn er versucht, „sich selbst einen Namen zu machen“. Er stellt seine Fähigkeiten in den Dienst – und zwar in den Dienst der Gemeinschaft. Das „Glück“ des Retters ist nicht seine Verherrlichung, sondern das Wachstum der ihm anvertrauten Menschen, „der Gruppe“. „Ein Beispiel habe ich euch gegeben, dass ihr tut, wie ich euch getan habe“, sagt Jesus nach der Fußwaschung seiner Jünger im Johannesevangelium. Das ist für einen Retter ein recht bescheidener Satz. Und was ist dieses „Tun“? Das steht wenige Verse später: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander liebt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ Und genau in diesem Tun weiß sich Jesus eins mit seinem Vater. Aus diesem Tun heraus kann er sagen: „Ich und der Vater sind eins, niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ Will sagen: niemand kommt zum Vater ohne den Weg der Liebe zu gehen.

Mit anderen Worten: der „Retter“ wird an seinem Tun gemessen, er sollte vorleben (und nicht nur vorpredigen). Das heißt, der Retter weiß, wovon er spricht, er hat am eigenen Leibe die „Versuchungen“ durchlitten. Auch so gehört Retter-Sein und Leiden zusammen. So heißt es weiter in unserem Predigttext:

Weil nun die Kinder (Menschen) von Fleisch und Blut sind, hat auch er (der Retter) dies gleichermaßen angenommen, um durch seinen Tod den zu entmachten, der die Gewalt über den Tod hat, das ist der Teufel und um die zu befreien, die durch die Furcht vor dem Tod im ganzen Leben Knechte sein mussten. Denn er nimmt sich nicht der Engel an, sondern der Kinder Abrahams nimmt er sich an. Daher musste er in allem seinen Brüdern gleich werden, damit er barmherzig würde und ein treuer Hoherpriester vor Gott, zu sühnen die Sünden des Volkes. Denn worin er selbst gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden.“

Die große Versuchung des Retters ist es, dass er nicht für die Gemeinschaft denkt und handelt, sondern für die eigene Sehnsucht, von der Gemeinschaft als der wie immer „Tolle“, zu Bewundernde wahrgenommen zu werden. Dass er die Gemeinschaft für seine Selbstverliebtheit missbraucht.

Und auch diese Versuchung lässt sich verstehen. Viel schlimmer als Todesangst ist das Gefühl, bedeutungslos zu sein. Sich bedeutungslos fühlen, keine Bedeutung zu haben, ist vernichtend. Babys und Kinder verbinden Bedeutung haben mit wahrgenommen werden. Sie, wir tun alles dafür, Bedeutung zu erlangen. Sei es die berufliche Karriere, sei es das Kinder-Kriegen, sei es soziales Engagement, sei es die olympische Goldmedaille, sei es eine Predigt halten – immer geht es darum, dass „ich für meine Mitmenschen etwas bedeute“. Eben dass ich wahrgenommen werde. Ich kann mich nicht nicht verhalten zur menschlichen Gemeinschaft. Das gilt auch für die Aussteiger, die Obdachlosen, die Armen. Auch sie haben ihre „Bedeutung“, ihren „Stolz“, und sei es das Gefühl: „ich mache da nicht mit!“

Wir sind Knechte unseres Strebens nach Bedeutsamkeit. Hier scheint mir übrigens der Grund zu liegen, warum alt werden für viele so schwer ist, warum der Schritt in die Rente so mühsam ist: wir verlieren immer mehr an Bedeutung für die Anderen. Wir werden immer weniger gebraucht. Wir werden immer überflüssiger. Nun ist zugleich nüchtern anzuerkennen, dass unser Leben, und was wir erleben, und wie wir leben genau genommen nur für ein einziges Lebewesen von wirklicher Bedeutung ist: und das sind wir – selbst.

Dieser Wahrheit ins Auge zu blicken löst schwer erträgliche Gefühle aus. Um diese Gefühle nicht spüren zu müssen, sind wir den ganzen Tag über mit „machen“ beschäftigt. In der sicheren Überzeugung, das, was wir machen, bedeutet etwas, es „macht Sinn“. Und wahrscheinlich können wir nicht anders, als eben Sinn zu machen, so wie die Ameise nicht anders kann, als den ganzen Tag ihr Ameisenleben zu führen.

Liebe Gemeinde,

ich gebe zu, das ist alles sehr nüchtern. Weit weg von Osterjubel.

Und doch ist in dieser ganzen Nüchternheit Ostern versteckt. Keine Ostereier – sondern Ostern!

Der Retter – der unserem Glauben seine Mitte gibt – ist einer, der erträgt. Er ist einer, der sein „Nicht-machen-können“ aushält. Der nicht aus Steinen Brot macht, der nicht über Andere Macht ausüben will, der nicht durch tollkühne Sprünge Gott verführt.

Unser Retter ist ein Nicht-Macher. Er ist ein Erleider. Und in diesem Erleiden steckt jene Gabe, von der Paulus sagt: „sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“

Es ist die Macht der Liebe (die nichts mit romantischer Verschmelzungssehnsucht zu tun hat) mit der sich unser Retter so sehr verbündet hat, dass er zu dieser Liebe selbst geworden ist. Es ist die Liebe, die uns die Kraft schenkt, uns selbst und unsere Mitmenschen sein zu lassen. Und Sein-lassen heißt zunächst einmal: aushalten.

Daran wird jedermann erkennen dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ Das ist die tiefer Bedeutung des Abendmahles als eineS Gedächtnismahles. Es ist das Gedächtnis der Liebe. Und in dem Gedenken ist es das Wirksamwerden der Liebe. Der Liebe zum Leben in und mit seiner individuellen Vergänglichkeit.

Indem wir jetzt gemeinsam das heilige Abendmahl feiern, wächst in uns diese Kraft der Liebe: das ist die Kraft des Ertragens und des Erleidens. Zunächst einmal von uns selbst. Und je besser wir uns selbst ertragen können, desto leichter wird es auch, unsere Mitmenschen zu ertragen, sie in ihrem So-sein zu belassen, wie auch wir unser So-geworden-Sein aushalten lernen.

Und in diesem Geschehen könnte ein wenig Leichtigkeit in unser Leben hinein fließen und ein wenig Heiterkeit. Und wenn wir auch den Tod nicht österlich auslachen – vielleicht spielt öfters ein Oster-Lächeln um unsere Lippen – das selbst unseren Alters- und Sorgen-Falten Schönheit und die Würde gelebten Lebens verleiht.

Gebe Gott, dass wir in seiner Liebe so tief versinken, dass wir nicht mehr anders können, als seine Jünger zu sein, AMEN.

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Predigt über Apostelgeschichte 16, 9 – 15

Predigt über Apostelgeschichte 16, 9 – 15 am Sonntag Sexagesimae in der Jakobuskirche in Pullach (23. 2. 2014)

gehalten von Pfarrer Dr. Lothar Malkwitz

Liebe Gemeinde,

„heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht.“

Das ist ein Satz, der uns darum bittet, etwas zu unterlassen.

Es geht um eine Hemmung, um ein Nicht-Tun: „verstockt eure Herzen nicht!“

Offensichtlich haben wir die Macht und die Möglichkeit, unser Herz zu „verstocken“. „Stocken“ ist das alte Wort, heißt soviel wie „fest, dickflüssig werden, gerinnen.“ (Im bayrischen gibt es die „g’steckelte Mili“, hochdeutsch „Dickmilch“: eine fest gewordene Milch.)

Ein verstocktes Herz ist Herzinfarkt gefährdet. (Im griechischen heißt verstocken übrigens: skleryno – der med. Fachausdruck Sklerose kommt von daher!) Einem verstockten Herzen geht „nichts mehr zu Herzen“, es hat sich „unberührbar“ gemacht.

Als ich den heute zu predigenden Text las, nützten mir diese schlauen Gedanken gar nichts. Ich konnte nicht anders: ich begegnete dem Text mit Abneigung. Am liebsten wäre ich ausgewichen auf einen anderen Text. Verstocken hat also mit Abneigung zu tun: „Damit will ich nichts zu tun haben!“

Damit sie mitfühlen – oder sich wundern – können, breche ich hier ab und lese Ihnen den Predigttext vor. Er handelt davon, wie eine gottesfürchtige Griechin, Lydia mit Namen, zum christlichen Glauben findet. Lydia von Philippi gilt als die erste europäische Christin! Es ist also zugleich die Geschichte von der ersten christlichen Missionstätigkeit in Europa.

Ich lese Apostelgeschichte c. 16, 9-15:

„Und es erschien dem Paulus in der Nacht ein Gesicht: Ein mazedonischer Mann stand da und bat ihn und sprach: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns!

Als er aber das Gesicht gesehen hatte, suchten wir sogleich nach Mazedonien abzureisen, da wir schlossen, dass Gott uns gerufen habe, ihnen das Evangelium zu verkündigen.

Wir fuhren nun von Troas ab und kamen geradewegs nach Samothrake und des folgenden Tages nach Neapolis und von da nach Philippi, das die erste Stadt jenes Teils von Mazedonien ist, eine (römische) Kolonie. In dieser Stadt aber verweilten wir einige Tage.

Und am Tag des Sabbats gingen wir hinaus vor das Tor an einen Fluss, wo wir dachten, dass man zu beten pflegte; und wir setzten uns nieder und redeten mit den Frauen, die zusammengekommen waren.

Und eine gottesfürchtige Frau mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, hörte zu; ihr Herz öffnete der Herr, dass sie acht gab auf das, was von Paulus geredet wurde. Als sie und ihr Haus getauft worden war, bat sie und sagte: Wenn ihr urteilt, dass ich an den Herrn gläubig sei, so kehrt in mein Haus ein und bleibt. Und sie nötigte uns.“

Vielleicht wundern Sie sich: aber der Text ist doch nicht schlimm, im Gegenteil, das ist doch eine schöne Geschichte, wie Lydia von Gott – vermittelt durch Paulus – zum christlichen Gauben berufen wird. Wie das Christentum zu uns, nach Europa kommt.

Ja, aber! muss ich antworten.

Ja, aber: weist auf Härte hin, auf: „so einfach geht das nicht!“ Damit bin ich nicht einverstanden.

Aber womit denn?

Alles hängt davon ab, wie die Geschichte verstanden wird. Was sie für einen bedeutet.

Nun war keiner von uns dabei. Uns wird diese Geschichte erzählt. Und jeder von uns, der diese Geschichte hört, erlebt sie mit seinen eigenen Bildern und seinem eigenen Vor-Verständnis. Und ich bin mir sehr sicher: wenn wir uns jetzt darüber im einzelnen austauschen würden: wir wären überrascht, wie vielfältig und unterschiedlich die Eindrücke wären, die diese Geschichte bei uns hinterlässt.

Obwohl wir alle dieselbe Geschichte meinen.

Und das ist noch nicht alles. Indem, wie wir die Geschichte verstehen, ist ja noch völlig offen, wie Lukas, der Autor dieser Geschichte, sie verstanden hat.

Was wollte Lukas mit dieser Geschichte abbilden? Wozu erzählt er diese Geschichte?

Es scheint so zu sein, dass er erzählt, „wie es gewesen ist“. Das und das haben wir erlebt!

Und genau da beginnt sich mein Herz zu verstocken.

Mein verstocktes Herz sagt:

Ja und jetzt? Was willst du mir damit sagen?

Heute, in meinen Alltag an diesem grauen Februar-Sonntag hinein?

Predigen heißt, etwas rüber bringen. Eine frohe Botschaft verkündigen. Aber auch eine wahrhaftige Botschaft. Etwas Nahrhaftes. Die Geschichte „stimuliert“ meine Kreativität nicht.

Es sei denn, ich versuche „zwischen den Zeilen“ zu lesen. Ich mache mich auf die Suche nach etwas „hinter“ den Zeilen, „hinter“ dem konkreten: „so war es!“

Die Geschichte beginnt damit, dass Paulus eine Art Vision oder auch einen Traum hat: ein ihm, unbekannter Mann bittet ihn um Hilfe. „Komm‘ herüber!“ Paulus soll etwas „überbrücken“, eine Verbindung herstellen. Er soll die Verbindung zu einem anderen Erdteil, zu Europa herstellen. „Hilf uns!“ sagt der Mann.

Für Paulus ist völlig klar, worin die Hilfe besteht: er soll die Predigt von der Liebe Gottes auch für Europa zugänglich machen. Nun ist bekannt, dass Paulus Visionen hatte: seine berühmteste ist die vor Damaskus, die Saulus den Christenverfolger in Paulus den Missionar verwandelte.

Dann könnte man die Geschichte so lesen, dass sie uns erzählen will, was geschieht, wenn man seine Träume oder Visionen so ernst nimmt, dass man sie in die Tat umsetzt. Vorausgesetzt, man findet eine Sicherheit in sich selbst, die einem sagt, was man zu tun hat. Paulus war sich seiner „Sache“ so sicher, dass er bereit war, dafür sein Leben zu opfern.

Diese Sicherheit fehlt mir. Vielleicht ist ein Teil meines verstockten Herzens der Geschichte gegenüber Neid? Beneide ich den Paulus ob seiner Sicherheit?

Ich glaube nicht. Ich möchte mein Leben nicht gegen das seinige tauschen. Mir ist diese missionarische Sicherheit unheimlich. Und doch kann ich etwas lernen:

es ist gut, seine Träume ernst zu nehmen. „Träume sind wie ungeöffnete Briefe“, sagt S. Freud. Ernst nehmen hieße, versuchen die eignen Träume zu verstehen. Diesen Zwischenschritt übergeht Paulus. Er setzt seinen Traum sofort in Handlung um (Agieren sagen dazu die Psychoanalytiker.) D.h. Es gibt keinen Spielraum, des Verstehens – keine mentale Welt, in der der Mann, von dem Paulus träumt zu einer „Figur“, einer „Gestalt“ aus seiner inneren Welt wird – zu einem Teil von Paulus selbst, der Hilfe braucht.

Jetzt wird die Geschichte für mich interessant. Ich glaube, es ist der Saulus, von dem sich Paulus mit derselben Gewalt abgeschnitten hat, mit der er vorher Christus verfolgt hatte, der ihn um Hilfe bittet – der sich wünscht, Paulus möge „zu ihm herüber“ kommen. Saulus und Paulus trennen verschiedene Kontinente. So weit haben sie sich voneinander entfernt.

Und genau damit hat ja das Grausame von Mission zu tun: dass sie das Gewachsene, „vor“ der Mission entstandene, wegwischt und so tut, als wäre das alles „falsch“ gewesen. Dann zerfällt das Leben in zwei Hälften: eine gute und eine schlechte Hälfte, eine falsche und eine richtige. Zwischen diesen beiden Kontinenten ist das Meer. Dies macht in der Tiefe nicht zufrieden. Wenn die Hälfte meines Lebens von mir selbst auf einen anderen Kontinent verbannt ist, gibt es kein Leben in Freude und Leichtigkeit.

Ein nicht-verstocktes Herz ist ein ganzheitliches Herz. Ganzheitlich bedeutet, die Teile in sich hineinzunehmen, die ich ausgelagert, verbannt habe. Mit denen ich nichts (mehr) zu tun haben will. Diese ausgelagerten Teile meiner selbst schlagen sich in meiner Seele als Gefühle von Aversion nieder. „Ich möchte damit nicht in Berührung kommen.“

Unsere Geschichte teilt uns mit, dass Paulus und seine Freunde das „Traumgesicht“ sofort in die Tat umsetzen. Wahrscheinlich war das auch so.

Ich möchte bei dem Traumgesicht bleiben. Ich möchte die ganze Geschichte als eine Art Traum, als eine Geschichte aus der „inneren, seelischen Welt“ lesen. Indem ich dies tue, ist meine Langeweile verflogen. Ganzu im Gegenteil: die Geschichte bekommt für mich einen eigentümlichen Glanz.

Auch daran möchte ich Ihnen gerne Anteil geben.

Dann handelt die Geschichte davon, wie das geht:

Heute, wenn ihr seine Stimme hört, so verstockt eure Herzen nicht!“

Also: der Mann aus Mazedonien, der Mann von dem anderen Kontinent steht für jenen Teil von Paulus selbst, mit dem er seit seiner Bekehrung zum Christentum nichts mehr zu tun haben wollte. In dem er sich auf dessen Hilferuf einlässt, macht er sich wirklich auf den mühsamen Weg der Integration dessen, was er abgelehnt hatte.

Auf seinem Weg der „Ganz-“ oder „Heil-Werdung“ (und das verstehe ich unter Integration) entdeckt er in der Stadt Philippi seine eigene Gottlosigkeit. Keine Synagoge, kein Ort der Spiritualität findet sich. Es gibt auch keinen „Mann aus Mazedonien“. Natürlich gibt es ihn nicht: Paulus hatte ja seine ganze Spiritualität dem Saulus entzogen. Mit dem Juden Saulus wollte der Christ Paulus nichts mehr zu tun haben.

Doch Paulus lässt sich davon nicht beirren. Er beschließt mit seinen Freunden, seiner „inneren Gruppe“, an einen Fluss zu gehen. Der „Fluss“ ist ein uraltes Bild für Reinigung. Und hier trifft er auf die Frauen, auf seine weiblichen Anteile, mit denen er ins Gespräch kommt. Ein weiterer Akt der Integration, der Verbindung findet statt: es tut gut, wenn im Unbewussten eigene männliche und weibliche Seiten in gelichweritgen Kontakt miteinander treten. Diese Begegnung findet „im Freien“ statt: nicht eingeschlossen in einem Raum. Auch das ist gut: es ist eine frei-willige Verbindung, ein freies Miteinander, das da am „Fluss des Lebens“ sich ereignet.

Und dann hebt sich eine Frau heraus, Lydia, die mit Purpur handelt. Nun steckt in dem Namen „Lydia“ das greichische Verb „lüo“, und das heißt lösen, frei werden. Dies könnte ein weiterer Hinweis auf die befreiende, lösende Kraft sein, die damit zu tun hat, dass sich Paulus seiner weiblichen Seite zu wendet. Zugleich handelt sie mit Purpur: Purpur entsteht durch die Verbindung von rot und blau – also aus der guten Verbindung von Geistigem und Lebendigem. Purpur verkörpert auch etwas sehr Wertvolles, so dass die Farbe „Purpur“ für Würde schlechthin steht. Der Umgang zwischen Paulus und Lydia ist ein Würdevoller – weit entfernt von einer entwürdigenden Zwangstaufe.

Indem sich Lydia von Paulus taufen lässt, verbinden sich die beiden mit dem Fluss des Lebens. Vertrauen sich dem Fluss des Lebens an. Und dann „nötigt“ Sylvia ihren Täufer zum Essen. Das klingt kurz nach Zwang – lässt sich freilich in der inneren Welt auch als den letzten Schritt zu echter Gemeinschaft, wirklicher communio verstehen: dem autarken „Ich“ des Paulus muss mit „sanftem Nachdruck“ klar gemacht werden, dass es auch nur ein Teil eines größeren Ganzen ist und dass es keine „Schande“ ist, etwas zu nehmen, zu empfangen. Auch der freie und stimmige Austausch von Geben und Nehmen, wo es nichts Gönnerhaftes und nichts Bedürftiges mehr gibt, gehört zu einer einer guten, ganzheitlichen Beziehung in gegenseitiger Würde und Wertschätzung.

Liebe Gemeinde.

ich weiß nicht, welche Gefühle diese Deutung unseres Predigttextes in Ihnen auslöst. Ich kann mir vorstellen, dass die Bandbreite von Verständnislosigkeit über ärgerlich-empörte Ablehnung bis hin zu neugierigem Interesse geht. Ich bin mir auch darüber im Klaren, Ihnen damit etwas zuzumuten. Aber – ganz ehrlich – ich kann nicht anders predigen.

Dieser, mein Zugang zum christlichen Glauben und zu den Texten der Bibel, ist, wenn er denn ein Adjektiv bekommen soll, ein mystischer. Purpur ist übrigens auch die Farbe der Mystik – und die Farbe der Buße. Und in der Gegenwart als Violett die Farbe der Emanzipation der Frauen. (Spannend, oder?)

Die Mystiker (und die Frauen?) waren einerseits die kirchlichen Außenseiter. Manche wurden mit dem Tode bestraft, manche wurden heilig gesprochen. Karl Rahner hat am Ende seines Lebens gesagt: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein; oder er wird nicht mehr sein.“ Für mein persönliches Leben stimmt der Satz voll und ganz. Warten wir ab, ob er auch im Großen und Ganzen recht hatte. AMEN

Und der Friede Gottes, der höher ist als unser Sinnen und Trachten, bewahre unsere Herzen in Christus Jesus, AMEN.

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Predigt über 2. Petrus 1, 16-19

Predigt über 2. Petrus 1, 16-19 am letzten Sonntag nach Epiphanias 2014

gehalten in der Thomaskirche in Grünwald (9.2.2014)

Gnade sei mit euch und Friede, von Gott unserem Vater und Jesus Christus unserem Herrn, AMEN.“

Liebe Gemeinde,

Unsicherheit ist ein Zustand, den wir Menschenkinder gar nicht gerne haben. Auf körperlicher Ebene drückt sich Unsicherheit in feuchten Händen, Stottern, Schüchternheit, Erröten, Schwitzen usw. aus. Oder auch in ständiger Unruhe, Hektik und Bewegung. Zur-Ruhe-Kommen-Können hat mit dem Ertragen von Unsicherheit und/oder dem Erleben von Sicherheit zu tun. Ich vermute, dass wir auch deshalb am Sonntag in den Gottesdienst gehen, um so etwas wie Sicherheit zu erleben und vielleicht sogar zu bekommen.

Was verleiht uns Sicherheit?

Die NSA würde antworten: Kontrolle verleiht Sicherheit. Deshalb müssen wir abhören, überprüfen, kontrollieren… „Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser!“ – das stammt übrigens nicht aus Amerika, sondern wird Lenin in den Mund gelegt, was nur sinngemäß stimmt.

Ich möchte Ihnen heute eine ganz andere Sicherheitsstrategie vorschlagen:

Sicherheit entsteht durch das Verbunden-Sein mit Wahrheit.

Auf der Seite der Wahrheit stehen heißt, auf der sicheren Seite stehen.

Und was ist Wahrheit?

Die Wahrheit an sich ist unerkennbar. Erkennbar ist (bestenfalls) „der Glanz der Wahrheit“ eines Augenblicks. Von so einem „wahrhaftigen“ Augenblick handelt unser heutiges Evangelium. Jesus wird vor den Augen seiner Freunde verklärt, ein Glanz umhüllt ihn und eine Stimme ertönt: „Dies ist mein Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe; auf ihn sollt ihr hören.“ (Mt. 17,6)

Nun – falls es diesen Augenblick wirklich gegeben hat – er ist jedenfalls lange vergangen. Fast zwei Jahrtausende liegen zwischen damals und heute. Daran ändert sich auch nichts, wenn es in unserem heutigen Predigttext – einem Brief – heißt: „Denn wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch kund getan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen. Denn er empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Preis durch eine Stimme, die zu ihm kam von der großen Herrlichkeit: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Und diese Stimme haben wir gehört vom Himmel kommen, als wir mit ihm waren auf dem heiligen Berge.“ (2. Petrusbrief 1, 16-18)

Jetzt ist es so; dass der Autor dieser Sätze sich als Petrus ausgibt, unter diesem Namen den 2. Petrusbrief schreibt – sicherlich aber nicht Petrus ist. Ich verschone sie mit historisch-kritischen Argumenten – nur soviel: seriöse katholische wie evangelische Theologie, die nach Kriterien von Vernunft und historischer Wissenschaft vorgeht, ist zu dem übereinstimmenden Ergebnis gekommen, dass dieser Brief nicht von Petrus selbst geschrieben worden sein kann. Das heißt natürlich auch, dass sein Autor nicht auf dem Berg mit dabei gewesen sein kann.

Warum macht jemand so etwas?

Um Sicherheit zu geben. Vermutlich war er ein überzeugter Christ, der mit diesem Brief der Sache des Christentums weiterhelfen wollte.

Jetzt bekommen wir ein Problem: vorhin haben wir gesagt, Wahrheit gibt Sicherheit. Der Verfasser des 2. Petrusbriefes will Sicherheit geben, indem er etwas vortäuscht: er tut so, als wäre er Petrus.

Und das ist ja wohl der größte Vorwurf an uns Christen: dass wir so tun, als ob wir das glaubten, was wir z.B. im Glaubensbekenntnis gemeinsam gebetet haben. Dass wir uns das vormachen, weil es unser Leben leichter mache. Weil wir die „wahre“ Einsamkeit, die Gottlosigkeit des Lebens nicht ertragen würden.

Das hartnäckige Glauben an eine „Illusion“ verleihe uns Christen – so der Vorwurf – Sicherheit.

Nun gibt es in der Tat eine Sicherheit des „als ob“, die viele von uns erlebt haben: ein kleines Kind empfängt Sicherheit über sein Stofftier, das unter keinen Umständen vergessen und auch nicht gewaschen werden darf, oder ein Handtuch oder einen Bettzipfel. Es tut so, als ob dies die Brust der Mutter wäre. Und dies beruhigt.

Später kann aus dem Stofftier dann ein lebendiges Tier werden, bei Mädchen ein Hund oder ein Pferd – bei Jungs wird eher etwas Unlebendiges aber ebenso Sicherheit Spendendes daraus: ein Motorrad, ein Auto usw.

Gemeinsam ist dieser Art Sicherheitsstreben das Anhaften an sinnlichen Dingen. An Materiellem. Mein Haus, mein Auto, mein Bankkonto – das alles kann Sicherheit geben.

Die Sicherheit von der die Geschichte der Verklärung Jesu handelt, ist völlig anderer Art: es ist eine Beziehungssicherheit: „Dies ist mein lieber Sohn…“ Wobei es hier nicht um die Vater-Sohn-Beziehung geht. Es könnte genauso heißen: „dies ist meine geliebte Tochter“ – gesprochen von einer Mutter.

Entscheidend ist: es geht um die Sicherheit in der Beziehung. (Das hebräische Wort für “Wahrheit“ – `ämät – heißt übrigens, wörtlich übersetzt: „Sicherheit in Beziehung“.

Und wodurch entsteht diese?

Wenn wir uns in unserem Text auf die Suche nach Elementen machen, die diese Sicherheit verleihen, so sind das:

  • das öffentliche Bekenntnis: „dies ist mein lieber Sohn“

  • die Art der Beziehung: sie ist getragen von Liebe: „mein lieber Sohn“

  • der Glanz, der Jesus umgibt

  • das Allein-Sein: „sie sahen niemand, als Jesus allein“

Zu den Elementen im einzelnen:

– das öffentliche Bekenntnis. Wir Menschen brauchen offenbar das Bekenntnis unserer Eltern zu uns. Es löst katastrophale Gefühle von Scham über Neid bis Hass aus, wenn dieses Bekenntnis fehlt. Das Unheil von Ödipus gründet darin, dass er sein Herkommen, seine Abstammung nicht wusste. Dies ist sicherlich ein Extremfall. Häufiger, geläufiger ist das Schicksal, dass der Sohn oder die Tochter zwar sicher ist, wer seine Eltern sind, aber unsicher, ob er/sie etwas wert ist, etwas kann. Ob er/sie eine Existenzberechtigung hat, ohne zu etwas zunutze zu sein. Ob er/sie einfach da sein darf – und bereits in seinem/ihrem Dasein willkommen ist. Dies war das große Problem Martin Luthers: wie bekomme ich einen gnädigen Gott? D.h., wie bekomme ich in mir „innere Elternfiguren“, die mir wohlgesonnen sind – vor aller Leistung, vor allem mich über „Werke rechtfertigen müssen“? Kinder und Jugendliche spüren genau, ob es um sie geht oder um Eltern, die sich in ihren Leistungen sonnen wollen. Um Eltern, die in Gegenwart ihres Kindes ihm seine Fehler vorwerfen und in seiner Abwesenheit sich mit seinen Leistungen schmücken. Schlaue Kinder verhindern dies durch vorsätzliche Erfolglosigkeit: sie vermeiden es, ihren Eltern „Stoff“ zu geben, den diese zum Angeben missbrauchen könnten.

– „Mein lieber Sohn!“ „Meine liebe Tochter!“ Glücklich wer in einer Beziehung aufwachsen darf, die getragen ist von Liebe. Mit Liebe meine ich nicht Romantik. Häufig wird Liebe verwechselt mit romantischen Gefühlen. Mit Schmetterlingen im Bauch und Kerzenlicht und Sonnenuntergang. Das ist alles sehr schön, hat was mit Verliebt-Sein zu tun – aber nicht mit Liebe. Eine weitere Gefahr ist, lieben mit brauchen zu verwechseln. Ich brauche dich so sehr, ich kann ohne dich nicht leben – auch dies drückt nicht Liebe aus, sondern – Besitzansprüche. Liebe ist etwas sehr Feines, materiell nicht fassbar, nicht greifbar. Petrus, der Realistische, schlägt vor, Hütten zu bauen – aber darum geht es nicht. Die Architektur der Liebe ist nicht von dieser materiellen Welt, ist aus dem Material dieser Welt nicht baubar. Sie lässt sich nicht „dingfest machen“ oder „in Stein meißeln“. Liebe ist etwas Scheues; wird sie eingesperrt entzieht sie sich.

– So ist es auch mit dem „Glanz“, der Jesus umgibt. Dies ist der sichtbare Ausdruck des sich geliebt Fühlens. Menschen, die sich geliebt fühlen, strahlen Liebe aus – und geben sie weiter. In der Psychologie spricht man vom „Glanz im Auge der Mutter“, wenn sie sich ihres Kindes erfreut. Das ist etwas Ähnliches. Wie schön wäre es, wenn wir Christen diesen Glanz in unseren Augen trügen, um ihn in die Welt hinein zu strahlen. Viel wichtiger, als alles Reden, Predigen, Diskutieren ist unsere Ausstrahlung: sie ist es, die beim Anderen ankommt, die uns glaub-würdig oder eben unglaub-würdig macht.

– „Und dann war Jesus wieder allein.“ Die Fähigkeit allein zu sein ist direkter Ausdruck von innerer Sicherheit. Allein-sein ist etwas ganz anderes als einsam sein. Im Allein-sein wird alles mit einander verbunden, es gibt keine Exkommunikationen mehr. Und im Allein-Sein bleibt alles in guter Ordnung von einander getrennt: es gibt keine Verschmelzung (Konfusionen) mehr. Und in diesem guten Verbunden- und Getrennt-Sein sein wird die Finsternis der Einsamkeit verwandelt in in den dunklen Glanz eines gestirnten Himmels.

Als Wegweiser dieser Verwandlung (Transformation) benennt unser Predigttext das prophetische Wort. Es möge Sicherheit geben im Angesicht der Flüchtigkeit und Nichtigkeit des Augenblickes. So lautet der letzte Satz: „Um so fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen.“

Dies ist die poetische Formulierung für einen nüchternen Sachverhalt: es bedarf eines Führers in Anbetracht der völligen Dunkelheit des Weges zu Gott. Dieser Führer ist das „prophetische Wort“: es ist ein Wort, das in die dunkle Tiefe der unbewussten Bedeutung dessen weist, was „sich gerade zeigt“, was im Zeigen selbst unsichtbar bleibt. Das prophetische Wort ist der Wegweiser hinein in die Wahrhaftigkeit des Augenblickes. Wir stehen in der Gefahr, uns von dem Sichtbaren „ver-führen“ zu lassen: zu meinen, das Sichtbare, das den Sinnen sich Aufdrängende wäre „alles“. So wird die Welt zweidimensional: es entsteht eine flache Welt – eine Welt ohne Schatten, ohne Tiefe, ohne Geheimnisse.

Die Sterne leuchten um so mehr, je abgedunkelter der Himmel ist. Und wenn schon der Morgenstern den nahenden Morgen ankündigt, so kündigt derselbe Stern als Abendstern die heraufziehende Nacht an. Der Morgenstern ist der Abendstern! Der Abendstern ist der Morgenstern!

Eine Gefahr christlichen Glaubens ist es, zu sehr auf das „Licht“ zu blicken. So sehr, dass wir gar nichts mehr sehen – weil unsere Augen geblendet sind.

Die Bewegung des Lebens ist eine ganzheitliche: am Morgen verschwindet die Nacht, am Abend verschwindet der Tag. Beides gehört wesentlich dazu: sonst bleiben wir „im Morgenglanz der Ewigkeit“ stecken. Dann weiß unsere innere Dunkelheit nicht mehr, wohin mit ihr. Dann werden wir rechthaberisch und besserwisserisch. Und sind enttäuscht, dass es auch einen Abend unseres Lebens gibt, an dem sich unser Ich, das wir mit soviel Mühe aufgebaut und kultiviert haben, von uns wieder verabschiedet.

Gebe Gott, dass wir diesen „Werdegang des Lebens“ immer tiefer in uns hineinlassen, mehr noch: dass wir selbst zu diesem Werden und Vergehen werden. Gebe Gott, dass wir die Sicherheit und Leichtigkeit eines Lebens spüren dürfen, das von innen heraus leuchtet: in starker Verbundenheit mit jenem Gott, der dein Leben trägt, der dich in deinem So-Sein willkommen heißt, der nur darauf wartet, die milde Sonne seiner Barmherzigkeit in deinem Leben erstrahlen zu lassen, AMEN.

Und die Liebe Gottes, die unsere Vernunft übersteigt und unsere Sinne in Dunkelheit hüllt, bewahre unser Sehnen und Denken, in Christus Jesus, AMEN.

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Predigt am 4. Advent über Jesaja 52,7-10

Liebe Gemeinde,

je älter ich werde, desto stärker wächst in mir die Überzeugung, dass ich viel weniger weiß als früher. Am meisten wusste ich – oder glaubte ich zu wissen – so zwischen 15 und 25. Dann war noch einmal ein Höhepunkt, als ich begann Psychoanalyse zu studieren. Die Arbeit mit meinen Patienten und meine eigenen alltäglichen Erfahrungen, nicht zuletzt mit meinen Kindern, haben mich in vielen durchaus mühsamen Schritten eines Besseren belehrt.

Die größte Herausforderung war (und ist?) für mich dabei einzusehen, dass weder die mir Nahestehenden noch die mir Ferner stehenden so sind, wie ich sie gerne hätte. Wie sie meiner Meinung nach („und ich meine es ja bloß gut!“) sein sollen. Am wenigstens halte ich es aus, wenn ich jemand anderem entgegen komme, und der das nicht einmal zu bemerken scheint. Wenn ich mir Mühe gebe mit dem Kochen, und doch keine Chance haben gegen Dr. Oetkers Fertigpizza. Wenn ich jemand anderem großzügig die Durchfahrt freihalte und – keinerlei dankbare Rückmeldung bekomme.

Wenn ich mich dann ärgere – und ich kann mich da ziemlich ärgern – dann halte ich das zunächst einmal für völlig normal. Übergangen-werden. Übersehen-werden ist ärgerlich. Noch etwas tiefer: übersehen-werden löst Panik aus. Denn: wir sind Säugetiere. Und wir haben alle eine Zeit erlebt, in der zu langes Übersehen-werden mit Vernichtungsängsten verknüpft worden ist.

Anders ausgedrückt: wenn ich lernen soll zu akzeptieren, dass ich alleine in der Welt stehe und dass ich es nicht in Hand habe, auch wenn ich mir die größte Mühe gebe, ob und wie der Andere auf mich reagiert – wenn ich das lernen will, muss ich irgendwie mit meinen alten Vernichtungsängsten lernen umzugehen.

Und genau das ist die Stelle, warum ich Christ bin. Ich durfte und darf erfahren, dass es eine Kraft, eine Macht, eben „Gott“ gibt, der mich in meinem Allein-Sein aushält. Deutlicher noch: je näher ich diesem „Gott“ komme, je ununterscheidbarer es zwischen mir und Gott wird, desto leichter, desto freier, desto freudiger wird es in mir und (Verblüffung!) um mich herum.

Die Botschaft an diesem vierten Adventssonntag handelt von dieser Freude und Leichtigkeit: „ Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch! Der Herr ist nahe!“ Dies ist das Eingangsportal für heute.

Freuet euch! Der Herr ist nahe“

Wir haben vorhin (als Evangelium) ein Lied gehört, das in poetischer Sprache die „Innen-Ansicht“ dieses Satzes ausdrückt. Das Magnifikat ist das Lied einer Seele, die erlebt: „Der Herr ist nahe!“ Es ist das Lied einer durchlässig gewordenen Seele, die befreit wurde von einem Ich, das den Anderen für die eigene Ich-Sicherheit braucht. Denn das vorhin beschriebene Geschehen: „Ich gebe mir solche Mühe, dann musst du aber auch so sein, wie ich dich haben will“ – ist ja letztlich ein Geschehen, in dem zwei aneinander gefesselt werden.

Diese „Lösung“ der Seele in ihre Freiheit hinein hat zu tun mit dem Sich Lösen von diesem klammernden, zwingenden Ich. Ganz wörtlich übersetzt heißt der Anfang des Magnifikat: „Es erhebt meine Seele Gott, den Herrn“ – und nicht: „Ich erhebe den Herrn“. Welches Ich sollte denn auch in der Lage sein, Gott selbst zu erheben? Luther hat dies erkannt, wenn er den ersten Satz so auslegt: „als wollte Maria sagen: ‚Es schwebt mein Leben samt all meinen Sinnen in Gottes Liebe, Lob und hohen Freuden, dass ich, meiner selbst nicht mächtig, mehr erhoben werde als mich selber erhebe zu Gottes Lob.’“

 

Spüren Sie die Schönheit dieser Worte?

 

In ihnen drückt sich für Maria, und Maria ist ein Bild für „unsere gläubige Seele“ die Bedeutung von Advent aus.

Glücklich, wer so etwas von sich sagen kann. „Meine Seele erhebt den Herrn“ – das ist weder das depressive „ich bin bedrückt und nieder-geschlagen, meine Ängste und Sorgen nagen an meiner Seele“ noch das manisch-euphorische „ich stehe über den Dingen, meine Seele kann fliegen.“

 

Das Erleben der Nähe des Messias drückt sich aus in Einfachheit, Schönheit und Wahrheit. Dies bildet sich auch in dem heute zu predigenden Text ab, einem Wort des Propheten Jesaja (c. 52, 7-10):

JESCHAJAHU

Wie anmutig sind auf den Bergen

die Füße dessen, der (frohe) Botschaft bringt,

der hören lässt: Friede!,

der gute Nachricht bringt,

der hören lässt: Befreiung!

der zu Zion spricht:

Dein Gott trat die Königschaft an!

Stimme deiner Späher,-

sie erheben die Stimme,

sie jubeln vereint,

denn Aug in Aug sehn sie,

wie ER nach Zion zurückkehrt.

Aufjauchzet, jubelt vereint,

ihr Trümmerstätten Jerusalems,

denn ER tröstet sein Volk,

er löst Jerusalem aus.

Entblößt hat ER

den Arm seiner Erheiligung

vor aller Weltstämme Augen,

dass sehn alle Enden der Erde

die Befreiertat unseres Gottes. (M. Buber)

Wie anmutig sind auf den Bergen die Füße dessen, der frohe Botschaft bringt: Frieden!“

Anmutig“ ist ein altes Wort – es bedeutet so etwas wie „Lust erwecken“ auch „Liebreizend“. Luther übersetzt: „Wie lieblich…“

Man sieht es dem Überbringer der Botschaft an – man merkt es an seinem Schritt: er hat eine wirklich frohe Botschaft mitzuteilen: „Friede“! Es ist ein leichter tänzerischer Schritt, nicht der niedergedrückte schleppende Schritt des Denkers oder Grüblers und auch nicht der soldatische Stechschritt der Macht.

Das Lied des Friedens ist weder ein Trauermarsch noch ein Triumphmarsch.

Friede!“

Und damit untrennbar verbunden: „Befreiung“!

Und warum?

Dein Gott trat die Königsherrschaft an.“

Dein Gott – und niemand anders – regiert.

Lass ihn regieren – und du wirst es erleben: Friede – Befreiung – Freude!

Unglaublich, oder?

Was bedeutet das?

Das bedeutet, dass alles „weltliche“ Regieren ein Vorläufiges ist. Wir Menschen können und dürfen das Regiment Gottes nicht ersetzen. Alles was wir können, und das ist zugleich unsere Aufgabe, ist: SEINEN Platz frei zu halten.

Es scheint mir nämlich so zu sein, dass jeder Mensch von seinem inneren „Regiment“, einer inneren ihn leitenden und steuernden Kraft geführt wird.

Bildlich ausgedrückt: jeder von uns hat ein inneres Parlament, in dem diskutiert wird, in dem Entscheidungen getroffen werden, die schließlich im „Außen“ ausgeführt werden. Je unfreier und unfriedlicher wir uns erleben bzw. (was eher der Wirklichkeit entspricht) von unseren Mitmenschen erlebt werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass unser inneres Parlament kein demokratisches sondern ein diktatorisches ist. Das heißt, dass es einen Machthaber oder auch eine kleine Gruppe von Mächtigen gibt, denen es nicht um das Wohl des Ganzen, sondern um das Durchsetzen der eigenen Macht geht. Freie Meinungsäußerung, zuhören, sich Gedanken machen, versuchen anders Denkende und Anders-Handelnde zu verstehen – ist nicht erwünscht.

Dies sind die Feinde der „Königsherrschaft Gottes“. Denn sie wissen: wenn Gott selbst die Macht ergreift, sind sie entmachtet, wird ihre Propaganda durchschaut, zerfallen ihre Lügen zu Staub.

Der Herr ist nah!“ heißt also: der Friede ist nah, die Freiheit ist nah! Friede und Freiheit sind so nah, wie es uns Menschen gelingt, uns von unseren inneren totalitären Strukturen befreien zu lassen. „Zu lassen“: wir können uns nicht aktiv befreien – aber wir können aktiv verhindern, uns befreien zu lassen. Das Verhindern hat mit unerträglichen Gefühlen zu tun, die mir das Erkennen der „ganzen Wahrheit“ macht. Es ist nämlich nur die halbe Wahrheit, dass ich der bin, der es mit den Anderen stets gut meint. Die andere Hälfte ist, dass ich auch der bin, der den Anderen mit seinen Bedürfnissen ignoriert, dass ich der bin, der meint zu wissen, was richtig ist, was sich gehört, was gut schmeckt usw.

Friede und Freiheit beginnen da, wo mein Wissen seine Beschränktheit einsieht und sich nicht mehr selbstherrlich absolut setzen muss. Wo mein Ich lernt, seine eigene Endlichkeit und Vorläufigkeit anzuerkennen. Wo es nicht mehr darum geht, dass mein „Ich“ recht hat.

Die große Frage ist, ob mein inneres Regiment ausgerichtet ist auf die eine unauslotbare und unerkennbare Wahrheit dessen, was gerade geschieht.

Damit ändert sich der Blickwinkel radikal.

Was geschieht gerade zwischen uns. Von außen betrachtet (sinnenfällig) scheint es so zu sein: ich rede – Sie hören zu. Die Innen-Ansicht ist eine ganz Andere. Wofür verwende ich meine Worte? Was will ich damit?

Wofür verwenden Sie meine Worte. Was wollen Sie damit? Kommen wir über diese Worte in Beziehung? Und wenn ja: in welche? Ich hoffe, dass sich meine Worte für weiteres Denken, für Nach-Denken eignen. Ich will ihr Denken anregen – nicht will ich Sie von irgend etwas überzeugen. Und ich will mir Mühe geben, nicht zu enttäuscht zu sein, wenn Sie meine Gedanken nicht bekömmlich finden. Wenn Sie lieber zur vertrauten Fertig-Pizza greifen. Das kann ich dann halt auch nicht ändern.

Indem ich überzeugen will, stehe ich in der Gefahr, mich auf den Platz zu setzen, der IHM, der Gott allein zusteht. Damit entkräfte ich SEINE Herrschaft. Die Königsherrschaft Gottes wird erst da wirksam und glaubwürdig, wo Freiheit entsteht. Freiheit für Ihr anders-denken und anders-sein. Wo Raum entsteht für unser Verschieden-Sein. Wo unser Verschieden-Sein nicht nur geduldet, sondern willkommen geheißen wird.

Unser Text handelt auch von der Rückkehr Gottes „nach Hause“. Sein zuhause ist im Alten Testament die Stadt Jerusalem: „….wie ER nach Zion zurückkehrt“. Übertragen bedeutet das die Rückkehr Gottes in mein Leben. Seine Rückkehr als Herrscher meines Lebens führt zur Entmachtung der Tyrannei meines allmächtigen und allwissenden Ichs. So ist der härteste Gegner Gottes nicht im außen bei den Anders- oder Un-Gläubigen zu suchen und zu finden, sondern im eigenen Inneren. Mein eigenes inneres Regime hat Gott ins Exil gezwungen.

Liebe Gemeinde,

Freude, Friede und Freiheit entstehen und geschehen in der Anerkennung des eigenen Allein-Seins auf dieser Welt. Ein Allein-Sein, das zwar einsam aussieht, sich aber nicht einsam anfühlt. Denn in diesem Allein-Sein wird der Messias geboren. Maria konnte vom Heiligen Geist nur so befruchtet werden, indem sie sich leer gemacht hat. Das bedeutet ihre Jungfräulichkeit: Gott als leeres Gefäß zur Verfügung zu stehen. Diese Leere mag unser Ich ganz und gar nicht. Je näher wir Gott „an uns heran lassen“, desto mehr lösen sich unsere vertrauten Denkmuster, mit denen unser Gehirn angefüllt ist, auf. Am Ende stehen wir mit leeren Händen da, befinden uns, wie der Heilige Johannes vom Kreuz immer wieder betont, in einer dunklen Nacht.

Weihnachten ist das Fest dieser dunklen Nacht.

ich wünsche uns allen einen vierten Adventssonntag voller Freude und ein gesegnetes Weihnachten angefüllt mit Frieden und Freiheit, in dem wir die Dunkelheit Gottes aushalten anstatt uns von blendenden Trugbildern verführen zu lassen. AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all‘ unsere menschliche Vernunft, und die Freude Gottes, die anmutiger ist als all‘ unsere Schönheit und die Freiheit Gottes, die ganzheitlicher ist als all‘ unser Streben nach Befreiung – bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN.

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Predigt über Lukas 8,1-8 am drittletzten Sonntag im Kirchenjahr in der Jakobuskirche in Pullach

Predigt über Lukas 18, 1-8 am drittletzten Sonntag im Kirchenjahr (10.11.2013)

 

Liebe Gemeinde,

 

drittletzter Sonntag“ weist auf Ende hin. Das Ende des Kirchenjahres steht unmittelbar bevor.

Das Zu-Ende-Gehen wird meist mit unangenehmen Gefühlen begleitet. Während „allem Anfang ein Zauber innewohnt“, scheint dem Ende eher Entzauberung, ja Ernüchterung inne zu wohnen.

 

Ende heißt ja auch: „das war’s – es kommt nichts mehr nach.“

 

Ende hat mit end-gültig zu tun. „Es ist vorbei!“

 

Der Sommer ist vorbei.

Die Schule ist vorbei.

Die Jugend ist vorbei.

Der Großteil meines Lebens ist vorbei.

Vorbei heißt – ich kann nichts mehr daran ändern.

Weder an dem Guten, noch an dem Schlechten.

Ich muss mich damit auseinander setzen, dass es so und nicht anders gewesen ist. Was heißt ich muss – ich muss gar nicht.

 

Wenn ich das nicht aushalte – wenn ich mich der Wirklichkeit meines gelebten und erlebten Lebens nicht stellen kann, werde ich davor ausweichen. Bleibt mir nichts anderes übrig, als die Wirklichkeit zurecht zu biegen. Sie mir schön oder wenigstens erträglich reden. Oder sie vergessen. „Glücklich ist, wer vergiss, was doch nicht z ändern ist.“ Operettenseligkeit mit einem Gläschen Sekt. „Ist doch alles nicht so schlimm!“

Oder: „Schwamm drüber!“ „Jetzt nach vorne blicken!“ Die Zukunft soll retten. Wie geht es weiter? Und wenn es nicht mehr weiter geht. Weil die Arbeitslosigkeit endgültig geworden ist, die Krankheit chronisch, das Alter unaufhaltsam?

 

Wenn dann die Schmerzen zu groß, die Verletzungen unerträglich sind, so habe ich keine Möglichkeit, der Wirklichkeit und Wahrheit dessen, was und wie es gewesen ins Auge zu blicken. Als Mahnmal bleiben namenlose körperliche Schmerzen über, die ihres Sinnes beraubt wurden. Die einzige Möglichkeit, die dann noch bleibt, ist, sich zu betäuben.

 

Was haben unsere heutigen Texte dazu zu sagen? Bekommen wir Nahrhaftes zu diesem unerfreulichen Thema? Oder billige Vertröstungen auf eine bessere Zukunft im Jenseits. Religion als Droge?

 

Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils.“ (Der Wochenspruch aus dem 2. Korintherbrief)

 

Für denjenigen, der die Gegenwart nicht aushält, ist der Wochenspruch blanker Sarkasmus. Was soll daran heil sein, wenn es mir schlecht geht? Wenn ich meinen ganzen Trost darauf richte, von einer besseren Zukunft zu träumen?

 

Paulus ist anderer Meinung. Das Ertragen-Lernen des Hier und Jetzt macht stark. Nicht die Flucht davor. „Der wichtigste Augenblick ist immer die Gegenwart“, sag Meister Eckehart.

 

Aber was ist: wenn die Gegenwart zuviel ist? Wenn sie unerträglich wird? Wenn man nur noch schreien könnte? Wenn man in der Nacht von entsetzlichen Albträumen gequält wird? Wenn man das Gefühl hat, nicht mehr schlafen zu können? Wenn die Zeit zerstört, der Raum vernichtet ist? Wenn es nur erstarrte, dunkle, kalte Ewigkeit gibt? Gepaart mit dröhnenden Schmerzen.

 

(Dann ist es Zynismus zu sagen: „Siehe, jetzt ist der Tag des Heils…“)

 

Das Problem ist die Unerreichbarkeit. Je mehr sich jemand zurück gezogen hat, desto unerreichbarer hat er sich gemacht. Für ihn bleiben auch so starke Sätze, wie: „Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn; ob wir also leben oder sterben, wir sind des Herrn…“ (Lesung: Röm14,7-9) hohle Formeln.

 

Menschen, die sich „unerreichbar“ gemacht haben, sind für ihre Mitmenschen nur schwer erträglich. Und je bedürftiger ich bin, je angewiesener ich darauf bin, den Anderen zu erreichen, desto unerträglicher ist es. Kinder wissen intuitiv, ohne wahrgenommen zu werden, können sie nicht überleben. Der Kampf darum, den anderen zu spüren, von ihm etwas zu „bekommen“ kann für Kinder ein Überlebenskampf sein. Kinder, die das Gefühl haben, ich kann meinen Papa, ich kann mein Mama nicht erreichen, kämpfen mit Gefühlen entsetzlicher Verzweiflung. Sie kämpfen ums seelische Überleben.-

 

Unser heutiger Predigttext handelt von einer Beziehung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass zwei unerreichbar füreinander sind. Der einzige Ausweg ist der Gedanke an Gewalt. Gewalt als letzter Ausweg dafür, dass der andere mich wahrnimmt. Leider auch heute noch gar nicht so selten. Unser Text ist ein Gleichnis aus dem Lukasevangelium, das Gleichnis vom ungerechten Richter oder – wie es auch heißt – von der bittenden Witwe:

 

1 Er sagte ihnen aber ein Gleichnis, dass sie allezeit beten und nicht nachlassen sollten. 2 Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen. 3 Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher. 4 Und er wollte lange nicht. Danach aber dachte er bei sich selbst: Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue, 5 will ich doch dieser Witwe, weil sie mir soviel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage. 6 Da sprach der Herr: Hört, was der ungerechte Richter sagt! 7 Sollte da Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er’s bei ihnen lange hinziehen? 8 Ich sage euch: er wird ihnen Recht schaffen in Kürze. Doch wenn der Menschensohn kommen wird, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden?“

 

Das sind alle beide keine sympathischen Typen, die uns in diesem Gleichnis vorgestellt werden. Auf der einen Seite eine Witwe, die wohl in aufdringlichster Weise dem Richter auflauert, ihn versucht zu nötigen, sich an keine Instanzen und an keinen Rahmen hält. Womöglich scheut sie nicht einmal davor zurück, dem Richter „eine zu scheuern“, wenn er nicht endlich tut, was sie erwartet. Es ist keine „bittende“ Witwe, sondern eine „stalkende“ Witwe, würde man heute sagen.

 

Auf der anderen Seite ein egozentrischer Richter, dem Gott und die Menschen gleichermaßen egal sind. Selbstgerecht um sich zu kreisen – das scheint alles zu sein, was ihn auszeichnet.

 

Beiden Menschen fehlt eine wesentliche Fähigkeit, über die allererst so etwas wie „Menschlichkeit“, „menschliche Wärme“ in die Welt kommt: die Fähigkeit, sich in den Anderen (hinein-)zufühlen. Der Richter interessiert sich überhaupt nicht für die Bedürfnisse der Anderen. Die Witwe auch nicht. Sie will nur eines: „ihr Recht bekommen“. „Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher!“

 

In beiden Menschen ist Raum zerstört. Es gibt keinen Denk-Raum, innerhalb dessen Verbindungen hergestellt werden können: kein Bemühen, die andere Seite zu verstehen, sich in den Anderen einzufühlen.

 

Nun verwendet Jesus dieses Gleichnis merkwürdigerweise nicht dafür, die Bedeutung der Wahrnehmung des Anderen, der Einfühlung in den Anderen herauszustellen. Vielmehr heißt es: „Jesus sagte ihnen ein Gleichnis darüber, dass sie allezeit beten und nicht nachlassen sollen.“

 

Werden wir also dazu aufgerufen, Gott zu nötigen, ihn zu bedrängen, ihm in den Ohren zu liegen? Dann wäre ja Gott so ähnlich wie der Richter. Der, wenn überhaupt, aus Angst Recht schafft.

 

Sollen wir so beten? Sollen wir zu Gott sagen, wenn du dich nicht endlich für mein Recht einsetzt, dann schlage ich dir ins Gesicht?

 

Wohl kaum.

 

Was sollen wir dann aus dem Gleichnis lernen? Es ist gesagt worden, dass die Witwe für die Armen und Benachteiligten steht, dass Lukas diese ermuntert, zu Gott zu schreien – und dass Gott sich gerade ihrer annimmt. Lukas – der Evangelist der Armen. Diese Deutung mag historisch korrekt sein – aber berührt sie uns Heutige? Hier, im reichen Pullach?

 

Mich berührt sie jedenfalls nicht. Und es ist ganz sicher kein Gleichnis, das mich dazu bewegt, meine Praxis des Betens zu überprüfen. Es schreckt mich eher ab. Und ich kann die Stimmen gut verstehen, die sagen, dass man daran sieht, wie veraltet das NT ist.

 

Mich ärgert es übrigens auch, wenn ich genötigt werden soll. Ich kann auch gegenüber der Witwe keine Sympathie empfinden. So wenig, wie ich Sympathie empfinden kann, wenn mich jemand mit dem Kauf eines Zeitungsabonnements bedrängt oder jemand Sturm läutet, um mir zu sagen, dass er/sie Hunger habe, aber mich ganz böse anschaut, wenn ich dann etwas zu essen anbiete – und kein Geld.

 

Auf der anderen Seite ist es keine Frage, dass das (zu) große Gefälle zwischen arm und reich auf Dauer katastrophal ist, und zwar nicht nur für die Armen, sondern genauso für – uns: die Reichen.

 

Aber darum geht es jetzt nicht. Die große Frage ist: wie geschieht Veränderung. wie kann es gehen, dass jemand seine verhärteten Positionen, seine Vorurteile über sich und die Anderen in Frage stellt, dass jemand beginnt, sich in den Anderen, in das „Fremde“ einzufühlen?

 

Jesu Vorschlag lautet: über unablässiges Beten. Dasselbe rät Paulus den Thessalonikern: „Betet ohne Unterlass!“ (1. Thess. 5,17) Aber wie soll das gehen? Soll die Witwe beten: Lieber Gott mach’, dass der ungerechte Richter mir endlich recht gibt? Oder der Richter: Lieber Gott, befreie mich von der Witwe, mach dass sie verschwindet – wie, ist mir egal? Dies ist ein Missbrauch des Gebets. Eine Verwendung des Gebets, das noch einmal betoniert, dass es kein Verständnis für den Anderen gibt.

 

Dies kann Jesus schwer gemeint haben. Wenn man sich seine Gebete anschaut, dann handeln die vom Loslassen. „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe…“ Und der Beter will nicht Gerechtigkeit, sondern er betet um Vergebung: „wie ich vergebe meinen Schuldigern…“

In solchen Gedanken, in solchen Gebeten geschieht „Heil“. Das heißt: wird etwas „heil“, etwas, was zerbrochen war, wird „ganz“.

 

Betet ohne Unterlass“ heißt also: betet dafür, dass ihr lernt loszulassen davon, euch um euch selbst zu drehen. Wer sich um sich selbst dreht, der hält sich für den Mittelpunkt der Welt. Gleichzeitig – und das ist die Tragik dahinter – ist er blind für sich: er spürt sich nicht, kann sich selbst nicht wahrnehmen, kann sich auch selbst nicht berühren. Und wer sich selbst nicht berühren kann ist auch für andere unberührbar geworden.

 

So sind der Richter und die Witwe Repräsentanten von sehr, sehr einsamen Menschen. Die in der Tiefe ihrem Hass auf das Leben ausgeliefert sind. Und den Anderen als Bestätigung dafür verwenden, dass ihr Hass in jedem Fall berechtigt ist.

 

Das Einzige, was ihnen helfen könnte, ist die Fähigkeit, sich selbst, das eigene Denken in Frage zu stellen. Sich selbst zu relativieren. Und genau dazu sind sie nicht in der Lage. Sie wollen/müssen an ihrem Hass festhalten – er scheint das einzig Verlässliche zu sein. Das ist ja der große Vorteil des Hasses: dass er Trennung unmöglich macht. Der Richter und die Witwe sind im Hass untrennbar aneinander gebunden. Solche Beziehungen sind die Hölle auf Erden. Aber noch schlimmer scheint die Vorstellung der Trennung, des Loslassens zu sein. Das muss man hinzu nehmen, um zu verstehen, weshalb Menschen sich in grausamsten Beziehungen aufhalten.

 

Von daher kann ich das Gleichnis nur so verstehen: betet ohne Unterlass, damit ihr nicht in einer derartigen Hassbeziehung erstarrt, wie es zwischen Richter und Witwe geschehen ist. Dazu gehört dann auch das vorhin gehörte Evangelium: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch!“ Oder auch: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch!“

 

Das Reich Gottes geschieht da, wo Menschen loslassen können von ihrem Hass und lernen, die Wirklichkeit anzunehmen. Es ist ein Problem der Wahrnehmung des Anderen und der Einfühlung in den Anderen. Den Anderen kann „Ich“ erst wahrnehmen, wenn ich irgendwie mich von mir selbst distanzieren kann. Wenn ich den Anderen nicht mehr dafür brauche, meinen Hass und all das Andere Unangenehme, das ich in mir habe, aber bei mir nicht wahr haben will, beim Anderen unter zu bringen.

 

Ganz konkret heißt das: immer wenn der Ärger über den Anderen in mir hoch kochen will, bete ich: „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner!“ Oder auch: „Erbarme dich seiner!“ Damit nehme ich meinem Hass die Spitze.

 

Oder wenn ich meinen Hass auf mein Alt-Werden spüre und meinen Neid auf die Jugend. „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner!“

 

Sie werden sehen – es funktioniert. Aber es funktioniert natürlich nur, wenn ich mich von meinem Hass distanzieren will. Solange ich ihn liebe, gibt es gar kein „Dran-Denken“, meinen Hass zu verwandeln. Im Gegenteil: es macht ja auch noch heftige Lust- und Triumphgefühle, dem Anderen eine reinwürgen zu können. Es ihm mal so richtig zeigen zu können, „wo der Bartl den Most holt!“

 

Anstatt diese Gefühle auszuleben – ihnen Einhalt zu gebieten; anstatt über den Anderen zu triumphieren „unablässig zu beten“: erscheint als ziemlich dämlich.

 

Aber ein paar so Dämliche findet man immer wieder. Meister Eckehart gehört dazu. „Die wichtigste Zeit ist der Augenblick.“ Und es heißt weiter: „Und der wichtigste Mensch ist der, der dir gerade gegenübersteht. Und das notwendigste Werk, das stets zu üben ist, ist – zu lieben.“

Wobei „lieben“ nicht heißt, dem Anderen (oder sich selbst) alles durchgehen zu lassen und so zu tun, als wäre nichts. Lieben heißt zunächst einmal: ich nehme wahr, ich nehme ernst, ich bin aufmerksam: für das was in mir vorgeht und für das, was ich beim Anderen beobachte. Und wenn ich wahrnehme, dass dies etwas Destruktives ist, dass ein Missbrauch geschieht, dann heißt „lieben“: Einhalt gebieten, Grenzen ziehen. Es kann ein Akt erkennender Liebe sein, sich zu trennen. Wissend: ich tue mir selbst und dem Anderen nichts Gutes, zu allem Ja und Amen zu sagen.

 

Dass wir in diesem Sinne lieben lernen, dass wir immer tiefer in diese Haltung wahrnehmender Liebe fallen und aus ihr heraus unser Alltag sich gestaltet – darum lasst uns wirklich beten – ohne Unterlass, AMEN.

Predigt über Lukas 8,1-8 am drittletzten Sonntag im Kirchenjahr in der Jakobuskirche in Pullach Read More »

Predigt am 23. Sonntag nach Trinitatis in der Petruskirche über Mt. 5, 33-37

Predigt am 23. Sonntag nach Trinitatis in der Petruskirche über Mt. 5, 33-37

(3. November 2013)

Die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

Klarheit beruhigt. Sie ordnet ein. In ihr entstehen gute, dem Leben dienende Verbindungen: „Gebt dem Kaiser, was ihm zusteht, gebt Gott, was diesem zusteht.“

So einfach ist das.

Bis heute. Nur anstelle von Kaiser sagen wir heute: „Staat“. Gib dem Staat, was ihm zusteht und gib Gott, was Gott zusteht.

Bleiben wir kurz bei dem ersten Satz: gib dem Staat, was ihm zusteht. Das, was dem Staat zusteht, nennen wir „Steuer“. Die ursprüngliche Bedeutung von „Steuer“ ist laut Duden: „Stütze, Unterstützung, Steuerruder.“ Also eine Vorrichtung, die das „Rudern“ in eine bestimmte Richtung unterstützt. Die vermeidet, plan- und orientierungslos „herum zu dümpeln“ – um eine weiteres Bild aus dem Bereich Schifffahrt zu verwenden. Indem wir unsere Steuern bezahlen, unterstützen wir unseren Staat. Und indem wir dies tun, unterstützen wir letztlich uns selbst und zwar als soziale Gemeinschaft. „Wir sind der Staat!“

Wer Steuern hinterzieht, betrügt an der Oberfläche die Gemeinschaft; in der Tiefe betrügt er sich selbst. Bekannte Ausreden, wie: „Ich sehe nicht ein, dass ich einem Staat, der dies und jenes macht oder unterlässt, mein Geld gebe…“ oder: „Sollen doch die da oben erst einmal anfangen, sich an Ordnungen zu halten…“ sind kindisch. Wer so denkt, weigert sich, Verantwortung zu übernehmen.

Zum zweiten Satz: „Gib Gott, was Gottes ist“. „Was ist Gottes“? Was steht ihm zu. Welche „Steuer“, welche „Unterstützung“?

Darauf gibt es natürlich vielfältige Antworten. Mit einer Antwort haben wir uns heute näher zu beschäftigen: sie steht im heutigen Predigttext, aufgezeichnet bei Matthäus Kapitel 5, Vers 33 bis 37:

33 Ihr habt weiter gehört, dass zu den Alten gesagt ist (3. Mose 19,12; 4. Mose 30,3): ‚Du sollst keinen falschen Eid schwören und sollst dem Herrn deinen Eid halten.’ 34 Ich aber sage euch, dass ihr überhaupt nicht schwören sollt, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Thron; 35 noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße; noch bei Jerusalem, denn sie ist die Stadt des großen Königs, 36 Auch sollst du nicht bei deinem Haupt schwören; denn du vermagst nicht ein einziges Haar weiß oder schwarz zu machen. 37 Eure Rede sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.“

Die Antwort Jesu auf die Frage: „Was ist Gottes, was steht ihm zu?“ ist also eine radikal negative: nichts von dem, auf das du dir etwas einbildest, auf das du stolz bist, nichts von deiner Eitelkeit erfreut Gott. Hier kommt unser Wochenspruch ins Spiel, der auf das radikale „Anders-Sein“ Gottes abhebt: „Dem König aller Könige und dem Herrn aller Herrn, der allein Unsterblichkeit hat, dem sei Ehre und ewige Macht.“ (1. Tim. 6, 15f.)

Bei diesem „König aller Könige“ zu schwören ist schlicht – unmöglich. Gott zu geben, was Gottes ist, bedeutet: sein radikales Anders-Sein zu ertragen und nicht zu versuchen, es in unsere eigenen, selbstgestrickten Machenschaften hinein zu verwickeln. Abgesehen davon, dass wir es gar nicht können: es steht uns Menschen auch nicht zu, der Ehrlichkeit unserer Rede durch einen Schwur bei Gott zusätzliches Gewicht zu verleihen. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen“, soll Martin Luther seinem Kaiser auf dem Reichstag zu Worms gesagt haben. Das ist ebenso klar wie bescheiden. Nicht: „ich schwöre bei Gott, dass meine Rechtfertigungslehre richtig ist“ – nein: „ich kann nicht anders – Gott helfe mir…“ Das ist nahe bei: „In deine Hände befehle ich meinen Geist…“

Noch tiefsinniger hat es Rabbi Michal von Zlotschow in einer chassidischen Geschichte ausgedrückt. Er deutet eine Stelle aus dem 5. Buch Mose, wo Moses sagt: „Ich stand zwischen IHM, den Herrn und euch…“ (um die 10 Gebote zu empfangen) so um: „Nur das Ich, das Empfinden des eigenen Ich, ist die Scheidewand zwischen uns und Gott. Denn Gottes Herrlichkeit ruht nur auf demjenigen, der sich für nichts hält. Das Wort ‚Ich’ darf Gott allein sagen.“ (Bloch S. 75)

Das ist (nicht nur) für unsere Zeit und unsere Gesellschaft schwer erträglich. „Unter’m Strich zähl ich“, heißt der Slogan einer großen Bank. Damit wird ein Lebensgefühl ausgedrückt. Unser Lebensgefühl. Und stimmt es nicht wirklich: brauchen wir nicht ein starkes Ich, das Verantwortung tragen, das sich hinstellen kann. „Hier stehe ich…“

Keine Frage: Ein spirituelles Ich ist ein starkes Ich. Denn nur ein starkes Ich kann sich loslassen. Nur ein starkes Ich ist ein Ich, das sich selbst nicht in den Mittelpunkt stellen muss. Es ist gerade nicht ego-zentrisch. Es kreist gerade nicht um sich. Es weiß sich vielmehr als Teil eines größeren Ganzen. Und darin weiß es um seine Grenzen. Wir können zwar Haare färben – aber wir können nicht ein einziges weißes Haar in ein schwarzes Haar verwandeln. Der Slogan eines spirituellen Ich lautet: „Unter’m Strich zählt – es“ Es – das ist im jüdischen Glauben ER, der unerkennbare Gott, es, das ist im Zen-Buddhismus die Kraft des „es ist nichts“.

Ein starkes Ich ist ein demütiges Ich. Es weiß, wie wenig es wirklich weiß. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, hat einer der großen Denker, Sokrates, am Ende seines Lebens bekannt. Ein starkes Ich hält sein eigenes Unwissen aus und versinkt darob nicht in Depression. Im Gegenteil: indem es lernt, sich zurück zu stellen, Rück-Sicht zu nehmen, gelangt es zu einer inneren Ruhe, die es vorher nicht kannte. Alte, wohl-vertraute Hektik und Getriebenheit lösen sich „in Nichts“ auf: die Zeiten, in denen „Ich mich selbst beweisen musste“ verlieren an Bedeutung.

Heitere Gelassenheit beginnt zu wachsen. Dies alles geht freilich nicht so schnell und einfach, wie ich das hier im Zeitraffer zusammenfasse. Es ist ein langer Entwicklungsprozess der – wenn wir Glück haben und Gott uns gnädig ist – zu einer Weisheit des Alters führt, die dann in Sätze münden kann, wie der von Herrmann Hesse: „Je älter ich werde, desto mehr freue ich mich.“ Oder der von Johann Heermann: „… vor Sünd’ und Schanden mich bewahr, dass ich mit Ehren trag all’ meine grauen Haar.“

Zu schwören ist Ausdruck von Unsicherheit. Im Schwur wird nicht „der Wahrheit die Ehre gegeben“; stattdessen wird die Wahrheit an ein „beteuerndes Ich“ gefesselt. Schwören ist Ausdruck von „so glaube mir doch!“ – und nicht: „lass uns gemeinsam unsere Knie vor der Wahrheit beugen“. Das Schwören versucht den Anderen zu meinen Beteuerungen „herüber zu ziehen“. Dies aber ist Ausdruck eines schwachen Ich, das sich nach „Verschmelzung“ sehnt.

Gier, Geiz, Neid und die dazugehörigen Beteuerungen und Schwüre, dass alles ganz anders war, niemand abgehört worden ist, und wenn, dann dies ein großes Versehen war … all’ dies sind Ausdrücke eines schwachen Ich. Ein schwaches Ich ist ein ängstliches Ich, das sich von seiner Umgebung bedroht fühlt.

Ein schwaches Ich denkt in Misstrauen, Angst und Kontrolle, ein starkes Ich denkt in Vertrauen und Sicherheit.

Nun ist es auch eine Täuschung zu meinen, Misstrauen und Angst ließen sich so überwinden, dass es sie nicht mehr gibt. Misstrauen, Angst, Kontrollstreben und die daraus sich ergebenden Strebungen von Neid, Gier und Egozentrik gehören zum Leben dazu. Sie haben mit unserer Triebnatur, unserem Leben und Überleben-Wollen zu tun. Die Geschichte ist voll von Schwüren und Ehrenwörtern, die nicht der Wahrheit entsprachen. Dahinter steht ein Ich, das der Wahrheit ausweicht. Es bedarf eines starken Ich, um der Wahrheit gewachsen zu sein. Ein schwaches Ich kommt um vor Schuld und Scham, wenn „die Wahrheit ans Licht“ kommt.

Wir haben vorhin gesagt: Klarheit beruhigt. „Gebt dem Staat, was des Staates ist, gebt Gott, was Gottes ist.“

Jetzt haben wir auch eine Ahnung davon bekommen, wie beunruhigend das ist, was hinter dem Satz: „Gebt Gott, was Gottes ist“, steckt.

Es bedeutet das Loslassen unserer vertrauten Muster und Gewohnheiten. Es bedeutet das Loslassen von einem Ich, das in der Täuschung lebt, es hätte alles im Griff, könnte das eigene Leben kontrollieren und das der Mitmenschen auch noch.

Von wegen! Was wir als Katastrophe erleben, was unser Ich als Katastrophe erlebt, ist ja nichts anderes als die Anerkenntnis, dass etwas geschehen ist, mit dem „ich“ überhaupt nicht gerechnet habe. Das mir vor Augen führt: Unterm Strich zählt, was ich zu erleben habe. Ob es meinem Ich gefällt oder nicht.

Das Gesagte gilt natürlich auch und gerade für uns, die wir Kirchgänger sind.

Die große Frage ist: mit welcher Haltung besucht mein Ich den Gottesdienst?

Hierzu gibt es eine kleine Geschichte von Baalschem – dem Gründer der chassidischen Bewegung:

Der Baalschem blieb einst an der Schwelle eines Bethauses stehen und weigerte sich, es zu betreten. ‚Ich kann nicht hinein’, sagte er. ‚Es ist ja von Wand zu Wand und vom Boden bis zur Decke übervoll der Lehre und des Gebets, wo wäre da noch Raum für mich?’ Und als merkte, dass die Umstehenden ihn anstarrten, ohne ihn zu verstehen, fügte er hinzu: ‚Die Worte, die über die Lippen der Lehrer und Beter gehen, kommen nicht aus einem auf den Himmel ausgerichteten Herzen, steigen nicht zur Höhe auf, sondern füllen das Haus von Wand zu Wand und vom Boden zur Decke.’“

Gebt Gott was Gottes ist:

Ein auf den Himmel gerichtetes Herz, Füße, die sich vom Boden der Wirklichkeit tragen lassen, Knie, die sich vor der zu erlebenden Wahrheit beugen, in Ehren getragene graue Haare und ein Ich, das dafür Sorge trägt, dass dies alles in guter Gemeinschaft geschieht, AMEN.

Und die Liebe Gottes, die höher ist als unser menschliches Reden und Denken bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN.

Predigt am 23. Sonntag nach Trinitatis in der Petruskirche über Mt. 5, 33-37 Read More »

Predigt über Johannes 4,19-26 am Israelsonntag 2013 in der Apostelkirche in Solln

Predigt über Johannes 4, 19-26 am Israelsonntag 2013 in der Apostelkirche Solln

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und Christus Jesus unserem Herrn, AMEN.

„Meine Lieben, es tut mir leid dies sagen zu müssen, aber niemand hat bis jetzt begriffen, dass Ödipus nicht von der Aufdeckung der Wahrheit, sondern von ihrer Vertuschung handelt. Alle wissen von Anfang, wer Ödipus ist, und alle verschließen sich davor. Genau wie bei Watergate. Genau wie durch die ganze Geschichte hindurch – die Lüge ist es, worauf sich die Gesellschaften gründen.“

Dieses außergewöhnliche Zitat, liebe Gemeinde, möchte ich meiner heutigen Predigt am Israelsonntag 2013 voranstellen. Es stammt aus dem Jahr 1974, von einem nicht sehr bekannten Theaterdirektor namens Pilikian.

Und ich möchte dieses Zitat gegenüberstellen, einem anderen außergewöhnlichen Zitat, das zugleich den Höhepunkt des heutigen Predigttextes bildet: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ Es stammt aus dem Jahr 110 n. Chr. (ungefähr) von einem weltberühmten Religionsgründer, namens Jesus (aus Nazareth).

Und ich möchte eine Verbindung zwischen den beiden Zitaten herstellen: weder Gott noch die Wahrheit bedürfen der Überzeugungsarbeit, oder gar der Mission. Sie gelten aus sich heraus. Ihre Existenz gilt unabhängig davon, ob irgend jemand Interesse daran hat, sie zu erkennen. Die Täuschung und Lüge hingegen leben vom Subjekt des Lügners: ohne ihn zerfallen sie zu Staub.

Das heißt: während der Lügner sein Subjekt in den Mittelpunkt stellt, stellt sich Wahrheit von selbst dar. Oder anders: Wahrheit kann – bestenfalls –  gefunden werden, sie ist gewissermaßen immer schon „da“. Lüge hingegen wird gemacht, erzeugt, hergestellt. Der Lügner verfolgt mit seiner Lüge eine (verborgene) Absicht.  Er hält nicht aus, dass „die Wahrheit (von selbst) ans Licht kommt“. Ego-Zentrik ist die gegenläufige Bewegung zum Suchen von Wahrheit.

Nun hat Freud zurecht darauf hingewiesen, dass der Mythos von Ödipus Ausdruck menschlich-seelischer Entwicklung schlechthin ist. Er drückt den mächtigen Drang aus, sich nicht an Grenzen zu halten: da sind zunächst einmal die Eltern, die aus Angst und Panik ihr eigenes Babys dem Tode preis geben, anstatt es zu pflegen und um es sich zu kümmern. Aus diesem Baby wird ein Mann, der keine Ahnung hat, wer er ist. Er ist in Täuschung aufgewachsen, da seine Adoptiveltern ihm in bester Absicht „weiß machten“, sie seien seine wirklichen Eltern. So nicht auf das Leben vorbereitet, durchbricht der junge erwachsene Ödipus alle Grenzen, ermordet seinen Vater, heiratet seine Mutter. So dringt der bei seiner Geburt gewaltsam Ausgeschlossene ebenso gewaltsam in die Beziehung seiner wirklichen Eltern ein, setzt sich selbst gewaltsam an die Stelle des Vaters.

Der heutige Israelsonntag ist ein Gedenktag: indem wir des Leidens gedenken, das dem Volk Israel (gerade auch von Christen) zugefügt worden ist, können wir auch bedenken, dass dieses Leiden viel damit zu tun hat, dass Menschen nicht in der Lage waren (und sind), das Sein des Anderen, seine Beziehung zu Gott und der Wahrheit zu achten und zu respektieren. An die Stelle der gemeinsamen Für-Sorge und der gemeinsamen Suche nach Wahrheit, nach Gott tritt ein gewaltsames „entweder du oder ich“. Dahinter steht Verunsicherung. Solange ich panische Angst davor habe, die freie Entwicklung des Anderen wird mich vernichten (und eben dies hatte das Orakel den Eltern von Ödipus vorhergesagt) bin ich gezwungen, in entweder-du-oder-ich zu denken. Entweder du oder ich bedeutet: es darf nichts zwischen dir und mir sein, entweder ich verschmelze mit dir, oder du mit mir. Entweder du bemächtigst dich meiner, oder ich bemächtige mich deiner. Ein Drittes gibt es nicht – genauer: das Dritte ist vernichtet!

Unsere christliche Religion eignet sich sehr gut für diese Art von Bemächtigung über Andersdenkende, da wir ja der Überzeugung sind, unser Jesus ist wirklich Gottes Sohn. In ihm – und in niemand anderem – ist Gott Mensch geworden. Unser heutiger Predigttext aus dem Johannesevangelium eignet sich ausgezeichnet, darüber nachzudenken, was das eigentlich bedeutet: wir bekennen in Jesus den Messias.

Der Text ist ein Ausschnitt aus der Begegnung Jesu mit einer Samariterin, die sich an einem Brunnen (dem Jakobs-Brunnen) ereignet, wo Jesus, „müde von der Reise“, rastet, während seine Jünger in die Stadt gegangen sind, um Essen zu besorgen. Jesus bittet die Frau, ihm zu trinken zu geben, worüber sich diese sehr wundert, da üblicherweise ein Jude mit Samaritern nichts zu tun haben wollte. Jesus antwortet der erstaunten Frau: „Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir sagt: gib mir zu trinken!, du bätest ihn und er gäbe dir lebendiges Wasser“ (4,10).

Hier ist die erste Gefahr für Täuschung. Der, der „lebendiges Wasser“ geben kann, muss eine Verwandlung durchlebt haben, ansonsten bleiben wir in einem gefährlich konkreten Denken stecken. Ansonsten entsteht das üble Argument: Die Juden waren zu dumm, um zu erkennen, dass der Messias unter ihnen ist.  Noch schlimmer: aus diesem Konkretismus heraus entsteht die unselige Idee, selber als Stellvertreter dieses allmächtigen Messias hier schalten und walten zu können. Dies ist eine Verblendung, unter der die Kirche leidet, seit es sie gibt. Wenn das Zentrum unser christlichen Religion lautet: „Gott ist Mensch geworden“, so heißt das keineswegs: „Wir sind Gott!“  Unsere Aufgabe ist es vielmehr, Menschen zu werden, für die das Adjektiv „menschlich“ oder „human“ eine Aussagekraft hat, die in Richtung Erhaltung, Bewahrung, Zusammenarbeit und Liebe geht, und nicht in Richtung Überheblichkeit und Zerstörung.

Und diese Zusammenarbeit gilt natürlich ganz besonders innerhalb der verschiedenen Konfessionen.

Doch schauen wir, wie sich das Gespräch am Brunnen weiter entwickelt:
„Die Frau spricht zu ihm: Herr, ich sehe, du bist ein Prophet“ (In Klammer: Jesus hatte ihr auf den Kopf zu gesagt, dass sie in moralisch fragwürdigen Beziehungen mit Männern lebte und lebt, was die Frau offenbar beeindruckte.) „Unsere Väter haben (Gott) auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten soll. Jesus spricht zu ihr: Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Ihr wisst nicht, was ihr anbetet; wir wissen aber, was wir anbeten; denn das Heil kommt von den Juden. Aber es kommt die Zeit und ist schon jetzt, in der die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“

Bemerkenswert am Verlauf dieses Gespräches ist die Bewegung vom Konkreten hin zu etwas „Geistig-Mentalem“. Es ist ein nutzloser Streit, ob Gott auf einem Berg oder in Jerusalem angebetet werden will – viel wichtiger ist die Haltung, in der das Gebet geschieht: im Geist und in der Wahrheit!

Es ist ein nutzloser Streit, ob Jesus „der Messias“ ist, ob Mohammed der einzige wahrhafte Prophet Gottes ist, oder ob der Messias erst kommen wird. Es ist natürlich auch ein gefährlicher Satz, zu sagen: „das Heil kommt von den Juden“. Das „Heil“ kommt von den Juden und von den Christen, von den Moslems und den Hindus, von den Buddhisten und den Taoisten, von den Inkas und den Indianern … das Heil kommt von den Menschen, denen es nicht mehr wichtig ist, ob von ihnen das Heil kommt. Denen es allein um eine Haltung geht, um eine Gebets-Haltung, die in unserem Text so genannt wird: Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.

Und da wir allesamt Menschen sind, die mit einer konkreten Sprache in einer konkreten Kultur aufgewachsen sind, drücken wir diese Gebets-Haltung in unserer Mutter-Sprache aus. Das ist völlig in Ordnung, solange wir dies im Respekt und in der Achtung für die Fülle der Verschiedenheit der religiösen Muttersprachen tun.

In dieser Haltung  und nur in dieser Haltung kann ich das Ende unseres Textes lesen: „Spricht die Frau zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn dieser kommt, wird er uns alles verkündigen.“ Jesus spricht zu ihr: Ich bin’s, der mit dir redet.“ Natürlich ist dieses „Ich bin’s“ eine Anspielung auf die berühmte Offenbarung Jahwes im Dornbusch: „Ich bin, der ich bin.“ Natürlich öffnet diese Stelle alle Schleusen für Grandiosität, Überheblichkeit und Allmacht. Aber nur solange, wie wir hierfür verführbar sind. Wenn wir mit unserem Messias gehen und seine Worte wirklich ernst nehmen, dann müssen wir auch ihn selbst hineinverwandeln, „hineinbilden“ in den Satz: „Gott ist Geist und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ Wenn wir an diesem Jesus aus Fleisch und Blut festhalten als wäre das unser Besitz, unsere Geheimkampfwaffe, mit der wir unseren Brüdern und Schwestern im Glauben überlegen sind, die uns unbesiegbar macht, haben wir gerade die Botschaft dieses Jesus aus Nazareth verfehlt. Nicht Gewalt, nicht Überheblichkeit ist das Zentrum seiner Rede, sondern die Bereitschaft, sich der Wahrheit dessen, was ist, hinzugeben. Und dazu bedarf es einer Fähigkeit, von deren Bedeutung nahezu jede Geschichte über Jesus und seine Predigten handeln: die Fähigkeit zur Liebe zum Anderen, zu dem mir Fremden. Es bedarf dieser Liebe, um den Schmerz zu ertragen, in der eigenen Wahrheit des So-Seins und So-geworden-Seins gesehen zu werden. In dieser Liebe geschieht echte Verwandlung, die immer auch schmerzhaft und traurig ist.
Und in dieser Liebe wird mir die Kraft geschenkt, meinen Nächsten in seinem So-Sein zu wahrzunehmen und zu respektieren.

In der Geschichte von Ödipus fehlt die Kraft der Liebe. Es ist nicht Liebe, aus der heraus er seine Mutter heiratet, sondern der Lohn seiner Intelligenz, mit der er das Rätsel der Sphinx löste. Tragische Ironie: Abstakt weiß Ödipus, wer der Mensch ist – auf sich und sein Leben angewandt, hat er keine Ahnung davon.

Liebe Gemeinde,

es ist die Kraft der Liebe, die diesen konkreten Jesus in einen „Christus des Glaubens“ verwandelt. Gerade die Liebe zum Anders-Sein des Anderen schenkt mir die Kraft des Loslassens von meiner und seiner Konkretheit, von dem, wie der Andere für mich sein muss, womit er mich befriedigen muss. Erst über die Liebe entsteht Raum zwischen mir und dem Anderen, kann ich mich von meinem Entweder-du-oder-ich-Denken lösen. Diese Lösung, dieses Loslassen, fühlt sich an wie ein Sterben. Und es stimmt auch: Jesus muss sterben dürfen, damit ein Christus aufersteht, der als Geist (bei Johannes ist das der „Tröster“) unter uns wirkt. Und dieser Geist ist ein Frei-Geist („er weht, wo er will“), der sich mit all den Menschen verbindet und verbündet, die sich ernsthaft und liebevoll um Wahrhaftigkeit bemühen und die heftigen Gefühle von Verwirrung und Sterben ertragen. Für diesen „Geist der Wahrheit“ ist die Konfessionalität eines Menschen von untergeordneter Bedeutung. Die Gegenbewegung zu diesem Geschehen ist unsere Angst: es ist nackte Panik, geschürt durch das Orakel, die Ödipus’ Eltern dazu verführt, ihn auszusetzen. Es ist nackte Panik, aus der heraus die berühmte „self fullfilling prophecy” ihre Kraft bezieht. Es ist nackte Panik, aus der heraus ich dem Anderen meine Anschauungen aufzwinge oder mich nötigen lasse, ihm gleich zu werden.

Ich bin im übrigen überzeugt davon, dass wir am Ende unseres Lebens nicht von Gott gefragt werden, welcher Religionsgemeinschaft wir angehörten, sondern: ob wir ein Leben geführt haben, das dem Prädikat entspricht, wozu wir als Lebewesen geschaffen und bestimmt sind: ob wir Menschen waren, die versucht haben, Menschlichkeit – lateinisch: Humanität in diese Welt zu bringen. Und dazu gehört eine Ahnung davon, wer ich bin und wozu der liebe Gott mich in diese große Welt hineingestellt hat. AMEN.

Und die Liebe Gottes, die höher ist als all’ unser menschliches Denken  und Predigen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn, AMEN.

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Predigt an Trinitatis 2013 über 4. Buch Mose, 6, 22-27

“Mein Freund, die Kunst ist alt und neu.
Es war die Art zu allen Zeiten,
Durch Drei und Eins und Eins und Drei,
Irrtum statt Wahrheit zu verbreiten.
So schwätzt und lehrt man ungestört;
Wer will sich mit den Narrn befassen?
Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört,
Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.“

Mit diesen Mephisto in der Hexenküche in den Mund gelegten Worten macht sich Goethe über die christliche Trinitätslehre lustig.

Sind wir heute die „Narrn“, liebe Gemeinde, die an diesem Sonntag „Trinitatis“ in die Kirche gehen und über „drei und eins“ klug schwätzen? Dass wir Worte aussprechen, ohne ihre Bedeutung zu verstehen?

Nun ist die Trinitätslehre in der Gemeindefrömmigkeit von untergeordneter Bedeutung – zwar werden die kommenden Sonntage bis zum Ende des Kirchenjahres „nach Trinitatis“ genannt, doch das Trinitatisfest als Fest findet wenig Zuspruch. Hinzu kommt: in der Bibel gibt es keine Trinitätslehre – sie ist ein von Theologen entwickeltes „Konstrukt“, um ein Kernproblem der christlichen Religion zu lösen: wie es sein kann, dass es in dem einen und einzigen Gott einen Anderen, einen „Sohn Gottes“ gibt. Durch diesen Gedanken war eine bis dahin unvorstellbare Zweiheit in Gott hineingekommen.

Nun ist eine Zweiheit stets eine unaufgelöste Spannung: fehlt die Idee von etwas Drittem, so führt die Zweiheit in die Ver-Zweiflung. Die Zwei ist nur denkbar von der Drei her. Von der Drei her entsteht „Raum“ – für die Zwei oder für die „Beiden“. In der Zwei selbst gibt es nur „entweder – oder“, links oder rechts, gut oder böse, schwarz oder weiß. In der Zwei selbst gibt es keine Perspektive: die zwei an sich ist flach.

Emotional ist die Zwei voller Turbulenzen, voller Zwei-fel auf der einen, voller Triumph auf der anderen Seite. In der Zwei herrscht Kampf: der Eine greift den Anderen an. Ich oder Du, das Eine gegen das Andere  ist das Motto des ver-zweifelten Kampfes. Versöhnung ist in der Zwei undenkbar: die Zwei ist hart, es geht um Macht, um oben oder unten, um Sieg oder Niederlage. Der Sieger ist der manisch Triumphierende, der Unterlegene der depressiv am Boden Liegende. Die Welt des Sportes ist eine Domäne der Zwei. (Stellen Sie sich vor, Borussia Dortmund und der FC Bayern hätten gestern Abend in einem konstruktiven Gespräch beschlossen, dass es keinen Sieger und keinen Verlierer gibt, und die Einnahmen werden für karitative Projekte in der dritten Welt verwendet. Wobei es auch bei einem Fußballspiel Denk-Ansätze in Richtung „drei“ gibt: z.B. in dem Wunsch, ein schönes Spiel zu sehen.)

„Trinitatis“ ist das Fest der Kraft des Dritten. Die Kraft des Dritten ist die Kraft des Wachstums, der Entwicklung, des Fruchtbar-Werdens, des „Kindes“. Das Dritte verbindet das Eine mit dem Anderen, und zwar so, dass es das Neue, das Dritte eben „zwischen“ dem Einen und dem Anderen ist. Im „Entweder – Oder“ kann kein „Drittes“ entstehen.

Die irdene Grundlage der Trinitätslehre ist die Beziehung Vater – Mutter – Kind. Ich meine jetzt nicht das Retortenbaby, sondern das aus der liebenden Vereinigung von Mann und Frau entstehende Kind. Das heißt in Theologie übersetzt: aus der liebenden Beziehung zwischen Gott als Vater und Gott als Sohn geht der Heilige Geist hervor; zugleich ist diese liebende Beziehung das „Werk“ des Heiligen Geistes. In ihm, dem „Dritten im Bunde“, geschieht die Ver-Söhnung zwischen den „Beiden“ und in dieser Ver-Söhnung sind wir, ist die ganze Welt mit eingeschlossen. „In Christus wurde diese Welt mit Gott versöhnt“. Ausdruck unseres Hinein-Bezogen-Seins ist die Ausgießung des Heiligen Geistes, jener dritten Person in Gott, die Augustinus als „vinculum caritatis“, als „Band der Liebe“ zwischen Vater und Sohn bezeichnet. Dies haben wir letzten Sonntag als Pfingstfest gefeiert. Heute an Trinitatis stehen wir staunend vor dem großen Bogen der heilsamen Entwicklung Gottes in diese unsere Welt hinein.

Unser heutiger Predigttext aus dem 4. Buch Mose benennt diesen Bogen, benennt unser Hineingenommen werden in diesen großen Wachstumsbogen des dreieinigen Gottes als „Segen“.

„ER redete zu Mosche, sprechend:
Rede zu Aharon und zu seinen Söhnen, sprechend:
So sollt ihr die Söhne Israels segnen:
Sprecht zu ihnen:
Segne dich ER und bewahre dich,
lichte ER sein Antlitz dir zu und sei dir günstig,
hebe ER sein Antlitz dir zu und setze dir Frieden.
Sie sollen meinen Namen auf die Söhne Israels setzen,
ich aber werde sie segnen.“  (Kapitel 6, 22-27)

„Segnen“ im Hebräischen bedeutet: „mit heilsamer Kraft ausstatten“, auch „loben, preisen, danken“. Auch „niederknien“.

Trinitatis ist also das Fest, in der „die heilsame Kraft“ des trinitarischen Gottes uns durchströmt: zu unserem eigenen wie zum Wohle unserer Mitmenschen.
Schauen wir uns an, wie diese „heilsame Kraft“ in den Segens-Worten ihren Ausdruck findet.

„Der Herr segne dich und behüte dich“ – wörtlich: „Segne dich ER und bewahre dich.“

ER. Nicht ICH segne dich. Es ist keine Ich-Du-Beziehung. Es ist eine „ER segnet“ Beziehung.
ER – das ist Personalpronomen der 3. Person.
Es ist die heilsame Kraft des Dritten, von dem hier die Rede ist. Nicht romantische Ich-Du-Verschmelzung, romantisches Schmachten nach der/dem fernen Geliebten. ER ist nüchtern. ER ist, der ER ist. ER ist die Wirklichkeit.

„ER behüte dich“: hebräisch samar: „bewachen, beobachten Acht haben, bewahren, sorgfältig tun, den Bund bewahren.“

Die heilsame Kraft des Segens fließt hinein in die Achtsamkeit für den Augenblick. Für das, was gerade „Not tut“. Achtsamkeit hat mit nüchterner Beob-„acht“ung zu tun: und der Fähigkeit, ernst zu nehmen, was ich sehe und wahrnehme. Ernst-Nehmen als Wahr-Nehmen bedeutet: „nichts machen“. Dem Impuls des Tuns zu widerstehen. Das ist das Schwierigste: ES geschehen lassen. „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.“ (Joh. 3,8) – haben wir vorhin im Evangelium gehört. Das Blasen des Windes, das Wehen des Geistes entzieht sich unserer Machbarkeitsfantasien. „Wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?“ (Jesaja 40,13) Indem wir alles loslassen, was uns Halt gibt: die Fragen nach Sinn, die Urteile und Bewertungen, die Welt des links oder rechts, die Welt der Zwei – tauchen wir in die Leere des Nichts hinein. Dieses Hineintauchen (Taufe!) ist unweigerlich verbunden mit höchst unangenehmen Gefühlen von Verwirrung (confusion) und Selbst-Auflösung. Dieser nicht ungefährliche Weg ist nur gehbar in einem Grundgefühl des Gehalten-Seins: eben jenes Segens, der „behütet“ und „bewahrt“.

„Der Herr lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig“ – wörtlich: „Lichte ER sein Antlitz dir zu und sei dir günstig.“

Das Lichten SEINES Antlitzes ist das Werk oder die Wirkung des „Sohnes“. Der Vater, hebräisch „aw“, „wohnt im Dunklen“ (siehe oben). Nur der Mystiker – wenn überhaupt – erträgt es, ihn zu sehen. Unser Johannisevangelium hat die Metapher des „Lichtes“ aufgegriffen und sie auf Jesus Christus bezogen: „Und das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.“  Die Finsternis hat es nicht ergriffen, die Finsternis kann das Licht nicht „erfassen“. Die Finsternis ist die Matrix, der Hintergrund, auf dem sich etwas „zeigt“, auf dem mir „ein Licht aufgeht“. Wieder: ES geht auf – nicht Ich zünde es an. Wir stellen uns gerne dieses Licht als leuchtende Fackel, als starken Scheinwerfer vor, der die Finsternis erhellt. Das ist wieder unser haus-gemachtes Licht: es erhellt nicht die Finsternis, es vertreibt die Finsternis. Das Licht des Segens ist ein Abglanz der Dunkelheit selbst: in ihm leuchtet die Dunkelheit aus sich heraus. Unseren Augen wird dieses Leuchten erst zugänglich, wenn sie sich an die Dunkelheit gewöhnt haben. Dann weiten sich die Pupillen und es wird sichtbar, was im hellen Licht der Sonne oder im grellen Schein der Scheinwerfer überblendet wird.

„… und sei dir günstig (gnädig)“

Wir kommen alle als Babys auf die Welt. Nicht wir sehen, sondern wir werden gesehen. Und irgendwann, um das dritte Lebensmonat, schauen wir zurück, erkennen wir das „Antlitz“ der Mutter, des Vaters, der Geschwister usw. Es ist nicht gesagt, dass dieses Antlitz uns „günstig“ zugeneigt ist. Das ist ein Geschenk. Wenn wir Pech haben, schauen wir in müde, oder gar tote Augen einer depressiven Mutter, die sich angesichts ihres Babys völlig überfordert fühlt. Wenn wir Pech haben, schauen wir in enttäuschte Augen, weil wir nicht der ersehnte Junge oder das ersehnte Mädchen sind, weil wir jemandem ähnlich sehen, der in die Familie abgelehnt wird. Wenn wir Pech haben, sehen wir nur selten Antlitze, bleiben uns selbst und unserer Einsamkeit überlassen. Wenn wir Pech haben, erblicken wir Augen voller Panik davor, ob das Baby überhaupt die Kraft hat zu leben  … Das Problem ist: wir können als Baby gar nicht anders als wahrnehmen, aufnehmen, in uns hinein lassen. Alles fließt in das Baby hinein, das Entwicklungsfördernde wie das Entwicklungshemmende, die Trauer der Mutter wie ihre Freude, der Streit der Eltern wie ihre Liebe. Und glücklich das Baby, das in die gegenseitige Liebe der Eltern hineinwachsen darf. Es bekommt einen unschätzbaren Rückhalt, genannt „Urvertrauen“ (Erikson) für sein ganzes Leben.

In dieser frühen Zeit entstehen die Grundgefühle, die emotionalen Basics unseres Lebens, aus denen heraus sich unser Unbewusstes bildet. Je älter wir werden, desto stärker „überblendet“ das helle Licht unseres Verstandes die dunklen Grundgefühle unserer Herkunft, die doch unser ganzes Leben so wirksam prägen.

„Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und schenke dir Frieden“ – wörtlich: „hebe ER sein Antlitz dir zu und setze dir Frieden.“

Das Problem ist, dass echtes Wahrgenommen-werden heftige Gefühle auslöst. Sie merken es schon bei der Begrüßung: es gibt Menschen, die vermeiden den Blick-Kontakt. Wahrgenommen-Werden bedeutet Gesehen-Werden. Und Gesehen-Werden ist gefährlich. Je schlechtere Erfahrungen wir in unserem Leben mit Gesehen-Werden gemacht haben, desto reflexhafter werden wir Situationen des Gesehen-Werdens vermeiden. Das Problem ist die Verlinkung von Gesehen-Werden mit Beschämt-Werden. Die dazu gehörigen Schamgefühle kreisen allesamt um ein Verschwinden-Wollen: „Ich könnte in den Boden versinken – so habe ich mich geschämt“. Ich vermute, die meisten von uns erinnern sich  mühelos an derartige Erlebnisse aus dem eigenen Leben.

In unserer Segensformel wird Gesehen-Werden verbunden mit „Frieden geschenkt bekommen“. Und das hebräische Wort für Frieden, „Schalom“ meint nicht nur den Frieden als Abwesenheit von Krieg, sondern einen Frieden als ein tiefes inneres und äußeres Wohlbefinden, ein Genug-haben und Genug-Sein. Der in diesem Frieden gesegnet lebende Mensch würde der berühmten Fee, die ihm sagt, er habe drei Wünsche frei, lächelnd antworten:

„Ich bin zufrieden.“

Und im selben Moment würden Stimmen in ihm auf den Plan treten, die ihn des Wahnsinns bezichtigen würden. Reichtum, Macht, Ansehen, Status, Einfluss: all’ dies, wofür und worum wir Menschen so kämpfen – wie kann jemand so blöd sein, darauf zu verzichten?

Und der in diesem Frieden Gesegnete würde antworten: „mir genügt das Geld, das ich verdiene, mir genügt die Macht, die es mir ermöglicht, mich an die Gebote und die Gesetze zu halten, mir genügt das Ansehen, das ich bei denen genieße, mit denen ich zusammen bin, mir genügt der Status, der mir ermöglicht, mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen, mir genügt der Einfluss, mit dem ich mein Leben zum Guten für mich und hoffentlich für meine Mitmenschen gestalten kann.“

Und die Stimmen würden sagen: Und was ist mit deinem Alt-Werden, mit deinen alltäglichen Schmerzen, mit deiner Müdigkeit und deinem Erschöpft-Sein? Du hättest dir wenigstens ewige Jugend wünschen können.

Und der in diesem Frieden Gesegnete würde antworten: „Ja, ich werde schneller müde als früher, mein Kräfte schwinden, mal zieht es da, mal dort. Na und? Es gibt kein Leben ohne Vergehen, Leben ist Wandel, ist Veränderung. Es wäre töricht, sich etwas zu wünschen, was dem Grundsatz des Lebens entgegen läuft. Das kann nur unglücklich machen!“

„Und noch eines“ würde der in diesem Frieden Gesegnete antworten:

„Friede und Freiheit und Freude und Freund gehören zusammen. Man kann es noch hören. Sie stammen alle von ein- und demselben Wortstamm ab. Die Verwechslung von Freiheit mit Maßlosigkeit, mit: ‚Ich mache jederzeit, was mir gefällt’, führt in die Sklaverei. (Diese Verwechslung ist freilich unvermeidlich auf dem Weg des Erwachsen-Werdens.)

Die freiwillige Rück-Bindung des Sohnes an den Vater ist eine Rückkehr (re-ligio) im Dienste des Wachstums und der Entwicklung. Es ist auch eine Wiedergutmachung, eine erneuernde Wieder-Herstellung („Restauration“) des Eingebettet-Seins in die liebevolle Beziehung zwischen Vater und Mutter, Gott-Vater und Gott-Sohn. Und in dieser Erneuerung geschieht ‚das neue Geboren-Werden aus Wasser und Geist’. Und so werden alle, die in diesem Vertrauen leben, zu Kindern der Liebe, umhüllt und gehalten von dem Segen des dreieinigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“

Gebe dieser dreieinige Gott, dass wir es wagen, uns als Kinder seiner Liebe zu fühlen, dass wir es wagen zu glauben, wir seien so erwünscht, wie wir sind, dass wir es wagen zu hoffen, dass das, was wir tun und was wir unterlassen und wie wir alltäglich versuchen zu leben und zu überleben:  – dass es genug sei! AMEN.

Predigt an Trinitatis 2013 über 4. Buch Mose, 6, 22-27 Read More »

Predigt über Matthäus 27,33-50 an Karfreitag 2013

Predigt am Karfreitag 2013 in der Petruskirche in Solln über Matthäus 27, 33-50

Liebe Gemeinde,

ich spüre Widerwillen.

Widerwillen gegen diese grausame Kreuzigungsgeschichte.
Es ist derselbe Widerwille, mit dem ich in der Zeitung über Grausamkeiten und Gewalt lese. Sei es im Kleinen, im Familiären, sei es im Großen, in einzelnen Staaten, in der Welt.

Was ist das mit der Gewalt?
Woher stammen diese Grausamkeiten?

Es ist anzuerkennen: die Fähigkeit, grausam zu sein ist eine Menschliche. Ein Lebewesen zu quälen, es an ein Kreuz zu nageln, wo es elendiglich verendet, ist eine menschliche Fähigkeit. Tiere töten um zu überleben. Im Tierreich gibt es nicht den Gedanken einer „Strafe“.

Vorsätzliche, bewusste Grausamkeit ist ein höchst intensives Beziehungsgeschehen. Sie hat damit zu tun, jemanden etwas „spüren“ zu lassen.
„Wer nicht hören will muss fühlen“ – steht schon im Struwwelpeter.
„Wen der Herr liebt, den züchtigt er“ – steht schon im Alten Testament.

Die Grausamkeit ist also ein von uns Menschen erfundenes Mittel, mit dem Anderen in eine bestimmte Art der Beziehung zu treten. In eine Beziehung, in der ich dem Anderen zeige: „So nicht!“ „Du musst dich ändern!“ Oder: „Du hast dein Leben verwirkt! Und jetzt lasse ich dich meinen Hass spüren.“

Wir müssen anerkennen, dass der Mann, dessen Gedanken uns so tief berühren, dessen Gebete wir nachsprechen, den wir als unseren Messias bekennen,-  wir müssen anerkennen, dass unser „Herr und Meister“ von und vor dieser Welt als Verbrecher verhaftet und mit dem Tode bestraft worden ist.

Sein angebliches Verbrechen war: sich als Gottes Sohn auszugeben. Wobei – hätte er es beim Predigen belassen, wäre ihm wohl eher nichts passiert. Aber als er nicht mehr nur predigte, sondern begann zu handeln, als er die Geschäftsleute aus dem Tempel hinaus warf: da wurde er zu einer echten Bedrohung. Es ist nicht gut, sich mit den herrschenden Wirtschaftsmächten anzulegen. Das gilt heute genauso wie damals:

Man macht sich nicht beliebt, wenn man gegen die Massentierhaltung predigt. Oder gegen die Ölbohrungen in der Arktis.
Oder gegen die Unterdrückung von Freiheit und Demokratie im Dienste wirtschaftlicher Interessen.
Oder gegen Tierversuche in der Kosmetikindustrie.

Man macht sich nicht beliebt, wenn man den Finger auf die Wunde legt, von deren Nicht-Heilung einige Wenige auf Kosten einer großen Mehrheit profitieren. Und noch weniger beliebt macht man sich, wenn man nicht nur predigt, sondern handelt. Stellen Sie sich vor, unsere Führer, Bischöfe und Kardinäle würden geschlossen dazu aufrufen, Unternehmen, die ihre Angestellten nachweislich abhören, ausbeuten und unterdrücken, zu boykottieren. Oder Firmen, die nachweislich unsere Umwelt gefährden. Oder  sie würden dazu auffordern, nur noch den Umweltbanken Geld zur Verfügung zu stellen. Und alle Christen würden sich geschlossen daran halten.

So weit – so gut. Dies alles ist wichtig. Und richtig. Und es bleibt im Außen. Ich möchte diesen Faden hier nicht weiter verfolgen. Ich wäre nur dankbar, wenn sich die christlich-religiösen Führungspersönlichkeiten bewusst machten, dass unser „Jesus“ nicht vom einfachen Volk, nicht von den Armen gekreuzigt wurde, sondern vom religiösen Establishment seiner Zeit in Zusammenarbeit mit der weltlichen Führungsmacht, den Römern. Und ein wesentlicher Grund für seine Hinrichtung war sicherlich, dass er sich mit den „Händlern“, also den wirtschaftlich Mächtigen anlegte.

Aber jetzt zu Wichtigerem: dem „inneren“ Erleben, der „inneren“ Bedeutung des Karfreitags. Dies erscheint mir deshalb als wichtiger, weil echte Veränderung im Inneren beginnt, von innen nach außen wirkt. Veränderung nur im außen zu suchen verdeckt eigene Starrheit: anstatt sich selbst in Frage zu stellen, sollen die Verhältnisse, das System, jedenfalls etwas, was „draußen“ ist, sich ändern.

Wenden wir also unseren Blick nach innen. Wovon könnte das „innere“ Erleben des Karfreitags handeln?

Gerade haben wir gesungen: „Herr, lehre mich, dein Leiden zu bedenken, mich in das Meer der Liebe zu versenken, die dich bewog, von aller Schuld des Bösen uns zu erlösen.“

Das innere Erleben des Karfreitags handelt von der Hingabe: von dem unverdrossenen, gehorsamen Sich-Fallen-Lassen in die liebevoll-tragenden Hände Gottes.

Gottes Liebe ist für mich die Matrix, die „innere Mutter“ des Karfreitags-Geschehens. Man könnte auch sagen: Karfreitag erzählt von der Unzerstörbarkeit der Liebe – sogar und auch im Angesicht äußerster Gottverlassenheit.
In unserem heutigen Predigttext, der die Kreuzigung aus der Perspektive des Matthäus schildert, sind denn auch die letzten Worte Jesu kein beruhigendes: „Es ist vollbracht“, sondern ein schreiendes „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Psalm 22,1)

Der Karfreitag als inneres Geschehen ist das Geschehen des Verlassen-Werdens. Er ist der radikale Rückzug Gottes aus der Welt. Er ist die Abwesenheit Gottes von der Welt. Er ist die Zerstörung der menschlichen Natur Gottes.

Und genau dies ist die Katastrophe!

Der Weg zur Katastrophe ist vorgezeichnet. Es ist ein Kreuzweg. An dem sich die Geister scheiden. Am Ende bleibt Jesus allein übrig. Bei Matthäus – anders als bei Johannes – stirbt er ganz alleine. Ich werde jetzt den Text in Abschnitten Ihnen vortragen – und mich fragen, wo ich stehen könnte

„Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt Schädelstätte, gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und als er’s schmeckte, wollte er nicht trinken.“

„Galle“ wurde beigemengt, damit „es schneller geht“. Eine Art Betäubungsmittel. Wer betäubt ist, muss die Schmerzen nicht so spüren. Also ein kleiner Akt von Humanität? Vielleicht. Vielleicht wollte man sich aber auch das Geschrei der unbetäubt am Kreuz zugrunde Gehenden ersparen.

Galle steht aber auch für die Bitterkeit und Verbitterung.
Ich frage mich: wo betäube ich mich? Welche Schmerzen will ich nicht aushalten? Und:  bin ich auch verbittert? Mische ich auch in den mir vom Leben eingeschenkten Wein die Galle meines Misstrauens, ja meines Hasses?
Jesus lehnt übrigens dieses Getränk ab. Hat er wirklich die Kraft, nüchtern und ohne verbittert zu sein diesen letzten Weg zu gehen? Es gibt nur eine Kraft, die dies ermöglicht: die Kraft der bedingungslosen Hingabe an die Gegenwart dessen, was ist. Habe ich Zugang zu dieser Kraft, um mein eigenes Kreuz zu tragen? Habe ich Zugang zu meiner Fähigkeit zu lieben.
„Es ist, was es ist – sagt die Liebe.“

„Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum.“

Jesus hängt nackt am Kreuz. Bloß gestellt und entblößt. Seine Kleider werden verlost. Sie sitzen unter dem Kreuz und geben sich dem Glücksspiel hin. Gedankenlos – nichts ahnend.
Ich frage mich: wage ich es, mich nackt anzuschauen. Wer bin ich, wenn ich meine Titel, meinen Status, mein Geld, mein Auto, mein Haus weglasse. Wer bin ich  – in meinem nackten Sein – vor Gott? Oder ziehe ich es vor, mir lieber nicht selbst zu begegnen? Sind wir nicht alle Meister darin geworden, uns abzulenken? Deutschland sucht den Superstar – wer wird Germanys next Topmodell, schafft es Bayern ins Europapokalfinale, wie entwickelt sich der DAX, wohin fahren wir in den nächsten Urlaub.

„Und sie saßen da und bewachten ihn. Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König.“

Ob die Bewachung nötig war? Na ja, sicher ist sicher. Immerhin: hier hängt der Juden König. Angeblich. Aber es gibt kein großes Interesse an diesem König. Keinen Aufstand, um ihn zu befreien, um ihn vom Kreuz zu holen. Stattdessen prasselt noch einmal Spott und Hohn über diesen einsamen gekreuzigten König mit seiner merkwürdigen Krone aus Dornen.

„Und da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. Die aber vorübergingen lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz.! Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: Anderen hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er Der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen wir ihm glauben. Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren.“

Jesus antwortet nicht mehr. Alles, was zu sagen war, hat er gesagt.
Schweigen.

Ich frage mich: wie schaut es mit meinem Hang zum Lästern aus? Ist es nicht reizvoll über andere zu lästern. Und ist es nicht am reizvollsten, das hinter dem Rücken der Anderen zu machen? Da bringt man so schön die eigene Gehässigkeit unter. Ganz harmlos. Was gibt es Schöneres, als gemeinsam sich lustig zu machen. Über die unfähigen Politiker, über die scheinheiligen Pfarrer, über die faulen Arbeitslosen, über die gemeinen Lehrer, über die blöden Schüler, über die unmöglichen Autofahrer? Ist es nicht reizvoll zu denken: „Recht geschieht es ihm, hast den Mund eben zu voll genommen!“
Schadenfreude ist die schönste Freude!

„Und  von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, eli, lama asabtani? das heißt: mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia. Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm trinken. Die andern aber sprachen: Halt, lass sehen, ob Elia komme und ihm helfe! Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.“

Eine letzte Verspottung: „Lass sehen, ob Elia komme, ihm zu helfen…“
Das war’s.
Ein letzter Schrei.
Jesus ist tot.

Und jetzt?

Ich frage mich nicht mehr.
Es ist stumm geworden in mir.
Aus und vorbei.

Gibt es ein Darüber hinaus?
Bei Matthäus kommt schnell der Satz: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“

Mir geht das zu schnell. In mir bleibt es nachdenklich.
Wirkliche Veränderung ist etwas anderes als das Kippbild zwischen zu Tode betrübt und himmelhoch jauchzend.
Wirkliche Veränderung braucht Zeit.
Sie wächst. Im Dunklen.
Gleicht einem Samenkorn.

„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein …“

Wirkliche Veränderung fühlt sich immer auch nach Sterben an. Sterben für das Leben. Für ein neues Leben, das sich losgelassen hat. Das sich gelöst hat von dem Kreisen um sich selbst. Das sich nicht mehr selbst erschaffen muss. Das in seinem Loslassen Gelassenheit erlernte.

Aus der Gott-Verlassenheit keimt die Gott-Gelassenheit. Nicht mehr von Gott verlassen, sondern: in Gott gelassen. Nichts kann mich mehr vertreiben aus der Barmherzigkeit Gottes.

Gelassen in Gott leben und sterben und leben und sterben … dazu verhelfe uns das Gedenken an das Leiden seines Sohnes, AMEN

Predigt über Matthäus 27,33-50 an Karfreitag 2013 Read More »

Predigt über Johannes 11,47-53 am Sonntag Judika (17.3.2013)

Liebe Gemeinde,

zu den (jedenfalls für mich) schwierigsten Aussagen der christlichen Religion gehört der Satz: „Jesus hat für deine Sünden gelitten, für dich ist er gestorben.“ Ich möchte ärgerlich antworten: erstens gab es mich zu der Zeit, als Jesus starb, noch gar nicht, zweitens habe ich ihn nicht darum gebeten. Und drittens möchte ich für meine Sünden auch selbst die Verantwortung tragen.

Sind diese Gedanken blasphemisch? Gott lästernd?
Mag sein. Aber das ändert auch nichts daran, dass ich sie habe. Ich kann und will sie nicht abstellen, abschalten wie ein Fernsehprogramm, das mir nicht gefällt.

Ich will verstehen.

Als erstes verstehe ich die Wirkung des Satzes: „Jesus ist für deine Sünden gestorben“: lasse ich den Satz an mich heran, so erzeugt er Schuldgefühle. Und wer Schuldgefühle gemacht bekommt, ohne sich schuldig zu fühlen, der widerspricht. Er sagt: ich bin nicht schuldig, ich habe nichts Unrechtes getan.  Daraufhin wird er ermahnt: du hast nicht zu widersprechen, du hast zu gehorchen. Früher wurde dem Gehorchen mit Prügeln nachgeholfen. Na ja – was heißt früher? Ich vermute, Kinder zu verprügeln gehört auch heute noch zu den Erziehungsmitteln. Was lernt das geprügelte Kind? Es lernt, aus Angst zu gehorchen. Nicht aus innerer Überzeugung. Im Gegenteil: innerlich beginnt man die Autoritäten, Erzieher, Lehrer, Pfarrer und den Gott, in dessen Namen sie sprechen, in dessen Namen sie prügeln, zu hassen. Innerlich heißt: der Hass wandert in den Untergrund, in das Unbewusste. Äußerlich wird man brav, angepasst. Spricht mit gespaltener Zunge. Je größer die Angst wird, desto verzweifelter wird der Anpassungsdruck. Anpassen heißt, in den Aggressor, in den Täter hineinzuschlüpfen. Das schützt. Werde ich selbst zu einem Teil des prügelnden Vaters, der prügelnden Mutter, können sie mich nicht mehr treffen. In dieser Anpassung finde ich meinen gesunden Ärger, meine gesunde, natürliche Wut darauf, über Gewalt und Schuldgefühle manipuliert worden zu sein, selbst als böse. Als weitere Sünde. Die Verzweiflung wächst. Ich wurde gebrochen. Die Gefühle des Gebrochen-Seins schlagen sich nieder in Schwermut – und in Hass. Wir nennen das dann Depression. Depression hat viel mit einzementiertem Hass zu tun. Dies macht ihre Verbindung zu Suizidalität verständlich. (Der Roman „Boot Camp“ von Morton Rhue beschreibt diese Entwicklung hin zu einem gebrochenen Menschen sehr eindrucksvoll.)

Unser heutiger Predigttext handelt vom Sterben Jesu „für“: aber es ist mit keinem Wort von unserer Sünde die Rede. Hören Sie selbst: Johannesevangelium c. 11, 47-53 heißt:

„Da versammelten die Hohenpriester und die Pharisäer den Hohen Rat und sprachen: Was tun wir? Dieser Mensch tut viele Zeichen. Lassen wir ihn so, dann werden alle an ihn glauben, und dann kommen die Römer und nehmen uns Land und Leute. Einer von ihnen, Kaiphas, der in dem Jahr Hoherpriester war, sprach zu ihnen: Ihr wisst nichts; ihr bedenkt auch nicht: Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe. Das sagte er aber nicht von sich aus, sondern weil er in dem Jahr Hoherpriester war, weissagte er. Denn Jesus sollte sterben für das Volk, und nicht für das Volk allein, sondern auch, um die zerstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen. Von dem Tage an war für sie beschlossen, dass sie ihn töteten.“

Im Zentrum steht die mehrmalige Betonung des Todes Jesus „für“: nicht für ein Vergehen, für Sünden, sondern für das Volk, „für“ die zerstreuten Kinder Gottes – um sie zu versammeln.

Und – warum würde das Volk verderben, wenn man Jesus so weiter leben ließe, so dass immer mehr Leute an ihn glauben würden? Wäre das nicht viel besser „für das Volk“ – einen Messias, einen Heiland in der Mitte zu haben, der wirklich hilft, der wirklich heilt?

Dann kämen die Römer, heißt es, und nähmen uns Land und Leute.

Stellt euch das bitte so vor: Kaiphas, der Hohepriester, ist Vorsitzender des religiösen Establishments. (Establishment kommt von to establish, das heißt einrichten, herrichten. Es ist eine Gruppe von Menschen, die mächtig ist und die Richtlinien des Denkens „einrichtet“. Jede Gesellschaft braucht ihr Establishment – ähnlich einem Wolfsrudel, das die Alpha-Tiere zu ihrem Schutz und ihrem Überleben benötigt.) Kaiphas ist der „Chef“ der jüdischen Religion. (Im heute: Kaiphas ist so was wie der Papst, oder der Vorsitzende der EKD.) Die Römer auf der anderen Seite sind die herrschende Weltmacht, im Heute mit Amerika oder China vergleichbar. Mit dieser Macht legt man sich vernünftigerweise nicht an, so eine Macht provoziert man nicht.

Das Argument des Kaiphas ist also ein politisches: er hat Angst, dass das Volk sich einen Gegenführer zum weltlichen Establishment, zu Rom erwählt, dem das Volk mehr Vertrauen schenkt als den Römern. Der vielleicht das Volk darin bestätigt: wir brauchen die Römer nicht, wir sind autonom. Wir sehen aktuell am Konflikt zwischen Tibet und China, wie gefährlich es ist, wenn ein kleiner Staat einen charismatischen Führer wie den Dalai Lama hat. Das sehen die Großen nicht gerne. Auch unser Martin Luther war so ein Führer, der den Mächtigen seiner Zeit, den Kardinälen und dem Papst immer mehr zum Dorn im Auge wurde – und zwar gerade deshalb, weil er viel Anerkennung vom einfachen Volk (den „Bauern“) bekam.

Und so sagt Kaiphas, der Realpolitiker, politisch völlig vernünftig: wir müssen ihn töten – und zwar für das gute Weiterleben des Volkes im Schutze und im Rahmen der Weltmacht Rom.
Der Tod Jesu ist in diesen Gedanken eine politische Notwendigkeit. Nicht mehr und nicht weniger.-

Nun heißt es aber in unserem Text: Das sagte aber Kaiphas nicht von sich heraus, sondern er „weissagte“. Weissagen heißt, eine tiefere Weisheit verkünden, die möglicherweise dem Sprecher der Weissagung gar nicht bewusst ist.

Was könnte diese tiefere Weisheit/Wahrheit sein?

Was könnte es auf einer tieferen, unbewussteren Ebene heißen: „Jesus sollte sterben für das Volk, und nicht für das Volk allein, sondern auch, um die zerstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen.“ Wörtlich heißt es: „in eins zu versammeln.“
Es geht offenbar um ein Sterben „für“ ein „Zusammenbringen“, für ein „Versammeln“. Es geht um eine Bewegung, in der Zerstreutes („Dis-Parates“) sich zu einem größeren Ganzen verbindet. Es geht um eine Wachstums- um eine Entwicklungsbewegung. Die Gegenbewegung dazu ist das Zerstreuen. In der Zerstreuung wird vereinzelt, gespalten. Teile, noch kleinere Teile, Moleküle, Elemente, Atome, Atom-Spaltungen.  Damit „Ganzheitliches“ sichtbar wird, müssen sich die Teile ihrer „Teilhaftigkeit“ bewusst werden. Ein sich selbst absolut setzendes Teil zerstört das Wachstum zu einer größeren Gemeinschaft hin. Wenn sich ein Teil einer Gruppe absolut setzt, stagniert ihr Wachstum – es gibt keine neue gemeinschaftliche Entwicklung mehr, stattdessen wird die Gemeinschaft zerstört. „Krebs“ ist die medizinische Bezeichnung für dieses Geschehen.

Jesu Tod als Opfer für unsere Sünden zu deuten, ergibt erst und genau auf diesem Hintergrund Sinn: indem ich Sünde definiere als das Sich-selbst-Absolut-Setzens eines Teiles auf Kosten der Gesamtheit, der Gemeinschaft. In der Sünde die soziale Beziehung zerstört. Der wirkliche Sünder setzt sich selbst absolut. Er denkt und handelt selbst-gerecht!
Unser heutiger Sonntag „Judika“ ist nach einem Psalmwort benannt. In der Übersetzung M. Luthers heißt es im 7. Psalm Vers 9: „Richte mich Gott, nach meiner Gerechtigkeit, nach meiner Frömmigkeit, die an mir ist.“ „Gerechtigkeit“ und „Frömmigkeit“ sind die beiden „Scheitelpunkte“, an denen der Beter dieses Psalms gemessen werden möchte. Die vielen Tage und Jahre meines gelebten Lebens sollen auf diesen Maßstab bezogen werden: war ich „gerecht“? war ich „fromm“?

Es gab und gibt Menschen, die haben mit der Beantwortung dieser Frage überhaupt keine Schwierigkeiten: „Lieber Gott, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie die Sünder!“ Das ist das Gebet des Pharisäers, des Selbst-Gerechten. Das ist das Gebet des wirklichen Sünders!

Moderne Sätze für Selbstgerechtigkeit sind Sätze wie diese: „Ich habe so viel für den Staat getan, da sehe ich überhaupt nicht ein, mich an die Steuergesetze zu halten!“ Oder von der anderen Seite: „Ich verdiene so wenig, warum soll ich das auch noch versteuern. Sollen erst mal die Reichen ihre Steuern bezahlen.“ Hemmungslos selbstgerecht ist die Redewendung: „Man gönnt sich ja sonst nichts!“ Der Standpunkt des Selbst-Gerechten ist letztlich: ich habe es überhaupt nicht nötig, mich an Regeln zu halten, Gesetze anzuerkennen, die mir nicht einleuchten, oder auch nur nicht gefallen. Der Selbstgerechte lebt nach seinem eigenen Gutdünken, nach seiner eigenen Willkür. Er hat seine eigene Zeitrechnung, kommt wann es ihm passt, geht wann es ihm passt. Sich an Vereinbarungen zu halten erscheint ihm „kleinkariert“. Der Selbst-Gerechte ist verliebt in einen recht einfachen Grundsatz: „Ich mache zu jeder Zeit das, wozu ich gerade Lust habe!“ Nicht selten ist diese Lust als Arbeit getarnt.

Kurzum: die selbstgerechte Position kreist ausschließlich um das eigene Ich – die „Anderen“ dienen höchstens als Publikum – für Bewunderung. Der Selbst-Gerechte setzt sein „Ich“ absolut, das Du verschwindet.

Das ist übrigens exakt die Kehrseite des traditionellen Verständnisses von: „Jesus ist für deine Sünden gestorben“. Hier wird ein Du absolut gesetzt, demgegenüber mein Ich in lauter Schuld und Sünden verschwindet.

Beide Gedanken zerschneiden die gute Verbindung von Ich und Du. Einmal erhebt sich das Ich über das Du (das ist der Selbstgerechte) – einmal unterwirft sich das Ich dem Du (das ist der ewige Sünder). Beide Male ist Beziehung als gemeinsames Wachstumsgeschehen zerstört.

(Dies drückt sich übrigens auch im Evangelium für diesen Sonntag aus, in der Bitte von Jakobus und Johannes, neben Jesus im Reiche Gottes sitzen zu Sie sind Repräsentanten eines selbstbezogenen Denkens und nicht eines dem Wachstum der Gruppe sich zuwendenden Denken. Die Folge dieses Denkens ist Rivalisieren: „Als die Jünger dies hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes.“ Natürlich: die beiden wollten eine Extrawurst, wollten sich über die anderen stellen.

Jesus antwortet: „Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viel.“

Diese Antwort hat zwei Aspekte. „Die Letzten werden die Ersten sein.“ Dies dreht das geläufige Denken nur um. Ändert aber nichts an der Struktur: es bleibt ein Denken in oben und unten, in erster und letzter, in gut und böse, in richtig und falsch. Es gibt auch einen Hochmut im Demütig-Sein: ein bei religiösen Menschen gar nicht so seltenes Phänomen. Die radikale Veränderung des Denkens drückt sich in dem Gedanken aus: „der Menschensohn ist gekommen, dass er diene“. „Der Menschensohn ist gekommen, der Wahrheit zu dienen. Für die Wahrhaftigkeit des Mensch-Seins hat er gelebt. Dafür hat er die ‚zerstreuten Kinder’ geeint, ihnen einen Rahmen, eine Heimat gegeben, die nicht „von dieser Welt ist“. Diese Heimat hat er Reich Gottes genannt.

Beziehung als gemeinsames Wachstumsgeschehen ist das Geschenk des sich entwickelnden Gottesreich. Es lässt sich nicht machen. Voraussetzung ist die Fähigkeit, dass die Mitglieder einer Gruppe in der Lage sind, sich auf ein Drittes, auf die Wahrheit dessen, was sich gerade zeigt zu beziehen. M. Buber übersetzt Gerechtigkeit mit „Wahrhaftigkeit“ und „Frömmigkeit“ mit „Schlichtheit“. Der „Wahrhaftige“ ist auf „Wahrheit“ bezogen – und diese Bezogenheit sieht man ihm an: es geht etwas „Schlichtes“ Unspektakuläres von ihm aus.
Auch etwas Gefährliches, denn er verschweigt die unangenehmen Seiten von Wahrheit nicht. In meiner Wahrhaftigkeit mute ich mich mir und meinen Mitmenschen zu: mit dem, was ich bei mir und bei anderen wahrnehme. Ohne zu bewerten, zu beurteilen. Und das ist gar nicht so leicht!

Jenseits von Selbstgerechtigkeit und Schuldgefühlen versuche mich leiten zu lassen von ehrlichem Verstehen: was bedeutet das, was ich wahrnehme?

Die auf Entwicklung gerichteten Fragen sind keine Warum-Fragen. Sie dienen nicht als Geschosse („Vor-Würfe“); ihr Sinn und Zweck ist es, gemeinsam die Bedeutung dessen, was ist, aufzudecken. (Im Griechischen heißt ja Wahrheit auch „nur“ das „Nicht-mehr-Verborgene“, das „Aufgedeckte“.)

Diese Fragen zu formulieren erfordert Mut: erstens den Mut wahrzunehmen, zweitens den Mut, das, was ich wahrnehme, auch auszusprechen. Dieser Mut fließt aus dem Vertrauen, dass es „jemand“ gibt, der „sich vor mich stellt“. Der mit mir und für mich ist – der in meiner Wahrhaftigkeit seine Stärke entfaltet. Hierfür brauche ich einen starken Gott: und einen menschlichen, einen Mensch gewordenen Gott. Einen Gott „für mich“ oder „für uns“. Einen in „Christus“ als Barmherzigkeit offenbaren Gott.

Gebe Gott, dass wir alltäglich in unsere Wahrhaftigkeit hineinwachsen, dass unsere Wahrhaftigkeit unsere Gedanken formt und unser Tun und Lassen prägt.  Gebe Gott, dass wir seine Stärke alltäglich in uns spüren: die Kraft der Wahrheit, die Kraft der Schlichtheit, die Kraft der Freiheit und die Kraft der Liebe, AMEN.

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Predigt über Johannes12, 34-36

Predigt über Johannes 12, 34-36 in der Apostelkirche in Solln am letzten Sonntag nach Epiphanias 2013 (20. 01. 13)

Liebe Gemeinde,

in dem noch jungen Neuen Jahr erleben wir – liturgisch – bereits den ersten Abschied: in unserem Gottesdienst zum letzten Sonntag nach Epiphanias nehmen wir Abschied von der Weihnachtszeit, die nach der Epiphania, der „Erscheinung“ Gottes als Mensch benannt ist. Epiphania – das griechische „phaino“ (deutsch: „Phänomen“) ist die Wurzel – es bedeutet „erscheinen lassen“, „sichtbar werden“, „leuchten“. Das Er-Scheinen des Lichtes ist das Zentrum der Epiphaniassonntage.

„Im Anfang war das Wort“, heißt es im Johannesevangelium, und weiter: „in ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis … und die Finsternis hat es nicht erfasst“ (Joh 1,4-5) Die Finsternis kann es auch gar nicht erfassen. Wie sollte das gehen? Licht lässt sich nicht fassen, nicht halten, nicht in Besitz nehmen! Licht ist flüchtig, ihm fehlt die Trägheit der Materie, die Bodenständigkeit.

Ich kann mich noch gut erinnern, als kleines Kind, wie es mir unendlich wichtig gewesen ist, nicht im Dunkeln einschlafen zu müssen. Ich wollte das Licht „behalten“. Meine Kinderzimmertür musste wenigstens einen Spalt breit offen stehen, und durch diesen Spalt schien ein von dem Licht im Flur, das unbedingt brennen musste. Und dieser – wenngleich schwache – Lichtschein beruhigte mich. Als ich dann einmal mitten in der Nacht aufwachte, musste ich mit Entsetzen feststellen, dass das Licht verschwunden war. Stattdessen sah ich sich bewegende Schatten, die mir ziemlich Angst machten. Wie gebannt sah ich diesen dunklen Gestalten zu, versuchte ihnen Formen zu geben, sie zu erkennen, hatte Angst, dass es Gespenster sind, oder Tiere – und konnte nicht denken, dass es die vom Wind bewegten Zweige eines Baumes waren, deren Schattenspiel durch das Licht einer Straßenlaterne entstand und sich an meiner Kinderzimmertüre abbildete. Ich vermute, viele von uns könnten solche Gruselgeschichten aus ihrer Kindheit erzählen, Geschichten, die von der Unheimlichkeit der Dunkelheit handeln. So ist es verständlich, dass wir versuchen, die Dunkelheit abzuschaffen, das Licht festzuhalten. In unseren Städten sind wir ja auch schon recht erfolgreich darin, die Nacht zum Tag zu machen. Wenn man sich überlegt, wie dunkel es auf dieser Erde vor der Erfindung der Elektrizität gewesen sein muss!

Auf der anderen Seite: meine schaurig-grußeligen Gefühle verdanke ich der Dunkelheit. Es gibt ein langweiliges, steriles Licht, dem die Lebendigkeit fehlt. Das Licht in Einkaufszentren oder Parkhäusern zum Beispiel. In diesem Licht ist kein Leben, sondern fade schimmernde Langeweile.

Und dann gibt es noch eine ganz andere Idee. Sie klingt an in dem Wochenspruch: „Steh auf und werde licht! Denn dein Licht ist gekommen und die Herrlichkeit des Herrn ist über dir aufgegangen“ (Jesaja 60,1-2). Hier geht es erstens um ein Licht, das sich physikalischer Messbarkeit entzieht. Und zweitens um ein Licht, das nicht mehr „draußen“ ist. Du selbst „werde licht!“ „Die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir.“ Freilich – dieses „du“ bei Jesaja ist kein einzelner Mensch, sondern es ist gerichtet an eine Stadt: Jerusalem, die zerstörte Stadt Gottes, soll in neuem Licht, im Lichtglanz seines Gottes selbst erstrahlen.

Auf einen einzelnen Menschen wird dieses Wort erst im christlichen Kontext bezogen, und hier wiederum im Besonderen im Johannesevangelium. Und aus ihm ist auch unser heutiger Predigttext.

Johannes erzählt eine merkwürdige Begebenheit: Es ist die Zeit vor dem Passahfest, Jesus ist mit seinen Jüngern nach Jerusalem gekommen, die Menge hat ihm zugerufen, mit Palmenzweigen applaudiert. Da bitten ein paar griechische Männer seinen Jünger Philippus, er möge einen Kontakt mit Jesus herstellen. Philippus bespricht sich kurz mit Andreas und dann kommt es zu der Begegnung. Jesus aber wartet keine Frage ab, sondern verweist auf sein Sterben: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirb, bleibt es allein; fällt es aber in die Erde, bringt es viel Frucht … Wenn ich erhöht werde von der Erde, will ich viele mit mir ziehen.“ Das wiederum hören jüdische Männer, und die wollen es genauer wissen:

„Da antwortete ihm das Volk: Wir haben aus dem Gesetz gehört, dass der Christus in Ewigkeit bleibt; wieso sagst du dann: der Menschensohn muss erhöht werden? Wer ist dieser Menschensohn?“

Jesus hatte der geläufigen Messias-Erwartung, derzufolge der Messias/Christus, wenn er auf die Erde kommt, „in Ewigkeit bleibt“ – und nicht mehr verschwindet, widersprochen. Wenn der „Menschensohn“ „erhöht“ werden soll, dann kann das nicht der erwartete Christus sein. Wer also ist er dann?

Jesus antwortet in guter rabbinischer Tradition, nämlich indirekt. Er greift – und deshalb gehört dieser Text zu den Epiphaniassonntagen – auf die Metapher des Lichtes zurück.

„Da sprach Jesus zu ihnen: Es ist das Licht noch eine kleine Weile bei euch. Wandelt, solange ihr das Licht habt, damit euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hin geht. Glaubt an das Licht, solange ihr’s habt, damit ihr Kinder des Lichts werdet.
Das redete Jesus und ging weg und verbarg sich vor ihnen.“

Das „Volk“ vertritt die Anschauung der herkömmlichen Lehre: „wir haben aus dem Gesetz gehört.“ Das „Gesetz“ ist das was, was Gültigkeit hat. Es gibt uns Orientierung und Struktur und die damit verbundene Klarheit. Das Gesetz „scheidet“: Richtiges von Falschem, Gutes von Bösem. Mit dieser Scheidung kommen die „Ur-Teile“ auf die Welt: bitte beachten Sie, wie im Wortlaut „Ur-Teil“ enthalten ist, was ausgesagt werden soll: es sind „Teile“, also Produkte von „Scheidungen“. Es sind erste Scheidungen: „Ur“-Scheidungen. Eine der ersten Scheidungen geschieht in Genesis 1 als die trennende Scheidung von Dunkelheit und Licht: „Und Gott schied das Licht von der Dunkelheit“ (Gen 1, 4b). Solche Scheidungen sind lebensnotwendig – sie schaffen „Ordnung“ im „Durcheinander“ (Tohuwabohu) des Erlebens „vor der Schöpfung“. Aber sie schaffen nicht nur Ordnung, sondern sie dämmen auch Angst ein. Zu den Ur-Scheidungen gehört die Ur-Angst, im Chaos zu versinken, nichts zu verstehen, keine Orientierung zu finden. Vielleicht kennen manche von ihnen die Albträume, in einer fremden Stadt zu sein, sich verlaufen zu haben, nicht mehr zu wissen, wo man herkommt, wo man hin will. Die in diesen Träumen „untergebrachten“ Gefühle sind Abkömmlinge des Erlebens von Tohuwabohu.

Aus den Ur-Scheidungen entsteht Ordnung, aus der Ordnung entsteht das „Gesetz“ (wörtliche: das Gesetzte, das nicht mehr zu hinterfragen ist). Die Bedeutung des „Gesetzes“ ist es also, Orientierung zu geben, ein „Bollwerk“ zu bilden gegen das ängstigende Chaos. Das Gesetz sagt: ich bin deine Rettung: bleibe bei mir, dann musst du deine entsetzlichen, namenlosen Ängste nicht mehr spüren. Halte dich an mich und dir wird nichts passieren. Das Problem dabei ist nur, dass ein „Bollwerk“ etwas „gegen“ etwas ist – aber das, wogegen es ist, nicht verwandeln kann. Die starke Stadtmauer kann die Bewohner einer Stadt beruhigen – aber sie kann die „Feinde draußen“ nicht zum Verschwinden bringen. Das Licht kann zwar leuchten, aber unaufhaltsam folgt jedem Tag die Nacht.

Als ich als kleiner Junge darauf bestand, beim Einschlafen müsse Licht brennen, wollte ich nicht wahrhaben, dass die „Finsternis das Licht nicht annimmt und nicht annehmen kann“. Als ich dann in der Dunkelheit aufwachte, kamen die alten Ängste hoch, die zu erleben mir das Licht erspart hatte. Daraus erwächst der naheliegende Gedanke: es muss immer ein Licht da sein, es muss immer „gut“ sein, es muss immer „schön“ sein. Es sind unsere Ur-Ängste, die uns zu der Sehnsucht nach Unvergänglichkeit, nach „ewigem Leben“ bringen. In dem vorhin gehörten Evangelium der Verklärung Jesu verkörpert Petrus die Stimme dieser Sehnsucht: „Herr, hier ist gut sein. … Willst du, so will ich hier Hütten bauen“ – um das Wunderbare, die „Vision“ Jesu festzuhalten, ihr Form zu geben. Viele Kirchen sind an solchen Orten erbaut worden, wo ein Wunder geschah, oder jemand eine Vision hatte, was durch den Bau einer Kirche gleichsam „in Stein gehauen“, verewigt werden sollte.

Von daher erschließt sich uns eine verblüffende Erkenntnis: das „Gesetz“, das den „ewigen Messias“ erwartet, ist ein Bundesgenosse der Sehnsucht nach Unvergänglichkeit, nach Ewigkeit. Der Messias soll diese Ewigkeit verbürgen: Gerechtigkeit, Glück Zufriedenheit – und zwar für immer! „Deine Tränen sollen getrocknet werden…“ Das „Gesetz“, das doch mit Strenge, Disziplin vielleicht sogar Askese in einer Reihe steht – es steht also im Dienste der Sehnsucht nach Unvergänglichkeit. Die Sehnsucht nach Ewigkeit aber ist legiert – darauf hat Nietzsche hingewiesen – mit dem Lustprinzip: „Doch alle Lust will Ewigkeit -, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ (Nietzsche, Also sprach Zarathustra).

Jesus weist darauf hin, dass der Menschensohn/Messias kein Handlanger des Lustprinzips ist. Anstelle der Lust steht der Ver-Lust. Es ist kein Zufall, dass der Verlust, das Fehlen, der „Frust“ in seinem Wortstamm die verlorene Lust birgt.

„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt“ – wenn das Weizenkorn nicht bereit ist, sich selbst zu verlieren, seiner selbst verlustig zu gehen, geht es nicht weiter, wird es keine Frucht tragen. Ein ewiges Weizenkorn wird seiner Bestimmung nicht gerecht, es ist nicht mehr Ausdruck von Wachstum, sondern von Stagnation!

Und natürlich lässt sich auch der Glaube an Jesus Christus als den Messias als das „neue Licht in der Finsternis“ im Sinne von Stagnation verwenden. Dann wird das jüdische „Gesetz“ durch einen „Messias“ ersetzt – mit genau denselben Problemen, die die jüdische Religion hatte. Und in der Tat sieht man an der Geschichte der jungen Christenheit, dass der Versuch, das alte, jüdische Establishment zu entmachten zu einem neuen christlichen Establishment geführt hat, mit der neuen Hauptstadt Rom. Das Establishment ist immer auf der Seite des Gesetzes, deshalb ist es wesentlich konservativ, bewahrend. Und das ist gut so. Aber das bewahrte Weizenkorn trägt keine Frucht. Es muss in die Erde fallen. Damit die Gruppe, die Gesellschaft in ihrem Wachstum nicht stagniert, bedarf sie der Mystiker, bedarf es derjenigen, die sie zugleich radikal in Frage stellen. Erst so entsteht Fruchtbares, Sich-Entwickelndes.

Damals, als kleiner Junge, als ich in der Nacht aufwachte und es mir so mulmig zumute war, habe ich die Dunkelheit gehasst. Weil sie mir so verdammte Angst machte. Je höher der Angstpegel steigt, desto mehr überflutet er die Ufer des nüchternen, besonnenen Denkens. Jemand anders wäre vielleicht auf die Idee gekommen, sich eine Taschenlampe zu besorgen. Um mit ihrer Hilfe sich der Dunkelheit nicht mehr so ausgeliefert zu fühlen. Ich vermute, unser Forschergeist hat viel mit Angst und ihrer Vermeidung zu tun. Welt mitgestalten können erleichtert, führt aus der Verzweiflung des sich gänzlich ausgeliefert Fühlens heraus.

Gestalten, verändern, modifizieren: dies geht alles erst, wenn die Erstarrung gelöst ist. Der Menschensohn muss „erhöht“ werden. Aber nicht so, dass er nur bewundert und verehrt wird, dass er auf einen goldenen Sockel gestellt wird. Auch nicht so, dass das Kreuz seines Leidens vergoldet wird. Dies führt nicht ins Leben.

Der Messias will nicht in ewiger Erstarrung „stecken“ bleiben: er will verwendet, er will von uns gebraucht werden. Nicht um sein ewig-totes Dasein geht es, sondern: er will uns ein Vorbild für Wachstum und Entwicklung, für Werden und Vergehen geben: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt…“ Und weiter: „Während ihr das Licht habt, glaubt an das Licht, damit ihr Söhne des Lichts werdet!“ Um sich als Weizenkorn der dunklen Erde anzuvertrauen, bedarf es des Glaubens an das Licht. Bedarf es des unbedingten Vertrauens in die Möglichkeit des Werdens. Das ewig „selbst“ bleiben wollende, das perfekte Weizenkorn ist das tote Weizenkorn. Ihm fehlt das Vertrauen für Wachstum und Entwicklung – gerade so bleibt es von der Erde abgeschnitten. Das sich dem Wachsen hingebende Weizenkorn aber trägt viel Frucht. Dies hatte Jesus erkannt. Und er hat das religiöse Establishment seiner Zeit damit konfrontiert. Das Ergebnis dieser Konfrontation ist bekannt. Man macht sich nicht beliebt, wenn man die mühsam errungenen Bollwerke gegen die Angst radikal in Frage stellt.

Und so endet unser Predigttext mit dem lapidaren Hinweis: „Dies redete Jesus und ging weg und verbarg sich vor ihnen.“ Auch dies gehört zu diesem merkwürdigen Menschensohn, den wir als unseren Messias bekennen, dazu: er ist nicht der coole Überflieger, stets souverän, mal dort eine Heilung, mal hier ein kluges Wort. Er verbirgt sich – vielleicht hat er Angst, ahnt, dass die Wirkung seiner Worte explosive Kraft in sich birgt. Vielleicht heißt das Verbergen aber auch, wie wichtig es ist, immer wieder zu sich selbst zurück zu finden, sich auf sich selbst zu besinnen – gerade wenn man in der Öffentlichkeit steht. Denn die Verführung, sich als den Messias bewundern und feiern zu lassen ist groß.

Und so bewegen wir uns von den vielen Weihnachtslichtern kommend auf die Passionszeit hin. Auf eine Zeit des Sich-Verbergens, und des beginnenden Wachsens.
Gebe Gott, dass wir genügend Kraft empfangen, den Messias in uns wachsen zu lassen, dass wir genügend Geduld finden, Ungewissheiten zu ertragen und dass wir genügend Vertrauen erleben, das unsere Ängste vor der Vergänglichkeit lindert. Gebe Gott, dass wir nicht die Ewigkeit suchen, sondern uns unserem alltäglichen Leben im Geiste der Barmherzigkeit und Liebe hingeben, AMEN.

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Predigt über Jesaja 40, 1 – 8

Predigt über Jesaja 40, 1-8 am 3. Adventssonntag 2012 in Jakobus

Liebe Gemeinde,

ich finde, es gehört zum Schwersten überhaupt, jemanden zu finden, von dem man sich wirklich wahrgenommen und verstanden fühlt. Einen Arzt zum Beispiel, der sich die Mühe macht, erst einmal zuzuhören, ohne gleich nach Lehrbuch und Statistiken etwas zu verschreiben. Oder einen Physiotherapeuten, der nicht nur mein Knie oder meine Schulter sieht, sondern meinen ganzen Körper. Oder einen Psychotherapeuten, der in der Lage ist, etwas von meinem Unbewussten, von meinem seelischen Erleben zu verstehen, etwas, das mir selbst unklar, verschwommen, diffus ist. Oder einen Pfarrer, der nicht schon die Bibelzitate parat hat und seine Theologie mir versucht nahe zu bringen. Oder einen Partner, eine Partnerin, die bereit ist, sich mit mir aufmerksam und nüchtern auseinander zu setzen, ohne mir gleich Vorwürfe zu machen ohne mir gleich Ratschläge zu geben, ohne falschem Mitleid meine Seele zu verkleben.

Ich glaube, das alles ist deshalb so schwierig, weil wir Menschen durchaus gerne anderen Menschen helfen, aber uns extrem schwer damit tun, auszuhalten, dass wir keine Hilfe zur Hand haben, dass wir ohnmächtig sind. Gerade als Arzt, als Therapeut als Pfarrer habe ich die Rolle eines Heilers, eines Helfers – und so wird von mir auch erwartet, dass ich helfen kann. Es macht sehr unangenehme Gefühle, sich einzugestehen, zunächst einmal keine Ahnung davon zu haben, woran der Andere wirklich leidet. Hinzu kommt, dass viele Menschen auch gar nicht wissen wollen, woran sie leiden, sondern sie wollen nur aufhören zu leiden. Die Schmerzen sollen weg, die Depression mit ihren Ängsten soll sich in Wohlgefallen auflösen, die Leistungsstörung soll verschwinden usw. So entsteht ein Druck, den sensible Menschen so auf sich beziehen, dass sie meinen, sie müssen in jedem Fall helfen können. Die sich schuldig fühlen, wenn sie mit ihrer eigenen Ohnmacht in Kontakt kommen. Gerade in helfenden Berufen finden sich viele Menschen, die schon als Kinder gespürt haben: „meine Lebensaufgabe ist es, meinen Eltern zu helfen, sie zu stabilisieren oder gar sie glücklich zu machen.“

Und genau das ist das Problem: je stärker ich darauf angewiesen bin, für den anderen gut zu sein, desto stärker komme ich unter Druck, wenn der oder die mir Anvertraute mein Gut-Sein nicht „würdigt“.

Sehr einfaches Beispiel: ich möchte eine gute Mutter sein, die ihrem Kind ein gesundes Abendessen selber kocht, vitaminreich, mit Bio-Gemüse, Bio-Salat usw. Und eben dieses Kind kommt bestens gelaunt zur Abendessenszeit nach Hause und sagt freundlich: „Ich komme gerade von Mekki – das war echt lecker dort. Du musst übrigens für mich nicht mit decken, ich bin satt.“

Das macht je intensivere Gefühle, je mehr ich darauf angewiesen bin, dass ich nicht nur gut gekocht habe, sondern auch ein gute Mutter bin. Diesen Gedanken umdrehen bedeutet: die Freiheit einer Beziehung hängt damit zusammen, wie bedürftig der Einzelne ist. Wie angewiesen er darauf ist, gelobt zu werden. Wie viel „Nein“ in Anführungszeichen er aushält. Denn in unserem Beispiel ist es ja gar kein „Nein“ zum Essen der Mutter, sondern nur Ausdruck eines selbständig Gewesen Seins. Wenn ich so bedürftig bin, dass ich das selbstständig Werden und Sein des Anderen als gegen mich gerichtet erlebe, dann haben wir beide es schwer. Wenn ich das Gefühl habe, das Selbstständig-Sein des Anderen vernichtet mich, weil sein Selbstständig-Sein bedeutet, dass ich in Vergessenheit versinke, wird die Beziehung unerträglich.

Dies alles gilt nun auch für unsere Beziehung zu Gott. Viele von uns, so vermute ich, sind mit einem Gott aufgewachsen, der kein Interesse an meiner Selbstständigkeit hat, aber viel wert legt auf meinen Gehorsam, ja auf meine Unterwürfigkeit. Ein Gott, der einem totalitären Herrscher näher steht als einem gütigen, barmherzigen und liebevollen Vater oder Mutter. Die Umkehr dieser Gottesbeziehung ist, dass auch ich das Selbstständig-Sein Gottes nicht ertrage. Dann gehöre ich zu den Leuten, von denen Meister Eckehart sagt, sie „wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen, und wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und des Käses und des eigenen Nutzens.“ Und er fährt fort: „So halten’s alle jene Leute, die Gott um äußeren Reichtum oder inneren Trostes willen lieben; die aber lieben Gott nicht recht, sondern sie lieben ihren Eigennutz.“

Ein ziemlich anderes Gottesbild entwirft der Verfasser unseres heutigen Predigttextes, mit dem das 40. Kapitel des Jesajabuches beginnt.

„Tröstet, tröstet mein Volk spricht euer Gott
redet zum Herzen Jerusalems und rufet ihr zu,
dass vollendet ist ihr Frondienst, dass abgegnadet ist ihre Schuld,
dass gedoppelt von seiner Hand sie empfängt für ihre Sündenbußen.“

Mit diesem Kapitel beginnt zugleich die Verkündigung eines Propheten, von dem man bis heute nicht genau weiß, wer er war. War es Jesaja selbst? Dann müsste er über eine sehr lange Zeitspanne hinweg gelebt haben. War es ein weiterer Prophet, der sich in seinem Personsein zurück genommen hat, der stark im Geiste Jesajas predigte? Man hat ihn deshalb Deuterojesaja genannt, den zweiten Jesaja. Wie auch immer: unser Predigtext und die Botschaft dieses Propheten beginnt mit radikal neuen Gedanken: keine Gerichtsansage, keine Strafpredigt, keine Beurteilung und schon gar keine Verurteilung seiner Volksgenossen, des Volkes. Stattdessen:

„Tröstet, tröstet mein Volk!“
Gott als ein Gott des Trostes.

Was ist das: „Trost“?

Das Wort „Trost“ gehört zu der indogermanischen Wortgruppe „treu“ und bedeutet „innere Festigkeit“, „innere Sicherheit“. Auch das Wort „trauen“ gehört hierher: jemandem „trauen“ zu können, ihn als „zuverlässig“ zu erleben ist „tröstlich“.  Denken Sie auch an das englische „true: wahr, richtig, echt“. Und auch in tree, „Baum“. als Sinnbild von Festigkeit, ist der Stamm von Trost enthalten.

Ein Trost, der das ist, was sein Wortstamm verheißt, verleiht also „innere Sicherheit“. Davon zu unterscheiden ist das schnelle Trostpflaster, der „billige“ „Es-wird-schon-wieder-Trost“. Gottesdienste, auch Predigten sind sehr gefährdet für den schnellen, scheinbar tröstenden Kick. „Schnell mal die Kuh melken…“ und schon am Sonntag Nachmittag ist alles wieder beim Alten. Die alten Ängste, die alten Schmerzen, die alte Enttäuschung …

Deshalb lautet die Überschrift des Trostes: „Rede zum Herzen Jerusalems:“ Erst dann kommt der Inhalt des Trostes: „Die Zeit deiner Sklaverei ist vorbei …“

„Rede zum Herzen Jerusalems!“ heißt: was mich wirklich und wirksam tröstet ist etwas, das tief in mich hineinkommt, was mir zu Herzen geht. Die dem Trost entgegen kommende Bewegung ist ein sich öffnendes Herz. Ein verschlossenes Herz ist untröstlich. Und ein untröstliches Herz ist unersättlich. Nicht satt zu kriegen.

Verdeutlichen wir es uns an unserem kleinen Beispiel: natürlich ist die Mutter, die liebevoll gekocht hat enttäuscht, dass ihr Kind satt ist. Alles hängt davon ab, wie sie mit ihrer Enttäuschung umgeht. Es gibt die mitleidige Art: jetzt habe ich mir solche Mühe gegeben und du undankbares Kind bist schon satt. Diese Methode erzeugt Schuldgefühle und Hass; der Hass kann sich richten auf diejenige, die mir Schuldgefühle macht, oder – auf mich selbst. Es gibt die zornige Art: du kannst gleich in dein Zimmer gehen, dich will ich heute nicht mehr sehen. Diese Methode ist die des Beziehungsabbruches, bei der das Kind lernt, erwünscht ist es nur, wenn es „passend“ ist. Und natürlich gibt es noch viele Varianten dazwischen. Entscheidend ist: dies alles ist eine Welt ohne Trost, ohne  Gnade und ohne Barmherzigkeit. Es ist eine Welt der Ver-Zwei-flung – in der es nur entweder oder, nur dich oder mich, nur eine Position gibt.

Der Trost, der „Halt und Sicherheit“ geben kann, geschieht über die Öffnung der „Zwei“ zur „Drei“ – zum Dritten. Der Tröster, so wird im Johannesevangelium der Heilige Geist genannt – ist die dritte Person Gottes, die aus der Katastrophe der Kreuzigung des Sohnes im Angesicht des ohnmächtigen Vaters herausführt – hineinführt ins Leben. Der Dritte in unserer Geschichte kann der Vater und Ehemann sein, der seiner Frau vielleicht sagt, dass er sich jedoch sehr auf das Essen freue aber auch Verständnis hat für jenen, der da bei Mac Donalds sich verköstigte. Und dass in Zukunft vorher besprochen wird, wie das Abendessen sein wird. Die Absprache, die Vereinbarung, der Vertrag ist ebenfalls ein wirkungsvoller Dritter. Der Dritte darf weder mit dem Einen noch mit dem Anderen verschmelzen, um seine tröstende und heilende Aufgabe wahrnehmen zu können. Es ist ein verbreiteter Irrtum, gute Erziehung bedeutet, dass die Eltern immer einer Meinung sind. Das führt nur dazu, dass von vorne herein klar ist, wer die „A-Karte“ zieht!

Es ist Gott selbst, der im Dritten geschieht, der lebendig macht und tröstet. Allerdings, und das sagt Jesaja sehr mit recht: Diese Lebendigkeit bedarf eines sich öffnenden Herzens. Wer den Weg zum Dritten nicht finden kann, der bleibt Gefangener seines polaren Denkens, für ihn gibt es nur: entweder du bist die Kuh, die ich melken kann, oder ich bin die Kuh, die gemolken wird.

Jesaja ruft – so verstehe ich ihn jedenfalls dazu auf, diese Wahrheit so tief als möglich in sich hinein zu lassen. Ihr den Weg zu öffnen:

„Stimme eines Rufers:
In der Wüste bahnt SEINEN Weg,
ebnet in der Steppe eine Straße für unseren Gott.
Alles Tal soll sich heben,
aller Berg und Hügel sich niedern,
das Höckrige werde zur Ebne und das Hügelige zur Senke.
Offenbaren will sich SEIN Ehrenschein, alles Fleisch vereint wird’s sehen.
Ja, geredet hats SEIN Mund.

Stimme eines Sprechers: Rufe!
Er spricht zurück: was soll ich rufen! Alles Fleisch ist Gras, all seine Anmut der Feldblume gleich!
Verdorrt ist das Gras, verwelkt ist die Blume, da SEIN Windhauch sie angeweht hat.

-Gewiss,
Gras ist das Volk, verdorrt ist das Gras,
verwelkt ist die Blume,
aber für Weltzeit besteht die Rede unseres Gottes.“ (M. Buber)

„Für die Weltzeit besteht die Rede unseres Gottes“. Die „Rede unseres Gottes“ ist das Wort, ist die Sprache. Die Sprache ist ebenfalls ein Drittes: sie ist die Brücke zwischen mir und Ihnen, zwischen dem Sprecher und der Welt da draußen. Sie vermittelt gleichsam zwischen innen und außen. Sie vermittelt aber auch zwischen meinen Gefühlen und meinem Verstand, vorausgesetzt ich verwende sie auch dafür. Wenn Sie Reden von totalitären Machthabern hören (Hitler, Göbels), merken Sie, wie sehr hier die Sprache von aggressiven und hasserfüllten Gefühlen okuppiert ist. Und die Sprache schafft den Vertrag zwischen Gott und uns. Die einfachste Form dieses Vertrages sind die zehn Gebote, zusammengefasst im Doppelgebot der Liebe: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte und deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

„Die Rede unseres Gottes“ ist eine Sprache des Verständnisses und der Güte gerade im Angesicht eigener Nichtigkeit. „Alles Fleisch ist Gras, all seine Anmut der Feldblume gleich!“ Das Verrückte ist: der mein Herz öffnende, mein Leben verändernde Trost bedingt das Erleben meiner eigenen Vergänglichkeit. Wenn die Mutter in unserem Bespiel sagen kann: „Na ja, ich kann dich schon auch verstehen, du hattest Hunger usw…“ ist sie in der Lage, ihre eigene Enttäuschung zu relativieren. Sie lässt etwas ihr Fremdes, nämlich das Verständnis für das Handeln ihres Kindes, in ihr Herz hinein. Und dieses Verständnis beschränkt und begrenzt ihre eigene Enttäuschung. Jede Grenze aber erinnert an das Ende, an das Vergehen unseres Lebens. Und das macht unangenehme Gefühle, Gefühle, die mir ein „hartes, kaltes Herz“ erspart.

Nebenbei: das Kind, das Verständnis, gerade auch für seine nicht so tollen Seiten spürt, wird seinen Eltern in der Tiefe – so was zeigt man natürlich nicht – sehr, sehr dankbar sein. Verständnis ist auch so ein „Drittes“ – es ist erst möglich, wenn ich die Absolutheit meines Standpunktes aufgeben kann.

Was heißt also Gott den Weg zu bereiten? Es heißt, die zerklüftete Landschaft unserer Seele ebnen, es heißt Brücken bauen, wo unüberwindbare Gräben sind, heißt die hohen Gipfel eigenen Wissensdünkel verlassen ebenso wie die dunklen Täler unserer Niedergeschlagenheit und unseres Unwert-Fühlens. Und immer wieder heißt es: sich leer machen, sich leer machen von seinem Vor-Wissen, von seinen Vor-Urteilen, die ja letztlich eine Ansammlung von Erinnerung. Nur ein leeres Gefäß kann etwas anderes aufnehmen. Deshalb „sollst du schweigen!“ predigt Johannes Tauler. „In diesem mitternächtlichen Schweigen, in dem alle Dinge in tiefster Stille verharren und vollkommene Ruhe herrscht, da hört man das Wort Gottes in Wahrheit. Denn soll Gott sprechen, so muss du schweigen. Soll Gott in dich eingehen, so müssen alle Dinge ihm den Platz räumen.“ AMEN.

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Predigt am 15. Sonntag nach Trinitatis in der Jakobuskirche in Pullach

Predigt über Galater 5,25-26.6,1-3.7-10 am 15. Sonntag nach Trinitatis 2012 in der Jakobuskirche Pullach

Liebe Gemeinde,

in den Texten unseres heutigen Gottesdienstes ist viel von „Sorge“ die Rede. In den Nachrichten auch: jeder dritte Deutsche macht sich Sorgen um seine Rente. Die Eurokrise macht Sorgen. Mit zunehmenden Alter häufen sich die Gespräche über Krankheiten, die Sorgen machen.
Und natürlich machen Kinder Sorgen.
„Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder große Sorgen“ heißt es.
Warum sagt man eigentlich nicht: „Kleine Kinder, kleine Freuden, große Kinder große Freuden?“

Sich Sorgen zu machen, scheint ziemlich verbreitet zu sein. Demgegenüber muten die gehörten Texte naiv an: „Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet“ (Matthäus 6,25). Und unser Wochenspruch überrascht mit dem einfachen Vorschlag, wie man seine Sorgen los wird:
„Alle eure Sorgen werft auf ihn!“ (1. Petr. 5,7).

Aber wie soll das gehen? Sorgen auf jemand werfen?
Na ganz einfach: ich brauche bloß in missmutigster Laune sagen: „ich mache mir solche Sorgen um dich. Um deinen Lebenswandel.“ Oder: „Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!“ Was im Klartext heißt: ich bin so was von sauer, dass du mir das und das zumutest. Schon sind meine Sorgen in Form von Schuldgefühlen beim Anderen. Und was bekomme ich dafür? Einsicht? Die schuldbewusste Unterwerfung: „Es tut mir ja so leid. Ich will das nie mehr machen!“?  Sehr unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist eine Verhärtung der Beziehung, ein Abbruch des freundlichen Kontaktes. Diese Art von „Sorgen auf den Anderen werfen“ erzeugt in der Tiefe Hass.

Auf der Anderen Seite: wohin mit den eigenen Sorgen. Sorgen haben etwas Klebendes, einem Kaugummi vergleichbar, in den man hineingestiegen ist. Der die Freude am Gehen, am sich frei bewegen verleidet.

Dazu passt die Grundbedeutung des Wortes „Sorge“: „Kummer, Gram“. Im Russischen gibt es das Wort „Soroga“, ein „mürrischer Mensch“. Vergleichbar vielleicht dem bayrischen Begriff „Z’widerwuarz’n“.

Nun gibt es im Deutschen noch eine weitere Bedeutung des Wortes „Sorge“ und zwar in Verbindung mit der Präposition „für“: die „Fürsorge“. Fürsorge ist eine Haltung, die sich wesentlich von dem „sich Sorgen machen“ unterscheidet.
Der mürrische Mensch, dem alles zuwider ist, ist gerade nicht fähig zu Fürsorge. Fürsorge hat mit Freude, mit Anteilnahme und mit Liebe zu tun. Oder anders: es gibt eine Art von Sorgen, bei denen kreist der Mensch nur um sich. Nichts passt ihm: an allem gibt es etwas auszusetzen. Der „notorische Nörgler“, der nicht zufrieden zu stellen ist. Der sich eher die Zunge abbeißen würde, als zu sagen: etwas ist in Ordnung, ist gut, so wie es ist. Oder – noch undenkbarer: du bist in Ordnung, so wie du bist!

Und es gibt eine Art von Fürsorge, in denen öffnet sich der Mensch dem Leben: dem eigenen Leben wie dem Leben der Mitgeschöpfe. Der fürsorgliche Mensch lebt in guter Beziehung: mit sich selbst und mit dem Leben, das ihn umgibt. Der fürsorgliche Mensch hat (an-)erkannt: die Quelle seiner Sorgen sind seine eigenen Ängste vor der Lebendigkeit des Lebens. Und: dass seine Sorgen in direktem Zusammenhang mit fehlendem Vertrauen stehen. Der „Soroga“ will nicht akzeptieren, dass Leben geschieht und sich seiner Kontrolle entzieht. Die Haltung der Fürsorge strömt aus einem ganz anderen Grundgefühl: aus dem des Vertrauens und der Liebe – zum Leben. Ich verbinde diese Haltung mit dem, was Paulus als „Leben im Geist“ bezeichnet. Und ich füge hinzu: Leben im Geist der Liebe.

Davon handelt unser heutiger Predigttext, ein Abschnitt aus dem Galaterbrief, Kapitel 5, 25-26. 6, 1-3.7-10.

„Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. Lasst uns nicht nach eitler Ehre trachten, einander nicht herausfordern und beneiden. Liebe Brüder, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid; und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest. Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst.“

„Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln“:  das von Paulus hier verwendete griechische Verb für „wandeln“ (stoicheo) ist wenig gebräuchlich im NT – anders als das zu ihm gehörige Substantiv: stoicheion, der Baustein. Und sein Plural, stoicheia, das sind die Bausteine der Materie, die Atome, aus denen Anderes, Zusammengesetzeres entsteht. „Im Geist wandeln“ ist also auf einer elementaren Ebene (Elementarteilchen) anzusiedeln; nicht auf der Ebene von fertigen Gedanken (komplexen Molekülen), sondern da, wo die Quelle für die Entstehung von Gedanken sich befindet. So ist es kein Zufall, dass der alttestamentliche Text, der dem heutigen Sonntag zugeordnet ist, die Schöpfungsgeschichte ist, und zwar jene ältere, in der es heißt: „Und ER, Gott, bildete den Menschen, Staub vom Acker, er blies in seine Nasenlöcher Hauch des Lebens, und der Mensch wurde zum lebenden Wesen“.

Im Geist wandeln heißt also zweierlei: die radikale Anerkennung der Nichtigkeit unseres Lebens („Staub vom Acker“) und die ebenso radikale Anerkennung des Angewiesenseins auf IHN/ES, der/das uns geschaffen hat. Die Gegenbewegung dazu ist die Leugnung unserer Nichtigkeit verbunden mit der Idee, ich muss mich aus mir selbst heraus erschaffen oder modern ausgedrückt „neu erfinden“ (können). Letzteres führt zur Haltung des „soroga“, der lieber in seinen Sorgen erstickt als dass er sein Angewiesensein, sein Abhängigsein anerkennen will. Der „soroga“ ist in der Tiefe ein einsamer, misstrauischer Mensch, der nicht bereit ist, seine Sorgen von der Wirklichkeit in Frage stellen zu lassen. Er verwendet seine Sorgen dafür, sich von der Wirklichkeit abzuschotten. Er sieht nicht die Schönheit eines Sonnenstrahls, sondern die Gefahr, dass zu langes In- der-Sonne-Sein Hautkrebs auslöst.  Er hat viele Versicherungen, um abgesichert zu sein. Aber all dies erleichtert ihn nicht wirklich.

Jesus betont in seiner Bergpredigt (aus ihr stammt das heutige Evangelium) das Trügerische des sorgenden Kreisens um das materielle Wohl („Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung, und der Leib mehr als die Kleidung?“ Matthäus 6, 25b), und Paulus betont den Selbstbetrug des sorgenden Kreisens um das eigene Wichtig-Sein: „Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst!“ Die Gefühle dieses Selbstbetrugs sind: nicht mehr abschalten können, sich gehetzt und getrieben fühlen, Nachts nicht zur Ruhe kommen, am Morgen sich gerädert fühlen.

„Wenn jemand meint er sei etwas…“
Um wie viel hätten wir selbst, unsere Mitgeschöpfe und nicht zuletzt unsere gute alte „Mutter Erde“ es leichter, wenn wir Menschen uns nicht so ungeheuer wichtig nähmen! Um wie viel leichter hätten wir es, wenn wir statt unsere Talente für die „eitle Ehre“ zu opfern, unser ohnehin so kurzes Leben der Wahrheit unseres Seins und unseres Geworden-Seins und unseres Vergänglich-Seins zur Verfügung stellten. Und in diesem Geschehen lernten loszulassen, uns fallen zu lassen in die barmherzigen Hände des lebendigen Gottes.
„All’ eure Sorgen werft auf ihn, auf den barmherzigen Gott!“ Heißt: nimm die Wirklichkeit als, die sie ist. Lass dich tragen von deiner Lebendigkeit, die dir Gott jeden Tag aufs Neue schenkt.
„Sich tragen lassen.“ Ich habe im fortgeschrittenen Alter begonnen zu reiten. Und es macht viele Gefühle, von Angst bis Glück, von Freude bis Verzweiflung. Es ist so ungeheuerlich, sich einem um so viel stärkeren, mächtigeren Lebewesen anzuvertrauen. Gerade wir Männer haben es mit dem sich tragen lassen scheint mir besonders schwer. Wir meinen „es im Griff haben“ zu müssen. Ein recht anstrengender Lebensmodus. Und vor allem eine fette Illusion. Leben lässt sich nicht in den Griff kriegen. In den Griff genommenes Leben ist gewürgtes Leben. Mit der großen Gefahr, es schließlich ganz zu erwürgen.
Auf der anderen Seite: „Sich tragen lassen“ heißt nicht: den anderen auszubeuten, auf Kosten des anderen zu leben. Ebenso wenig wie reiten heißt, wie ein nasser Sack auf dem Pferd zu hängen. So wird man nicht lange getragen werden. Reiten, so wie ich es jedenfalls kennen lerne (denn natürlich gibt es auch hier die Gedanken, man müsse zuerst das Pferd brechen) ist ein fein abgestimmtes Miteinander zwischen Pferd und Reiter. Ein Geben und Nehmen. Einer trage des anderen Last ist ein wechselseitiges Geschehen – das zerbricht, wenn die Rollen statisch werden: einer, der nur trägt, einer der nur getragen wird. Diese Art der Beziehung muss auf Dauer an ihrer Einseitigkeit scheitern.

So ist es auch mit dem Leben: Leben spielt sich im „Dazwischen“ ab. Mal so, mal so. Leben ist nicht statisch. Natürlich gehört zum Leben krank sein dazu, und Schmerzen haben, und traurig sein, und nicht schlafen können und sich aufregen und enttäuscht sein und zu viel getrunken haben und was es so alles gibt. Und dass mein Leben ein Ende hat. „Aus Staub bist du gemacht, zu Staub wirst du wieder werden.“ Natürlich ist das alles so. Sich darüber Sorgen zu machen führt zu nichts. Viel interessanter ist zu erleben, zu spüren: es gibt ein dazwischen, es gibt ein heute, es gibt ein jetzt. Und dieses Jetzt ist alles, alles, was wir haben!

Je sicherer und selbstverständlicher wir verankert sind in unserem vergänglichen Leben, desto großzügiger werden wir auch mit den großen und kleinen Fehlern unserer Mitmenschen umgehen können. Der „sanftmütige Geist“, von dem Paulus spricht, der dazu dienen soll, dem anderen „aufzuhelfen“, entstammt einer tiefen inneren Zufriedenheit. Je selbstverständlicher ich in Gott verankert bin, desto weniger kann mich der andere nerven. Desto mehr Spielraum finde ich in mir, den Anderen so anzunehmen, wie er eben gerade ist. Und erst in diesem Spielraum entsteht die Möglichkeit, sich über „Schwieriges“ liebevoll auszutauschen. Wenn ich mich von vorne herein unverstanden fühle – wenn ich eh’ damit rechne, wieder eine (verbale) Ohrfeige zu bekommen: dann schütze ich mich doch lieber, halte mir die Hände über den Kopf – anstatt dem anderen in die Augen zu schauen und mit ihm in einen wahrhaftigen Dialog zu treten.

Und dann sagt Paulus etwas so Wichtiges: „Und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest.“ Ins Bayrische übersetzt heißt das: „nimm dich erst bei deiner eigenen Nasen – anstatt deine Nase in die Angelegenheiten anderer hinein zu stecken!“ Es ist genauso leicht, die Fehler beim Anderen zu sehen, wie es schwer ist, die eigenen Schattenseiten kennen zu lernen und ernst zu nehmen.

Es ist um so viel leichter, noch einmal deftig ausgedrückt, sich über jemand Anderen „das Maul zu zerreißen“ als bei sich selber nach zu schauen, was meine Affekte mit mir selber zu tun haben. Das sind die Lasten, die ich dem Anderen zumute, ohne es zu merken: er wird zum Träger meiner eigenen Schattenseiten, meiner eigenen Balken im Auge. Eine besonders schwere Last für unsere Mitmenschen sind unsere Sehnsüchte und Wünsche. Die Sehnsucht nach einem Retter, nach einem Messias, der mir alle meine Wünsche erfüllt, der mir alles Schwere abnimmt, der mich versorgen soll: der Träger meiner Hoffnungen. Begabte Kinder sind besonders missbrauchbar als Hoffnungs- und Sehnsuchtsträger. Und wenn sie die eigenen Hoffnungen nicht erfüllen heißt es: „ich mache mir solche Sorgen um dein Leben.“ Übersetzt heißt das: ich ertrage es nicht, dass du dich anders entwickelst, als ich es für richtig halte!

„Einer trage des Anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen!“ Noch einmal: ein wunderschöner Gedanke. Mit einer weiteren Ergänzung: im Rahmen der eigenen Kräfte und Möglichkeiten. Es gibt gerade in den „helfenden Berufen“ eine Verführung hin zu einer falsch verstandenen, größenwahnsinnig gewordenen Idee, den Anderen tragen zu können. Die Wirklichkeit ist: ich kann niemand, der beschlossen hat, sein Leben zu zerstören, sei es durch Drogen, sei es durch Suizid, davor bewahren. Ich kann niemand aus dem Sumpf seiner Depressionen ziehen. Das ist so, weil wir in der Tiefe allesamt allein und auf uns gestellt sind.

Aber auch hier gibt es ein „dazwischen“: ich kann dem anderen wirklich zuhören. Ich kann versuchen auszuhalten, was mir gesagt wird, ohne gleich mein Eigenes hinzustellen. Es gibt Menschen, die warten in Gesprächen nur darauf, das, was sie wichtig finden, in einer Art Monolog vor sich hinzustellen. Der Andere ist dann nicht Gesprächspartner, sondern Publikum. Statt eines raumöffnenden Dialoges entsteht ein eintöniger Monolog.

Eine andere Möglichkeit, den Dialog im Keime zu ersticken ist das Bewerten. Der sich öffnende Dialog, vertrauensvolles Loslassen geschieht erst da, wo ich mich angenommen fühle. Wo mir nicht ein besserwisserisches Wertesystem von „wie es sich gehört“ und „was an mir falsch ist, und was ich besser machen soll, und wie ich anders sein soll, und überhaupt…“ übergestülpt wird. Natürlich ist es viel leichter, das Gehörte nach dem eigenen Raster zu bewerten. Es erspart mir Gefühle der Verunsicherung.  Und es erspart mir die Schmerzen des mich wirklich in den Anderen Hineinzufühlen – gerade in seine Schwächen. Und in der Tiefe glaube ich spüren wir, ob und wie der Andere an uns selbst interessiert ist, oder daran, seine eigenen Überzeugungen auszubreiten. Und in der Tiefe spüren wir auch selbst, wie viel anteilnehmendes Interesse wir für den Anderen, den Fremden aufbringen.

Paulus bezieht dieses tiefe unbewusste Wissen auf Gott selbst, wenn er am Ende unseres Predigttextes schreibt:

„Irrt euch nicht. Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer auf sein Fleisch sät, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten. Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen. Darum, solange wir noch Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.“ (Vers 7 –10).

„Gott lässt sich nicht spotten!“ Spott, Gelächter, Sarkasmus über die Kirchen, über religiös ausgerichtete Menschen ist verbreitet. Gott reimt sich ja auch auf Spott – und umgekehrt! Die kirchliche Seite antwortet gerne mit der Überheblichkeit des: ‚Ihr werdet schon sehen, wohin ihr mit eurem Spott kommt’. Auch hier gilt es, ein Dazwischen zu finden: zwischen Spott und Bigotterie. Der Spötter erspart sich die mühsame Auseinandersetzung und den harten Weg, moralische, religiöse Positionen zu beziehen. Der allzu Fromme erspart sich dasselbe von der anderen Seite: er übernimmt „kindlich“, was ihm gesagt wird, versucht mit seinem kindlichen Glauben an einen im Himmel sitzenden allmächtigen Vater durchs Leben zu kommen. Dazwischen ist das Ringen und Kämpfen um einen Glauben an Gott, der im Alltag trägt und der sich im Alltag ausdrückt. Dazu gibt es jetzt noch eine Geschichte, eine alte chassidische Geschichte:

„Rabbi Israel von Rizin, genannt der Riziner, bekam einmal von einem jungen Mann einen Bittzettel, darauf stand, Gott möge ihm beistehen, damit es ihm gelinge, die bösen Triebe zu brechen. Der Rabbi sah ihn lachend an: „Triebe willst du brechen? Rücken und Lenden wirst du brechen, und einen Trieb wirst du nicht brechen. Aber bete, lerne, arbeite im Ernst, dann wird das Böse an deinen Trieben von selbst verschwinden.“ (Chassidische Geschichten S. 500)
Beten, lernen und im Ernst arbeiten – das können wir bis ins hohe Alter. Wobei ich unter Ernst die Abkehr von zynischer Verspottung verstehe – aber nicht Freudlosigkeit. Im Gegenteil: Ohne Freude taugt weder das Beten, noch das Lernen, noch das Arbeiten. Und deshalb brauchen wir so dringend die Sätze des heutigen Evangeliums dazu: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes … so wird euch alles andere zufallen. Darum sorge nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Mühe und Plage hat.“ AMEN.

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Predigt über 1. Johannes 1,5-2,6 am 3. Sonntag nach Trinitatis in der Thomaskirche Grünwald (Juni 2012)

Predigt über 1. Johannes 1,5 – 2,6 am 3. Sonntag nach Trinitatis
Lothar Malkwitz

Liebe Gemeinde,

„Gott ist Licht und in ihm ist keine Finsternis“: mit dieser These beginnt der heutige Predigttext aus dem 1. Johannesbrief. Dem scheint die Kernaussage der mystischen Theologie zu widersprechen: dass der Weg zu Gott in einer „dunklen Nacht“ zu beschreiten ist. „Scheint“. Es hat den Anschein. Es gibt ein Licht, das blendet, das täuscht. Es gibt ein trügerischer Licht: wir nennen es „Illusion“ (wörtlich: Irr-Licht). Die Personifizierung des Irr-Lichtes heißt „Luzifer“ (wörtlich: der Licht-Träger). Für Luzifer ist es unerträglich, ein „Gefäß“ für das göttliche Licht zu sein. Er möchte selbst leuchten. Daran zerbricht er, zerbricht sein Gefäß und er fällt in den namenlosen Abgrund höllischer Einsamkeit.

„Gott ist Licht und in ihm ist keine Finsternis“ – und genau darin unterscheidet sich Gott von uns Menschen. Wir Menschen sind finster. Wir sind für uns selbst finster. Unser Leben entsteht in der Dunkelheit. Neun Monate wachsen wir und entwickeln uns, ohne das „Licht dieser Welt sehen zu können.“ Höchstens ein rötliches Schimmern nehmen wir am Ende der Schwangerschaft wahr. Und dann gibt es diesen Augenblick des auf die Welt Kommens, in dem wir das Licht der Welt erblicken, mit weit geöffneten Augen – und das ist „alles“ viel zu viel – und unsere Augen verschließen sich wieder. Und jeden Abend schließen sich unsere Augen und es kann so wohlig sein, sich von der Dunkelheit umfangen zu lassen… Und es kann so verdammte Angst machen, dass wir nicht einschlafen können.

Das ist also die „Paradoxie“, der „zweifache Schein“: unser getrennt sein von Gott bedingt den Unterschied zwischen ihm und uns, bedingt, dass wir Gott wenn überhaupt nur im Dunklen, im Abgedunkelten begegnen können, so wie es „Ein-Sichten“ gibt, die zu heftig sind, zu schmerzhaft. Ich denke an Familienaufstellungen, wo Emotionen ans Tageslicht kommen können, die ohne Schutz und Begleitung vernichtend sein können. Ich denke auch an das Sich-Einlassen auf das Leiden in dieser Welt.

„Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit.“ So fährt unser Predigttext fort. Das ist die geläufige Verführung, reden tut nicht weh, gesagt ist etwas leicht – ganz etwas anderes ist es, ob das Gesagte gilt, ob ich mich selbst, ob ich den anderen „beim Wort nehmen“ kann. Sprache erhellt, „bringt Licht ins Dunkle“. „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.“ In der „Finsternis wandeln“ meint ein „sprach- und gedankenloses Tun“ (kein Handeln). Die Wahrheit tun heißt, Sprache und Handeln in Einklang bringen.

Aber bringt nicht auch der Verführer Sprache und Handeln in Einklang, war nicht in Hitlers „Mein Kampf“ sehr präzise nachzulesen, was dieser Mann vorhatte? Wer Sprache und Handeln in Einklang bringt, der ist deshalb so gefährlich, weil er weiß, was er will. Das war eines der Probleme, dass Viele nicht glauben wollten, dass Hitlers gesprochenen und geschriebenen Sätze ernst zu nehmen sind, so ernst, weil sie verwirklicht werden sollten. Nur: die Gedanken, auf denen ein Hitler, ein Diktator, ein rechtsradikaler Bombenwerfer sein Tun gründet: sie entsprechen nicht der Wahrheit. Die Wahrheit ist in Diktaturen gefangen genommen, sie soll gerade nicht ans Licht kommen. Wir müssen also unterscheiden: Sprache und Handeln in Einklang bringen sagt nur etwas über Wirksamkeit (Effizienz), nicht etwas über Wahrheit aus. Die Wahrheit beginnt da, wo jemand den Mut hat, über die Bedeutung seiner Gedanken nachzudenken. Hätte Hitler den Mut gehabt, sich zu fragen: „Was bedeutet es, was hat es mit meiner Lebensgeschichte zu tun, dass ich einen derartigen Hass auf alles Jüdische habe?“ er hätte allein durch diese Frage seinem „blinden“ Hass den Schimmer einer Relativierung hinzufügen können.

Die Wahrheit tun heißt, Gedanken zu finden, heißt eine Sprache zu entdecken, in der die „Bedeutung“ meines Handelns und Wandelns auf dieser Welt durchscheint. Indem ich in der Lage bin anzuerkennen, es bedeutet etwas, dass ich gerade jetzt krank bin, dass ich mich schlecht fühle, dass ich unbedingt etwas erreichen will, dass ich in der Situation gelogen habe, dass ich nicht aushalte, wie etwas ist,  beginnt „es mir zu dämmern“, beginnt „ein Licht“ in meine Blindheit „hinein zu leuchten“. Ein Licht, das meinen Standpunkt relativiert. Ein Licht, das wir Menschen zum menschlich Werden unbedingt brauchen, wollen wir nicht als Sklaven unseres eigenen Hasses unser Leben fristen.

Johannes drückt das so aus: „Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde. Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit. Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.“

Das „Referenzsystem“, das Johannes benennt, ist der „Sohn“: „wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist.“ Und wie ist der Sohn im Licht? Als das ewige Wort des Vaters. Als der vom Vater Unterschiedene und darin der mit ihm Geeinte. Gemeinschaft entsteht erst in der Unterschiedenheit. Und Unterschiedenheit geschieht in einer sich trennenden Bewegung. Was ist eine sich trennende Bewegung? Es ist eine Rückzugs-Bewegung. Erst und indem ein „Rückzug auf sich selbst“ möglich wird, entsteht „Zwischen“-Raum. Und erst die Entdeckung des Zwischenraumes ermöglicht eine Ahnung der überaus schmerzhaften Wahrheit, dass wir alle, die wir hier gemeinsam sind, auch alleine sind, jeder für sich, jeder in seinem einmaligen Leben sich befindend, jeder seinen eigenen Tod sterbend. „Wenn wir im Licht dieser Wahrheit wandeln“, dann erst entsteht lebendige Gemeinschaft zwischen uns: erst dann kommen wir in die Lage, uns füreinander zu interessieren, uns gegenseitig wahrzunehmen. Dies ist die Bewegung des Lebens. Ihre Gegenbewegung ist die des Todes: in ihr zielen meine Gedanken darauf, den anderen mir gleich zu machen, oder, was dasselbe ist, mich dem anderen gleich zu machen. In der „Bewegung des Todes“ setzt sich der einzelne Mensch absolut. In der „Bewegung des Lebens“ entdeckt sich der einzelne als ein Teil der Gemeinschaft. Die „Bewegung des Todes“ ist selbst-verliebt, die „Bewegung des Lebens“ ist sozial.

„Zwischen den Eltern darf kein Blatt hinein passen“, hörte ich kürzlich jemand sagen. „Sonst werden die Kinder verwirrt.“ Es ist anders herum. Kinder, die nicht lernen können, zwischen den Eltern zu unterscheiden, werden verwirrt. Als Erwachsene ertragen sie nur „den einen, absoluten Standpunkt“. Sie konnten nicht lernen, dass es eine mütterliche und eine väterliche Position gibt, dass sich diese beiden Positionen voneinander unterscheiden und in Achtung und Liebe aufeinander bezogen sind. Beides gilt: die liebende Beziehung von Vater und Mutter trägt ihre Unterschiedenheit und umgekehrt belebt, stimuliert gerade diese Unterschiedenheit die wechselseitige Liebe belebt. Gleichheit ohne Unterschiedenheit hingegen führt in die Monotonie der Langeweile. Faschistische Strukturen sind monoton. Faschistische Kunst ist langweilig. Abbild des Todes.

„Und das Blut seines Sohnes macht uns rein von aller Sünde“ – unsere Ur-Sünde ist nicht die, uns von Gott zu unterscheiden, unsere Ur-Sünde ist, uns an die Stelle Gottes zu setzen. Nicht wahrhaben zu wollen, dass wir nicht Gott sind: nicht allwissend, nicht allmächtig, nicht absolut. Und indem wir selbst an der Stelle Gottes sitzen, meinen wir, unser Mit-Mensch, unser Mit-Tier, unsere Mit-Pflanze muss unserem Bilde entsprechen, ja nach unserem Bilde leben! Und unser Bild, das sind unsere Bedürfnisse, in denen der, die, das Andere aufzugehen hat. Grenzen verweisen auf Unterschiede. Sie werden in diesem Geschehen einfach übergangen. Ein wegen Steuerhinterziehung angeklagter Topmanager hat vor kurzem in einem Interview gesagt: (ich zitiere sinngemäß) „Was heißt hier Steuerhinterziehung? Ich habe soviel für diese Gesellschaft getan, da steht es mir zu, mir auch was zu nehmen.“

„Es steht mir zu!“ Wer meint, das, was er tut, stehe ihm zu, der ist immun für „Sünde“. Und so ist er auch immun für Vergebung. Juristisch heißt das: es fehlt das Unrechts-Bewusstsein. Neutraler ausgedrückt: es fehlt das Bewusstsein für eine Grenze. Verschiedenheit ist nicht denkbar.

Und schon lauert die nächste Gefahr: dass der Prediger und die Gemeinde sich genau darauf einigen: wir hier sind die Anderen, wir sind die Guten, wir wissen das, wir halten uns an die Regeln und an die Gesetze. Das ist die Position des daheim gebliebenen Sohnes, der sich bitter darüber beschwert, dass für seinen Bruder aus Freude über seine Rückkehr ein Lamm geschlachtet wird. Welch’ ein ungerechter Vater!

Auch der daheim gebliebene Sohn „wandelte nicht in der Wahrheit“. Wäre dem so, würde er sich mit dem Vater über die Umkehr seines Bruders freuen. Die „Sünde“ des daheim gebliebenen „braven“ Sohnes ist es, die Trennung vom Vater gar nicht erst gewagt zu haben, sich mit dem Willen des Vaters „gleich geschaltet“ zu haben. An seinem Ärger über die freudige Aufnahme seines Bruders wird deutlich, dass er nicht aus innerer Freiheit und Souveränität bei seinem Vater geblieben ist. Wäre dem so, würde er sich mit seinem Vater über die Rückkehr des Bruders freuen. So aber gönnt er seinem Bruder die Freude seines Vaters nicht, ist offenbar neidisch, nach der Art: wenn das so ist, dann habe ich mich ja ganz umsonst jahrelang geplagt.

Was die beiden Brüder eint, was uns eint, ist die Gemeinschaft des Sünder-Seins. Nicht so, dass wir jetzt nur mehr auf Knien herum rutschen und unser „mea culpa“ auf die Brust schlagen. Aber so, dass wir anerkennen: es gehört zum Menschsein die dringende Sehnsucht nach „Gleichmachen“ ebenso dazu, wie sich vom Anderen trotzig abzuwenden, sich sein Erbe auszahlen zu lassen und es „durchzubringen“. Die beiden Söhne sind die beiden notwendigen und unvermeidlichen Seiten menschlicher Entwicklung: man könnte auch sagen der „brave“, angepasste Sohn und der „böse“, sich ablösende Sohn. Bleibt man auf der Ebene dieser „Spaltungen“ zwischen brav und böse („Brave Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin“) stehen, wird weitere Entwicklung blockiert. Es sind gleichzeitig die Wölfe gegen die Lämmer zu verteidigen und die Lämmer vor den Wölfen in Schutz zu nehmen. Anders ausgedrückt: Die Positionen der beiden Brüder sind richtig, beide Brüder haben „sozusagen recht“. Und beide Positionen sind „sündig“, sind von Gott fern. In beiden Positionen fehlt nämlich das Entscheidende: die Anerkenntnis des Dritten. Der „brave“ Sohn bleibt in der Zweieinigkeit mit dem Vater, der „böse“ Sohn bleibt in der „Zweieinigkeit“ gegen den Vater. Noch einmal anders: der böse Sohn braucht Aspekte des braven Sohnes, der brave Sohn braucht Aspekte des bösen Sohnes. Zurecht heißen sie in der Geschichte Brüder: es sind Verwandte, die einander brauchen, die nur zusammen gedacht „ein Ganzes“ ergeben.

Erst indem dies anerkannt wird, beginnt der wirkliche Weg zu Gott. Zu jenem Gott, der im Dritten geschieht. Der mit Johannes vom Kreuz eine „dunkle Nacht“ für unsere Sinne wie für unseren Verstand ist. Natürlich: unser Verstand lebt von der Unterscheidung in falsch und richtig, in gut und böse. Und unsere Sinne können mit Gott von vorneherein nichts anfangen, da sich Gott weder sehen noch hören noch riechen noch tasten noch schmecken lässt.

Erst indem dies anerkannt wird, beginnt unser Denken über unsere Sinne und über unseren Verstand „hinaus“ zu wachsen.  Es wächst „hinein“ in eine Sphäre, die mit Worten nur schwer zu beschreiben ist. Es ist jene Sphäre, in der alles auf seinen guten Platz gekommen ist: das Ja, das Nein und schließlich das „es ist“.

Dies ist die Sphäre der Liebe.

Die Sphäre der Liebe ist in der konkreten Entscheidung nicht zu finden. Was wir uns aber fragen können, ist: was ist das Referenzsystem meiner Entscheidung, worum geht es mir bewusst/unbewusst wirklich, was treibt mich zu meinem Tun? Luther hat dazu gesagt: woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott. Die Frage ist nur, wie finde ich „das“, woran ich mein Herz hänge?

Das, woran sie Ihr Herz hängen, liebe Gemeinde, erkennen Sie an Ihren Gefühlen und den daraus sich speisenden Gedanken: je absoluter, ausschließlicher, rechthaberischer diese werden, desto sicherer sind Sie einem vermeintlich guten oder einem vermeintlich bösen Sohn auf der Spur. Und je freier, je gelassener, je großzügiger und barmherziger Sie ihre Gefühle zu sich selbst und zu ihren Mitmenschen erleben, desto gewisser sind Ihre Gedanken auf den Spuren der Liebe unterwegs. Zu deren Spuren auch das Anerkennen gehört, dass natürlich zum Leben auch das Schuldig-Werden gehört – wie zum Essen die Ausscheidung. Ein guter Tag ist nicht ein Tag ohne Sünde, ein guter Tag ist ein Tag, an dem ich mir Mühe gebe in der Sphäre der Liebe zu bleiben, gerade dann, wenn ich merke, dass ich „gesündigt“ habe. Die Sphäre der Liebe, das ist die Sphäre der freundlichen Aufmerksamkeit für all das, womit ich gerade zu tun habe. Und natürlich gehört zu der Sphäre der Liebe auch die „Nachsicht“ gegenüber den Verfehlungen, dem Sünder-Sein meiner Mitmenschen. Die Liebe, die ich versuche zu leben und zu predigen, hat also gar nichts mit: „alles ist toll zu tun“; aber viel mit Fürsorge, Nachdenklichkeit aber auch Gelassenheit und Heiterkeit.

Und in dieser Stimmung endet auch unser heutiger Predigttext:

„Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt. Und wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist. Und er ist die Versöhnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt. Und daran merken wir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten. Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner, und in dem ist die Wahrheit nicht. Wer aber sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe Gottes vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind. Wer sagt, dass er in ihm bleibt, der soll auch leben, wie er gelebt hat.“

Wir haben gesagt, das Referenzsystem, der Maßstab für unser Handeln ist der Sohn. Der Sohn ist der, der sich mit dem Vater über die Umkehr des Sünders freut. So können die beiden Brüder nur gemeinsam zum Sohn werden. Die beiden Brüder sind Aspekte des Lebens, die auf einander zu beziehen sind. Anpassung in Freiheit, oder Eins-Werden im Getrennt-Sein könnte man es nennen. Oder, vertrauter ausgedrückt: Der Sohn ist das Offenbar-Werden der Liebe Gottes selbst. In dieser Liebe lösen sich unsere Verhärtungen auf – vorausgesetzt, wir sind in der Lage, unser Sündig-Sein anzuerkennen. In dieser Liebe gibt es kein falsch und kein richtig mehr, kein gut und kein böse, kein moralisch und kein unmoralisch. Es sind eben diese Verhärtungen des Entweder-Oder-Denkens, die den als Liebe des Vaters „eingeborenen“ Sohn zerstört haben. Sein Blut hat aber uns von diesen Blockaden befreit, hat uns „gereinigt“. Indem wir uns in dieses Geschehen hineinbegeben, ergießt sich Gottes Liebe über uns, strömt in uns hinein. Das ist das Wirken des Heiligen Geistes. Und in dieser Liebe löst sich unser Denken auf, wird es Teil des einen großen Seins. Oder des einen großen Nichts. Beides ist dasselbe.
Gebe Gott, dass wir die Kraft finden, unsere Sünden zu erkennen, um dadurch hinein wachsen zu dürfen in jene Liebe, die höher ist als all unsere Vernunft. Gebe Gott, dass wir die Kraft finden, uns vergeben zu lassen, so dass wir gar nicht mehr anders können, als seine Liebe auszustrahlen, AMEN.

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Predigt am Sonntag Trinitatis über Epheser 1,3-5

Predigt über Epheser 1, 3-14 an Trinitatis 2012 in der Jakobuskirche in Pullach
von Lothar Malkwitz

Liebe Gemeinde,

heute wird wieder einmal deutlich, dass Masse über Bedeutung nur bedingt etwas aussagt. Von der Anzahl der Gottesdienstbesucher her betrachtet, scheint unser heutiger Sonntag Trinitatis ziemlich bedeutungslos zu sein. Im Ranking der Sonntage des Kirchenjahres dürfte er abgeschlagen am unteren Ende liegen, nicht wert, dass man in ihn investiert. Weihnachten, Ostern, Erntedank, Sommerfest – das sind die Spitzenreiter gemeinsam mit den Konfirmationssonntagen. Schon Pfingsten ist abgeschlagen, obwohl mit zwei Feiertagen ausgestattet. Und dann heute Trinitatis.

Nun –  ich behaupte: Weihnachten, Ostern werden ebenso überbewertet wie Trinitatis unterbewertet wird. Weihnachten ist eine Blase voller Illusion und Sentimentalität. Ostern läuft große Gefahr, als Feier menschlicher Allmachtsfantasien missbraucht zu werden. In Trinitatis hingegen geht es um nichts weniger als um – Gott selbst! Trinitatis ist ein echter Geheimtipp! Wenn Sie mich fragen: ich rate in Trinitatis zu investieren!

Trinitatis ist nichts Geringeres als das Fest der Erkennbarkeit Gottes. Nicht der Erkenntnis, denn „die Erkenntnis Gottes bleibt eine dunkle Nacht bis zu unserem Lebensende“ wie der Heilige Johannes vom Kreuz betont. Trinitatis ist das Fest der Möglichkeit, IHN selbst, gepriesen sei sein Name, zu entdecken. Und so ist es gut, die langen nun folgenden Sonntage bis zum Ende des Kirchenjahres von diesem Sonntag Trinitatis aus zu zählen.
Man könnte es auch anders sagen: In und mit Trinitatis wird unser Glaube an Gott erwachsen. Das heißt, er entwächst kindlichen Sehnsüchten, Illusionen und Projektionen, und erwächst so als ein Glaube, in dessen Zentrum weder das überhebliche Triumphieren noch das verbitterte Bitten und Klagen steht. Von Trinitatis herkommend ist die Mitte unseres Glaubens das Denken und das Danken, der Lobpreis: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen (Zebaoth), alle Lande sind seiner Ehre voll!“ (Jesaja 6,3) Das ist das Wort dieser Woche, mit ihm begann unser heutiges Zusammensein.

Auch unser heutiger Predigttext beginnt mit einem dreifachen Lobpreis – er steht zu Beginn des Briefes des Paulus an die Epheser:
„3 Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen im Himmel durch Christus.“
Dreimal verwendet Paulus hier das griechische „eulogeo“: wörtlich heißt es „gut reden“ (lateinisch: („bene dicare“). Indem wir von Gott „gut reden“, redet Gott auch von uns gut. Das ist das Verblüffende: es gibt nicht nur einen „Teufelskreis“, sondern auch einen „Gotteskreis“, ein Mehren und Wachsen und Gedeihen „im Segen“. Und Segen heißt nicht nur „gut reden“, in „Segen“ steckt auch das Lateinische „signum“, das von „secare“ „schneiden“ abstammt und wohl zunächst „ein auf Holzstäben eingekerbtes, eingeschnittenes Zeichen“ darstellte. Die Säge als „Schneidewerkzeug“ erinnert noch an die Stammverwandtschaft von „Segen“ und „Säge“. So finden sich in dem Begriff „Segen“ die zwei großen Errungenschaften der Menschheit: die Sprache („gut reden“) und die Schrift („signum“).

Paulus „lobt Gott“ (wörtlich: „segnet“ Gott) für den Segen, den wir Menschen durch Jesus Christus empfangen dürfen. Die Rede von Jesus Christus verführt natürlich sofort zu konkretem Denken. Und wahrscheinlich brauchen und suchen wir Menschen auch immer wieder das Konkrete, weil es uns Halt und Sicherheit gibt. Aber das Wesen dieses Segens besteht nicht in etwas Konkretem, Dinglichem: es ist ein „geistlicher Segen im Himmel“. Was heißt das? Es ist der Segen des Heiligen Geistes, der an Pfingsten „sich offenbarte“. Und das Gute am Heiligen Geist ist, dass er sich jeder verdinglichten, verfestigten Vorstellung von vorneherein entzieht. Er „weht, wo er will“ (Joh. 3,8a). Aber er weht nicht willkürlich, nicht nach Lust und Laune.  Er ist ein „vinculum“, eine Verbindung, wie der Heilige Augustinus sagt, nämlich die liebende Verbindung zwischen Vater und Sohn. Im Heiligen Geist ist die Liebe entsprungen, die Liebe, die Raum schenkt für drei.

Und das ist das Geheimnis des Glücklichseins: indem Platz ist für drei, muss sich keiner mehr verloren, verlassen oder gar verraten fühlen! Im Heiligen Geist verwandelt sich das „oder“ in ein „und“, verwandelt sich der Ausschluss in ein konstruktives Miteinander. Der Heilige Geist ist der „Dritte Weg“, der sich dem eröffnet, der es wagt, sein Entweder-Oder-Denken zu hinterfragen. Schärfer formuliert: das Entweder-Oder-Denken, das digitale Denken ist unheimlich erfolgreich für Unlebendiges – um aber Lebendigem nachzudenken, bedarf es eines beseelten, eines geistlichen Denkens.

Sie können es auch anders herum sich verdeutlichen: überall da, wo das Dritte ausgeschlossen wird, entsteht Geist- und Seelenloses, findet eine tödliche Reduktion statt. Unsere  Seele selbst ist insofern die „leibliche Schwester“ des Heiligen Geistes, als auch sie ein Drittes, nämlich die lebendige Verbindung von Körper und Verstand darstellt. Und so hatten unsere Altvorderen sehr recht, wenn sie sagten, Gottes Wohnstatt ist die Seele – natürlich nicht nur die von uns Menschen, sondern des Belebten schlechthin. Würden wir Menschen dies wirklich Ernst nehmen, könnten wir Menschen dies wirklich erleben, dann wären wir gar nicht mehr dazu in der Lage, geist- und gedankenlosen Raubbau an uns selbst, an unseren Mitmenschen, am Leben auf dieser Erde vorzunehmen. „Alle Lande sind gefüllt mit Gott“ – wörtlich heißt das: „die Erde“ ist voll mit Gottes gutem Geist! „Gott wohnt auf unserem Planeten.“ Aber leider gilt eben auch der „Teufelskreis“: wer in sich das Dritte als vernichtet erlebt, der muss diese Vernichtung auch nach außen tragen.

Aber warum ist die Vernichtung des Dritten so weit verbreitet und warum ist „Zweieinigkeit“ so verführerisch?

Ich glaube, weil wir Säugetiere sind. Und weil wir als Säugetiere alleine nicht überleben können. Wir brauchen den Anderen. Schon als „Junge“ konnten wir nur überleben, weil es eine Brust/Flasche gab, die uns fütterte. Die Anwesenheit dieser Lebensquelle war unabdingbare Voraussetzung für unser Überleben. Am Anfang unseres Lebens sind wir „unbedingt (absolut) abhängig“.  Alleinsein ist tödlich. Genauer: zu langes Allein-gelassen-Werden ist tödlich. Denn natürlich sind wir auch von Anfang an allein: bereits im Mutterleib sind wir „allein“ in dem Sinne, dass wir „ganz“ sind, und nicht ein Teil der Mutter. Das Gefühl „ein Teil des Anderen“ zu sein, ist Ergebnis eines langen zerstörerischen Prozesses, in dem das „Eigen“-Sein oder „Selbst“-Sein des Anderen konsequent abgelehnt (ex-kommuniziert) worden ist. Wer in einer Atmosphäre aufwächst, in der kein Raum für „Drittes“ ist, der kann sein „Eigen-in-Beziehung-Sein“ nicht finden. Und so kann er nicht erkennen, dass er selbst wesentlich ein „Dritter“ ist: das Zusammen-Treffen („co-itus“) einer Samen- und einer Eizelle. Dieses „Dritter-Sein“ bildet sich in der Wirklichkeit selbst des kleinsten Babys ab: es ist ein „eigenes Lebewesen“, dessen zentrale Lebensfunktionen, nämlich zu atmen, zu essen und zu verdauen ihm niemand abnehmen kann –  und zugleich ist es für sein Überleben auf die Beziehung zu anderen so dringend angewiesen.

Die Zweieinigkeit ist das süße Gift, sich vorzutäuschen, man könne ohne den Dritten leben. Wenn das „Junge“ spürt, von einer Brust abhängig zu sein, die es nur nährt, wenn es alles „Eigene“ aufgibt, wenn es ganz mit den Bedürfnissen der „Brust“ verschmilzt, dann gibt es kein Wachsen. Wachsen, Entwicklung bedarf eines Wachstums-Raumes und dieser entsteht erst in und mit dem Dritten. In der Zweieinigkeit  gibt es nur entweder „entzückende“ Verschmelzung, oder „höllische“ Einsamkeit. Gibt es nur „Hochgelobt sei der da kommt, im Namen des Herrn“ oder „Kreuzige ihn!“  Zur Zweieinigkeit gehört notwendig der Hass auf den Dritten und der Triumph der Verschmelzung! So ist die Zweieinigkeit die Keimzelle für Verfolgung, Fanatismus und Gewalt.

Ich vermute, für Paulus war die Entdeckung von Christus als Messias der erlebte Durchbruch zu einem dritten Weg. Auf ihm verwandelte sich der Verfolger in einen Bekenner, in einen Missionar – mit gefährlichen Tendenzen freilich zu einer neuen Zweieinigkeit… und einer neuerlichen Verfolgung des Fremden, des Dritten.

Im Namen des trinitarischen Gottes eröffnet sich ein Weg jenseits von Verfolgung, Zwang und Gewalt. Ein Weg der Freiheit des „mit meinem Eigenen-in-Beziehung-Seins“. Und dieser Weg fühlt sich an! Er fühlt sich an als „ein innerliches zur Ruhe Kommen“, als eine „Gelassenheit und Zufriedenheit“, als eine „lebendige Gelöstheit“. Innere Hetze, sich von Terminen gejagt fühlen, nicht zur Ruhe Kommen, chronische Unzufriedenheit, nicht Schlafen können – all’ dies ist Ausdruck, dass das Dritte in uns, dass die Wirkung des Heiligen Geistes geschwächt, schlimmstenfalls zerstört ist.

Kehren wir zurück zum Epheserbrief: In den folgenden Zeilen führt Paulus den „geistlichen Segen“, mit dem uns Gott gesegnet hat aus: „4 Denn in Christus hat er uns erwählt, ehe der Grund der Welt gelegt war, dass wir heilig und untadelig vor ihm sein sollten;“

„In ihm (Christus) hat er uns erwählt …“ „Ek-legomai“  – nicht das „Ek/Ex“ des Aus-Schließens (Ex-Kommunikation), sondern das Ek/Ex des Heraus-Holens aus der verführerischen Zwei-Einigkeit ist das Wirken Gottes!  Das Wirken Gottes gleicht dem einer „geistlichen Hebamme“: er steht uns bei, auf die Welt zu kommen und uns frei in dieser Welt zu bewegen. Und diese Freiheit ist eine Freiheit für diese Welt:  nicht moralisch ist das „heilig und untadelig“ gemeint, sondern ganzheitlich, selbstverständlich. Nur der innerlich Abhängige lebt rücksichtslos – der Freie lebt auch sich heraus besonnen, verantwortungsvoll in Rücksichtnahme. Der Freie lebt aus der Freiheit der verinnerlichten liebevollen Beziehung: theologisch ausgedrückt: die Liebe zwischen Vater und Sohn – menschlicher ausgedrückt: die Liebe zwischen Mutter und Vater. Wer als Kind das Glück hatte, ein sich liebendes Elternpaar zu erleben und verinnerlichen zu können, dessen Leben wird ein gesegnetes sein. Paulus formuliert diese Liebe wieder in Bezug auf den trinitarischen Gott:

„In seiner Liebe 5 hat er uns dazu vorherbestimmt, seine Kinder zu sein durch Jesus Christus nach dem Wohlgefallen seines Willens, zum Lob seiner herrlichen Gnade, mit der er uns begnadet hat in dem Geliebten.“ So fährt Paulus seinen Lobpreis fort. „Liebe“ ist freilich besonders missbrauchbar für zweieinige, romantische Verschmelzung. In Wirklichkeit ist Liebe wesentlich auf die Entstehung und das Wachstum eines Dritten ausgerichtet. Indem wir uns geliebt fühlen, können wir diese Liebe weitergeben, an alles was uns umgibt. Und so werden wir zu „Kindern Gottes“ – nicht infantil miss zu verstehen -, sondern als Erwachsene leben wir in kindlicher Offenheit, Neugierde und Herzensfreude.

Und Paulus fährt fort: „In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden, nach dem Reichtum seiner Gnade… (ich kürze aus Zeitgründen) „… in ihm sind wir auch zu Erben eingesetzt worden…“

Wieder so ein missverständlicher Satz. Der Streit der Religionen ist letztlich ein Erbstreit. Jede beansprucht, der wahre Erbe zu sein. Daraus entsteht ein falsches egoistisches Lob Gottes: „Ich danke dir, dass du mich zum Erben eingesetzt hast!“ Das heißt in Klammern -: und nicht die Anderen!

Ich möchte Ihnen abschließend eine Geschichte erzählen, die gut zusammenfasst, worum es mir heute geht:

„Mein Freund und ich gingen auf die Weltmesse der Religionen. Keine Handelsmesse, eine religiöse Messe. Aber der Wettbewerb war genauso verbissen, die Reklame genauso laut.
Am jüdischen Stand erhielten wir Prospekte, die besagten, Gott sei allbarmherzig und die Juden sein auserwähltes Volk.
Am islamischen Stand erfuhren wir,  Gott sei voller Gnade und Mohammed sein einziger Prophet. Das Heil erlange man, wenn man auf den einzigen Propheten Gottes höre.
Am christlichen Stand entdeckten wir, dass Gott die Liebe sei und es außerhalb der Kirche keine Rettung gäbe. Nur ein Mitglied der Kirche läuft nicht die Gefahr ewiger Verdammnis.
Beim Hinausgehen frage ich meinen Freund: „Was hältst du von Gott?“ Er widerte: „Er ist engstirnig, fanatisch und grausam.“
Wieder zu Hause, fragte ich Gott: „Was hältst du von so einer Sache, Herr? Merkst du nicht, dass man dich Jahrhunderte lang in Misskredit gebracht hat?“
Gott antwortete: „Ich habe die Messe nicht organisiert. Ich hätte mich geniert, auch nur hinzugehen!“ (Antony de Mello)

Liebe Gemeinde,

lassen Sie uns Gott loben und preisen. Lassen sie uns das drei Mal „heilig“ in der Abendmahlsliturgie singen. Lassen sie uns jetzt das Abendmahl feiern. Und dies bitte alles in der tiefen Anerkenntnis, dass wir nichts wissen, nichts haben und nichts sind – außer in unserem Glauben an den dreieinigen Gott, der als Heiliger Geist im Anderen, im Fremden, im Unbekannten, im Dritten geschieht. Auf dass Gott sich unseres Glaubens nicht genieren muss, AMEN.

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Predigt über 2. Korinther 4, 16-18 am Sonntag Jubilate 2012 in Pullach

Predigt über 2. Kor. 4, 16-18 am Sonntag Jubilate 2012 in Pullach

Gott kommt dazwischen!

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

Jubilate Deo! Sonntag Jubilate! „Jubilieren“, lateinisch „jubilare“ ist ein lautmalerisch entstandenes Wort.
Der Stamm ist dieses „j“, das wir im Deutschen in „jauchzen“, „juchzen“, im Bayrischen in „jodeln“ kennen.

Im Griechischen fehlt dieses Verb – aber es gibt den Ausruf  „iou!“ oder „io!“. Es wird mit „oh!“ ins Deutsche übersetzt und kann beides bedeuten: Ausruf der Freude – und Ausruf des Schmerzes! Bereits im Übergang von der lateinischen zu griechischen Sprache fand also eine Differenzierung statt. Differenzierung heißt: ich unter-scheide. Ich ordne. Und in diesem Geschehen schließe ich ein und schließe aus. „Jubilieren“ ist dann nur noch auf Freude bezogen. Schmerzliches muss sich anderswo einen Platz finden. Im Deutschen bildete sich ebenfalls lautmalerisch „ächzen“ als Ausdruck von Schmerzen empfinden heraus, im Gegenüber zu „juchzen“.

Die Schöpfungsgeschichte ist eine Trennungs-, Ordnungs- und Differenzierungsgeschichte. Am Anfang herrscht Chaos, hebräisch „Tohuwabohu“. Frei übersetzt: es geht drunter und drüber. Buber übersetzt poetisch: „Irrsal und Wirrsal“. Luthers bekanntes „wüst und leer“ gibt den hebräischen Sinn nicht wider. Aber es gibt wider, wie sich Luther den „Zustand“ vor der Schöpfung vorstellte. Wie eine tabula rasa, die dann „angefüllt“ wird. Aber Gott schafft nicht einfach „Dinge“, sondern er schafft gleichzeitig die Struktur, das „Zwischen den Dingen“. Gott schafft nicht nur das Licht, sondern er scheidet zwischen dem Licht und der Finsternis. Indem ich unterscheide, trenne ich. Wenn ich angemessen, „richtig“ trenne, entsteht eine Struktur, die mir Ordnung im Inneren wie im Äußeren gewährt. Durch diese Ordnung lerne ich, mich zu orientieren. Wesentlicher Bestandteil strukturierenden Ordnens ist der Gebrauch der Sprache. Gott nannte das Licht „Tag“ und die Finsternis „Nacht“.

Die Fähigkeit zu ordnen hängt also direkt mit der Fähigkeit etwas zu trennen, etwas auseinander halten zu können, zusammen. Im Chaos ist alles irgendwie miteinander und ineinander verschlungen. „Irrsal und Wirrsal“.

Nun ist das Trennen ein durchaus mühsamer Vorgang. Haben Sie schon einmal im Tierpark Hellabrunn beobachtet hat, wie lange es dauert, bis ein Küken auf die Welt kommt, mit welchem Kraftaufwand es sich mühsam durch die Schale durchgepickt muss? Und das Ganze gelingt nur, wenn die Schale, lange Zeit als Schutz für das Küken dienend sich zerstören lässt; nur so kann das Küken auf die Welt kommen. Auf die Welt kommen, sich trennen von der schützenden Schale bedeutet in diesem Fall: eben diese zu zerstören!

Die Texte an diesem Sonntag Jubilate handeln von Schöpfung, von auf die Welt kommen; mit dem Akzent auf „neu“:  von „neuer Kreatur“, von neuem Geschaffen-Worden-Sein, von Erneuerung ist die Rede. Und auch hier gehört die Zerstörung sofort dazu: „täglich muss der alte Adam ersäuft werden“, sagt Martin Luther, was sich früher in der Taufe sinnenfällig abbildete, wo der Täufling wirklich unter Wasser getaucht und gehalten worden ist, bis er keine Luft mehr bekam. Anders als „das Alte“ lässt sich „das Neue“ nicht besitzen.

„Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ (2. Kor. 5,17) Das Alte ist vergangen. Das ist solange gut, wie man selbst auf der Seite des Neuen steht. Aber wenn man sich selbst als zum Alten gehörig fühlt?

Wenn ich mich mit der Schale identifiziere, dann darf ich das Küken nicht auf die Welt kommen lassen, weil sein Leben-Wollen mich zerstört. Die Schale schützt das Leben, solange es sich nicht zeigt. Aber hält sie es auch aus, sich vom Leben zerstören zu lassen? Die Schale ist Schutz und Struktur zugleich – und muss doch für das Leben zerstört werden. Lässt sie sich nicht zerstören, so wird das Leben in ihr, so wird das Küken, zerstört. Ohne Zerstörung keine Geburt.

Die Schale ist das „Außen“ in deren „Innerem“ etwas wächst. In unserem heutigen Predigttext, aus dem 2. Korintherbrief (4, 16-18), spielt genau diese Unterschiedung zwischen außen und innen, zwischen „äußerem“ und „innerem“ Menschen eine große Rolle:

„16 Darum werden wir nicht müde; sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert. 17 Denn unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit, 18 uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.“

Der Vorgang des Unterscheidens und des Ordnung-Findens, haben wir gesagt, gehören zusammen. Indem sich „gute“ Schale von ihrem „Inneren“, dem lebendigen Küken unterscheidet, lässt sich für das Leben des Küken zerstören. Erst damit vollendet sich das auf die Welt-Kommen des Kükens und beginnt sein Wachstum, seine Entwicklung. Damit vollendet sich aber auch die Bestimmung der Schale des „Lebens“: genau das ist ihre Bestimmung, das Leben so zu schützen, dass es schließlich vom Leben für das Leben zerstört wird.

Die ihrer Bestimmung „gemäße“ Schale gibt sich diesem Lebensprozess hin, die ihre Bestimmung verfehlende Schale hasst das Leben des Kükens! Die ihre Bestimmung verfehlende Schale hasst Wachstum und Entwicklung, weil sie genau weiß, dass dies zu ihrer eigenen Zerstörung führt.

„Darum werden wir nicht müde“ sagt Paulus. Darum, weil das so ist, dass das Leben in Formen gerinnt, um diese wieder zu zerstören. Eine dieser Formen ist unser leibhaftes Mensch-Sein. Der „äußere Mensch verfällt“: wie wahr! Das ist die Schale, das ist unser leibliches Leben, zu dessen Entwicklung gehört, älter und schwächer zu werden, graue Haare und Falten zu bekommen. Zu dessen Entwicklung gehört das Sich-zurück-Ziehen unserer Muskeln, ein Nachlassen unserer Leistungskraft, eine Sehnsucht danach, am Morgen liegen bleiben zu können. Zu dessen Entwicklung gehört eine zunehmende Vergesslichkeit, gerade was das sogenannte „Kurzzeitgedächtnis“ angeht. „Was wollte ich jetzt eigentlich gerade machen?“ – ich vermute, viele von Ihnen kennen das.

Das alles ist keine Krankheit, sonder der gesunde und natürliche Prozess sich entwickelnden Alterns. Keine Frage: wir leben auf unseren eigenen körperlichen Verfall hin. Nun unterscheidet Paulus zwischen einem äußeren und einem inneren Menschen. In diesem Geschehen des äußeren Verfalls, sagt Paulus, wird unser „innerer Mensch von Tag zu Tag erneuert.“ Was ist unser innerer Mensch? Für Paulus ist das der Mensch, der untrennbar mit Christus verbunden ist. „Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserem Leibe, damit auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde“ (2. Korinther 4,10). Sind wir wirklich mit Christus verbunden, leben nicht mehr wir, sondern Christus in uns, und so findet in äußerem Verfall täglich innere Erneuerung statt, sagt Paulus. Der johanneische Christus sagt Ähnliches in seinem Bild vom Weinstock: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“ (Joh.) Gott Vater als Weingärtner, Christus als Weinstock und wir als Reben. Es ist übrigens kein Zufall, dass die Drei diejenige Zahl ist, die zu diesem Gleichnis gehört. Gott geschieht, vollendet sich im Dritten. Das Dritte ist das Leben. Ist die Schale auf das Leben des Kükens ausgerichtet, so wird sie sich „mit Freuden“ zerstören lassen. Denn in ihrer Zerstörung geschieht Leben. Kreist die Schale ein-sam um sich selber, muss sie sich mit aller Gewalt gegen den Prozess des Lebens sträuben. Die einsame Schale hat die Verbindung zum Leben durchschnitten.

Es gibt eine Geschichte in der jüdischen Mystik, derzufolge die Sünde von Adam und Eva nicht im Essen des Apfels vom Baum der Erkenntnis bestand, sondern dass dadurch die unterirdische Verbindung zwischen dem Baum der Erkenntnis und dem Baum des Lebens abgeschnitten, durchtrennt worden ist. Dahinter steht der tiefsinnige Gedanke, dass der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis in einem unterirdischen Wurzelwerk mit- und ineinander verflochten sind. Das hebräische Verbum „jadah“, das „erkennen“ und „sich lieben“ auch im sexuellen Sinne bedeutet („und Adam erkannte sein Weib Eva“) verweist auf der sprachlichen Ebene auf diese Verflochtenheit zwischen erkennen und lieben, zwischen denken und leben. Das um sich selbst kreisende Erkennen („ich denke, also bin ich“) hat sich vom Baum des Lebens los gesagt. Und so hat es seinen Sinn, dem Leben zu dienen verloren. In einsamer Sinnlosigkeit versucht es sich selbst zu erschaffen, sich selbst sinnvolle Existenz zu geben und lügt sich mit dem Satz: „ich denke, also bin ich“ in die eigene Tasche. Die Wahrheit ist: „Ich wurde (geschaffen), also darf ich (eine kleine Weile) sein!“ Die Schale, die sich weigert, ihr Küken auf die Welt zu bringen, hat sich selbst ihres Lebens beraubt. Erkennen, das sich weigert, dem Leben zu dienen, führt zu seelischem Tod, weil es sich seiner eigenen Lebendigkeit beraubt. Der Modebegriff für dieses Geschehen lautet „burn out“: er beschreibt nichts anderes als das Schicksal einer Seele, die als Brennholz für Karriere, Ansehen, Status verwendet, eben „verbrannt“ worden ist. Es ist die Gegenbewegung zum auf die Welt kommenden Küken: im „burn out“ bleibt eine perfekte, überaus erfolgreiche Schale übrig, aber in ihr, innen drin, ist Leben erstorben: wo keimendes Leben war, ist es „wüst und leer“ geworden.

Liebe Gemeinde,

ich denke, jeder von hat ein Gefühl dafür, wie viel Wert er auf seine Schale, auf seinen „äußeren Menschen“ legt und welche Bedeutung demgegenüber inneres, seelisches Wachstum für ihn hat. Und es steht auch jedem von uns frei, wie er sich an dieser zentralen Stelle seinem Leben und dem Leben überhaupt gegenüber verhält. Es ist ein großes Missverständnis zu meinen, man könne jemand irgendwie dazu bringen, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Es kommt vor, dass mir Menschen nach meiner Predigt sagen: Herr Pfarrer, Sie haben das so schön gesagt, wenn sich das nur der oder die SoundSo zu Herzen nehmen würde. Ich predige nicht für die oder den Soundso, sondern ich  versuche, aus meinem Herzen heraus zu predigen und freue mich, falls es dem einen oder anderen Gedanken gelingt, zu Herzen zu gehen.

In diesem Sinne bitte ich Sie, sich noch einen weiteren Gedanken anzuhören.

Ist Ihnen vorhin aufgefallen, dass der Schöpfungsbericht nicht mit dem sechsten Tage endet? Die „Vollendung“ der Schöpfung findet am siebten Tag statt, der Tag, an dem Gott nichts tut! „Und also vollendete Gott am siebten Tag seine Werke, die er machte, und ruhte am siebten Tag von allen seinen Werken, die er machte. Und Gott segnete und heiligte den siebten Tag…“ (1. Mose, 2, 2-3a). Die Vollendung der Schöpfung geschieht nicht im Machen, ihre Vollendung geschieht im Nicht-Tun.

Die Diskussion um die Abschaffung des Sonntags ist auf dem Hintergrund der Bedeutung des Nicht-Tuns zu führen! Die Bedeutung des Nicht-Tun aber liegt in dem, was Paulus „die Erneuerung des inneren Menschen“ bezeichnet.

Nicht-Tun ist Innehalten. Auch im Denken. Nicht-Tun geschieht in den kleinen Ritzen und Spalten zwischen unseren Gedanken. In der Musik stehen die Pausen für das Nicht-Tun. Nicht-Tun geschieht zwischen Einatmen und Ausatmen. Nicht-Tun geschieht „dazwischen“. Die verzweifelt sich an ihre Existenz klammernde Schale hält nicht aus, dass es sie „im dazwischen“ gibt. In diesem Dazwischen ist sie für das Leben des Küken von größter Bedeutung. Ja, ihre Bedeutung ist das „Dazwischen-Sein“. Und so ist es mit uns Menschen auch: der Sinn unseres Lebens ist es nicht, ewig zu leben: der Sinn unseres Lebens ist, „dazwischen“ zu leben. Das heißt, das uns geschenkte Leben voller Freuden anzunehmen und es in den Dienst von Wachstum und Entwicklung – im Inneren wie im Äußeren zu stellen.

Bei jeder Entscheidung, die wir treffen, geht es um die Frage: diene ich damit dem Leben, oder der Verweigerung des Lebens. Entscheidungen, die der Verweigerung von Leben dienen, fühlen sich grandios und euphorisch an. Ihre Kehrseite sind Niedergeschlagenheit, Sinnlosigkeit, Lustlosigkeit. Im Gefühl der Grandiosität erliegt man der Verführung, man könne Leben aus sich selbst heraus schaffen. Im Gefühl der Leere und Sinnlosigkeit erlebt man das Scheitern dieser Vorstellung.

Der Weg „dazwischen“ führt notwendig über die Zerstörung des Konzeptes, ich muss mein Leben aus mir selbst heraus schaffen können. (Das ist übrigens die Schwierigkeit der Behandlung von „burn out“: Oft lautet nämlich der Behandlungsauftrag, „Ich möchte einfach wieder der oder die Alte sein!“ Also: gerade keine Erneuerung!)

Der Weg „dazwischen“ ist der dritte Weg. So ist er der Weg des Lebens. Es ist der Weg des Schauens auf „das Unsichtbare“: und das Unsichtbare, das sind die guten, wohlgeordneten Verbindungen zwischen den Dingen und zwischen den Lebewesen. Die gute, freundliche und liebevolle Verbindung zwischen Weingärtner Weinstock und Reben. Sie geschieht im Unsichtbaren, aber ihre Auswirkungen sind eminent sichtbar: ihre Auswirkungen dienen lebendigem Wachstum und geordneter Entwicklung. Und in diesem Geschehen ist Tun und Nicht-Tun, ist Leben und Zerstörung in lebendiger Weise aufeinander bezogen. Wenn wir dies aushalten, dass auch unsere Bestimmung eine des „Dazwischen-Seins“ ist,  so werden wir eingebunden in das nie endende Schöpferhandeln des lebendigen Gottes. Als Christen dürfen wir dieses Eingebunden-Sein als ein „in Christus sein“ bezeichnen. Und „in Christus“ geschieht die „neue Schöpfung“, in ihm ist die Verbindung zwischen dem Baum des Lebens und dem Baum der Erkenntnis wiederhergestellt. Deshalb sagt Paulus: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur“ () Und unmittelbar vorher heißt es: „… auch wenn wir Christus gekannt haben nach dem Fleisch, so kennen wir ihn doch jetzt so nicht mehr.“ (2. Kor. 5, 16) Auch Christus muss für uns zum Nichts, zur Wirklichkeit „dazwischen“ werden, um so neu in uns geboren zu werden. Es gilt also nicht nur: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur.“  Es gilt im selben Atemzug: Nur wer es wagt, mit Christus zum Nichts zu werden, nur wer es wagt, sein altes Denken, das sich vom Baum des Lebens abgewandt hat, zu zerstören, in dem wächst Christus. Gestalt werden, Gestalt verlieren, ins Chaos des Nichts sinkend, um neu Gestalt werdend – das ist die Kontraktion des Lebens. Und wir dürfen – indem wir uns dem Leben hingeben – Tag für Tag an diesem ewigen Prozess teilnehmen. Noch einmal in christlicher Terminologie: in der Teilnahme an diesem Wachstums- und Zerstörungsprozess geschieht Reich Gottes. Im hier und jetzt.

Das ist alles ist kein Anlass zu Euphorie und Überheblichkeit. Und es ist kein Anlass, niedergeschlagen zu sein. Es ist Anlass zur Freude: zur ausgelassenen Freude an meinem mir von Gott geschenkten Leben. In dieser Freude stimmt das Griechische „io!“ Ist es doch eine Freude, die Schmerz nicht mehr exkommuniziert sondern integriert.

Und in dieser Freude wollen wir jetzt den Kanon singen:
„Jubilate deo, omnis terra, servite in laetitia!“

Zu deutsch: „Alle Welt preise Gott und diene ihm in Freude!“

Dass dies Wirklichkeit werde, daran lasst uns arbeiten! AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft und tiefer als unser Sich-Abmühen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus,  AMEN.

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