Predigten

Predigt am 2. Advent 2016 in der Thomaskirche in Grünwald über Matthäus 24,1-14

Liebe Gemeinde,

steht auf und erhebt eure Häupter: weil eure Erlösung naht!“

Damit begann unser Gottesdienst.

Erhobenen Hauptes: ein schönes Bild für selbst-bewusst, selbst-sicher. Für sich seiner selbst bewusst, seiner selbst sicher sein.

„Weil eure Erlösung naht!“

Die Erlösung löst mich, löst meine Verdrehungen, meine Beschränkungen. Sie löst meine Ängste. Sie löst meine Halsstarrigkeit. Das erhobene Haupt ist mit einem weichen Hals verbunden. Ein weicher Hals der in freie Schultern fließt. Das erhobene Haupt ist der Welt, dem draußen zugewandt. Es lässt die Welt in sich hinein.

Ein erhobenes Haupt ist ein befreites Haupt. Es ist befreit von Druck, von einer gefühlten Unterdrückung, die verbunden ist mit Abwehr.

Ein erhobenes Haupt winkt dem Angreifer zu: Komm! (Wie Morpheus in Matrix.)

Weil eure Erlösung naht! Es geht um Hoffnung.

Die beiden Flügel des Glaubens sind Hoffnung und Furcht!“ sagt Rumi. Hätte ich keine Furcht, bedürfte ich keiner Hoffnung.

Hoffnung und Furcht sind auf die Zukunft gerichtet:

O je – was wird da auf mich zukommen, sagt die Furcht.

Es wird schon nicht so schlimm werden, sagt die Hoffnung.

Nun lehrt uns die Geschichte, dass Erlösung, Befreiung oft mit Katastrophe einher geht. Der Befreiung Deutschland für die Demokratie ging die Kapitulation, der Zusammenbruch Deutschlands voraus.

Die Befreiung Westeuropas hin zur Demokratie verlief über die Katastrophe der Französischen Revolution.

Dies gilt nun nicht nur in der äußeren Welt. Es gilt auch für unsere innere Welt. Unser heutiger Predigttext beginnt mit der Ankündigung der Zerstörung des Tempels:

24,1 Und Jesus ging aus dem Tempel fort, und seine Jünger traten zu ihm und zeigten ihm die Gebäude des Tempels. 24,2 Er aber sprach zu ihnen: Seht ihr nicht das alles? Wahrlich, ich sage euch: Es wird hier nicht ein Stein auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen werde.“

Der Tempel: das ist – in der inneren Welt – der Ort, an dem Gott wohnt.

Paulus bezieht diesen Gedanken auf die Existenz von uns Christenmenschen: „Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört?“ (1. Kor. 6,19)

Dieser Gedanke kann Gefühle der Katastrophe auslösen: ich gehöre nicht mir selbst? Das würde ja bedeuten, dass ich mein Leben nicht im Griff habe?! Dass ich viel weniger kontrollieren kann, als ich glaube?

Gerade wir Männer leben gerne davon, etwas im Griff zu haben. Das verleiht Sicherheit.

Wie geht’s dir?“ heißt ins Männliche übersetzt: „Alles im Griff?“

Nun ist „alles im Griff“ eine große Illusion. Und das Sich-Klammern an Illusionen kann ziemlich anstrengend werden. „Alles im Griff“ heißt: es darf sich nichts meiner Kontrolle entziehen. Leben aber lässt sich nur bedingt kontrollieren. Oder anders: kontrolliertes Leben ist der Tod der Lebendigkeit.

Der Panther

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.“ (Rainer Maria Rilke)

 

Und hört im Herzen auf zu sein …“ – es ist das Bild der Freiheit, das im Herzen aufhört zu sein. Die Freiheit ist zu weit weg von der Wirklichkeit, der Gefangenschaft des Panters … Das Bild der Freiheit zerfällt im Herzen des eingesperrten Panters, der – anders als ein in der Wildnis lebender – in größter Sicherheit lebt.

Der Weg in die Freiheit würde bedeuten, dass die Gitterstäbe zerbersten, die Mauern fallen, dass nicht ein Stein auf dem anderen stehen bleibt. Der Weg in die Freiheit führt in die Unsicherheit.

Was sagt Jesus zu diesem Weg?

In unserem Predigttext folgt jetzt eine apokalyptische Rede – ähnlich der, die Sie bereits in der Version des Matthäus gehört haben. Ich gestehe, dass ich mich damit schwer tue. Solche Predigten eignen sich dazu, Angst und Hass zu schüren – sie eignen sich nicht dazu, die Gegenwart besser zu verstehen. Sie nähren nicht.

Ich beschränke mich auf ein paar Sätze zu Beginn dieser Rede:

Seht zu, daß euch nicht jemand verführe. Denn es werden viele kommen unter meinem Namen und sagen: Ich bin der Christus, und sie werden viele verführen.“

Die heutige Verführung lautet nicht: „ich bin der Christus“ – sie lautet:

Ich mache unser Land wieder zu einem großartigen Land!“

Die heutige Verführung ist der rechts-populistische Nationalismus. Kaiser Wilhelm II. hatte zu Beginn des I. Weltkrieges gesagt: „Ich führe euch herrlichen Zeiten entgegen!“ Und das Volk jubelte ihm zu. Das Verführerische an diesen Gedanken ist das Andocken am Selbstwert eines ganzen Volkes. An diesem Selbstwert kann aber nur angedockt werden, wenn der im Argen liegt. Solange ich „erhobenen Hauptes“ in meinem Leben stehe, brauche ich keine Selbstwert-Aufbauspritze.

Erhobenen Hauptes ist im übrigen etwas völlig anderes als „überheblichen Hauptes“!

Die großen Ver-Führer der Geschichte waren und sind überheblich. Es war und ist ihnen kein Wert, sie hatten und haben nicht das geringste Interesse daran, sich einzuschränken, zu verzichten, sich zu mäßigen. Das hat damit zu tun, dass die Überheblichkeit nur die anderer Seite unerträglicher Minderwertigkeitsgefühle ist.

Deutschland, Deutschland über alles …“ – das war ein Ausdruck dieser Überheblichkeit. Dies führte und führt in die Feindschaft, in den Krieg. So heißt es auch in unserem Text: „24,6 Ihr werdet hören von Kriegen und Kriegsgeschrei;

seht zu und erschreckt nicht. Denn das muss so geschehen; aber es ist noch nicht das Ende da. 24,7 Denn es wird sich ein Volk gegen das andere erheben und ein Königreich gegen das andere …“

Ich gestehe Angst davor zu haben, nicht dass sich ein Volk gegen das Andere erhebt, sondern dass sich in ein und demselben Volk derartige Spannungen und Polarisierungen bilden, dass sie in Gewalt münden. Es ist noch nie gut gegangen, wenn die Kluft zwischen reich und arm zu weit auseinander liegt. Es muss ein vorrangiges Interesse der Reichen, der Führungsschicht sein, diese Kluft zu mildern und zu mindern. Und zwar auch und gerade im eigenen Interesse. Eine Gemeinschaft, in der soziale Gerechtigkeit herrscht, ist viel weniger anfällig für Verführer, als eine Gemeinschaft, in der die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden.

Liebe Gemeinde,

wie schon gesagt: in mir wehrt sich etwas, diesen apokalyptischen Text weiter mit Ihnen durch zu gehen. Er ist auch gar nicht im Geiste Jesu. Er widerspricht nämlich der Grundbotschaft Jesu, dass Gott ein Gott der Gegenwart ist, dass jetzt und hier das Reich Gottes geschieht und dass die Verbindungen und Vernetzungen des Reiches Gottes mit Liebe zu tun haben. Er widerspricht auch den vielfachen Aussagen, die sich dagegen sperren, die Ankunft des Gottesreiches vorherzusagen. „Seid wachsam, denn ihr wisst nicht den Tag, an dem Euer Herr kommt!“ (V. 42)

Seid wachsam!“

Ähneln wir nicht alle dem Mann, von dem der indische Jesuit Anthony de Mello erzählt?

Vor einiger Zeit – sagt er – hörte ich im Radio … von einem Mann, der wieder einmal am Morgen an die Zimmertür seines Sohnes klopft und ruft:

Jim, wach auf!“

Und Jim ruft zurück: „Ich mag nicht aufstehen, Papa.“

Darauf der Vater noch lauter: „Steh auf, du musst

in die Schule!“ „Ich will nicht zur Schule gehen.“

Warum denn nicht? “, fragt der Vater.

Aus drei Gründen“, sagt Jim. „Erstens ist es so langweilig, zweitens ärgern mich die Kinder, und drittens kann ich die Schule nicht ausstehen.“

Der Vater erwidert: „So, dann sag ich dir drei Gründe, wieso du in die Schule musst: Erstens ist es deine Pflicht, zweitens bist du 45 Jahre alt, und drittens bist du

der Klassenlehrer.“

(Wer Kinder, insbesondere Jugendliche zuhause herumliegen hat, der weiß, wie mühsam es sein kann, diese in der Frühe wach zu kriegen!)

Darum geht es: in der Gegenwart des eigenen Lebens anzukommen. Weder mit müßigen Gedanken sich eine dunkle Zukunft ausmalen, noch mit sentimentalen Gedanken der Vergangenheit hinterher zu trauern. „Früher war es besser, in der Zeit, wo es noch kein Handy gab und kein Internet …“ Man kann sich auch mit Gedanken, die sich auf die Vergangenheit richten, quälen. „wie konnte ich nur?“ „warum habe ich mich damals nur so entschieden?“ „Warum ist mir das und das passiert?“ hält genau so vom Leben in der Gegenwart ab wie: „ich habe so Angst davor, dass … ich dement werde, mein Kind keinen vernünftigen Beruf ergreift, mein Partner stirbt usw.“

Liebe Gemeinde,

Theresa von Avila hat das Wort geprägt: „möge Gott dein Genüge sein!“ Ein paar Jahrhunderte vor ihr hat der islamische Mystiker Rumi genau denselben Gedanken geäußert.

Möge Gott dein Genüge sein!“

Damit ausgerüstet, brauchen wir keine Angst vor einem wie auch immer gearteten Gericht haben. Damit ausgerüstet stehen wir – obzwar Sünder – auf der Seite Gottes.

Es gibt eine chassidische Geschichte von Rabbi Sussja, die veranschaulicht, was es bedeutet, wenn Gott mein Genüge ist: „Vor seinem Tod sagte Rabbi Sussja: ‚In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: Warum bist du nicht Moses gewesen. Man wird mich fragen: Warum bist du nicht Sussja gewesen?’“

Das ist der Punkt.

Die Verführung ist zu glauben, ich könne und müsse mir meinen Wert selbst geben. Wiederum ins Männliche übersetzt heißt das: „mein Auto, mein Haus, mein Boot!“

Die Betonung liegt dabei auf MEIN. Von mir selbst geschaffen. Von mir selbst hart erarbeitet. Im Weiblichen ist es wohl mehr: meine Kinder, meine Familie, mein soziales Engagement.

In der kommenden Welt werde ich nicht gefragt werden, ob ich einen Doktortitel habe, ein Haus in Pullach, ein großes Auto. Ich werde auch nicht gefragt werden, wie viele Preise ich gewonnen habe, wie berühmt ich war, wie viele Bücher ich verkauft habe. Die einzige Frage lautet: hast du DEIN Leben gelebt?

Und je sicherer ich antworten kann: ich bin der gewesen, als der ich mich im Laufe meines Lebens entwickelt habe mit allen Täuschungen und Enttäuschungen, mit allem Scheitern und allem Gelingen. Und als der stehe ich jetzt zu mir und vor dir, meinem Gott, wissend, dass ich deiner Liebe und deiner Barmherzigkeit bedarf, um überhaupt leben zu können … indem ich dies erhobenen Hauptes antworte: erlebe ich meinen Advent, meine Ankunft in die grenzenlose Liebe Gottes und die frohe Botschaft von der Geburt des Messias wird mit mir und in mir lebendig.

Dass wir in diese frohe Botschaft hineinwachsen dürfen und dass der Advent des Mensch und menschlich gewordenen Gottes alltäglich uns umhülle und aus uns heraus strahle – das verleihe Gott uns allen, AMEN.

Dass wir in diese frohe Botschaft hineinwachsen dürfen und dass der Advent des Mensch und menschlich gewordenen Gottes alltäglich uns umhülle und aus uns heraus strahle – das verleihe Gott uns allen, AMEN.

Dass wir in diese frohe Botschaft hineinwachsen dürfen und dass der Advent des Mensch und menschlich gewordenen Gottes alltäglich uns umhülle und aus uns heraus strahle – das verleihe Gott uns allen, AMEN.

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Predigt über Philipper 1, 3-11

Predigt über den Brief des Paulus an die Philipper 1, 3-11

am 22. Sonntag nach Trinitatis in der Thomaskirche in Grünwald

Ich danke meinem Gott, sooft ich euer gedenke – was ich allezeit tue in allen meinen Gebeten für euch alle, und ich tue das Gebet mit Freuden – für eure Gemeinschaft am Evangelium vom ersten Tage an bis heute; und ich bin darin guter Zuversicht, daß der

in euch angefangen hat das gute Werk, der wird’s auch vollenden bis an den Tag Christi Jesu.“ (Phil 1, 3-11)

Liebe Gemeinde,

welch‘ eine Begrüßung!

Stellen Sie sich vor, jemand sagt zu Ihnen, oder Sie bekommen eine Mail:

ich bin so dankbar, wenn ich an dich denke. Und ich denke oft an dich! Und ich bete für dich mit Freuden. Ich danke dafür, dass du in der frohen Botschaft lebst, und zwar von Anfang an bis jetzt. Und ich bin zuversichtlich, dass der, der in dir diese gute Entwicklung begonnen hat, der wird sie auch zu ende bringen, bis zu dem Tag, an dem alles klar wird – dem Tag Jesu Christi!“

Wie würden Sie reagieren?

Würden Sie sagen: Moment mal. Woher weißt du das? Kennst du mich so gut? Und angenommen – das stimmte, was du da sagst: müsste es mir dann nicht anders gehen, besser, leichter, heiterer?

Würden Sie sagen: komm‘ zur Sache – was willst du von mir? Mich um Geld anpumpen?

Sie können natürlich auch zurückfragen – was ich Ihnen durchaus zutraue –

und sagen:

Lieber Prediger, bevor du dir über uns den Kopf zerbrichst: wende doch das alles einmal auf dich an.

Denkst du manchmal an uns, die Thomaskirchengemeinde? Betest du auch für uns?

Und bist du dankbar, wenn du an uns denkst? Und zuversichtlich, dass wir in der Gemeinschaft des Evangeliums leben und in einer guten Entwicklung sind …

Wie stehst denn du zu uns, Pfarrer Malkwitz?

Ja – ähm – ganz schön direkt ist das alles.

Finden Sie nicht?

Sollten wir nicht lieber über Paulus reden und sein Verhältnis zur Gemeinde in Philippi? Dann geht uns das alles nicht so nah.

Nein – sollten wir nicht. Jedenfalls nicht so, dass wir uns damit von unserer Beziehung ablenken. Das Evangelium muss nahe gehen – ansonsten ist es kein Evangelium.

Und Nähe entsteht durch Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit in Beziehung.

Von Ihnen zu mir – und von mir zu Ihnen.

Tatsächlich ist es so, dass ich mich auf einen Gottesdienst mit und bei Ihnen freue. Auch wenn ich meine Schwierigkeiten mit dieser Kanzel habe, auch wenn ich mir dieses Altarbild nicht bei mir zuhause aufhängen würde – ich komme ausgesprochen gerne zu Ihnen.

Und ich freue mich jedes Mal, wenn Pfarrer Stalter mir ein paar Gottesdienst-Termine bei Ihnen vorschlägt. Das kommt natürlich erleichternd hinzu: die freundschaftlich-kollegiale Beziehung zwischen Herrn Stalter und mir. Auch hierfür bin ich sehr dankbar.

Dies alles ist keineswegs selbstverständlich.

Auch Ihre Rückmeldungen, dass Sie etwas mit meinen Predigtgedanken oder meinen Gebeten anfangen können. Natürlich tut mir das gut. Auch wenn ich nicht – wie Paulus, als er seinen Philipperbrief schrieb – im Gefängnis sitze.

Beziehung ist immer etwas Wechselseitiges! Ein Geben und Nehmen. Im Guten wie – leider! – auch im Bösen.

Ich denke, für Paulus war das Sich-Erinnern an die Gemeinde von Philippi ein Trost während seines Gefängnisaufenthaltes.

Wie es denn recht und billig ist, daß ich so von euch allen denke, weil ich euch in meinem Herzen habe, die ihr alle mit mir an der Gnade teilhabt in meiner Gefangenschaft und wenn ich das Evangelium verteidige und bekräftige.“ (V. 7)

Es ist gut und ungemein stärkend, gute Beziehungen „im Herzen zu haben“. Obwohl allein, weiß sich Paulus auch im Gefängnis umgeben von einer Gemeinschaft, die sich um das Evangelium schart. Es ist so wohltuend zu wissen, mehr noch zu spüren, dass es Menschen gibt, die sich nicht irreführen lassen von platten populistischen Parolen. Die sich weigern, Feindbildern hinterher zu laufen. Für die in der Tiefe das gemeinsame Menschsein und der Glaube, das Vertrauen an den einen und einzigen Gott zählt, der sich nicht in Religionen oder Konfessionen ein- und aufteilen lässt.

Bei uns in Pullach war heute vor einer Woche ein islamischer Geistlicher, ein Imam, da. Er hat in der Reihe „Sonntags um 6 – ein halbe Stunde für den ganzen Menschen“ die 1. und die 59. Sure aus dem Koran rezitiert.

Es war einfach nur berührend. Mit welch‘ ehrlicher Hingabe hier ein islamischer Kollege seinem Vertrauen in Gott Ausdruck verleiht, ohne irgendeinen missionarischen Impetus.

Indem wir Gott im Herzen tragen, haben wir zugleich die menschliche Gemeinschaft im Herzen. Anders geht es gar nicht. Das vorhin gehörte Evangelium, das bekannte Gleichnis vom „Schalksknecht“, handelt davon, wie Leben für jemand ist, der mit Gott nichts anfangen kann. Er kommt gar nicht auf die Idee, das, was er erlebt hat, dass ihm nämlich seine Schulden erlassen wurden, nunmehr auf sein eigenes Leben und seine Beziehungen zu seinen Mitmenschen anzuwenden. Dafür wird er nicht bestraft – wie häufig falsch ausgelegt wird – sondern er muss nur die Konsequenzen tragen: da ihm Gott fehlt, fehlt ihm die Barmherzigkeit. Er kann Barmherzigkeit weder empfangen noch weiter geben. Und so bleibt er „auf seinen Schulden sitzen“.

Doch zurück zu Paulus, zurück zu unserem Predigttext:

Denn Gott ist mein Zeuge, wie mich nach euch allen verlangt von Herzensgrund in Christus Jesus.“

Paulus hat Sehnsucht nach seiner Gemeinde. Er vermisst sie. Sie können den Grad, mit dem sich jemand auf eine Beziehung eingelassen hat, leicht messen an dem Grad, mit dem jemand vermisst wird. Mit dem er selbst vermisst wird – und nicht das, wofür ich ihn gut gebrauchen konnte. Paulus sagt: „mich verlangt nach euch in Christus Jesus“. Damit ist der „Dritte“ genannt, innerhalb dessen das „Verlangen“ oder „Vermissen“ und „Fehlen“ des Anderen geschieht. Dieser Dritte oder besser die Dimension des „Dritten“ ist lebenswichtig für Beziehungen. Sonst wird man mit Haut und Haaren aufgefressen. Der Dritte ist der Raum dazwischen. Zwischen Ihnen und mir ist der/das Dritte das gemeinsame Bezogensein auf Gott. Es geht nicht um mich – es geht auch nicht um Sie: es geht darum, wie sehr es uns gemeinsam gelingt, dass Gottes barmherziger Geist zwischen uns wirksam werden darf. Es geht auch nicht um diese Predigt, oder um die Schlauheit meiner Gedanken: die dienen ausschließlich als Medium für etwas Drittes: für den Heiligen Geist, der die tote Vater-Sohn-Beziehung zum Leben erweckt hat.

In der christlichen Tradition ist dieser Heilige Geist aber nichts anders als die Liebe: die liebende Verbindung zwischen Vater und Sohn („vinculum caritatis“ hat ihn der Heilige Augustinus genannt.) Und so versteht sich der nächste Satz des Paulus beinahe von selbst:

Und ich bete darum, daß eure Liebe immer noch

reicher werde an Erkenntnis und aller Erfahrung,“

Die Liebe, die reicher werden kann an Erkenntnis und Erfahrung, hat wenig mit jenem rosarot bebrillten Verliebt-Sein zu tun hat, mit dem Liebe oft verwechselt wird. Liebe ist ein sehr nüchternes, die Realität anerkennendes Geschehen: „es ist, was es ist, sagt die Liebe“ (Erich Fried) Und indem die Liebe die Realität anerkennt, kann Erfahrung und Erkenntnis wachsen. Liebe findet nicht in Seifenblasen von Illusionen statt … Sie findet auch nicht in gut gemeinten Ratschlägen statt. Liebe geschieht und wächst in der liebevollen Zuwendung zum Anderen, im geduldigen Ertragen und Mit-Tragen seines So-seins und im tiefen Vertrauen in seine Entwicklungs- und Wachstumsmöglichkeiten. Liebe geschieht im Nicht-schon-vorher-Wissen, was gut für den Anderen ist und was er lassen soll.

Liebe geschieht in Freiheit, die nicht mit Gleichgültigkeit zu verwechseln ist.

In dieser Freiheit könnt ihr selbst „prüfen, worauf es ankommt,

damit ihr lauter und unanstößig seid für den Tag Christi, erfüllt mit Frucht der Gerechtigkeit durch Jesus Christus zur Ehre und zum Lobe Gottes.“

Paulus ermutigt seine Gemeinde zu Mündigkeit. „Prüft, worauf es ankommt – in liebevoller Bezogenheit!“ Damit ihr „lauter und „unanstößig“ seid – im Griechischen heißt lauter: eine Unterscheidung, die im klaren Licht der Sonne Bestand hat. Und „unanstößig“ heißt: den eigenen Weg aufrichtig gehen und nicht mehr oder weniger planlos durchs Leben stolpern.

Liebe Thomasgemeinde,

dazu möchte ich Sie und mich ebenfalls ermuntern. Seien Sie kritisch! Kritisch in Liebe – nicht in Rechthaberei, auch nicht in Besserwisserei.

Bei dir ist Vergebung, dass man dich fürchte!“ Mit diesem Psalmwort begann unser Gottesdienst.

Im Hebräischen gibt es eine Entsprechung zwischen „sich fürchten“ und „sehen“.

Es geht nicht darum, vor Gott Angst zu haben.

Es geht darum, sich von Gott wahrnehmen zu lassen.

Und das kann Angst erzeugen.

Von jenem Gott, der mich tiefer und wahrhaftiger kennt, als ich mich selbst.

Von jenem Gott, vor dem ich mich fürchte, weil ich nicht glauben kann, dass sein Blick liebevoll auf mich fällt. Von jenem Gott, der mir längst vergeben hat, auch das, was ich mir selbst nicht vergeben kann.

Von jenem Gott, der mir nicht glaubt, dass mein Leben bedeutungslos ist.

Von jenem Gott, der sich nicht von mir einreden lässt, ich sei ein Versager.

Von jenem Gott, dem mein gesellschaftlicher Status unwichtig und meine seelische Entwicklung wichtig ist.

Von jenem Gott, vor dem ich mich fürchte, weil ich so unsicher bin, ob ich an meinem Leben, an meiner Bestimmung, an meinem Eigenen vorbei lebe.

Von jenem Gott, den ich brauche, um mich selbst, um meinen Lebensweg zu verstehen.

Von jenem Gott, der mich einhüllt in das Feuer seiner Wahrhaftigkeit.

Dieses Feuer verbrennt meine Täuschungen.

Dieses Feuer vernichtet mein falsches Selbst.

Ich habe Angst, Gott, dass in dem Feuer deines Gerichts von mir nichts übrig bleibt. Was könnte vor deiner Wahrheit bestehen?

Nichts.

Ich gebe auf, Gott. Ich bin gescheitert. Ich habe versagt.

Bei dir ist Vergebung, indem ich dich in mir empfange!“

Bei dir ist Vergebung, indem ich mein Herz dir überlasse!“

Dir, Gott, mich öffnend wird mein Herz durchstrahlt von deiner Liebe,

die ich selbst und aus mir heraus niemals finden und niemals geben kann.

Dir Gott mich öffnend erlebe ich meine eigene Armut, sie verwandelt sich in Reichtum bei dir.

Dir Gott mich öffnend erlebe ich meinen Zweifel und er verwandelt sich in Sicherheit bei dir.

Dir Gott mich öffnend erlebe ich meine Ungeduld und sie verwandelt sich in Ruhe bei dir.

Dir Gott mich öffnend erlebe ich, dass ich geöffnet wurde in, durch und mit deiner geduldigen Liebe.

Damit bin ich mit meiner Predigt genauso wie mit meiner Sprache am Ende.

Was bleibt ist … danke ….

Ich danke meinem Gott, sooft ich euer gedenke …. AMEN.

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Predigt über 2. Timotheus 1, 7 -10 am 16. Sonntag nach Trinitatis 2016

Predigt über 2. Timotheus 1, 7-10 am 16. Sonntag nach Trinitatis in der Jakobuskirche in Pullach (Taufpredigt für Ida Carolina)

Die Dunkelheit des Vaters und das Lichts des Sohnes und die liebende Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

„Denn Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“

Mit Idas Taufspruch beginnt der heutige Predigttext.

Umgedreht heißt das: Der „Geist der Furcht ist nicht von Gott!“

Das griechische Wort für Furcht ist deilias: es meint eine Mischung aus „Verzagtheit und Feigheit“.

Es geht also nicht darum, die Angst abzuschaffen: Angst zu haben, Angst zu erleben gehört zum Mensch-sein dazu. Gesunde Angst schützt vor Tollkühnheit und Übermut. Gesunde Angst ist auf der Seite des Lebens.

Es geht um die Angst, die sich in mir festsetzen möchte. Die sich äußert in Verzagtheit, Feigheit, Lustlosigkeit.

Es geht darum, wenn die Angst mich niederdrückt, mich zum Rückzug aus dem Leben verführt. Wir gebrauchen dafür das zur Sprach-Hülse gewordene Wort „Depression“. Wörtlich: „Nieder-gedrückt-sein.“

Die Geschichte von Lazarus („Gott hilft“) veranschaulicht den Verlauf einer schweren Depression, in der die Lebens-Geister immer mehr versiegen. In der Depression „verschwindet“ der Kontakt, die Beziehung zum Leben – der Depressive wird unerreichbar. Das fühlt sich für die Angehörigen elend an.

Die Frage ist: wer oder was sind denn diese Nieder-Drücker? Und, noch wichtiger: woher beziehen diese Nieder-Drücker ihre Kraft?

Nüchterne Erkenntnis: aus mir selbst! Mein Ich ist der Nährboden.

Kennt ihr den Film „Matrix“?

Die Welt der Maschinen hat die Macht übernommen: und sie beziehen ihre Energie aus den in einer Nährlösung liegenden Menschen. Die Menschen schlafen – und träumen Träume, die sie für die Wirklichkeit halten. Das ist die Matrix, die Scheinwelt, die ihnen vorgegaukelt wird. Die die Menschen für das Leben halten – Das Entscheidende aber ist: die Maschinen legen größten Wert darauf, dass die Menschen nicht aufwachen.

Über den Erwachten hat die Matrix ihre Macht verloren. Sie kann ihn zwar noch töten – aber mehr auch nicht.

Der Erwachte lässt sich von den Verführungen der Matrix nicht mehr einlullen.

Das Erwachen aber ist ein Geschehen, das sich nicht machen lässt.

Es geschieht.

Es geschieht über Hingabe an die Realität, an das, was ist.

In diesem Erwachen höre ich auf, meine eigenen Täuschungen über das Leben zu nähren. Weil sie mir willkommener und angenehmer erscheinen als die nüchterne Wirklichkeit. In dem Erwachen füttere ich nicht mehr meine Illusionen über das Leben, über mein Leben und das Leben der Anderen, sondern erkenne die Wirklichkeit, die Wahrheit meines Lebens an.

Dazu bedarf es eines „Geistes der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“!

Wer Anhänger des HSV oder gar von TSV 1860 München ist, weiß, was das bedeutet! Ohne diesen Geist würde er nicht überleben.

(Allerdings ist anzuerkennen: Fußball gehört auch zu den Vergnügungen innerhalb der Matrix.)

Der Geist, von dem hier die Rede ist, „weht wo er will“. Er ist nicht machbar und nicht fassbar. Das einzig Mögliche ist, sich mit ihm zu verbünden und zu verbinden. Und in diesem Bündnis zu erleben, was er vermag:

er schenkt die Kraft, das Leben gerade auch in seiner Härte, Unverrückbarkeit und Endgültigkeit anzunehmen. Die Kraft zu ertragen, was es zu ertragen gilt: die Schmerzen, körperlicher und seelischer Art, die Enttäuschungen über das, was nicht so lief, wie ich es wollte, wie ich es mir wünschte, wie ich es für richtig hielt.

Wer Kinder hat, weiß, dass diese Enttäuschungen unvermeidlich sind. Kinder haben nämlich die merkwürdige Angewohnheit, ihr Leben selber bestimmen zu wollen. Und selber heißt ganz einfach: nicht so, wie die Eltern es wollen. Es ist gut, sich immer wieder daran zu erinnern, dass wir alle auch Kinder waren und dass wir alle auch unser Leben selber in die Hand nehmen wollten und – hoffentlich – auch in die Hand genommen haben.

Dazu bedarf es des Geistes der Liebe. Liebe heißt ja nicht, den Anderen dann zu mögen, wenn er gerade so ist, wie ich ihn brauche. Das ist nicht Liebe, sondern Bemächtigung des Anderen. In der Wirtschaft heißt das: „feindliche Übernahme“!

Nein – Liebe heißt, die Sympathie (das „Mit-Fühlen“) für den Anderen gerade da aufrecht zu erhalten, wo er nicht so ist, wie ich ihn brauchen kann, wie ich es für richtig halte! Liebe ist die Fähigkeit, mein Ich mit seinen Erwartungen und Wünschen an den Anderen zurückzustellen. Und mich an der Freiheit und Lebendigkeit des Anderen zu erfreuen. Diese Liebe begleitet die Kinder auf dem Weg zum Erwachsen-Werden. Liebevolle Begleitung heißt – auf der anderen Seite – nicht, alles hinnehmen und alles für gut heißen. Es heißt nur, dass die Beziehung stärker ist als der Impuls sie abzubrechen.

Die schmerzhaften Beziehungsabbrüche beruhen auf Enttäuschung. Vermeintlich ist es angenehmer, die Beziehung abzubrechen als sich die eigene Täuschung einzugestehen. Enttäuschung bedeutet ja nur: eine Täuschung ist zu ende.

Neben der Liebe nennt Paulus noch die „Besonnenheit“ als weiteres Erleben des Geistes. Besonnenheit, „sophrosyne“ heißt wörtlich: geistig-seelische Gesundheit; Selbstbeherrschung und Mäßigung.

Es ist spannend zu sehen, wie Paulus fortfährt:

„Darum schäme dich nicht des Zeugnisses

von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener

bin, ….“

Scham, sich schämen ist ein besonders ekelhaftes Gefühl. Paulus spricht das „Fremd-Schämen“ an. Sich für einen Anderen schämen. Ich vermute, viele von uns kennen das. Fremd-schämen ist Ausdruck von mangelnder Abgegrenztheit in Beziehung. Es fehlt das Gefühl für gute Getrenntheit. Kinder können sich von ihren Eltern nicht in dieser Weise abgrenzen. Für sie sind die Eltern die großen Vorbilder, die, die wissen, wie Leben geht. Von daher ist es für sie besonders schwer erträglich, wenn sie das Gefühl haben, irgend etwas stimmt nicht mir ihren Eltern. Ihr erster Reflex ist, sie in Schutz zu nehmen und ihr eigenes Erleben dafür zu opfern. Sie hoffen, dass sie sich täuschen, dass sie das, was sie meinen wahrzunehmen, sich nur einbilden.

Das gibt’s doch nicht!“

Auch den Fans des HSV oder von 1860 ist das Thema „sich schämen“ nicht fremd.

Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen“, hat meine Oma gesagt.

Deutscher Meister in der Relegation!“

Je stärker ich mit etwas/jemand identifiziert bin, desto näher geht mir das, was er/sie/es machen. Desto näher geht mir, wenn der oder das Andere Ziele nicht erreicht, Leistungen nicht erbringt, nicht in der Champions-League spielt. (Sondern um das Überleben in der zweiten Liga kämpft.)

Das ist die große Tragik der Eltern-Kind-Beziehung.

Kinder sind ausbeutbar, weil sie auf die Liebe der Eltern angewiesen sind. Wenn die Eltern zu Kindern werden, die darauf angewiesen sind, dass ihre Kinder in bestimmter Weise funktionieren (Erfolg, Karriere …) – dann wird es für die Kinder wie für ihre Eltern schlimm. Das ist der Stoff, aus dem die Beziehungsabbrüche gewebt sind.

Der Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit ist ein starker Geist. In ihm lösen sich die Verstrickungen. Und so fährt Paulus fort:

… leide mit mir für das Evangelium in der Kraft Gottes.“

Das Evangelium ist nichts weiter als die frohe Kunde, die davon handelt, dass es einen Geist, eine Energie gibt, die dich wirklich meint. Dich: und zwar so, wie du gerade bist. Und nicht nur das: für die du auch noch völlig in Ordnung bist, so, wie du gerade bist. Der es egal ist, in welcher Liga du gerade spielst, auf welchem Tabellenplatz du dich gerade aufhältst. Die dich nicht verändern will.

Die Verbindung zu dieser Energie schaffen wir nicht aus eigener Kraft. Aus eigener Kraft versuchen wir, um Anerkennung zu kämpfen, den Trainer zu wechseln, versuchen uns etwas aufzubauen, versuchen, andere zu betrügen, um selber mehr zu haben, versuchen zu manipulieren, zu bestechen, um unseren Willen zu bekommen usw.

Aus eigener Kraft versuchen wir ein möglichst starkes „Ich will das haben“ zu erzeugen. Dafür müssen wir rackern, kämpfen, bestechen, täuschen, dopen usw …

Vor dieser Kraft, der du willkommen bist – so wie du bist – gibt es dies alles nicht. Es geht „nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem eigenen Vorsatz und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus vor ewigen Zeiten…“

Wir könnten loslassen. Dann hätte die Plackerei ein Ende.

Wir könnten uns in den barmherzigen Schoß Gottes fallen lassen.

Dann würde unser Leben leicht werden.

Wir könnten uns dem Fluss unseres Lebens überlassen.

Hinnehmen, was hinzunehmen ist.

Betrauern, was zu betrauern ist.

Bedauern, was zu bedauern ist.

Und aufhören zu hoffen, dass die Zukunft besser wird.

Und aufhören zu jammern, dass die Vergangenheit nicht gut genug war.

Jedenfalls haben wir überlebt.

Bis heute.

Bis jetzt.

In diesem Geschehen würden wir allmählich wach werden. Wach für die Gegenwart.

Die Gegenwart, in der allein das Leben zu finden ist.

Und warum tun wir’s nicht?

Weil wir Angst haben. Angst davor, die Kontrolle zu verlieren.

Ja, aber“ sagen wir.

Oder hätte ich doch…“

Und außerdem haben wir uns unsere Werte, Ziele, Erwartungen – all‘ das, von dem wir meinen, wie Leben geht – doch so mühsam aufgebaut. Und außerdem wurde uns das auch so mühsam antrainiert. Das soll jetzt alles nichts mehr gelten?

Echt nicht! Das würde ja weh tun. Ziemlich weh tun. Deshalb sagt Paulus: „Leide mit mir für das Evangelium!“

Klingt nicht gut. Warum leiden? Da schlafen wir doch lieber noch ne Runde. So schlecht ist die Matrix doch gar nicht. Und es gibt herrliche Ablenkungen. Jetzt noch viel brillanter in HD. Tolle Graphik. Ein kühles Bier dazu und Chips.

So kriegen wir die Zeit schon rum, oder?

Ähneln wir nicht alle dem Mann, von dem der indische Jesuit Anthony de Mello erzählt?

Vor einiger Zeit – sagt er – hörte ich im Radio … von einem Mann, der an wieder einmal am Morgen an die Zimmertür seines Sohnes klopft und ruft:

Jim, wach auf!“

Und Jim ruft zurück: „Ich mag nicht aufstehen, Papa.“

Darauf der Vater noch lauter: „Steh auf, du musst

in die Schule!“ „Ich will nicht zur Schule gehen.“

Warum denn nicht? “, fragt der Vater.

Aus drei Gründen“, sagt Jim. „Erstens ist es so langweilig, zweitens ärgern mich die Kinder, und drittens kann ich die Schule nicht ausstehen.“

Der Vater erwidert: „So, dann sag ich dir drei Gründe, wieso du in die Schule musst: Erstens ist es deine Pflicht, zweitens bist du 45 Jahre alt, und drittens bist du

der Klassenlehrer.“

Gott hat uns gegeben einen Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Diesen Geist benötigt, wer sich dem eigenen Leben zuwenden will.

Das Leben findet draußen statt! Nicht vorm Handy und nicht vorm PC.

Und das Leben vergeht – egal wie wir es gelebt haben.

Davon handelt der letzte Gedanke unseres Predigttextes, der auch der Wochenspruch ist.

Christus Jesus, der den Tod zunichte gemacht aber Leben und Unvergänglichkeit ans Licht gebracht hat durch das Evangelium.“

Es ist eine Täuschung zu meinen, das eigentliche Leben kommt erst.

Die Unvergänglichkeit ist die Gegenwart. Nur sie ist ewig.

Gegenwart ist das, was aus der Zeit herausgefallen ist.

In der Gegenwart hat die Matrix keine Chance.

Die Matrix ist nichts anderes als die Verführung, sich aus der Gegenwart zurück zu ziehen. In unsere Grabes-Höhlen – oder auch Grabes-Höllen.

Und es ist offen, ob wir überhaupt bereit sind, wie Lazarus unsere Höhle zu verlassen.

Gebe Gott, dass wir die Kraft und den Mut haben aufzuwachen. Gebe Gott, dass wir es wagen, uns seinem Geist zu überlassen, unser Leben in und von diesem Heiligen Geist führen zu lassen.

Eben dem Geist, der in jedem Augenblick da ist, der nur darauf wartet, sich mit uns zu verbünden – dem Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit, AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher und tiefer ist als unsere Vernunft und diese Gedanken, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN.

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Predigt am 11. Sonntag nach Trinitatis 2016

Predigt am 11. Sonntag nach Trinitatis 2016

(Epheser 2, 4-10)

Die Dunkelheit des Vaters und das Licht des Sohnes und die lebensstiftende Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade.“ (1. Petrus 5,5) Mit diesem Wort haben wir unseren Gottesdienst heute begonnen.

Meine Oma hat gesagt: „Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr.“ Das ist so was wie der Minus-Wochenspruch. In dieser Welt, nach den Maßstäben dieser Welt hatte mein Oma Recht.

Nach den Maßstäben dieser Welt hatte auch jene Dame Recht, die bei einem Beerdigungsgespräch mir sagte:

Ich habe in meinen jungen Jahren an Gott geglaubt. Dann wurde ich schwanger und bin jeden Sonntag in die Kirche gegangen. Ich habe immer darum gebetet, ein gesundes Kind zu bekommen. Als mein Sohn auf die Welt kam, war sein linker Arm gelähmt. Seither glaube ich nicht mehr an Gott. Und ich war auch nicht mehr in der Kirche“.

Hätte ich damals den heutigen Predigttext parat gehabt, hätte ich sagen können: „Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es …“ (Eph. 2, 8)

Aber: erstens: hätte, hätte. Fahrradkette …

Zweitens: es hätte auch nichts genutzt.

Jene Dame war sich absolut sicher, dass ihre Enttäuschung ihr zustand. Dass sie recht hatte. Sie war sich sicher, alles richtig gemacht zu haben. Der, der falsch war, der versagt hatte, das war nicht sie, sondern Gott. In ihrer Enttäuschung wandte sie sich von Gott ab. Vielleicht konnte sie so einigermaßen weiterleben, da sie ihre Enttäuschung bei Gott unterbringen konnte. Andere Menschen, die dies nicht können, bringen ihre Enttäuschungen bei ihrem Partner unter, oder bei ihren Kindern, oder wenden sie gegen sich selbst und werden suizidal.

Nun spricht nichts dagegen, Gott als eine allmächtige Instanz zu verwenden, die meine Wünsche dann erfüllt, wenn ich gehorsam bin. Wahrscheinlich hatte die Dame oft und oft als Kind erlebt: wenn sie brav ist, bekommt sie etwas, wenn nicht, will man mit ihr nichts mehr zu tun haben. Da Gott in ihren Augen nicht brav gewesen ist, will sie nun mit ihm nichts mehr zu tun haben. Dies machen wir Menschen gerne und häufig: anstatt unsere Meinung über den Anderen, in diesem Fall über Gott zu überprüfen und in darin sich mit dem Anderen auseinander zu setzen, brechen wir den Kontakt ab. Das ist natürlich einfacher, weniger in Frage stellend, weniger verunsichernd.

Ich bin enttäuscht über dich …“ – das ist ein Satz, den Väter gerne zu ihren Söhnen, Mütter gerne zu ihren Töchtern sagen. Vielleicht noch hinzufügend: „ich habe es dir nur gut gemeint!“

Meister Eckhart hat einen anderen Satz geprägt, der gut hierher passt:

… manche Leute wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen, und wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und des Käses und deines eigenen Nutzens. So halten’s alle jene Leute, die Gott um äußeren Reichtums oder inneren Trostes willen lieben; die aber lieben Gott nicht recht, sondern sie lieben ihren Eigennutz.“ Es ist gut, sich ehrliche Rechenschaft darüber zu geben, wofür ich „Gott“ (und meine Mitmenschen) in meinem eigenen Leben verwende. Eckhart weist in seinem deftigen Bild darauf hin, dass „manche Leute“ Gott für ihren Egoismus verwenden. Die Frage ist nicht, was gebe ich Gott, sondern was kriege ich von ihm. Die genannte Dame war ein Stück weiter: sie „fütterte“ Gott mit ihrem Gehorsam, und erwartete dafür die Erfüllung ihrer Wünsche. Im bäuerlichen Denken ist dies völlig in Ordnung: wenn ich meine Kuh gut füttere, erwarte ich „zurecht“, dass sie viel und gute Milch gibt. Wenn sie dies nicht tut, wird sie verkauft oder geschlachtet.

Dies wird Gott nicht gerecht, da Gott nicht „etwas unter anderem ist“. So fährt Eckhart fort: „Alles, worauf du dein Streben richtest, was nicht Gott in sich selbst ist, das kann niemals so gut sein, dass es dir nicht ein Hindernis für die höchste Wahrheit ist.“

Was aber ist „Gott in sich selbst“? „Gott in sich selbst“ ist unerkennbar, die Metapher hierfür ist „Dunkelheit“. Gott geschieht „im Dunklen“. Deshalb ist jede Art kausalen Denkens („wenn – dann“) eine Bemächtigung Gottes. So sagt Meister Eckhart an anderer Stelle, dass die einzig angemessene Art zu beten die ist, „danke zu sagen.“ Jenes „danke“, aus dem heraus ein Denken strömt, das in Danken eingebunden ist. Dieses Denken ist ein bescheidenes. Es erkennt an, dass es sich nicht selbst geschaffen hat. Es erkennt an, dass es auch die Wirklichkeit nicht selbst schaffen kann. Und es erkennt an, dass es nicht ums Recht haben geht.

Die Reaktion der Dame darauf, dass ihr dringender Wunsch nicht erfüllt worden ist, war kein In-Frage-Stellen ihrer eigenen Annahmen über „Gott und die Welt“, sondern das Ausscheiden, das Exkommunizieren Gottes. Sie konnte aus dieser Erfahrung nicht lernen. Sie konnte sich nur abwenden.

Und so kann nichts Neues werden. Das Alte, Vertraute, die (Sehn-)Sucht nach Erfüllung der eigenen Wünsche, hat die Möglichkeit für Neues getötet.

Uns, die wir tot waren in den Sünden“, sagt Paulus im heutigen Predigttext, hat „Gott, der reich ist an Barmherzigkeit … mit seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat … mit Christus lebendig gemacht.“ (4-5) : „denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, werdet ihr sterben müssen; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Fleisches tötet, so werdet ihr leben.“

Die Taten des Fleisches sind in unserem Evangelium zusammengefasst in dem Gebet des selbstgerechten Pharisäers.

Ich habe was aus meinem Leben gemacht, sagt der Pharisäer. Nicht so wie die Zöllner, die Betrüger, die Ehebrecher. Gott sei Dank, dass ich nicht so bin wie die.

Ich lebe Gott wohlgefällig.

Ich kümmere mich um die Armen.

Ich zahle meine Kirchensteuer, und das nicht wenig.

An Weihnachten gehe ich in die Kirche.

Weil das einfach dazu gehört.

Ich habe mir nichts vorzuwerfen.

Ich muss keine Angst vor dem jüngsten Gericht haben.

Wenn alle Menschen so lebten wie ich, dann sähe diese Welt anders aus.

Ich werfe meinen Müll nicht achtlos auf die Straße.

Aber das mit den Flüchtlingen ist wirklich übertrieben.

Mir wurde auch nichts geschenkt.

Und man sieht ja, was da alles in unser Land herein kommt. Nirgends ist man mehr sicher.

Ich könnte mühelos die Gedanken des Pharisäers weiterspinnen.

Sie merken, die sind mir sehr nahe.

Das liegt daran, dass ich selbst in mir so eine Pharisäer-Seite habe. Die kann auch ganz versteckt sein. Indem ich stolz darauf bin, dass ich nicht so bin wie der Pharisäer.

Die Taten des Geistes geschehen. Ich kann sie nicht machen. Es gibt kein „Ich mache das!“ „Ich schaffe das!“ Dieses Ich ist im Wirken-lassen des Geistes entmachtet.

Das fühlt sich an wie sterben. Das „Lebendig-Werden“ im Geiste („in Christus“, wie Paulus sagt) ist ein „Gleichgestaltet-Werden mit seinem Tod.“ Der Tod ist das Aufgeben der eigenen Wünsche, Erwartungen, Forderungen an das Leben. Was stirbt, das sind meine Illusionen und Täuschungen darüber, ich hätte mein Leben im Griff, hätte es in der Hand. Nichts habe ich in der Hand. Gott begegnen heißt mit leeren Händen da stehen.

Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben: und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es. Nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme.“

Ja – wenn das so ist, dann lege ich meine Hände in den Schoß. Dann werden die Andern schon merken, wie weit sie ohne mich kommen.

Warum bin ich eigentlich so blöd und arbeite so viel. Und halse mir auch noch Ehrenämter auf. Krieg‘ ja eh nichts dafür.

Von wegen Dankbarkeit.

Dass es läuft, ist selbstverständlich.

Und wenn mal was nicht läuft, dann wird gemotzt.

Dann verkauf‘ ich mein Hab und Gut und ziehe auf die kanarischen Inseln.

Und lass den lieben Gott einen guten Mann sein!

Das klingt nach Änderung des Lebens. Ist es aber nicht.

Viele Menschen meinen, Veränderung ist, wenn ich etwas anderes tue. Das ist meistens eine Täuschung.

Veränderung geschieht, indem ich meine Haltung zum Leben, zu mir und zu dem Leben, das um mich herum ist, verändere. Damit dies möglich ist, muss ich mir erst mal meiner Haltung zum Leben bewusst werden.

Dieses berühmte „erkenne dich selbst!“ ist leicht gesagt, schwer gelebt und nicht sehr verbreitet. Wir erkennen lieber den Anderen, beschäftigen uns mit seinen Splittern in den Augen. Das ist leichter und angenehmer.

Wahrhaftige Selbsterkenntnis beginnt mit der Einsicht, dass wir hier mit leeren Händen stehen. Dass wir uns unser Leben nicht selbst geben konnten, dass wir lange Jahre davon abhängig waren, gut genug leiblich und seelisch ernährt zu werden. Je kränkender und beschämender wir dieses Abhängig-sein erlebten, desto intensiver entstand der Wunsch, frei, unabhängig, autonom zu sein.

Das habe ich mir alles selbst geschaffen, sagt der Pharisäer.

Mein Auto, mein Haus …

Das ist wichtig, denn der Pharisäer will unter keinen Umständen danke sagen müssen. Echtes Danke. Erlebtes Danke.

Danke untergräbt die Täuschung der Autonomie.

Danke hieße – ich bin auf jemand Anderen angewiesen.

Danke hieße – ich kann das gar nicht alles alleine.

Danke erinnert mich an den Horror des Ausgeliefert-seins.

Der Pharisäer sagt: „Danke, Gott, dass ich nicht so bin wie die Anderen.“ Und er meint damit: „Ich bedanke mich bei mir, dass ich aus meinem Leben was gemacht habe. Deshalb bin ich nicht so wie die Anderen.“

Paulus, der Sohn eines Pharisäers, selbst zunächst Pharisäer geworden, beschließt unseren Predigttext mit dem Satz: „… wir sind sein (Gottes) Werk geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen.“ (Vers 10)

Wir sind Gottes Werk …“

Selig sind die, die arm sind“, sagt Jesus,

selig sind die, die nicht satt sind,

selig sind die, die nicht schon alles wissen,

selig sind die, die nicht schon am Ziel sind,

selig sind die, die nicht Recht haben,

…“

sie leben auf meine Kosten, sagen die Reichen,

auf meine auch, sagen die Macher.

Wir sind doch die, die anpacken, sagen die Anpacker.

Aus nichts wird nichts sagen sie:

du musst lösungsorientiert denken, sagen die Lösungsorientierten,

außerdem haben wir Recht, sagen die Recht-Haber.

Selig, wer in Verbundenheit und Freundschaft mit seiner Seele leben darf.

Selig wer dankbar sein Leben in den barmherzigen Schoß Gottes zu legen wagt.

Selig, wer es wagt, sich den Fremden zuzuwenden und sich von Gewalt nicht abschrecken lässt.

Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben: und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es.“ AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN

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Predigt über die „anvertrauten Talente“ am 9. Sonntag nach Trinitatis

Predigt am 9. Sonntag nach Trinitatis (Jakobuskirche Pullach)

Matthäus 25,14-30 und Philipper 3,7-11

Die Finsternis des Vaters und das Licht des Sohnes und die lebensspendende Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

ich kenne jemand, der ist beim Hören des heutigen Evangeliums seelisch zusammengebrochen. Sein Leben war zu diesem Zeitpunkt nicht so gelaufen, wie er es sich erhofft hatte. Er war die große Hoffnung seiner Eltern gewesen, und konnte sie nicht erfüllen. Hilfesuchend wandte er sich an die christliche Religion mit ihrem Verständnis für die Schwachen. Und ausgerechnet in dieser Situation hörte er das Gleichnis von den anvertrauten Talenten. Er war sich sicher, sein Los ist das des dritten Knechtes. Er war sich sicher ein „böser und fauler Knecht“ zu sein. In dieser Haltung versuchte er sich das Leben zu nehmen, was ihm ebenfalls misslang. „Nicht einmal dazu bin ich fähig!“ schalt er sich.

Ich kenne jemand anderen, der aus einfachen Verhältnissen kommt. Als Lehrling angefangen hat er sich hochgearbeitet bis zur Spitze in einem DAX-Konzern. Mit eigenem Chauffeur, eigener Yacht usw. Mein Auto, mein Haus, mein Boot.

Wieder jemand anders sagte mir vor kurzem, er gehe nicht regelmäßig in die Kirche. Auch glaube er nicht sehr. Aber er sei sich sicher, dass es ein Jüngstes Gericht geben wird, und da werde er sich entspannt zurück lehnen. Er habe nämlich eine weiße Weste.

So verschieden sind wir Menschen.

Ich habe heute zwar nicht über das Gleichnis zu predigen – aber es bildet doch den Hintergrund unseres heutigen Gottesdienstes. Auch der Wochenspruch gehört zum Thema: „Wem viel gegeben ist, bei dem wird man auch viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man um so mehr fordern.“ (Lk 12,48)

Menschen sind verschieden: es gibt die, die Forderungen als Herausforderungen nehmen. Es gibt die, die sich niemals in Frage stellen.

Und es gibt die, die unter der Last der Forderungen zusammenbrechen.

Sie ziehen sich in eine eigene Welt zurück, in der sie sich sicher wähnen. Es ist von großer Bedeutung sowohl in einer psychotherapeutischen Behandlung wie im alltäglichen Leben, die „Orte des seelischen Rückzugs“ (J. Steiner) eines Menschen zu kennen und zu respektieren. Auf der anderen Seite machen genau diese Orte sehr heftige Gefühle – gerade und besonders dann, wenn ich mit einem anderen Menschen zu tun haben will, wenn ich mich für ihn interessiere, wenn ich ihn liebe.

Das, was der Andere als Rückzug erlebt, erlebe ich, der ich an den Anderen herankommen will, als Abweisung. Je tiefer jemand in seine eigene innere Welt versponnen ist, desto schwieriger hat er es, die Welt da draußen überhaupt noch mitzubekommen. Je bedürftiger ich auf der anderen Seite danach bin, vom Anderen wahrgenommen, gesehen zu werden, desto heftiger werden meine Gefühle sein: ich tue mich dann immer schwerer, noch den Anderen zu sehen, kreise um meine Verletzungen, um meinen Ärger, um mein Nicht-Wahrgenommen-Werden.

Kurzum: was für den einen ein Schutz ist, erlebt der Andere als Abweisung.

Zum Konflikt kommt es, wenn die beiden Bedürfnisse aufeinander prallen: das Bedürfnis nach Rückzug und Schutz und das Bedürfnis nach Wahrgenommen und Gesehen-Werden. Erst wenn es Brücken des Dialogs, des liebevollen Austausches darüber gibt, was eigentlich gerade los ist in der Beziehung, kann die Beziehung wachsen. Kann es „weiter gehen“.

Das harte Gleichnis von den anvertrauten Talenten ist eine drastische Aufforderung, die eigenen, selbst gezimmerten Schutzräume aufzugeben.

Die Botschaft lautet: Du kannst deine Lebendigkeit vergraben. Aber wisse: davon hat niemand etwas. Du am allerwenigsten.

Ein Nachdenken oder gar Verständnis für die Motivation dessen, der das Geld vergräbt, findet allerdings nicht statt. Na ja: wir Menschen mögen es nicht, die Wahrheit über uns und unser Leben zu erfahren. Das ist zu kränkend. Hierin gründet, dass Selbsterkenntnis, seit es Menschen gibt, nicht beliebt ist. Leichter und moderner ist es, ungehemmt dem eigenen Hass Raum zu geben. Nicht genug damit, sich selbst das Leben zu nehmen, am besten auch noch Andere, Unschuldige, mit in den Tod zu reißen.

Welch ein Triumph – welch eine Macht: einen Augenblick lang selbst Herr über Leben und Tod zu sein!

Es geht also um Hass. Und darum, ob es Möglichkeiten gibt, Hass zu verwandeln. Die Idee, die Todesstrafe wieder einzuführen, ist eine Kapitulation gegenüber der Hoffnung, dass sich Hass verstehen und verwandeln lässt. Sie beantwortet Hass mit Vernichtung.

Hass ist soviel einfacher als Liebe. Zerstören ist soviel einfacher als wachsen lassen. Sie merken schon: wachsen lassen. Das heißt, so direkt kann ich nichts machen. So direkt habe ich nichts im Griff.

Liebe hat mit Aushalten zu tun. In der Liebe bleiben heißt, fähig sein, die Impulse, die aus dem Hass stammen, nicht auszuleben. Auch die Worte, die aus dem Hass stammen, nicht auszusprechen. Die Worte des Meckerns, des Jammerns, des Sich- lustig-Machens. Natürlich hinter dem Rücken des Anderen. Liebe erfordert Mut. Hass nicht.

In der Liebe bleiben heißt also zunächst einmal: die Klappe halten. „Was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, den Balken im eigenen siehst du nicht.“

Zur Zeit werden (wieder) Menschen zu Führern, die unfähig sind, sich selbst in Frage zu stellen. Das Verführerische an diesen Führern sind die einfachen Lösungen, die sie anbieten. Die einfachen Lösungen sind die Lösungen der Macht.

Ich mache das, weil ich es kann!“

Das ist die Position der Macht. Die Kehrseite der Macht ist die Ohnmacht.

Der christliche Glaube, der mich berührt, der Gott, mit dem ich mich verbunden fühle, hat viel mit Ohnmacht zu tun. Und dem Ertragen von Ohnmacht. Und der Stärke, die aus diesem Ertragen erwächst.

Hiervon handelt der heutige Predigttext aus dem Philipperbrief, in dem Paulus über seine Kehrtwende hin zu Christus nachdenkt und sagt:

„ … was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet. Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, damit ich Christus gewinne und in ihm gefunden werde, daß ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott dem Glauben zugerechnet wird.“

Das Problem ist das Einverstanden-sein mit der eigenen Ohnmacht. Dass ich nichts tun kann. Nicht einmal der Glaube ist mein Werk, mein Verdienst: auch er geschieht durch Gott, ist „Gottes Gabe“, wie es im Epheserbrief heißt. Und nicht ich verdiene, erarbeite mir meine Gerechtigkeit, meine Zufriedenheit – sie kommt zu mir, aus dem Glauben an Jesus Christus.

Das mag der moderne Mensch schon gleich gar nicht. Alles mein Verdienst, sagt er. Mein Haus, mein Auto, mein Boot!

Unser Gleichnis von den anvertrauten Talenten legt diese Haltung nahe. Damit wird man ihm aber nicht gerecht. Allerdings darf man dieses Gleichnis nicht kurzschlüssig auf das Leben beziehen. Sonst müssten wir die Milliardäre als besonders vorbildliche, von Gott auserwählte Menschen ansehen.

Geld hat mit Talent, mit Kreativität, mit Lebendigkeit nichts zu tun.

Geld ist Geld und bleibt Geld. Ein Tauschmittel – mehr nicht.

Und: Geld steht für Möglichkeiten. Ich kann mein Geld für Sinnvolles und weniger Sinnvolles verwenden. Und genauso ist es auch mit meinen Talenten. Geld und Talent (Talent war im Griechischen ein Zahlungsmittel) eröffnen Möglichkeiten. Das verbindet sie.

Es hat Vorteile, sich darüber Rechenschaft zu geben, wofür ich mein Geld, meine Begabungen verwende. Für meinen Geiz? Für meinen Neid? Für meine Gier?

Oder für Großzügigkeit, für Dankbarkeit, für die Unterstützung von Projekten, die mir sinnvoll erscheinen. Dieses „Sich-vor-sich-selbst-ehrliche-Rechenschaft-abgeben“, ist nicht sehr beliebt. Ich will gar nicht so genau wissen, was mit mir los ist. Zum Schluss entdecke ich auch noch Leichen im Keller! Das kann sein. Dann weiß ich halt wenig über mich, lebe halb blind durchs Leben.

Die Haltung des dritten Knechtes ist im übrigen die Haltung des depressiven Menschen. Er ist getrieben von seiner Angst und von seinem Hass. „Herr, ich wusste, dass du ein harter Mann bist; dass du erntest, wo du nicht gesät hast, und sammelst ein, wo du nicht ausgestreut hast …“

Woher wusste er das? Davon ist keine Rede im Text. Es ist die innere Überzeugung des Knechtes; es ist sein Vorurteil, das er dem Anderen überstülpt. Aus ihm heraus hat er gehandelt. Aus ihm heraus hat er sich selbst gerichtet. Im Grunde genommen ist der ein armer Hund, wer seine Talente aus Hass und Angst vergräbt. Angst und Hass, die aus seinen eigenen Vorurteilen entstanden sind. Er muss gar nirgends hingeworfen werden: er hat sich selbst in die Finsternis katapultiert, wo Heulen und Zähneklappern herrscht. Die Explosionen von Gewalt, die wir derzeit erleben, hängen mit der Haltung des dritten Knechtes zusammen. Es sind Menschen, die nicht mehr erreichbar sind für das Leben, für das Geschenk des Lebens. Am Ende steht ihre Zerstörung: sei es von außen, sei es, dass sie sich selbst richten.

Paulus hat in seiner Kehrtwendung die Lebendigkeit des Lebens erlebt. Er verbindet Leben unmittelbar mit Christus.

Sein Ziel ist es, diesen befreienden Christus zu erkennen:

Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet werden, damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.“ (10-11)

Leben aus dem Evangelium Jesus Christi heraus bedeutet: es geht nicht mehr darum, irgendwelche Forderungen zu erfüllen. Es geht ausschließlich darum, Christus zu erkennen. Und „erkennen“ heißt im Hebräischen: „lieben“. In Klammer: wer Christus in der Tiefe liebt, der kann den Anderen nicht mehr verteufeln. Auch wenn der statt Christus Mohammed oder Buddha oder Maria in das Zentrum seines Glaubens stellt.

In der Liebe zu Christus lerne ich ein Leben zu leben, das nicht mehr angetrieben ist davon, irgendwelchen Terminen, Pflichten, Erwartungen, Forderungen hinterher zu hetzen. Immer mit der bangen Frage im Hinterkopf: bin ich gut genug? Reicht das, was ich zu geben habe? Die Liebe ist auch die einzige Chance, den depressiven Menschen zu erreichen. Der Gott der Liebe sagt übrigens nicht: „Du böser und fauler Knecht!“ Der Gott der Liebe sagt: „wie schade, dass du mit deinem Leben nichts anfängst. … Wie schade, dass dir deine Verweigerungshaltung so wichtig ist … “ Meine Erfahrung mit mir selbst als dem drittem Knecht ist: nicht Drohung oder Bestrafung hilft weiter, auch nicht Überzeugen oder Locken, sondern: aufmerksames Dasein. Und das Eingeständnis: ich kann dir nur bis zu einem gewissen Grad weiter helfen: aus deinem Versteck musst du ganz alleine herauskommen.

In der Liebe zu Christus geschieht die Erleuchtung, dass alles, was zählt, mein Hier-Sein ist. In und mit meiner ganzen Lebendigkeit. Die überschwängliche Erkenntnis Christi ist das überschwängliche Erleben meines Hier-auf-dieser-Welt-Seins. Das so unwahrscheinlich ist und so unvorhersehbar war. Je tiefer ich dies erleben darf, desto wirksamer geschieht Gottes Kraft der Auferstehung von den Toten. Und zwar hier und jetzt – und nicht in einem fernen Jenseits.

Hier an diesem Sonntag, in dieser Kirche, in diesem Augenblick hat jeder von uns – egal ob Frau oder Mann, groß oder klein, alt oder jung, die Möglichkeit, die überschwängliche Erkenntnis Christi zu erleben. Sie wollen wissen wie? Sie wollen wissen, was Sie dann erleben? Ja, genau das ist das Problem.

Lassen Sie sich überraschen! AMEN

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Sinne in Christus Jesus, AMEN.

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Osterpredigt 2016: Kein Ostergelächter, aber vielleicht ein Osterlächeln

Predigt am Ostersonntag 2016

Die Dunkelheit des Vaters und das Licht des Sohnes und die liebende Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen., AMEN.

Liebe Gemeinde,

fragen Sie sich auch manchmal: wo sind eigentlich die ganzen Jahre meines Lebens hingekommen? Mehr als sechs Jahrzehnte bin ich jetzt auf dieser Welt – und diese Jahrzehnte sind verschwunden. Und mit ihnen sind viele Menschen verschwunden, die mich begleitet haben. Ich vermute, von meinen Lehrern aus der Schulzeit wird kaum mehr einer leben. Oder aus meiner Studienzeit. Die Zeit hat es an sich zu kommen und zu gehen. Wie unser Atem. Die Zeit ist vergänglich.

Was bleibt, sind Erinnerungen. Was auch bleibt ist unser „Ich“. Unser „Ich“ ist eine Konstante in der Zeit. Vor über drei Jahrzehnten stand dieser Kerl, zu dem ich „Ich“ sage, auch schon auf dieser Kanzel. Von außen betrachtet könnte man sagen: viel Neues scheint ihm nicht eingefallen zu sein. Von innen betrachtet gibt es Stimmen, die sagen: muss das wirklich sein? Du könntest jetzt auch ein gemütliches Osterfrühstück mit deiner Familie haben. Aber du musst ja immer predigen. Das ist eine Stimme des Haderns, mit diesem „Ich“-Kerl. Ich denke, sie kennen das auch: Kräfte in Ihnen, die an Ihnen ziehen, die Sie wo anders hin haben wollen, als dorthin, wo Sie hin wollen.

Wir Menschen sind schon seltsame Lebewesen!

Vielleicht möchten Sie mich jetzt daran erinnern, dass heute Ostern ist. Und bis jetzt noch wenig Osterjubel in meiner Predigt zu spüren ist.

Da haben Sie recht!

Ich habe mich mit dieser Osterpredigt schwerer getan, als ich dachte. Ein Felsbrocken lag auf meiner Seele und es dauerte, bis ich zu verstehen begann, dass dieser Felsbrocken mit Erinnerungen zu tun hat. Die vorhin gehörte Lesung aus dem berühmten 15. Kapitel des 1. Korintherbriefes, in dem Paulus von der Auferstehung Christi schreibt, ist der heutige Predigttext. Und er bildete das Zentrum des Denkens meines Doktorvaters, W. Pannenberg, der in seiner Christologie den Nachweis versuchte zu führen, dass die Auferstehung Jesu historisch nachweisbar sei.

Der Felsbrocken auf meinem Denken hat mit der harten Erinnerung zu tun, wie sehr ich dieses Buch und diesen Mann versuchte, als meinen „Retter“ zu erleben.

Das hat wiederum mit meiner Lebensgeschichte zu tun.

Ursprünglich sollte ich für meine Mutter ein „Retter“ sein. Sie hatte ihren ersten Mann durch einen Motorradunfall verloren, ihre dreijährige Tochter aus dieser Ehe war an Leukämie gestorben. Merkwürdig – mich gibt es, nachdem (weil?) andere Menschen verschwunden sind. Ich war von Anfang an ein schwacher Ersatz, schwach auch deshalb, weil ich ein Junge war. Ich habe mir große Mühe gegeben (auch ein Mädchen zu sein) – aber es hat irgendwie nicht geklappt. Auch deshalb, weil ich Tote nicht lebendig machen kann. Das konnte ich auch im Februar dieses Jahres nicht, als meine fünfeinhalbjährige Enkelin (wiederum) an Leukämie starb. Gerne hätte ich gesagt: „talita kumi – steh auf, nimm dein Bett und geh!“ Aber ich stand nur da, ohnmächtig, traurig, fassungslos.

Und jetzt soll ich über diesen Paulustext predigen. Soll predigen, dass es natürlich eine Auferstehung der Toten gibt, weil Christus von den Toten auferstanden ist; wäre er aber nicht von den Toten auferstanden, „so ist euer Glaube nichtig, so seid ihr noch in euren Sünden“ sagt Paulus (1. Kor. 15,17). Und es gibt schließlich ja auch genügend Zeugen, die Christus gesehen haben. Paulus kämpft in diesem Kapitel gegen die These: „es gibt keine Auferstehung der Toten!“ Er verweist auf das, was er selbst empfangen hat, also auf Tradition, die ihm vorlag: „Christus ist gestorben für unsere Sünden nach der Schrift, und begraben worden und auferstanden am dritten Tag nach der Schrift. Und dann verweist er auf die Fülle von „Zeugen“, denen er erschienen ist. Und zuletzt sei er auch ihm selbst erschienen, wobei er sich einerseits als „unzeitige Geburt“ abwertet, um dann zu betonen, dass er „viel mehr gearbeitet (hat) als sie alle“, um dann wieder zu relativieren: „nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die in mir ist.“

Liebe Gemeinde,

ganz ehrlich: mir hilft dieser Text nicht weiter. Er berührt mich nicht. Mir ist es egal, wer Christus wann gesehen hat. Ganz davon abgesehen, dass Wahrheit nicht dadurch entsteht, dass viele Menschen dasselbe sagen. Es gab eine Zeit, da waren sich die Menschen darin einig, dass die Erde eine Scheibe ist, um die sich die Sonne dreht. Das war die anerkannte Wahrheit. Und Galileo Galilei, der etwas Anderes behauptete, war ein Lügner. Und wäre beinahe wegen seiner vermeintlichen Lügen mit dem Tode bestraft worden. Von daher hat sich offenbar doch etwas mit mir verändert. Ich scheine ein Anderer geworden zu sein. Damals klammerte ich mich an diesen Text und an die Theologie meines Doktorvaters. Heute – ist sie mir gleichgültig geworden. Es gibt also doch Veränderung im Leben dieser Konstante „Ich“. Veränderung hat mit der Fähigkeit zu lernen zu tun. Die Fähigkeit zu lernen hat wiederum mit der Kraft zu tun, mir mein Nicht-Wissen einzugestehen.

Diese Gedanken helfen mir weiter. Mein Bestreben ist es, mich mit Wahrhaftigem zu verbinden. Sie ist der Boden, der mich trägt. „Durchdringe mich Heiliger Geist, dass ich selbst unwichtig werde und du alleine bleibst.“ Das ist ein Satz von Jörg Zink, der mir in die Hände fiel, als ich nahe daran wahr, das Vorhaben Osterpredigt aufzugeben. Der Heilige Geist kann ja nichts anderes sein, als der Geist der Wahrheit. Und der Wahrheit ist es egal, von wem sie erkannt wird – auch, ob sie überhaupt erkannt wird. Dass die Erde eine Kugel ist und sich seit ihrer Existenz um die Sonne dreht – das ist ein wahrhaftiges Geschehen, völlig gleichgültig, ob es jemand erkennt oder nicht. Das ist für mich ein überaus tröstlicher Gedanke.

Für meine kleine Osterpredigt heißt das: das Entscheidende sind nicht meine mehr oder weniger klugen Gedanken, das Entscheidende bin auch nicht ich – das Entscheidende ist die Offenheit für eine Kraft, die „von wo ganz anders her“ kommt. Ich bin, mein Ich ist nichts anderes als eine Flöte, die von jemand anderem gespielt wird. Oder eine Orgel, auf der jemand Anderer die Register zieht.

Und Sie, liebe Gemeinde, sind frei, das, was ich zu sagen habe, doof zu finden. Oder ärgerlich. Zu wenig österlich. Oder – keine Ahnung.

Und natürlich freue ich mich, wenn zwischen uns sich dieser Heilige Geist der Wahrhaftigkeit sich ausbreitet, zu wehen und zu schwingen beginnt. Aber – wie wir alle wissen: er weht wo er will – er lässt sich nicht machen.

Und damit beginnt für mich Auferstehung – nicht mit Beweisen, nicht mit Zeugenaussagen, sondern mit: „Zittern und Entsetzen.“ Und sie beginnt mit den Frauen, die nach dem katastrophalen Pessach das tun, was zu tun ist: sie wollen den Leichnam Jesu salben. Sie wollen sich dem Toten zuwenden. Und sind verunsichert. Nichts ist wie gewohnt, wie erwartet. Der Stein vor dem Grab ist weg, das Grab ist leer. Sie „stehen ratlos da“, heißt es bei Lukas. „Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen“ heißt es bei Markus. Eben diese Ratlosigkeit, dieses Entsetzen will ausgehalten werden, damit Neues auferstehen kann. Erst wenn etwas fehlt, wenn da, wo immer etwas war, nichts ist – kommt Routine an ihr Ende. Es sind die Frauen (also weibliche Kräfte in uns), die die Stärke haben, diese „Leere“ auszuhalten. Und damit ihr Nicht-Wissen bezüglich dessen, was los ist. Die Männer aber, so heißt es bei Lukas, hielten die Worte der Frauen für „Geschwätz“ – und glaubten ihnen nicht! Männliche Kräfte tun sich im Ertragen von Angst, Unsicherheit und Nicht-Wissen deutlich schwerer als weibliche. Es dient der Selbst-Beruhigung dieser männlichen Kräfte, mit Weiblichem abwertend und überheblich umzugehen.

Die Frauen also waren unterwegs, das zu machen, „was man mit Toten macht“: mit wohlriechenden Salben zu balsamieren. Und jetzt sind sie ratlos, verängstigt. „Und sie sagten niemand etwas, denn sie fürchteten sich.“ Damit endet das Markusevangelium in seiner ursprünglichen Fassung. Das älteste Evangelium. All‘ die schönen Geschichten von der Begegnung des Auferstandenen – sie sind erst viel später verfasst worden.

Und diese Furcht ist nur allzu berechtigt. Denn die Auferstehung Christi bedeutet, dass ein Denken auferweckt worden ist, in dessen Zentrum die liebevolle Einfühlung in den Anderen, in den Fremden steht. Die Radikalität der Liebesbotschaft dieses Jesus aus Nazareth war es, mit der er sich bei dem religiösen Establishment seiner Zeit so unbeliebt gemacht hatte. Und er verfügte über die Kraft, sich unbeliebt zu machen. Er hielt dies aus im unerschütterlichen Glauben an den, den er seinen Vater nannte, an seinen Gott.

Mit anderen Worten: indem der Weg der Auferstehung über das Kreuz führt – und einen anderen Weg gibt es nicht, wie wir am Karfreitag hier im Gottesdienst eindrücklich erleben durften – bleibt die Auferstehungsfreude gebunden an die Verzweiflung des Gekreuzigten. Ein Abschütteln des Kreuzes führt zu einer triumphierend-überheblichen Kirche und zu einer abgehobenen Theologie. Das Kreuz ist kein Durchgang: aber es wird von der Auferstehung her tragbar – erträglich.

Wenn wir heute als Christen ernst genommen werden wollen, wäre es günstig, wenn wir eine glaubwürdige Botschaft hätten. M.E. schwächt es die Glaubwürdigkeit der christlichen Religion im allgemeinen und die unserer Verkündigung im besonderen, wenn sie – im Chor mit vielen anderen Religionen – unsere Angst vor dem Tod so beantwortet, dass sie die Endgültigkeit des Todes einfach verleugnet. („Wenn du an die Auferstehung der Toten glaubst, dann bedenke, dass alle Menschen auferstehen werden, die Guten und die Bösen. Auch die, mit denen du nie mehr etwas zu haben wolltest!“ hat der große Theologe Karl Barth einmal gesagt. Aber das nur nebenbei.)

Glaubwürdig sein ist freilich etwas ziemlich anderes als beliebt sein. Die Künder der Wahrheit (auf allen Gebieten, in den Naturwissenschaften, in den Geisteswissenschaften – auch Gottes) haben sich oft sehr unbeliebt gemacht. Sie (zer-)stören gemeinsame, liebgewonnene Einsichten. Sie stellen vertraute Sicherheiten in Frage. Jesus gehört zu denen, die sich so unbeliebt machten, dass seine Liquidierung die letzte und notwendige „Lösung“ schien. Die (Denk-)Gefäße des religiösen Establishments seiner Zeit waren ungeeignet, seine Botschaft aufzunehmen. Um die Gefäße zu schützen, wurde der Botschafter vernichtet.

Im Zentrum der Verkündigung am Ostermorgen steht die Umkehr der Blickrichtung. „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“ Im Zentrum steht die Auferweckung der Botschaft von der bedingungslosen Liebe. Mit ihr wird sein Botschafter von selbst lebendig. Alles weitere können wir getrost Gott überlassen. Und diese Botschaft der Unzerstörbarkeit der Liebe halte ich für das Glaubwürdigste, was durch diesen Jesus, den wir als Christus bekennen, in die Welt gekommen ist. Sie ist das Herz des Christentums. Wer Christus predigt, ohne Liebe in sich zu spüren: dessen Glaube ist nichtig!

Liebe Gemeinde,

ich kann mir gut vorstellen, dass meine österlichen Gedanken auch auf Befremden stoßen. Das kann ich leider nicht ändern. Genau genommen hat man ja sowieso keinen Einfluss darauf, was mit veröffentlichten Gedanken gemacht wird. Wozu sie verwendet werden. Wir Menschen lieben das Vertraute und hassen das Fremde. Alles Fremde verunsichert, macht Angst. Und was mir Angst macht, das hasse ich. So einfach ist das. Und so können wir das Fremde ausscheiden – oder gar nicht erst zu uns herein lassen. Wer weiß, ob in dem Fremden nicht Bomben versteckt sind, die uns zerstören werden.

Unsere Angst investiert in Abschreckung. In Obergrenzen. In Zäune und Mauern.

Unsere Liebe investiert in Offenheit. In „An-sich-Heranlassen“. In Abrüstung.

Wie immer ist es gut, einen Mittelweg zu finden: unsere gesunde Angst warnt vor blindem Vertrauen, unsere gesunde Liebe setzt unserer Angst liebevolle Grenzen. In liebevollen Grenzen wächst innere und äußere Sicherheit. In liebevollen Grenzen werden die gemeinsamen Güter gerecht verteilt, so dass keiner hungern und frieren muss. Ich weiß, unsere Wirklichkeit sieht anders aus. Das Hab und Gut aller Menschen ist so verteilt, dass die Hälfte des weltweiten Vermögens einem Prozent der Menschheit gehört; die andere Hälfte teilen sich die verbleibenden 99 Prozent. Zur Veranschaulichung: die Hälfte der Torte bekommt eine Person – die andere Hälfte haben sich 99 Personen zu teilen. Dies wird nicht gut gehen. Und dies kann nicht gut gehen. Und: es hat mit Liebe nichts zu tun.

Ich sage dies nicht, um Ihnen ein schlechtes Gewissen oder Schuldgefühle zu machen. Ich bin selbst Hausbesitzer in Pullach und beabsichtige nicht, es zu spenden. Aber ich bin der Meinung, dass dieses Geschehen wenigstens öffentlich benannt werden muss.

Auch wenn wir daran wahrscheinlich wenig ändern. Aber – was wir können, ist: unser Leben alltäglich in den Dienst der Freundlichkeit, in den Dienst der Liebe zu stellen. Und unserem Hass und unserer Enttäuschung, die natürlich zum Leben auch dazu gehören, Obergrenzen setzen. Dadurch stärken wir unsere Bereitschaft zu lernen. Und es wird leichter, unser Nicht-Wissen zu ertragen. Wir können uns alltäglich in Geduld üben. Und wir können uns alltäglich sagen: „Durchdringe mich Heiliger Geist, damit ich unwichtig werde und du alleine bleibst.“

Mit dieser Haltung wird für mich Leben leichter. Das ist kein triumphierender Osterjubel, eher so eine stille Heiterkeit. Kein Ostergelächter – eher ein Osterlächeln. Ja, tut mir leid, das war’s. Mehr habe ich heute nicht zu sagen, AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unser Denken und Planen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN.

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Gründonnerstag 2016 – „In der Nacht, da Jesus verraten ward …“

Predigt über 1. Korinther 11, 23-26 an Gründonnerstag 2016

Die Dunkelheit des Vaters, das Licht des Sohnes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, Amen.

Liebe Gemeinde,

in der Nacht, da Jesus verraten ward…“ Mit diesen Worten, den sogenannten Einsetzungsworten, beginnt unsere Abendmahlsfeier. Sie sind im1. Brief an die Korinther, 11, 23-26 überliefert. Darüber ist heute zu predigen.

Das Abendmahl geschieht in der Nacht.

Der Heilige Johannes vom Kreuz unterscheidet drei dunkle Nächte: die Nacht der Sinne, die Nacht des Verstandes und die Nacht Gottes.

In der Nacht der Sinne höre ich auf, mich auf meine Sinne und ihre Mitteilungen zu verlassen. Meine Sinne melden mir, wie ich in Raum und Zeit stehe, wie ich mich bewege. Im Laufe meines Lebens hat sich ein mir vertrautes körperliches Muster eingeprägt, das – wenn ich Pech habe – zu einseitigem Verschleiß und zu vielen Schmerzen führt. Meine Sinne melden mir auch, dass das ist, was ich sinnlich erfassen kann.

In der Nacht der Sinne laufen meine Sinne ins Leere: sie haben nichts „zu tun“. Sie „sehen“ nichts. Sie sind eingeschlafen.

In der Nacht des Verstandes höre ich auf, mich auf meinen Verstand und seine Gedanken zu verlassen. Im Laufe meines Lebens habe ich mir angewöhnt, viele Gedanken zu denken. Sie haben sich mir aufgezwungen durch Erfahrungen mit anderen Menschen. Besonders in meiner Babyzeit, Kindheit und Jugend, wo ich anderen Menschen ausgeliefert gewesen bin, haben diese Gedanken mein Denken entstehen lassen, das mir bis heute vertraut ist. Die allermeisten Gedanken, die ich heute denke, habe ich schon einmal gedacht. Vertrautes gibt Sicherheit.

In der Nacht des Verstandes werden diese Gedanken, wird mein Denken dunkel. In diese Nacht wagen sich wenig Menschen. Dort gilt es, elendige Gefühle zu erleiden. Das hat damit zu tun, dass meine Gedanken, die mein Denken bilden, mein Überleben gesichert haben und sichern. Indem ich dieses mein Denken verlasse, verlasse ich genau die Sicherheit, die ich mir so mühsam aufgebaut habe. Nur wenige Menschen sind dazu bereit und auch in der Lage.

In der dunklen Nacht Gottes höre ich auf, Gott dafür zu verwenden, wofür ich ihn mir geschaffen habe. Für die Erfüllung meiner Wünsche, für die Bestrafung meines Ungehorsams, für den Hass auf die, die nicht so an Gott glauben wie ich. In der dunklen Nacht Gottes hört Gott auf, „mein“ Gott zu sein. Der Heilige Johannes vom Kreuz sagt, die dunkle Nacht Gottes währt ein Leben lang.

Mein Denken wurde über meine Gedanken geformt. Meine Gedanken entstanden durch das, was ich im außen erlebt habe. Es traf zusammen mit meinem angeborenen Temperament, meiner genetischen Konstitution. So formte sich mein Ich. Jeder von uns hat sein eigenes, einmalig geformtes Ich. Dieses verleiht Ihnen und mir unsere je ganz eigene Sicht auf die Welt, auf die anderen Menschen, auf unser eigenes Leben. Der gläubige Selbstmordattentäter will seinem Gott Genugtuung verleihen und hofft dafür auf Anerkennung im Jenseits. Er ist sich keiner Schuld bewusst, da er ja nur im Namen Gottes die Ungläubigen liquidiert. Osama bin Laden bezeichnete den erfolgreichen Angriff auf das World Trade Center als „von Gott gesegnetes Unternehmen“. Das entspricht dem Denken Calvins, der der Meinung war: von Gott gesegnete Menschen erkennt man an ihrem materiellen Reichtum und ihrer gesellschaftlichen Anerkennung! Sie merken: dieser Gott ist ein Freund des Kapitalismus, ein Freund der Milliardäre.

Ich tue mich sehr schwer damit, anzuerkennen, wie verschieden wir Menschen sind. Mir wäre es viel lieber, wenn meine Mitmenschen auch so denken würden wie ich. Dahinter steckt ganz schön viel Hochmut. Und noch weiter dahinter steckt eine tiefe Sehnsucht nach Eins-Sein. Was könnte es schön sein, sich in die warme Decke gleichen Erlebens, gleichen Fühlens einzukuscheln.

Die Wirklichkeit jedoch ist anders. –

Da gibt es z.B. die einmalige Lebensgeschichte Oscar Romero , von 1977 bis 1980 Primas der katholischen Kirche in El Salvador. Er wurde heute auf den Tag, vielleicht sogar auf die Stunde genau vor 36 Jahren erschossen: in einem Gottesdienst, nach der Predigt, wo er über das Sterben des Weizenkorns gepredigt hatte. Er war der festen Überzeugung, sich opfern zu müssen: Kurz vor seinem Tod sagte er: „Als Christ glaube ich nicht an den Tod ohne Auferstehung … Als Hirte bin ich durch Gottes Auftrag verpflichtet mein Leben für die zu geben, die ich liebe, das sind die Salvadorianer, auch jene, die darauf aus sind, mich umzubringen … Ein Bischof mag sterben, doch die Kirche Gottes, das ist das Volk Gottes, wird niemals zugrunde gehen….“

Das war das Denken dieses Bischofs, der wohl bald heilig gesprochen werden wird. Hätte er auch so gehandelt ohne seinen Glauben an die Auferstehung? Würden die Selbstmordattentäter sich auch in die Luft sprengen, wenn sie der Überzeugung wären, es gibt kein Jenseits? Untersuchungen haben ergeben, dass bei religiösen Menschen die Bereitschaft, moralisch zu handeln nicht ausgeprägter ist als bei nicht-religiösen Menschen. Einzig die Bereitschaft zu extremer Gewalt ist bei religiösen Menschen signifikant ausgeprägter. Würde man die Gewalttaten der Menschheitsgeschichte zusammenfassen, ich fürchte, die Gewalt, die im Namen der drei monotheistischen Religionen verübt wurde, würde einen Spitzenplatz belegen.

Und wir müssen anerkennen, dass im Herzen unseres christlichen Glaubens eine Gewalt-Geschichte eingeschrieben ist, an die jede Abendmahlfeier erinnert: es heißt ja nicht: „in der Nacht nahm Jesus das Brot …“ – es heißt: „in der Nacht, da Jesus verraten ward …“

Romero war jahrzehntelang ein Mann des Establishments, romtreu und konservativ. Er kam nach El Salvador, um mit den „Progressiven“ aufzuräumen. Das war sein Auftrag.

Doch es kam anders. Romero wurde Zeuge, wie ein Jesuitenpater, ein alter Bauer und ein Ministrant erschossen wurden. Danach überfielen Soldaten das Dorf des ermordeten Priesters und schändeten die Kirche. Sie verwehrten Romero den Zutritt, als er die geweihten Hostien retten wollte. Dieses Ereignis bezeichnete er später als seine „Bekehrung“ und verband sie mit einem Satz von Petrus – „man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ (Apg 5,29)

Es ist derselbe Petrus, der seinen Herrn in eben dieser Nacht zwar nicht verraten aber dreimal verleugnet hat.

Verleugnung, Verrat, Täuschung, Lüge, Betrug: all dies gehört zu den Möglichkeiten des Menschseins dazu. Es gehört scheinbar zu unserer Freiheit dazu. Auch dies ist eine verbreitete eine Täuschung. Betrug, Verrat, Lüge – sie sind nicht Ausdruck von Freiheit, sondern von Sklaverei! Ich behaupte, dass sich niemand freiwillig, aus der Tiefe seines Herzens dafür entscheidet – sondern es sind Notlösungen, die sich mir aufdrängen ja aufzwängen im Angesicht unerträglicher Gefühle.

Ich vermute, der Verrat des Judas hat mit unerträglicher Enttäuschung zu tun. „Wann kommt denn jetzt endlich das Reich Gottes, von dem du die ganze Zeit predigst?“ Judas hat nicht ausgehalten, dass es so gar nicht kommt, wie er sich das vorgestellt, wie sehr sich das gewünscht hat. Und seine Enttäuschung nahm Gestalt an in jenem Jesus, auf den er seine ganze Hoffnung gesetzt hatte. Auch das ist üblich, dass der Retter zum Sündenbock wird – aus verzweifelter Enttäuschung. Enttäuschung über sich, über das gelebte Leben, über andere Menschen, von denen ich mir so viel versprochen, erhofft habe – ist ein wesentliches Element, aus dem die Bomben des Hasses und der Gewalt gebastelt werden. Wer fähig ist, tiefer in sich zu blicken, wird entdecken, dass es im Grunde der eigene Selbst-Hass ist, aus dem heraus die „hässlichen“ Gedanken, Empfindungen und Taten fließen. So ist es in sich logisch, wenn sich Judas am Ende selbst das Leben nimmt.

Liebe Gemeinde,

Sie alle wissen, wie unser Predigttext weiter geht. „In der Nacht, da Jesus verraten ward nahm er das Brot …“ Ich lese ihn jetzt nicht vor, weil wir nachher mit diesen Worten wie immer gemeinsam das Abendmahl feiern werden.

Stattdessen ein (für mich) ziemlich neuer Gedanke: Jesus hat den Verräter nicht „kalt gestellt“, er hat ihn nicht „exkommuniziert“. Romero hat auch für seine Mörder gebetet. Und die Frauen aus dem KZ in Ravensbrück haben gebetet: „Friede den Menschen, die bösen Willens sind…“ Es ist eine Verführung und ein neuerlicher Verrat, sich mit der eigenen völlig berechtigten Empörung über die Menschen zu stellen, die mit ihrer Destruktivität Unheil angerichtet haben und Unheil anrichten.

Im Abendmahl verbinden und verbünden wir uns mit mit einem Gott, der nicht nur von der Liebe redet, der die Liebe ist, der die Liebe lebt. Jene Liebe, die alles erträgt und alles erduldet. Und die frei lässt. Das, finde ich, ist das Schwerste: in der Liebe zum Anderen seine Freiheit mir gegenüber anzuerkennen. Die Liebe, die mir persönlich viel leichter fällt, lautet so: ich komme dir mit meinem Wohlwollen entgegen, aber du musst schon auch … das machen, so sein, wie ich es für richtig halte … Und wehe dir, wenn nicht … Diese Liebe ist in der Tiefe freilich keine Liebe sondern das Okkupieren des Anderen mit meinen Wünschen, meinen Werten.

Wer Kinder hat und sie durch die Pubertät begleitet, weiß wahrscheinlich, wovon ich rede. Aber auch wer keine hat: jeder von uns kann sich immer wieder fragen: wie steht es eigentlich aus mit meiner Liebe zu mir, zu meinem(r) Partner(in), wenn er/sie nicht so denkt, handelt, wie ich es machen würde. Wenn er/sie nicht meine Wünsche erfüllt? Werde ich dann zynisch? Oder breche ich gar den Kontakt ab? „Wenn du so bist, will ich nichts mit dir zu tun haben…“ Ziehe ich dann hinter dem Rücken über ihn/sie her? Verbünde ich mich mit den Anderen gegen meinen eigenen Partner?

Aber halt – was, wenn mich der Andere fürchterlich nervt? Wenn er mich tierisch ärgert? Und wenn ich auch noch Recht habe, weil der Andere sich an die gute Ordnung, sich nicht an die Regeln hält, an die ich mich halte? Wohin mit diesen Gefühlen? Wenn ich die nur schlucke, werde ich daran ersticken. Wir sind nun mal nicht nur zur Liebe fähig – wir sind auch und gerade zum Hass fähig! Und hat nicht Jesus selbst die Händler aus dem Tempel geworfen? Das war ja wohl auch nicht gerade ein Liebesbeweis.

Jesus würde sagen: doch – war es. Ein Liebesbeweis für meinen Gott. Und wenn Romero in Ausnahmefällen Gewalt erlaubt hat, um sich von einem Unrechtsregime zu befreien – dann ist dies ebenfalls für die Liebe, für die Freiheit seines Volkes gedacht. Es ist nur so: dass genauso auch die IS denkt: wir im Westen sind das Unrechtsregime, wir sind die Ungläubigen, wir sind die, die Werte ihres Glaubens verachten! Und aus vermeintlicher Liebe zu deren Gott werden wir angegriffen und getötet.

Der Hass ist nicht aus der Welt zu schaffen. Das ist nicht einmal Jesus gelungen. Es ist eine Illusion zu meinen, irgendwann einmal würde die Liebe den Hass besiegen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn Hass eingedämmt werden kann. Die Fähigkeit zur Eindämmung des Hasses hängt mit der Fähigkeit zusammen, Enttäuschung zu ertragen. Dass „es nicht so ist, wie ich es mir ersehne, herbeiwünsche“. Und die Fähigkeit Enttäuschung zu ertragen wächst mit meiner Kraft, der Wirklichkeit ins Auge zu schauen. ihr nüchtern zu begegnen.

Das alles können Sie übrigens alltäglich bei sich testen: was löst es in mir aus, wenn „es“ (mein Körper, mein Partner, mein Nachbar, mein Pfarrer, mein Kind, das Wetter, mein Auto, mein Chorbruder/Schwester usw. …) nicht so ist, wie ich es mir wünsche? Wie schnell bin ich genervt und rechthaberisch? Oder ziehe mich beleidigt zurück? Fresse den Ärger in mich hinein? Oder kotze ihn unverdaut dem Andern vor die Füße? Oder werde gemein? Räche mich subtil – so dass es der Andere gar nicht mitbekommt? Oder räche mich direkt – indem ich die Beziehung abbreche: „wenn du so bist, bist du für mich gestorben…“

Und dann können wir uns immer wieder an das Wort Jesu erinnern:

Daran wird man erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ (Joh 13,35) „Liebe“ und „Erkennen“ sind im Hebräischen übrigens derselbe Wortstamm.

Wir Menschen haben, weil wir Menschen sind, die Möglichkeit, uns selbst zu erkennen. Zu fragen: was treibt mich gerade an? Was will ich gerade erreichen? Was vermeide ich gerade? Was will ich gerade nicht wahr haben?

Und wir können alltäglich unsere Fähigkeit zu lieben stärken. So wie wir unseren Körper trainieren, können wir auch unsere Liebesfähigkeit trainieren.

Das geht soweit, bis wir spüren: Gott ist ja nichts Anderes als Liebe. Aus ihm quillt meine Geduld, meine Nachsicht, meine Barmherzigkeit. Und zwar an erster Stelle zu meinen eigenen Fehlern. Zu meinem eigenen Nicht-perfekt-Sein. So entsteht Platz für etwas Mittleres, Gemäßigteres. Es entsteht ein Zwischen-Raum.

Eine persönliche Schlussbemerkung: ich habe mein Leben ziemlich anders geplant. Ich wollte erfolgreich und berühmt werden. Das hat nicht geklappt.

Glücklicher- oder gnädigerweise ist mir Gott dazwischen gekommen.

Ihm habe ich mich ergeben.

Auch wenn es immer wieder in mir kämpft.

Wahrscheinlich ist das so.

Der Gott, der die Liebe ist: „Ubi caritas et amor, ibi deus est.“

Zu deutsch: „Wo Güte und Liebe ist, da ist Gott.“ Klammer auf: und nicht im Hass und nicht in der Gewalt Klammer zu.

Oder – mit Theresa von Avila:

nichts beunruhige dich;
nichts ängstige dich;

Wer gott hat,

Dem fehlt nichts.
Gott allein genügt“ AMEN.

Solo dios basta!

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Sinne und unser Denken in Christus Jesus, AMEN.

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Predigt über Hebräer 5, 7-9 am Sonntag Judika 2016

Predigt über Hebr. 5,7-9 am Sonntag Judika 2016 in der Thomaskirche (Grünwald)

Die Dunkelheit des Vaters und das Licht des Sohnes und die Liebe des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

Judika!“ – „Gott, schaffe mir Recht!“

Das ist das Motto dieses Sonntags.

Gott schaffe mir Recht, das ist etwas Anderes als: „ich schaffe mir Recht.“

Und es ist etwas ganz Anderes als „Ich habe Recht!“ – oder „Du hast Recht!“

Letzteres ergibt keinen Sinn. Es ist Non-Sense. Wie kann ich oder jemand anders Recht haben? Wie soll das gehen? Bin ich dann der Besitzer des Rechtes?

Recht ist immer ein Geschehen zwischen mehreren, wenigstens zwei Menschen. Recht ist in seinem Wesen etwas Drittes, Hinzukommendes. Es entsteht über Vereinbarungen, die geschlossen werden.

In der Natur kommt Recht nicht vor. Das „Recht des Stärkeren“ ist kein Recht – es ist die Macht des Stärkeren.

Recht“ konnotiert mit „richtig“, mit „gerade“ (siehe rechter Winkel), mit „ordentlich“ (so ist es „recht“ – so ist es in Ordnung). Auch mit „richten“ im Sinne von Rechtsprechen und nicht zuletzt mit „aufrichtig“ im Sinne von ehrlich, wahrhaftig. (Nebenbei: sind die bei uns in Westeuropa verbreiteten Rückenschmerzen die Rückmeldungen des Körpers für „Un-Aufrichtigkeit“?)

Gott, schaffe mir Recht!“ Der Beter, der dies gebetet hat, wähnte sich im Recht. Er empfand es als Unrecht, was ihm, was seinem Volk widerfahren war. „Gott, schaffe mir Recht, streite meinen Streit gegen ein unheiliges Volk, befreie mich von dem Mann der Bosheit und der Lüge…“ (Psalm 7,9)

Ich vermute, dass viele Menschen in unserer Gegenwart diese Sätze genauso sprechen können, vielleicht gerade so sprechen. Die Zivilisten in Syrien, die so gar nichts dafür können, dass ihre Häuser zerbombt werden.

Die Menschen in der Ukraine …

Die Frauen, die sexuell belästigt werden …

Gott schaffe mir Recht heißt, dass ich mich ungerecht behandelt fühle. Und dass ich selbst keine Möglichkeit sehe, an diesem Unrecht etwas zu ändern.

Ich trete mein Recht an Gott ab, lege es in seine Hand. Gott hat das letzte Wort.

Er allein ist Richter. Und wie richtet er? Er richtet auf, indem er dient:

Der Menschensohn ist nicht gekommen, sich dienen zu lassen …“ Er diente und „gab sein Leben zu einer Erlösung für Viele.“ Dies ist der Wochenspruch für diese Woche. Gott verwendet Recht nicht für Bestrafung, er stellt es in den Dienst. Und zwar so, dass er für unsere „Erlösung“ sich selbst aufgibt, sich selbst opfert.

Auch unser „Grundgesetz“ steht im Dienst für unsere Gemeinschaft, für eine demokratische Gemeinschaft, in der jeder wertgeschätzt wird. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.Damit beginnt unser Grundgesetz. Der Staat ist ein Diener der Menschenwürde – und nicht umgekehrt!

Unser Wochenspruch geht freilich noch einen Schritt weiter: hier wird der Dienst mit dem Sich-Opfern verbunden. „Er gab sein Leben zur Erlösung …“ Indem Gott uns so diente, schuf er uns Recht. Aber was heißt das?

Hier kommt unser Predigttext – ein kurzer Abschnitt aus dem Hebräerbrief – ins Spiel. In ihm verbindet sich das „Dienen“ mit dem „Gehorsam gegenüber Gott“. Einem Gehorsam, der im radikalsten Fall das eigene Leben kosten kann.

7 Er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Gebete und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte; und er ist auch wegen seiner Gottesfurcht erhört worden.

8 Und er lernte, obschon der Sohn seiend, an dem was er erlitt Gehorsam, 9 und als er vollendet war, ist er allen, die ihm gehorsam sind, der Urheber ewigen Heils geworden.“

Indem wir uns auf diese Texte einlassen, lassen wir uns auf einen Gott ein, der alles Andere als allmächtig ist. „Mit lautem Schreien und mit Tränen…“ Das ist sehr menschlich und wenig abgeklärt, wenig souverän. Dieses Schreien und diese Tränen änderten freilich nichts an Jesu „Gottesfurcht“. Es geht nicht um Angst vor Gott, sondern um Ehrfurcht. Um Respekt. Darum, dass etwas nicht selbstverständlich ist. Höher als die eigene Verzweiflung, die eigenen Schmerzen steht die Gottesfurcht.

Der Gegenbegriff zu Gottesfurcht ist Achtlosigkeit. Gedankenlos. Nicht wahrnehmend. Für mich ist Gottesfurcht die Fähigkeit, mich dem, was gerade ist, zu überlassen. Gottesfurcht benötigt „innere Sicherheit“. Aus der heraus ich das Leben, die Wirklichkeit auf mich zukommen lassen kann. Das Leben in seiner Gänze: in seiner Schönheit wie in seiner Hässlichkeit, in seiner Freude wie in seiner Trauer. In dieser Gottesfurcht lernte Jesus:

Und er lernte – obschon der Sohn seiend – an dem, was er erlitt, Gehorsam.“

In Gehorsam steckt „Hören“: „er lernte an dem, was er erlitt zu hören.“ Lernen geht leider nicht ohne Schmerzen. Nicht ohne Leiden. Insbesondere das Lernen, das mit eigener Veränderung, mit eigener Entwicklung zu tun hat. Das verbreitete stark überbewertete kognitive Lernen – was im Zentrum unserer Schulen steht: die Aneignung von Wissen – ist demgegenüber einfach, ja simpel. (Ich spreche aus Erfahrung: was wusste ich alles als Doktor der Theologie und wie wenig Ahnung hatte ich vom Leben.)

Die Fähigkeit Leben zu lernen, Entwicklung zu lernen hat mit der Fähigkeit zu leiden zu tun. Oft ist das Leiden eingemauert, um es nicht spüren zu müssen. Die erwünschte Veränderung soll ohne Schmerzen, ohne Leiden geschehen. Das ist leider eine Täuschung. Der Motor für alle Veränderung ist das Leiden: das gilt im Großen, im politischen Rahmen ebenso wie im kleinen, privaten Leben.

Er lernte in dem, was er erlitt Gehorsam!“ Gehorsam ist das Hören auf eine innere Stimme, die ebenso leise wie eindeutig ist. Glücklich, wer diese Stimme in sich gefunden hat – mit ihr verbunden, weiß er, was er zu tun, was er zu lassen hat.

An anderer Stelle sagt der Hebräerbrief: „Christus war treu als Sohn über Gottes Haus“ (Hebr. 3,6)

Es geht um Verführung. Und um Treue.

In Treue steckt Vertrauen.

Vertrauen ist die stärkste Quelle für Sicherheit.

Stärker als Garantie.

Es gibt nämlich keine Garantie.

Für nichts.

Außer für das eigene Sterben.

Auch unser beliebtes „Selbst-Vertrauen“ ist gegenüber dem Vertrauen, das hier gemeint ist, schwach. Schwach und einsam.

Es geht um Gott-Vertrauen. Es geht um das Vertrauen in die Beziehung zu dem Gott, der auf der Seite meines ganz Eigenen steht. Wo ich spüre: das bin ich, und das werde ich tun. In radikaler Freiheit für meinen Gott. Dieses Vertrauen allein schenkt Sicherheit. Dieses Vertrauen ist drückt sich aus in dem Hören auf die innere Stimme, die nicht verführbar ist. Sie ist die Stimme meines „eigenen Eigenen“ in der Tiefe. Obwohl in mir, ist sie nicht von mir (ausgedacht). Sie wirkt in mir – die Kunst ist es, sie zu hören. Erkennen kann ich sie daran, dass sie leise ist, behutsam, achtsam, aber auch nüchtern, und sehr sicher. Sie ist nicht triumphal, nicht euphorisch, aber auch nicht niedergedrückt unterwürfig.

Der Verführer denkt in kurzer Lust. Für ihn ist Gehorsam un-lustig. Er will die schnelle Triebbefriedigung. Sei es der Trieb nach Ansehen und Status, sei es der Trieb nach nach den sinnlichen Dingen: schnelle Autos, Sex, Wellness, Anti-Aging. Oder nach Schnäppchen! Jetzt, wo das Benzin billig ist, kauf‘ ich mir einen SUV. War da nicht was mit Umwelt? Und ökologischer Verantwortung? Vergiss es! Sollen erst mal die Anderen.

Der Verführer sagt: „Man gönnt sich ja sonst nichts!“ „Sei doch nicht blöd!“ Oder: „Geiz ist geil!“ „Da ist doch nichts dabei.“ „Das machen die Anderen doch auch!“

Liebe Gemeinde,

der Mensch, den wir als Gottes Sohn bekennen, Jesus, hat seine Treue zu seinem Gott mit der Todesstrafe bezahlt. Er wurde als Verbrecher hingerichtet.

Wir glauben an einen Gottessohn, der von dem religiösen Establishment seiner Zeit als Verbrecher mit dem Tode bestraft worden ist. Das Establishment aller Zeiten ist konservativ und extrem misstrauisch gegen die „Er-Neuerer“! Das hatte auch ein Martin Luther zu spüren bekommen. Oder ein Solschenizyn. Oder ein Oscar Romero, Erzbischof von Salvador von 1977 bis 1980.

Er war ein Mann des Establishments, romtreu und konservativ. Er kam nach El Salvador, um mit den „Progressiven“ aufzuräumen. Das war sein Auftrag.

Doch es kam anders. Romero wurde Zeuge, wie ein Jesuitenpater, ein alter Bauer und ein Ministrant erschossen wurden. Danach überfielen Soldaten das Dorf des ermordeten Priesters und schändeten die Kirche. Sie verwehrten Romero den Zutritt, als er die geweihten Hostien retten wollte. Dieses Ereignis bezeichnete er später als seine „Bekehrung“: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ (Apg 5,29)

Und so wurde Romero ein „Prophet des Gehorsams“. Nach 60 Lebensjahren entfaltete sich plötzlich das wahrhaftige (göttliche?) Selbst in diesem Manne: sein Leitungsstil veränderte sich: er begann wichtige Entscheidungen mit seinen Mitarbeitern zu besprechen anstatt einsam zu entscheiden. Er sah das Leiden seines Volkes und wurde sehr mutig. „Christen müssen kühne Menschen sein“, sagte er.

In den drei Jahren, in denen er Primas von El Salvador war, brauchte man Sonntags nicht in die Kirche zu gehen. Wenn er predigte, lief jeder Radioapparat im Lande auf höchster Lautstärke – bis der Kirchensender in die Luft gesprengt wurde. Romero entwickelte großes Vertrauen in die Fähigkeit seines Volkes, Schöpfer seiner eigenen Gesellschaft zu sein und forderte die Gläubigen auf, selbst aktiv zu werden und nicht darauf zu warten, was der Bischof am Sonntag sagt. …

Die reiche Oligarchie, die er ständig angriff, versuchte ihn als „Psychopathen“ abzustempeln. Papst Johannes Paul II. distanzierte sich von ihm, als er revolutionäre Gewalt gegen langandauernde und eindeutige Tyrannei erlaubte.

Schließlich rief Romero die Angehörigen der Armee öffentlich auf, den Befehl zu verweigern und Schluss zu machen mit der Unterdrückung des eigenen Volkes. Kurz vor seinem Tod sagte er: „Als Christ glaube ich nicht an den Tod ohne Auferstehung … Als Hirte bin ich durch Gottes Auftrag verpflichtet mein Leben für die zu geben, die ich liebe, das sind die Salvadorianer, auch jene, die darauf aus sind, mich umzubringen … Ein Bischof mag sterben, doch die Kirche Gottes, das ist das Volk Gottes, wird niemals zugrunde gehen….“

Am 24. März 1980 wurde Romero in einem Gottesdienst erschossen. Er hatte über das Johanneswort: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein, wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht“ gepredigt.

Bei uns geht es nicht um Leben und Tod.

Nur um einen ganz gewöhnlichen Sonntagsgottesdienst. Und wenn der vorbei ist, geht es wieder hinaus ins Leben, in unseren Alltag.

Und heute Abend hören wir die Ergebnisse von drei Landtagswahlen. Und müssen ertragen, dass auch bei uns Mächte stark geworden sind, die unsere Demokratie, unser Grundgesetz massiv angreifen. Es gut, sich nicht der Empörung im außen hinzugeben, sondern sich selbstkritisch zu fragen: wie sieht es eigentlich mit meinem eigenen Establishment in meinem Inneren aus? Von wem werde ich, wird mein Leben regiert? Wo sind meine eigenen fundamentalistischen Strömungen? Wie viel Demokratie halte ich in meinem Inneren überhaupt aus? Sind auch die Minderheiten in meinem Inneren geschützt, oder werden sie ignoriert? Wie ehrlich bin ich zu mir selbst? Oder wie sehr lasse ich mich von diffusen Mächten treiben, die ich gar nicht so genau kenne? Und vielleicht auch nicht kennen lernen möchte?

Gebe Gott, dass in der Mitte unserer Lebens sich die gewaltlose Macht des Dienens ausbreite. Des Dienens für ein Leben, das regiert wird von dem Glauben an eine Gemeinschaft, in der jeder, der guten Willens ist, einen sicheren Platz hat – unabhängig von Status, Hautfarbe, Geschlecht, Nationalität. Gebe Gott, dass unsere Sucht, möglichst weit vorne zu sein, (neben Jesus im Reich Gottes sitzen zu dürfen) eingegrenzt wird von unserer Freude, zusammen zu sein.

Und so behüte uns der Gott der Klarheit, der Nüchternheit, der Wahrhaftigkeit und der Barmherzigkeit. Und der Wachsamkeit für meine eigenen Gedanken und Taten.

Oder mit Teresa von Avila: solo dios basta – „Gott allein genügt.“ AMEN.

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Predigt am 1. Sonntag nach Epiphanias in der Auferstehungskirche in München (10.1.2016) – Römer 12, 1-3

Liebe Gemeinde,

Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.“ (Röm 8,14)

Mit dieser einfachen und einprägsamen Aussage aus dem Römerbrief begann unser heutiger Gottesdienst. Ich halte diesen Satz für wahr. Ich bin ein Kind, und das heißt: ein Abkömmling dessen, was mich (an-)treibt.

Was mich treibt, antreibt, ist das, was mich in der Tiefe bewegt. Der dazu gehörige Satz lautet: „Ich muss das machen.“ Dieser Satz gilt für alle wahrhaft schöpferischen Menschen: „Ich muss … schreiben … komponieren … erforschen … gestalten … malen …“

Nun wissen wir, dass in der Tiefe, in der mich etwas bewegt, auch die beiden großen Gefühle sich befinden, die irgendwie mit unseren Trieben verschmolzen sind: Liebe und Hass. Und ein Drittes befindet sich in eben dieser Tiefe: der Drang/ Trieb wahrgenommen zu werden. Und es hält uns Menschen elastisch und schützt vor Verknöcherungen, – und dafür haben wir vom lieben Gott die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis erhalten – uns immer wieder zu hinterfragen, wofür wir in der Tiefe unsere Gedanken, unser Sprechen und unser Tun verwenden.

Eben das. was uns in der Tiefe antreibt.

Diese Frage kann ich sofort auf mich selbst anwenden: wofür verwende ich meine Predigt hier bei Ihnen? Um im Mittelpunkt zu stehen? Dann geht es darum, dass Sie mich wahrnehmen. Für Hass? Dann brauche ich einen Feind, ein Feindbild, an dem ich meinen Hass unterbringen kann.

Um Liebe? Dann brauche ich einen Freund/ einen Geliebten, wo ich meine Liebe unterbringen kann.

Nun – soweit es mir bewusst ist, und je tiefer ich gehe, desto weniger ist mir bewusst! – möchte ich diese Predigt dafür verwenden, mit Ihnen dem Predigttext nachzudenken. Mit dem Hintergedanken, ob wir vielleicht am Ende etwas Genaueres darüber erfahren haben, was das ist, wie sich das auswirkt, wenn mich „der Geist Gottes antreibt!“

Röm 12, 1-3.(4-8)

12,1 Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch

die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber

hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und

Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger

Gottesdienst.

Ich ermahne euch…“ – das könnte nach erhobenem Zeigefinger, nach strengem Über-Ich klingen. So ist es nicht. „Ich ermahne euch durch die Barmherzigkeit Gottes…“ Das ist so wichtig im Umgang miteinander: dass Strenge und Milde in einem Atemzug geschehen. Sie gehören zusammen. Strenge, Ermahnung, die sich nicht in den Anderen einfühlt ist wirkungslos. Oder führt zu Rachegedanken, die im schlimmsten Fall in Gewalt ausufern. Milde, die alles zulässt, keine Grenzen vorgibt, nicht auf die Einhaltung von Grenzen dringt, führt zu Missbrauch, führt zu Übergriffen, wie jenen von der Silvesternacht.

Wozu werden wir in Barmherzigkeit ermahnt? Es geht um unseren Leib. Es wäre ein Missverständnis zu meinen, es ginge nur um unseren Körper. Mit „Soma“ meint Paulus unser wirkliches Leben auf dieser Erde, in seiner Ganzheit von Intellekt, Seele und Körper. Dieses unser Leben sollen wir „hingeben als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist.“

Opfer – das klingt nach Gewalt. Ist so aber nicht gemeint. Das Opfer soll „lebendig“ sein, „heilig“ und darin „Gott wohlgefällig“. Für mich bedeutet Opfer zuallererst: ich opfere meine Impulse, die auf schnelle Triebbefriedigung zielen. Genau an dieser Stelle beginnt für mich Mensch-Sein: alltäglich daran zu arbeiten, sich „halten zu lernen“. „Sich halten“ heißt, über die Fähigkeit zu verfügen, den schnellen Wünschen, der schnellen Lust oder Unlust Einhalt zu gebieten. Das ist dieselbe Kraft, die mich befähigt, mich auf die ganze Wirklichkeit einzulassen, mit all‘ ihren Facetten. Und nicht nur auf den Teil der Wirklichkeit, wie ich, wie meine Bedürfnisse sie gerne haben möchten.

Wir werden nachher singen: „Jesus ist kommen, nun springen die Bande, Stricke des Todes, die reißen entzwei…“ Ein Strick des Todes besteht in meinen eigenen Erwartungen daran, „wie es – das Leben, die Situation… zu sein hat ….“ Je fester, erstarrter meine Erwartung ist, desto wahrscheinlicher tötet sie die Lebendigkeit des Augenblicks. Indem wir diese Erwartungen opfern, stärken wir in uns die Kraft, uns dem zu öffnen, was da alltäglich auf uns zu kommt. Von außen, von seiten der Welt – wie von innen, von seiten unseres Unbewussten, unserer Emotionen, unserer Fantasien, unseres Körpers. Welche der Geist Gottes treibt, die spüren diese Kraft Gottes in sich, sich dem, was da ist, auch zu stellen. Dazu passt unser Monatsspruch: „Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern einen Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ (2. Timotheus 1,7)

Indem wir uns im Atem und in der Aura dieses Heiligen Geistes bewegen, wird unser Leben zu einem „vernünftigen Gottesdienst“. Und zwar alltäglich. Mit jedem Atemzug unseres Lebens. Es geht dann nicht mehr anders: wir atmen diesen Heiligen Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit alltäglich ein und aus.

Sie sagen jetzt vielleicht: Träum‘ weiter! Pfarrersgeschwätz! Wie soll das gehen? „Money makes going the world around!“

Genau so ist es. Und so fährt Paulus fort: „12,2 Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.“

Stellt euch nicht der Welt gleich!“ Jesus hatte das kräftiger formuliert: „Ihr seid das Licht der Welt…“ Indem wir uns der Welt gleich stellen, plappern wir mit der Welt, jammern mit der Welt, suchen unseren Vorteil mit der Welt.

In der Welt regiert der Nutzen. „Was bringt das?“ – das ist ein echter Welt-Satz.

Was hülfe es dem Menschen, wenn er die Welt gewönne und doch Schaden nähme an seiner Seele“ – das ist kein Welt-Satz. Der dazugehörige Welt-Satz lautet:

was bringt es mir, meine Seele kennenzulernen.“

Und die ehrliche Antwort darauf lautet:

Gar nichts!“ „Es bringt dir gar nichts. Genauso wenig wie es dir etwas bringt, in den Gottesdienst zu gehen … Oder an Gott zu glauben!“

Gott ist nämlich kein burner und kein Bringer!

Manche Leute wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen, und wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und des Käses und deines eigenen Nutzens. So halten’s alle jene Leute, die Gott um äußeren Reichtums oder inneren Trostes willen lieben; die aber lieben Gott nicht recht, sondern sie lieben ihren Eigennutz.“ (Meister Eckhart, Werke I, Frankfurt 1993, S. 195)

Und er fährt fort: „Alles, worauf du dein Streben richtest, was nicht Gott in sich selbst ist, das kann niemals so gut sein, dass es dir nicht ein Hindernis für die höchste Wahrheit ist.“

Das ist die Erneuerung unseres Sinnes von der Paulus spricht. Dass wir die Kraft haben, zu prüfen, aus welcher Haltung zum Leben eigentlich unsere Gedanken strömen. Im Kapitalismus ist das Nützlichkeitsdenken die Mitte.

Meister Eckhart und Paulus hingegen sind Seins-Denker. Im Zentrum dieses Denkens steht nicht die Frage, was etwas bringt, oder was etwas nützt, sondern: was es ist. Was es ausmacht. Es geht um das Da-Sein.

Nur mit diesem Denken kann Gott erahnt, gespürt, erlebt werden – Gott, der das letzte Sein, die unerkennbare letzte Realität ist! „Alles, worauf du dein Streben richtest, was nicht Gott selbst ist …“ das steht dir im Weg, der Wahrheit näher zu kommen.

Ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist …: das Gute, das Wohlgefällige, das Vollkommene …“ Das ist der einzige „Zweck“, der einzige „Nutzen“ unserer Veränderung: Gottes Wille zu erkennen: „das Gute, das Wohlgefällige und das Vollkommene.“ Und nicht nur zu erkennen, sondern – wichtiger noch – in diesem Willen zu leben. Ein alltägliches: „dein Wille geschehe!“

Das heißt auch: nicht das, was ich mir einbilde zu brauchen, geschehe. Wie kann auch das, von dem ich mir einbilde, es mir bringt mir etwas, besser sein, als Gottes Wille für mich?

Indem Gottes Wille zu meinem Lebensmaß wird – was kann dann noch schief gehen?

Nüchterne Antwort: Alles!

Dann löse ich nämlich mein Leben aus meiner (vermeintlichen) Kontrolle heraus. Und dann habe ich nichts mehr im Griff. Und das fühlt sich sehr, sehr verunsichernd an.

Indem ich Gott mein Leben ausliefere, sterben meine Täuschungen darüber, wie „es sein sollte“! Damit bin ich natürlich auch weniger anfällig für meine Enttäuschungen darüber, wie es gerade ist. (Meine Ent-Täuschungen, die in der Tiefe nichts anderes ausdrücken, als dies, dass ich mich getäuscht habe!) Und meine Kraft, die Wirklichkeit in ihrer Nüchternheit anzunehmen: dass „es nämlich so und nicht anders ist“, wächst. Hier gehört nun der dritte Satz unseres Predigttextes hin:

12,3 Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich’s gebührt zu halten, sondern dass er maßvoll von sich halte, ein jeder, wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat.

Dass er maßvoll von sich halte.“ Im „Maß“ sind die Grenzen enthalten. Die Wirklichkeit, in der ich gerade bin, ist immer eine begrenzte. Dies anzuerkennen erhöht die Möglichkeit für Bescheidenheit. Das Maßlose – das ist auch das Grenzenlose. Und das Grenzenlose vertreibt das ihm Fremde; es will nur eines: sich selbst grenzenlos ausdehnen. Krebszellen sind ein guter Ausdruck für Maßlosigkeit. Oder sexuelle Übergriffe. Beides ist auch ein Ausdruck für die Verbindung von Maßlosigkeit und Zerstörung (Destruktivität). Alle totalitären Staaten oder Systeme sind maßlos und zerstörerisch. Sie kennen kein Halten. Sie können sich selbst nicht halten. (Krebs!)

Die Anerkennung meines Lebens-Maßes bedeutet anzuerkennen, dass mein Leben aufgespannt ist: zwischen einem „Anfang“ und einem „Ende“. Und dass nicht alles in so ein kurzes Leben hinein passt. Und dass ich auch selber Grenzen habe – dass ich nicht alles kann, nicht alles weiß. Die Anerkennung eines Maßes, meines Maßes, macht depressive Gefühle. Wer diese nicht aushält, der muss bei der verbreiteten „alles ist möglich“ Haltung bleiben und verbittert im Angesicht der vielen „Un-Möglichkeiten“. Oder holt sich das, von dem er meint, es stünde ihm zu, mit Gewalt!

Entscheidend ist der Satz: „wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat.“ Für denjenigen, der sich selbst das Maß aller Dinge ist, ist dieser Satz unerträglich. „Es gibt niemand, der mir etwas ausgeteilt hat“, wird er sagen. „Ich teile aus. Ich hole mir, was ich brauche. Ich bestimme …“ Je verliebter jemand in sich selbst ist, in seine Intelligenz, in seine Schönheit, in seinen Reichtum, in sein Können, desto unerreichbarer ist er für Gott. Desto unerreichbarer ist er für den Gedanken: dies alles, was du hast und kannst – es ist nicht dein Verdienst. Es ist dir geschenkt. Theologisch ausgedrückt: du verdankst es der Gnade Gottes.

Erst wer sich darauf einlassen kann, kann akzeptieren, dass er Teil einer größeren Gemeinschaft, eines größeren Ganzen, gemeint Leben, ist. Davon handeln die folgenden Verse des Paulusbriefes, auf die ich aus Zeitgründen nicht mehr eingehe. Es ist das wunderschöne Bild von der Gemeinde als ein Leib mit vielen Gliedern. Wenn jedes Glied da sein darf, wo es hingehört und in seiner Arbeit da geschätzt wird, wo es ist und wirkt, und sich weder über die Anderen stellt, noch sich kleiner macht, als es ist … dann ist der Leib, dann ist der gesamte Organismus gesund. Die Probleme entstehen erst, wenn sich einzelne Glieder anmaßen, das Ganze zu sein.

Dann fällt der lebendige Organismus aus seinem natürlichen Gleichgewicht heraus.

Gebe Gott, dass wir in diesem noch jungen Jahr unsere eigene Lebendigkeit spüren. Die niemals mehr sein kann, als ein Teil eines größeren, unbekannten Ganzen.

Gebe Gott, dass wir uns mit dieser Lebendigkeit verbinden, in der wir den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit in uns aufnehmen und aus uns herausgeben.

Gebe Gott, dass wir in unserer Lebendigkeit seinen Heiligen Geist ein- und ausatmen, was auch immer das Neue Jahr uns bringen wird, AMEN.

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Predigtgedanken zu Johannes 1, 1-5

Predigtgedanken am 2. Sonntag nach Weihnachten 2015

zu Joh. 1, 1-5

Die Dunkelheit des Vaters, das Licht des Sohnes und die liebende Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN,

IM ANFANG WAR DAS WORT

UND DAS WORT WAR BEI GOTT

UND GOTT WAR DAS WORT

DASSELBE WAR IM ANFANG BEI GOTT

ALLE DINGE SIND DURCH DASSELBE GEMACHT UND OHNE DASSELBE IST NICHTS GEMACHT WAS GEMACHT IST

IN IHM WAR DAS LEBEN UND DAS LEBEN WAR DAS LICHT DER MENSCHEN

UND DAS LICHT SCHEINT IN DER FINSTERNIS UND DIE FINSTERNIS NAHM ES NICHT AN.

Die Tiefe des Prologs des Johannesevangeliums ist nicht auslotbar. Der Heilige Augustinus schlug vor, diese ersten fünf Verse in goldenen Buchstaben in allen Kirchen über dem Eingang für alle Menschen gut sichtbar zu schreiben.

Sie hören im folgenden einige Gedanken zu diesen Sätzen – mehr nicht.

Im Anfang war das Wort“ – nicht am Anfang. Das entspricht dem:

Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Nicht am Anfang.

Das bedeutet, dass der Anfang kein Zustand ist, der einen Anfang und ein Ende hat. Im Anfang, das gleicht der Welle, die sich erhebt, die doch nichts anderes ist wie das Meer selbst. Wie unser Leben, das auch nichts weiter ist wie eine kleine Welle im Ozean der Ewigkeit. Es entsteht, es hebt sich heraus, es wird wirklich, konkret, es gestaltet sich … es entsteht ein „Ich“, ein „mein Leben“ … und es lässt los, fällt wieder zurück, verschwindet wieder in der Unendlichkeit.

Auch einen Tag unseres Lebens können wir so betrachten – oder den Verlauf dieses Gottesdienstes: es verdichtet sich etwas, nimmt Gestalt an und verschwindet, verklingt wieder.

Im Anfang – war das Wort. Wort meint hier nicht die Bezeichnung eines Dinges: wie Ball oder Kerze. Es geht um eine vage Ahnung, um den Vorläufer einer Idee …

Und das Wort war bei Gott“ – so, wie die Ahnung, das Aufkommen einer Idee bei ihrem Schöpfer ist. Der Maler, der ein Bild malt, der Komponist, der eine Melodie komponiert, der Architekt, der ein Haus entwirft, der Naturwissenchaftler, der über ein Phänomen nachdenkt: er erlebt „im Anfang“ seine Idee zunächst einmal in seinem Inneren. In diesem Sinne ist das Wort bei Gott. Es ist ein erstes Dazwischen – zwischen der Idee des Künstlers und dem Künstler selbst. Es ist eine erste „Ent-äußerung“ im Inneren des Künstlers. Doch – solange es im Außen noch nicht gestaltet ist, bleibt es unerkennbar eins mit dem Künstler – und so heißt es:

Und Gott war das Wort!“

Dasselbe war im Anfang bei Gott.“

Die erste Sellbst-Unterscheidung Gottes geschieht in der Dunkelheit Gottes selbst. Unerkennbar von außen. Nur im Inneren Gottes ist etwas geschehen: aus dem All-Einen, ewig Gleich-Gestalten ist eine erste Verschiedenheit geworden: die Ahnung einer Zweiheit. Diese Ahnung aber geschieht im Dunkel der Nacht, wie Johannes vom Kreuz nicht müde wird, uns zu sagen.

Dieses dunkle Geschehen führt zu (An-)Spannung. Auch wenn das „Wort“ Gott selbst war, so ist es auch etwas Anderes. Wenigstens soviel Anderes, dass es als „Wort“ benannt und von Gott unterschieden wird. (Für die Intellektuellen unter uns: Es ist seit alters Blasphemie zu behaupten, neben Gott gibt es etwas Nicht-Göttliches. Das ist die Blasphemie des Atheismus. Ebenfalls ist es Blasphemie zu behaupten, Gott sei alles in allem. Das ist die Blasphemie des Pantheismus.)

Der Prolog des Johannesevangelium ist der schmale Grad zwischen diesen Abgründen von Atheismus und Pantheismus.

Durch „unterscheiden“ formt sich etwas. Im Hebräischen steht für „formen“ und „leiden“ dasselbe Wort. Im Wort beginnt sich Gott zu formen. Und in diesem Formen entsteht Leiden. Die prägnanteste Formung Gottes geschieht in seinem Sohne. In ihm geschieht auch größtes Leiden.

Es geht nicht anders.

In der Formung findet Rückzug statt. Nur das Ungeformte ist Alles in Allem. Überall gleich. Das Geformte ist differenziert. Die Formung geschieht und entsteht durch das Nicht: indem der Steinmetz von dem Klotz – der „Materie“ – etwas entfernt, entsteht Form, entsteht ein Moses (des Michelangelo). Indem sich die Ahnung, die Idee des Künstlers in den Stein einprägt, wird der Stein ge-nichtet und so ge-richtet.

Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.“

Alle Dinge, alles, was gemacht ist, ist irgendwie geformt. Es hat einen Prozess des Leidens durchlebt. Dass wir hier miteinander reden können, hat damit zu tun, dass wir gelernt haben, die Luft in unserer Kehle beim Ausatmen zu formen. Besser: wir formen unseren Mund und unsere Kehle so, dass aus unserer Atemlouft verständliche – geformte – Laute entstehen. In Hebräischen heißt „Kehle“ übrigens auch „Seele“.

Ohne Form ist alles gleich: formlos. Formung entsteht und geschieht im Ertragen des Nicht. Das Nicht in der Musik ist das Verklingen des Tones. Sein Vergehen. Ohne sein Verklingen, ohne seine Vergänglichkeit entstünde keine Melodie. (Es gibt in der Musik keine „Pausen“: „Pause“ bedeutet: Innehalten – Zeit für Verklingen -…)

Die Zerstörung der Form ist die Zerstörung der Vergänglichkeit. Ist die Zerstörung der Zeit. Zerstörte Zeit hört sich so an:

Töne der Melodie „Ich steh‘ an deiner Krippen hier“ gleichzeitig anspielen

Die Form der Melodie entsteht: jeder Ton erklingt und zieht sich wieder zurück –

und macht in seinem Rückzug einem neuen Ton Platz – nun aber so, dass sich der neue Ton auf den vorhergehenden, der alte Ton auf den neuen bezieht.

Die Stärke der Form ist die Stärke der guten Verbindungen der einzelnen Töne zueinander.

In diesen guten Verbindungen entsteht das, was wir dann „Schönheit“ nennen. In „Unförmigkeit“ ist auch „Schönheit“ zerstört.

So bildet die Musik ganz besonders dieses „Im Anfang“-Geschehen ab –

wie eine Melodie entsteht,

wir hören Verbindungen, beziehen Töne aufeinander …

Und indem wir hören verklingt die Melodie auch schon wieder.

Musik ist Sinnbild der Flüchtigkeit unseres Lebens. Gerade aus ihrer Flüchtigkeit und Vergänglichkeit herausentspringt ihre Schönheit.

Die Melodie „Ich steh‘ an deiner Krippen hier“ spielen

Die Stärke der Form hat also mit Ordnung zu tun. Und mit Bescheidenheit. Indem jeder Ton seinen ihm zugewiesenen Platz einnimmt, fügt er sich in das Ganze ein. Den zugewiesenen Platz einnehmen bedeutet, für das Erklingen genauso bereit sein wie für das Verklingen.

Dies gilt auch für unser Leben.

Durch den Rückzug Gottes entsteht Raum für seine Gestalt: das ist sein Wort.

In seinem Sohn ist Gott erklungen und verklungen.

In seinem Sohn erklingt Gott alltäglich. Und verklingt.

In ihm war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen

und das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis nahm es nicht an.“

Das ist das Beruhigende. Die Finsternis kann das Licht nicht annehmen. Sie kann es nicht verstehen. Sie kann es freilich auch nicht zerstören.

Das Licht der Menschen“ – das ist die Wahrheit. Sie allein leuchtet aus sich heraus. Sie allein bedarf keines Denkers, sie muss nicht erkannt werden.

Ihre einzige Qualität ist es – zu sein!

Wir Menschen haben die Freiheit, uns der Wahrheit zuzuwenden oder uns von ihr abzuwenden. Indem wir uns ihr zuwenden, geht uns ein Licht auf. Etwas wird „evident“ – leuchtet aus sich heraus.

Indem wir uns von ihr abwenden, wird es finster in uns.

Und um uns herum. Um die Finsternis nicht spüren zu müssen, sind wir verführbar für Blendungen. Die unsere selbstgemachten Scheinwerfer bringen kein Licht ins Dunkle. Das Dunkle zieht sich vor ihnen zurück.

Das Problem ist, dass bei vielen Menschen die Wahrheit mit falscher Moral vergiftet ist. Dass sie wahre Sätze nicht in ihrer Wahrheit hören können, sondern als Vorwurf und Anklage gegen sie. Wenn mich das Hören der Wahrheit über mich und mein leben beschämt, kann ich die Wahrheit nicht in mich hinein lassen. Dann verschließe ich, um mich zu schützen.

Die Wahrheit beginnt zu leuchten, indem sich die beiden Pole Gottes, seines Wortes, miteinander verbinden: der eine Pol ist seine Klarheit und seine Strenge, der andere ist seine Barmherzigkeit und seine Milde.

Das Wort als Form bringt die Strenge, das Gerichtet-Sein, das Gericht in Gott. Verbindet sich das Gerichtete liebevoll mit dem zu Richtenden, so entsteht Leben.

Es wird hell. So wird aus dem Gerichtet-Sein ein Aufgerichtet-Sein. So heißt es bei Paulus: „Gott war in Christus … und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung“ (2. Kor. 5,19)

Das ist das Licht, das wir Christen in die Finsternis dieser Welt tragen dürfen: „Das Wort von der Versöhnung in Jesus Christus“!

Dieses Wort wohnte von Anfang an bei Gott, dieses Wort „ward Fleisch und wohnte unter uns“, dieses Wort kann von der Finsternis nicht auslöscht werden!

Dieses Wort muss sich nicht in der Weise ausdrücken, wie wir es gewohnt sind: als Sprache.

Musik ist höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie“, hat L. v. Beethoven gesagt. Es gibt Menschen – und vielleicht gehörte Beethoven dazu – in deren Innerem Sprache verkümmert ist. Solche Menschen konnten nicht lernen, ihr Erleben, ihre Gefühle in Sprache zu fassen. Sie haben Sprache kennengelernt als Handlungsanweisung „Mach‘ …“. Oder als Ausdruck von Aggression: sei es als chronisches Sich-lustig-machen, sei es als be- und verurteilen: den Anderen oder sich selbst Nieder-machen. Oder als neutral-sachliche, sogenannte „wissenschaftliche“ Beschreibung von Sachverhalten.

Was fehlt ist die Möglichkeit, in und mit Sprache Erlebtes und Gefühltes auszudrücken. Gute Sprache trägt und erträgt die Emotionen des Sprechers. (Im „Stottern“ ist Sprache gefährdet, unter der Last der Emotionen zusammenzubrechen.)

Als Rückzugsraum und Schutzraum für den Ausdruck von Gefühlen bleibt dann etwas Nicht-Sprachliches: z.B. die Musik.

„Die Musik ist die beste Gottesgabe. Durch sie werden viele und große Anfechtungen verjagt. Musik ist der beste Trost für einen verstörten Menschen, auch wenn er nur ein wenig zu singen vermag. Sie ist eine Lehrmeisterin, die die Leute gelinder, sanftmütiger und vernünftiger macht.“ (Martin Luther)

Martin Luther litt unter einem harten, sadistischen Vater und einer wenig spürbaren, offenbar sehr zurückgezogenen Mutter. Und derselbe M. Luther, der die Bibel in ein so klingendes und berührendes Deutsch übersetzt hat, sagt: „Die Musik ist die beste Gottesgabe … der beste Trost für einen verstörten Menschen …“ nicht: das Sprechen von Bibelzitaten o.ä. …

Und der Ursprung der Musik verweist auf die Dunkelheit unseres Herkommens. Bereits im Mutterleib, wo noch alles dunkel ist, haben wir mit ungefähr fünf bis sechs Monaten zu hören begonnen. Das Gehör ist das früheste vollständig entwickelte Sinnesorgan. Und was haben wir da wohl gehört? Den sicheren, gleichmäßigen Rhythmus des Herzschlag des Mutter. Das Gurgeln und Plätschern der Darmgeräusche der Mutter. Und – wie von ferne – andere Geräusche, die „draußen“ waren. Natürlich hatten wir zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung von „drinnen“ und „draußen“!

Unser Hören jedenfalls begann im Dunkeln – und so passt es gut zu der dunklen Weih-Nacht, AMEN.

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Predigt unter dem Eindruck von Paris stehend

Predigt über Matthäus 25, 31 -46 am vorletzten Sonntag im Kirchenjahr

Die Dunkelheit des Vaters und das Licht des Sohnes und die Güte des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde!

Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen!“ Sie kennen dieses geflügelte Wort aus Aschenputtel: mit Hilfe der Tauben gelingt es Aschenputtel, die quälende Aufgabe der Mutter, Linsen aus der Asche auszulesen, schnell zu erfüllen.

Um etwas auszulesen, muss es vorher unterschieden sein: die schlechten Linsen werden von den guten Linsen unterschieden.

Wir könnten hier auch „Auslesen“ vornehmen: alle, die an einem Tag, mit einer ungeraden Zahl Geburtstag haben.

Es gibt also eine „Ordnung“, nach der die Auslese vorgenommen wird. Eine Unterscheidungs-Ordnung. Eine Diskriminierung. Diskriminierung heißt – neutral, ohne emotionalem Beigeschmack – nur „Unterscheidung“. Unterscheidungen sind nötig, um irgend etwas erkennen zu können. Ohne Diskriminierung sind wir im Nebel des Gleich-Gültigen: und wenn alles gleich-gültig ist, dann ist es beliebig. „Das ist mir gleichgültig“ heißt: ich habe keine eigene Meinung, keine Position dazu. Erst wenn mir etwas nicht gleich gültig ist, entsteht meine eigene Haltung, die sich von der Anderer unterscheidet.

Bis hierhin scheint noch alles recht klar. Spannend wird es dann, wenn wir uns fragen, nach welchen Kriterien wir Diskriminierungen vornehmen. Da sind wir dann mitten drin im Strudel der Emotionen:

Nach welchen Kriterien soll jemand Asyl erhalten? Oder Harz IV? Nach welchen Kriterien kommt deine Deutschnote zustande?

Nach welchen Kriterien leben wir eigentlich? Was tun wir ins Kröpfchen – und was nicht. Was lassen wir in uns herein und wovon distanzieren wir uns?

Ehe man sich versieht entstehen die Befürworter und die Gegner! Und alle haben ihre Ordnungsprinzipien. Mit denen sie aufeinander los gehen und sich – worst case – einseitig oder gegenseitig die Köpfe einschlagen.

Woher kommt denn auf einmal diese Gewalt? Was macht es so schwierig, sich gelassen und ruhig damit auseinanderzusetzen, nach welchen verschiedenen Kriterien wir unterscheiden?

Es sind offenbar heftige Gefühle, die dieses Geschehen erhitzen.

In diesen Gefühlen scheint es sehr schnell um Sein oder Nicht-Sein – um Existenzberechtigung oder Existenzvernichtung zu gehen.

Nun ist es so, dass die Religionen, und besonders die monotheistischen Religionen, Öl ins Feuer der ohnehin schon heftigen Emotionen gießen. Vielleicht ist es auch anders herum: dass sich im Entstehen der monotheistischen Religionen die Heftigkeit der Diskriminierungen abbildet.

Dazu eine kleine Geschichte:

Goldstein, 92 Jahre alt, hatte Progrome in Russland erlebt, die Konzentrationslager in Deutschland und viele andere Judenverfolgungen.

Oh Herr“, sagte er, „es stimmt doch wohl: wir sind dein auserwähltes Volk?“

Eine himmlische Stimme antwortete: „Ja, Goldstein, die Juden sind mein auserwähltes Volk.“

Meinst du nicht, es ist an der Zeit, jemand anderen auszuwählen?“

Ich vermute, der Auswahlgedanke selbst ist ein unheilvoller. Denken wir an den ersten Mord der Menschheit: Kain erschlägt Abel. Warum? Weil Gott das Opfer von Abel auserwählte, das von Kain aber nicht beachtete. Denken wir an Josef: er wurde von seinen Brüdern verkauft. Warum? Weil ihn sein Vater Jakob als seinen besonderen Sohn im Gegenüber zu seinen Geschwistern bevorzugte. Die Gefühle des Nicht-Auserwählt-Seins sind Hass, Neid und Gier. Diese Gefühle sind der emotionale Sprengstoff für nach außen gewandte Gewalt.

Diskriminierung hat also mit Bevorzugung und Benachteiligung zu tun. Leider ist in den monotheistischen Religionen Gott selbst zu einem Prinzip geworden, das auswählt, indem es bevorzugt und benachteiligt. Das heutige Evangelium, das Gleichnis vom Weltgericht, handelt von der kosmischen Diskriminierung Gottes: die „Guten“ „erben“ das Reich, die „Bösen“ kommen in das „ewige Feuer“. Die „Guten“ dürfen bei Gott sein, die „Bösen“ werden von Gott verstoßen. Die „Guten“ sind die „Rechten“ – die „Bösen“ die „Linken“!

Liebe Gemeinde,

auch wenn dieses Gleichnis im Matthäusevangelium steht – es ist so überhaupt nicht im Sinne der Botschaft des Jesus aus Nazareth, der mir etwas bedeutet.

Wer auch immer sich dieses Gleichnis ausgedacht hat – es ist ein Abbild von innerer, von seelischer Zerrissenheit.

Anders ausgedrückt: die an sich schönen und wertvollen Gedanken, sich den Bedürftigen zuzuwenden, den Hungernden, den Kranken, den Fremden, den „Geringsten“ – werden dadurch vergiftet, dass sie für Überheblichkeit auf der einen Seite und Beschämung auf der anderen Seite verwendet werden.

Es ist eben dieses Denken, in dem sogenanntes Gutes und Böses mit aller Gewalt getrennt voneinander gehalten wird, das die sogenannten „Geringsten“ erst entstehen lässt.

Oder, anders: Die „Geringsten“ sind die Abfallprodukte eines Denkens, dem es darum geht, sich selbst auf die Seite der Guten, der Anständigen, der Recht-Habenden, der „Richtigen“ zu retten. Diese Rettung ist dann umso dringender, wenn fest steht, dass auf der anderen Seite die ewige Verdammnis, das ewige Höllen-Feuer wartet.

Sie erkennen diese Rettungsversuche stets an der damit einhergehenden Starre (Rigidität) und Überheblichkeit (Arroganz). (Arroganz stammt übrigens ab von dem lateinischen Verb „adrogare“: „sich einer Sache anmaßen“, „etwas Fremdes für sich beanspruchen“)

Das „Fremde“, das der Arrogante für sich beansprucht, ist die Beurteilung des Anderen in Verbindung mit Selbst-Gerechtigkeit auf der eigenen Seite. Die grundlegenden Schriften der monotheistischen Religionen: das Alte Testament, das Neue Testament und der Koran eignen sich vorzüglich für die Einnahme eines arroganten Standpunktes.

(Nebenbei: An einer Stelle im Koran sagt Jesus, zu Maria gewandt: „Ehrerbietung meiner Mutter! Gott machte mich zu keinem elenden Gewaltmenschen.“ (Sue 19, Vers 32). Und an einer Stelle im Neuen Testament sagt Jesus: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert!“ (Matthäus 10,34) Also: Vorsicht vor Vor-Urteilen!)

Als der Sufi Jalaluddin Rumi gefragt wurde, ob der Koran ein gutes Buch sei, dessen Lektüre sich lohne, antwortete er: „Du solltest dich eher fragen, ob dein Zustand es dir erlaubt, davon zu profitieren.“

Es ist eine Frage der inneren Haltung, wie wir Texte verstehen. Und nicht nur Texte – es ist eine Frage der inneren Haltung, mit der und in der wir all das wahrnehmen, was um uns herum und in uns geschieht.

Den meisten Menschen ist ihre innere Haltung so selbstverständlich, dass sie ihnen völlig unbewusst ist. So unbewusst, wie sie essen, trinken, atmen, sitzen, stehen, gehen.

Und die große Hürde, sich etwas bewusst zu machen, hat damit zu tun, dass viele von uns (vermute ich) Sätze, in denen sie wahrgenommen worden sind, als Vorwurf erlebt haben. Dass also Wahrnehmen dasselbe ist wie: „du bist falsch – sei anders!“

Wie in unserem Text: Die rechte Seite ist die richtige Seite. Bleibt für die linke Seite nur das Andere: die falsche Seite.

Gib deine „schöne Hand“ – und das war die rechte Hand: so bin ich von meiner Mutter erzogen worden, die selbst (tragische Ironie) Linkshänderin war!

In der chinesischen Medizin ist im übrigen die linke Seite die weibliche Seite.

In unserem Text stehen auf der linken Seite die Böcke: also die männlichen Tiere. Ihr großer Nachteil ist: durch sie bekommt man keinen Nachwuchs! Außerdem schmeckt ihr Fleisch nicht besonders. Man kann sie also zu nichts zu gebrauchen. Nur – sie können auch nichts dafür, dass sie als Böcke, als männliche Tiere auf die Welt kamen. Diese armen „Sündenböcke“ sind – weiß Gott – unschuldig!

Ob dies dem Verfasser unseres Textes bewusst war? Dass er in derselben Geistes-Haltung denkt, wie jene, die schrien: „Kreuzige ihn!“ ? „Das Opferlamm. Das zur Schlachtbank geführt wird…“

Dass genau dieses Denken seine Verwirklichung findet im religiösen Terror aller Zeiten. Der aus der Idee entspringt, selbst sich das Amt des Richters anzumaßen.

Und ob dem Verfasser unseres Textes bewusst war, wie radikal anders sich hiervon das Denken Jesus absetzt. Hat er sich überhaupt die Mühe gemacht, sich mit den Gedanken Jesu zu beschäftigen? Bei Jesus geht es um Integration, nicht um Ausscheidung. Wie z.B. in seinem Gleichnis vom verlorenen Schaf, das sich übrigens auch im Matthäusevangelium findet. Hier geht es um die Rettung des einen – und nicht um die Bestrafung der Falschen. Oder seine Antwort auf die Frage, wann das Reich Gottes kommt: „es ist inwendig in euch“, oder „es ist zwischen euch“ … und nicht: das Reich Gottes kommt, wenn die Bösen in der Hölle schmoren und die Guten im Paradies spazieren gehen …

Oder das Gleichnis vom scheinbar „verlorenen“ Sohn: der heimkehrende Sohn wird weder beurteilt noch verurteilt. Vielmehr wird ein Freudenfest über seine Rückkehr gefeiert.

Es ist der neidische ältere Bruder, der urteilt, der sagt: „ich bin bei dir geblieben, habe für dich gearbeitet – und jetzt wird der belohnt, der dein Erbe durchgebracht hat … Das ist ungerecht!“

Du solltest dich fragen, ob dein Zustand es dir erlaubt, von den Texten zu profitieren.“

Die Verführung ist groß, sich selbst auf den Richterstuhl zu setzen, der allein Gott oder Christus oder Allah oder Jahwe vorbehalten ist. Das ist das zentrale Missverständnis, der fundamentale Missbrauch aller Sekten und fundamentalistisch denkenden religiösen Gruppierungen: zu meinen, sie müssten an der Stelle Gottes Gericht halten.

In Wirklichkeit wird nur der eigene Neid, der eigene Hass und die eigene Gier in diesem vermeintlichen Gericht-Halten untergebracht. Gott braucht keine Richter; Gott braucht keine Inquisition. Was er aber braucht, das ist unsere Kraft und unseren Mut, uns unserer eigenen Abgründen bewusst zu werden. Unserer eigenen Gier, unserem eigenen Neid, unserem eigenen Hass ins Auge zu schauen – um ihm Einhalt zu gebieten.

Sie können das alles im übrigen auf sich selber anwenden. Indem Sie zum Beispiel aufmerksam dafür werden, wie oft Sie am Tag in Urteilen denken und Urteile äußern. Diese Sätze/Gedanken gehen meistens so los: „also ich finde es unmöglich, dass …“ Das Gefühl dazu ist eine selbstgerechte Empörung. Und ein selbstgerechtes Sich-Lustig-Machen über Andere. Und richtig Spaß macht das, wenn man dann auch noch GesinnungsgenossInnen bekommt. Dann kann man so richtig über Andere herziehen. Das Andere- das ist das Nicht-Eigene: das Fremde. Die Inhalte für Überheblichkeit sind übrigens austauschbar. Es gibt auch überhebliche Vegetarier, Friedensaktivisten, Krichgänger. Der Punkt ist nicht der Inhalt, sondern wofür ich ihn verwende. Ob ich meine Geisteshaltung und mein Tun dafür verwende, auf die Anderen herabzuschauen.

Und wie du wieder ausschaust…“ Und das ist so lange relativ harmlos, wie es bei dem „sich lustig machen“ bleibt. Und ganz wichtig: in der Phase der Pubertät gehört das Ganze unabdingbar dazu! Euch steht es zu, sich über die Erwachsenen, über uns

Alte auch lustig zu machen! (Wir machen das im übrigen umgekehrt auch ganz gern!)

Entscheidend ist, dass es im „gutmütigen“ Rahmen bleibt. Und schön wäre es, wenn man allmählich sich entscheiden könnte, auch erwachsen zu werden. Ich habe das Gefühl, bei uns gibt es viele „Berufsjugendliche“, die allmählich auf die Rente zugehen. Aber das nur nebenbei.

Etwas lustig finden hat mit der Fähigkeit zu tun, sich selbst in Frage stellen zu können. Es gibt Menschen, die können das nicht. Sie haben das Gefühl, sich selbst in Frage zu stellen vernichtet sie. Diese Menschen fühlen sich in ihrer eigenen Würde, ja in ihrer Identität angegriffen und abgelehnt, wenn etwas nicht so ist, wie sie es haben wollen. So muss alles Fremde zerstört werden. Sie geben die Zerstörung, die sie erlebt haben weiter – und zerstören: die Identität, die Würde, die Freude, den Spaß der Anderen. Genau hier ist die psychische Stelle, wo es kippt: und zwar in zerstörerische Gewalt. Das Problem ist, dass bei diesen Menschen der Satz: die Würde, tiefer noch, die Existenz des Lebendigen ist unantastbar, nicht greift, weil sie ihn nicht verstehen.

Das Problem ist, dass bei diesen Menschen die innere mentale Welt zerstört ist. An ihrer Stelle sind einfache gut-böse-Diskriminierungen getreten. Es gibt die Guten – dazu gehört man selbst – und die Bösen: die sind zu zerstören. Der menschliches Zusammenleben schützende mentale Rahmen, die uns schützenden mentalen Grenzen sind im Inneren dieser Menschen zerstört. Und das Innere drängt nach außen. Und wenn es keine Instanz mehr gibt, die hier Einhalt geben kann, dann entstehen Amokläufe, Amokflüge, Selbstmordattentate usw.

Ich weiß, dass meine Worte und die Worte der Politiker im Vergleich zu der geschehenen und immer weiter geschehenden Gewalt sich ausnehmen wie eine Wasserpistole im Vergleich zu einem Maschinengewehr. Aber genau das ist die Verführung: jetzt selbst und selbst-gerecht zum Maschinengewehr des eigenen Hasses zu greifen. Es gilt auch: die Kraft zu finden, die eigene Ohnmacht auszuhalten. Und die damit verbundenen Ängste. Und bei alle dem: nicht aus der Liebe zu fallen. Dies scheint mir die Aufgabe von allen ernsthaft religiös orientieren Menschen zu sein. Was wir brauchen ist eine ökumenische Friedensbewegung der Weltreligionen.

Der Rapper KC Rebell (selbst türkischer Abstammung) besingt in seinem schönen Song „Fata morgana“ das, was ich hier in dürren Worten versuche zu sagen, so:

Auch, wenn du dich umguckst,

und du Menschen siehst, die rumspinnen,

solltest du besser in deinen eigenen Problemen schwimmen

egal, was du siehst, was du lebst, was du bist, was du denkst,

lass es einfach in deinem Kopf drin.

Und dann kommt der wunderschöne Refrain:

Du siehst den Splitter im Auge deines Bruders

doch den Balken in deinem Auge siehst du nicht

erlaub dir niemals ein Urteil über andere

denn ein anderer urteilt dann über dich …

Liebe Gemeinde,

wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi“ – das war die Einleitung in den heutigen Gottesdienst.

Ich weiß nicht, ob wir das müssen. Aber soviel weiß ich: keinem von uns steht es zu, sich auf diesen Richterstuhl setzen.

Und mit „von uns“ meine ich „uns Menschen“: egal welcher Hautfarbe, welcher Religionszugehörigkeit, welchen Nettoeinkommens, welchen Alters, welchen Geschlechtes. Und auch egal, welchen gesellschaftlichen oder politischen Status jemand innehat. … unsere Aufgabe ist es, diesen Stuhl leer zu lassen … und uns abzufinden mit der Begrenztheit und Vorläufigkeit und Fehlerhaftigkeit unserer Erkenntnismöglichkeiten. Und in diesem Abfinden den Mut und die Stärke zu finden, dem eigenen Hass und dem Hass derer, die auf Zerstörung aus sind, Einhalt zu gebieten – in Klarheit und in Bescheidenheit.

Ich hoffe, dass dies auch für das hier Gesagte gilt: möge es Ihre Herzen so erreichen, wie es mir nicht möglich ist. Möge es Ihre Herzen so erweichen, wie es allein dem Wirken des Heiligen Geistes möglich ist: seine Kraft und seine Güte, seine Weisheit und seine Liebe, die höher ist als unsere menschliche Vernunft, bewahre uns in Christus Jesus, AMEN.

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Predigt über Matthäus 6, 25 – 34 am 14. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Gemeinde,

wollte man dem heutigen Sonntag einen Namen geben, könnte man ihn – oberflächlich betrachtet – den „Sorglosigkeits-Sonntag“ nennen.

Alle eure Sorge werft auf ihn, denn er sorgt für euch!“ (1. Petrus 5,7: der Wochenspruch)

Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen“ – so hörten wir es im Evangelium.

Nehmen wir noch den Psalm hinzu, der zum heutigen Sonntag gehört: „Es ist umsonst, dass ihr frühe aufsteht, und hernach lange sitzet, und esset eurer Brot mit Sorgen: denn seinen Freunden gibt’s der Herr im Schlaf!“ (Ps. 127, 2)

Gut, hab‘ ich mir gedacht. Wenn das so ist – wozu mir dann Sorgen machen, welche Predigt ich halte, was ich sinnvollerweise sage, wie ich die Gemeinde erreiche. Dann wende ich dieses „Lob der Faulheit“ gleich an – und mache: nichts!

Leider hat das nicht geklappt. Je näher dieser Sonntag kam, desto unruhiger wurde ich. Das mit den Vögeln und den Lilien mag ja stimmen – aber ich bin weder ein Vogel noch eine Lilie. Und niemand hat mir meine Predigt geschrieben.

Hinzu kommt, dass die Botschaft Jesu einmal mehr widersprüchlich ist: hatte nicht derselbe Jesus seine schlafenden Jünger in Gethsemane ermahnt: „Wachet und betet, dass ihr nicht in Versuchung fallet!“ Und vorhin – im 1. Petrusbrief heißt es: „Seid nüchtern und wacht, denn euer Widersacher, der Teufel geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge.“

Also: „keine Sorgen machen“ heißt wohl nicht, die Hände in den Schoß legen und gar nichts tun. Es heißt: „Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung?“

Also die Modemacher und die Feinschmecker haben an diesen Aussagen keine Freude. Jesus war bestimmt kein Franzose! Was hätte er wohl zur „Haute Cuisine“ gesagt? Oder zu „Germanys next Topmodel“?

Aber das sind nur Oberflächlichkeiten. Jesus ging es um etwas anderes. Eigentlich ist seine Botschaft eine sehr einfache: nehmt eure Sorgen nicht so ernst! Vergesst vor lauter Sich-Sorgen und Sich-Plagen nicht zu leben! Denn im Letzten könnt Ihr Euer Leben eh nicht kontrollieren. „Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge auch nur eine Spanne hinzufügen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?“

Die moderne Medizin wird an dieser Stelle aufschreien. „Da sieht man, wie sehr die Bibel veraltet ist. Wir können durchaus Leben verlängern. Und es ist gut, sich Sorgen zu machen. Sorgen führen zu Vorsorge. Vorsorge-Untersuchungen sind lebenswichtig. Je früher eine Krankheit erkannt wird, desto höher die Wahrscheinlichkeit für ihre Heilung.“

Stimmt alles. Aber auch das ist nicht der Punkt. Es geht Jesus – jedenfalls so wie ich ihn verstehe – darum, die Leichtigkeit des Lebens zu entdecken. „Die Dinge“ – „das Leben“ – nicht so schwer zu nehmen.

Das deutsche Wort „Sorge“ bedeutet zum, einen: „Kummer, Gram“. (Im Russischen ist ein „soroga“ ein „mürrischer Mensch“.) Die Sorge kann selber zum brüllenden Löwen werden, der die Freude am Leben, am auf der Welt sein, auffrisst. So verstehe ich auch den Satz Jesu, dass niemand sein Leben verlängern kann: es geht um die Ungeheuerlichkeit, dass es uns überhaupt gibt, um das Unglaubliche, was alles hat passieren müssen und hat nicht passieren dürfen, dass jeder Einzelne von uns auf der Welt ist. Haben Sie sich das klar gemacht: Ihre Vorfahren mussten irgendwie durch die vielen Kriege durchkommen, die vielen Seuchen und Widrigkeiten überleben, bis es schließlich zu Ihrer Geburt gekommen ist. Und vorher noch: wenn sich das Leben wirklich aus den Einzellern entwickelt hat – welch‘ eine Kette musste da „funktionieren“, durfte nicht abreißen, an deren vorläufigen Ende Sie und ich stehen. Und natürlich wird diese Kette nach uns weitergehen – wie auch immer – und wir verschwinden wieder, sind eben auch nur ein winziges Glied der unendlichen Kette – genannt Leben.

Und so ist es ganz richtig, wenn der 1. Petrusbrief betont: „Haltet fest an der Demut!“ – im Grunde genommen fließen nämlich unsere Sorgen, die uns mürrisch machen und unser Leben vermiesen, aus dem quälenden Anspruch, ein anderes, ein besseres Leben haben zu wollen. Damit verbindet sich die Weigerung, sich ganz auf dieses mein einmaliges Leben einzulassen, mich ihm ganz und gar hinzugeben! Und die Konsequenzen all‘ meiner Entscheidungen und meiner Nicht-Entscheidungen zu tragen, die mich dahin geführt haben, wo ich heute stehe. Der Preis dieser Weigerung ist ein chronisches Gefühl der Unzufriedenheit.

Auch dies ist ein ziemlich nüchterner Gedanke: dass ich es vorziehe, unzufrieden zu sein, zu klagen und zu jammern. Der „Gewinn“ ist, die Sehnsucht nach etwas „Besserem“ aufrecht zu erhalten – der Preis ist die Abwertung der Gegenwart – dessen, was gerade ist.

Mich hat diese Botschaft Jesu zu einem Experiment inspiriert, zu dem ich Sie gerne einladen möchte. Es ist ganz einfach: ich will versuchen, in allem, was ich tue, mitzudenken: „es ist gut genug!“ Und: „Falls jemand anders oder ich selbst (!) enttäuscht ist/bin über mich/ über das was mir gerade möglich ist, ja – dann kann ich das auch nicht ändern.“

Was heißt das konkret? D.h, wenn ich eine Predigt vorbereite, gebe ich mir Mühe, dass mir etwas einfällt, von dem ich hoffe, dass es den Texten gerecht wird und dass die Menschen, denen ich die Predigt halte, etwas damit anfangen können. Aber ich bin nicht allwissend und nicht allmächtig – und es kann gut sein, dass sich etliche enttäuscht abwenden. Das kann ich dann auch nicht ändern. Es sei denn, es ist möglich, mit der Enttäuschung selbst in Kontakt zu kommen.

Wenn Sie mögen, können Sie dies auf Ihren Alltag übertragen: sei es dass Sie kochen, dass Sie putzen, dass Sie ein Gespräch führen … es geht um die Verbindung, dass ich mir Mühe gebe und dass es auch gut genug ist. Mehr noch: dass ich gut genug bin. Und dass ich Enttäuschungen nicht vorbeugend verhindern kann. Es macht mich und den Anderen im übrigen viel freier, wenn auch die Enttäuschung „sein“ darf – Platz bekommt im Miteinander.

Wir können dieses Experiment auch im Umgang mit uns selbst ausprobieren. Im Umgang mit uns selbst geht es um die Enttäuschungen über uns selbst: das zur Kenntnis-Nehmen meines älter werdenden Körpers, meines langsamer arbeitenden Verstandes, meiner fortschreitenden Vergesslichkeit, meiner sich ausbreitenden Müdigkeit. „Es ist gut genug!“ Dies darf alles so sein. Es ist kein Grund, sich darüber zu grämen. Es ist einfach nur der natürliche Lauf der Dinge.

Der „brüllende Löwe“ in uns empört sich darüber: er möchte ewige Jugend, ewige Fitness. Er hasst die Anzeichen des Alters ebenso, wie er Schwäche ablehnt. Ihm gegenüber ist unsere Wachsamkeit gefragt. Nicht mit dem Ziel, den Löwen zu verjagen – das ist ohnehin sinnlos! Wohl aber mit dem Ziel, ihn zu „zähmen“. Zähmen – das haben wir vom kleinen Prinzen gelernt – heißt: „sich vertraut machen“.

Der brüllende Löwe ist zunächst einmal ein hungriger Löwe. Und die Frage ist, ob und wie ihn satt bekommen. Unzufriedenheit könnte man auch als chronischen Hunger nach mehr bezeichnen. Oder eben als die Unfähigkeit, satt zu werden.

Und was sättigt? Die Wahrheit. W. Bion spricht von der „Milch der Wahrheit“, die das Baby benötigt, damit seine Seele wachsen kann. Aber dies gilt nicht nur für das Baby: dies gilt ein Leben lang. Diese Sättigung verbindet sich mit einem Gefühl, zufrieden zu werden. Zufrieden im Sinne von: „es reicht mir – mehr brauche ich nicht.“ Das ist etwas Anderes als eine Befriedigung: die Befriedigung ist ein kurzer Kick und schon fängt das „Sehnen“ wieder an. Befriedigung gehört zu Sucht – Zufriedenheit gehört zu Sättigung. In der Sucht gibt es kein „genug“. Es ist sogar andersherum: je mehr ich versuche, meine Wünsche und/oder die Erwartungen anderer zu befriedigen, desto unzufriedener werde ich. Und desto mürrischer werde ich, weil ich spüre, dass es kein Ende gibt. Es ist so sinnlos wie der Versuch, auf der Autobahn erster zu sein. Auch wenn ich noch so schnell fahre – bei jeder Einfahrt kommen neue Autos dazu.

Nein – es geht nicht darum den brüllenden Löwen zu verjagen: es geht darum, ihn zu befrieden! Und dies lässt sich genauso wenig „machen“, wie sich Wahrheit oder Freiheit, oder Sinn oder gar Liebe „machen“ lässt.

Wir Menschen sind aber „Macher“. Wir wollen wo hin kommen. Immer ein Ziel vor Augen. Wir müssen vorwärts schauen. Vor lauter Vorwärts schauen vergessen wir, Rück-Sicht zu nehmen.

Der große Vorteil von den Sorgen ist, dass mein „Ich“ sie sich machen kann. Und ein Ziel haben wir auch gleich: nämlich, wie kriege ich die Sorgen wieder los.

Der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.“ Und seine eigene Schönheit möchte ich hinzufügen. Die sich mir genau dann eröffnet, wenn ich aufhöre, mir Sorgen zu machen.

Der sorglose Blick sieht die Schönheit des Augen-Blickes. In und mit ihm beginnt das Alltägliche zu leuchten: die Schönheit eines Regentropfens, die Schönheit eines Sonnenstrahls, die Schönheit eines faltig gewordenen Gesichtes, die Schönheit eines Kindes … schauen Sie sich um und lassen Sie zu, dass Ihre Augen weich werden – und Sie werden die Schönheit entdecken, die Sie umgibt. Die immer schon da ist und nur darauf wartet, entdeckt zu werden …. Und in dieser Entdeckung geschieht das, was Jesus „Reich Gottes“ nennt, was immer schon da ist und immer aufs Neue entdeckt werden will, AMEN

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Predigt an Pfingsten 2015 über Johannes 14, 23-27

Predigt an Pfingsten 2015 über Johannes 14, 23 – 27

(gehalten in der Jakobuskirche von Pfr. Dr. Lothar Malkwitz)

Die Dunkelheit des Vaters und das Licht des Sohnes und die Liebe des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

Pfingsten gilt als Geburtstag des Kirche. Kirche heißt: Christsein in der Welt. So ist Pfingsten für mich inhaltlich die Nagelprobe der Alltagstauglichkeit unseres christlichen Glaubens. Es geht um die Frage, ob und inwieweit unser Glaube alltäglich hilfreich ist. Das Zentrum unseres Glaubens – soweit ich das verstanden habe – ist der Sieg der Liebe über die Mächte des Hasses und der Destruktivität.

So beginnt unser heutiges Pfingstevangelium (der Predigttext) mit dem Satz:

„Wer mich liebt, der wird mein Wort halten…“

Aber was heißt das: „wer mich liebt, der wird mein Wort halten“?

Und vor allem: was heißt das alltäglich?

Vielleicht sollte ich kurz verdeutlichen, was ich mit „für den Alltag tauglich“ meine: Eine Scheibe Brot und ein Glas frisches Wasser ist alltagstauglich. Eine Sahnetorte ist etwas für den Sonntag. Für den Festtag. Lecker – aber man sollte nicht zu viel davon nehmen. Oder ein Kleidungsstück: es gibt die empfindlicheren Sonntagskleider und die robusten Alltagskleider.

Ich benötige einen Glauben, der alltäglich robust ist. Wenn er sich dann für den Sonntag schön macht – keine Einwände. Ein Glaube hingegen, der einmal in der Woche für eine Stunde Frieden und Liebe singt und predigt und sich predigen lässt – und im Alltag im Schrank abhängt, – dieser Glaube ist – jedenfalls für mich – nicht glaub-würdig. Nicht wert, geglaubt zu werden.

Glaube, Liebe, Hoffnung: das klingt nach Pathos, nach Größe. Wenn es Bestand haben, sich alltäglich bewähren soll, muss es nüchtern sein und werden.

Wer mich liebt, der wird mein Wort halten…“ die „Worte“ Jesu, seine Botschaft, ist etwas sehr, sehr Nüchternes. Und gerade darin provozierend. Ein paar Zitate: „Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.“ „Den Splitter im Auge deines Nächsten siehst du, den Balken im eigenen nicht.“ „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die Welt gewönne und doch Schaden nähme an seiner Seele?“ „Wer sein Leben liebt, wird es verlieren, wer sein Leben aufgibt, wird es erhalten.“

Das ist nur eine kleine Auswahl von Gedanken, die der- oder diejenige erhalten, die Jesus lieben. Das ist übrigens auch so etwas Nüchternes: Jesus sagt nicht: wer mich liebt, der soll mein Wort halten. Er sagt – als gäbe es nichts Selbstverständlicheres: Wer mich liebt, der wird mein Wort halten.

Und was ist gemeint mit: „mein Wort halten“?

Ich verstehe darunter zweierlei. Zum einen: das Wort Jesu ist das Wort, die Predigt von der bedingungslosen Zuneigung, Hingabe zur Schöpfung, zum Leben. Und zum anderen: es geht nicht nur darum, dieses Wort von der Liebe zum Leben zu hören, sondern es auch zu halten, es einzuhalten, sich daran zu halten. Danach zu handeln. Und zwar alltäglich.

Und indem ich mich darauf einlasse geschieht etwas Ver-Rücktes: „… und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen.“ Je tiefer und selbstverständlicher ich nach dem Wort Jesu lebe, desto tiefer und selbstverständlicher komme ich bei mir selbst an, desto sicherer weiß ich, wer ich bin und was ich zu tun und zu lassen habe auf dieser weiten Welt. Und indem diese Sicherheit in mir wächst, komme ich dem Vater immer näher, kehre ich zu ihm zurück, werde sein Hausgenosse.

Nun könnte man f ragen: was hat der „Vater“ damit zu tun? Wozu brauche ich einen Vater – wenn es darum geht, mir selbst, meinem eigenen, wahrhaftigen Selbst immer näher zu kommen? Ist nicht im Gegenteil der Gedanke an einen Vater hinderlich, da er einen Sohn oder eine Tochter braucht? Und geht es im Leben nicht darum, selber erwachsen zu werden, den eigenen Weg zu gehen und eben nicht den, den (m)ein Vater mit vorschreibt?

Jesus sieht das anders. Im nächsten Vers heißt es: „Wer aber mich nicht liebt, der hält meine Worte nicht. Und das Wort, das ihr hört, ist nicht mein Wort, sondern das des Vaters, der mich gesandt hat.“

Jesus bezeichnet sich selbst „nur“ als das Sprachrohr des Vaters.

Aber das ist doch Abhängigkeit hoch zwei. Jesus hat also überhaupt keine eigene Sprache, keine eigene Botschaft? Er plappert nur seinem Vater nach?

Nein – er plappert nicht nach: „mein Wort ist das Wort des Vaters.“ Es geht nicht um nachahmen oder nachplappern: es geht um Einheit. Um Eins-Sein. Um eine unglaubliche Über-Ein-Stimmung.

Ich denke, Sie merken: das Alles ergibt überhaupt keinen Sinn, solange als man versucht, es konkret zu verstehen. Im Rahmen der uns bekannten, konkreten Vater-Sohn-Beziehungen. Aber ergibt es überhaupt Sinn?

Vielleicht erinnern Sie sich: ich habe Sie vorhin begrüßt mit dem Wort: die Dunkelheit des Vaters, das Licht des Sohnes und die Liebe des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Dies ist mein ganz eigener Kanzelgruß geworden – beeinflusst durch die Auseinandersetzung mit der jüdisch-christlichen Mystik. Für mich bedeutet „Vater“ die Unerkennbarkeit dessen, was ist. Dessen, was gerade geschieht. Was gerade hier, in diesem Raum geschieht. Die Atmosphäre, die hier entsteht. Die Schwingungen, die hier sind. Die sich mit jedem Atemzug verändern. Weil und indem dies unerkennbar ist, ist der Vater dunkel.

Nun ist es aber auch so, dass wir Menschen die Fähigkeit haben, etwas zu erkennen. Es ist nicht alles dunkel. Und wir Menschen haben – seit es uns gibt – viel erkannt. Allerdings gleicht unser Erkennen, mit dem wir so erfolgreich geworden sind, dem eines Scheinwerfers, der das Dunkle vertreibt. Etwas ganz Anderes ist der Versuch, Licht in das Dunkle zu bringen. Das kann ich nur, indem ich die Gesetze des Dunklen anerkenne und die Suchscheinwerfer meines Verstandes ausschalte. Das Licht im Dunkeln muss sich der Dunkelheit anpassen, es muss selbst dunkel werden. Es muss zu einem „dunklen Strahl werden“, wie der Heilige Joh. Vom Kreuz so schön sagt. Der Christus des Johannesevangeliums ist dieser dunkle Strahl. Und so lässt er diesen Jesus Christus sagen: das Wort, das ihr hört, ist nicht mein Wort, sondern das Wort von dem, der mich gesandt hat. Das Wort Jesu bildet die Dunkelheit des Vaters ab.

Man könnte sagen: aber es heißt doch: das Licht scheint in die Finsternis und die Finsternis hat’s nicht ergriffen. Die Finsternis, die hier gemeint ist, ist die Finsternis unseres Verstandes. Ihr ist es nicht möglich, dieses Licht des Sohnes, von dem im Johannesevangelium die Rede ist, zu ergreifen. Hierfür ist unser Verstand nicht geschaffen. Alles was unser Verstand kann, – und ich meine das nicht abwertend, sondern nur eingrenzend – ist, mit seinen blendenden Scheinwerfern, die Dunkelheit zu vertreiben. Was er nicht kann, ist, das Leben im Dunkeln zu sehen! Wir haben vorhin gesungen: „Zünd uns ein Licht an im Verstand…“ Dieses Licht ist der dunkle Schein des Vaters, ist die dunkle Ahnung davon, dass es noch eine ganz andere Welt gibt als die, die wir mit unseren Sinnesorganen begreifen können. „Wer Ohren hat zu hören, der höre!“

Wer sich auf dieses Geschehen einlässt, der erleidet elende Gefühle. Johannes vom Kreuz hat sie als das Grauen der drei dunklen Nächte bezeichnet: die dunkle Nacht der Sinne, des Verstandes und der Seele. Die Worte Jesu halten bedeutet also, sich in diese dunklen Nächte zu begeben. Wer das nicht will oder kann, von dem heißt es:

Wer aber mich nicht liebt, der hält meine Worte auch nicht.“ Auch das ist eine nüchterne Feststellung – ohne drohend-erhobenen Zeigefinger.

Für die Menschen aber, die die Worte Jesu versuchen zu halten – und mehr als ein Versuch ist in diesem Leben nicht möglich – für die Menschen, die eine Ahnung von der Dunkelheit des Weges zu Gott haben – für sie gibt es einen Trost, mit dem das Entsetzen der Dunkelheit erträglich(er) wird: und das ist der Heilige Geist.

Im Johannesevangelium heißt er der Tröster.

Das habe ich geredet, solange ich bei euch gewesen bin. Aber der Tröster, der heilige Geist, den mein Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“

Der Trost des Trösters besteht darin, dass in ihm der Vater und der Sohn gegenwärtig sind. Jesus ist gar nicht verschwunden, er hat sich nur der Welt des Sichtbaren entzogen. Und hatte er nicht gesagt: „mein Reich ist nicht von dieser Welt“? Das Reich Jesu Christi, das Reich Gottes – es liegt im Dunklen. Das heißt aber nicht, dass es eine Illusion ist, dass es das gar nicht gibt. Es gibt es nur nicht so, wie wir uns das vorstellen. Wie unser Verstand es gerne hätte. Hierhin gründet, dass jeder Versuch, eine Gottesherrschaft in dieser Welt zu etablieren, Ausdruck der Abwendung von Gott ist. Mit Gottesherrschaft meine ich nicht nur die religiösen Fundamentalismen, ich meine auch all jene, die an der Stelle der Dunkelheit Gottes sich einen Ersatzgott/ -götzen gemacht haben: sei es ewige Jugend, sei es Geld, sei es Auto sei es Reisen, sei es Arbeiten, sei es Psychoanalyse, sei es Theologie und so weiter …

Der letzte Satz unseres Predigttextes veranschaulicht den Trost des Trösters, gibt ihm seinen Inhalt: „Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht.“

Wer auf dem dunklen Weg zum Vater ist, wer ihn liebt und bei ihm wohnt, in dem zieht Frieden ein. Ein Friede, der dieser Welt nicht bekannt ist: ein Friede in der Tiefe, ein Friede im Inneren. Der Friede, den diese Welt schenken kann, ist der Friede einer Befriedigung: ein Ziel erreicht zu haben, wieder gesund worden zu sein, eine Prüfung bestanden zu haben, etwas Schönes, Neues bekommen zu haben.

Der Friede, den diese Welt nicht geben kann, der entsteht im Erleben des eigenen Ganz-Seins. Oder Heil-Seins. Es ist ein Friede, den ich nicht machen kann, dem ich mich nur zur Verfügung stellen kann: in dem ich mich ganz und gar dem, was ist, überlasse. In dem ich nicht mehr gegen die dunklen Seiten der Wirklichkeit ankämpfen muss. In diesem Frieden dürfen meine Mitmenschen so sein wie sie sind, darf mein Leben so von mir gelebt worden sein, wie es eben gelebt worden ist … Auf einmal entsteht Raum für mich und die Anderen und in diesem Raum entsteht Ruhe und Gelassenheit und Heiterkeit. Der Weg zu diesem Frieden geht freilich nicht ohne Erschrecken und ohne Ängste. Deshalb ist es gut, sich auf diesem Weg begleiten zu lassen. (Und oder den Heiligen Johannes vom Kreuz lesen!)

Mit diesem Frieden endet (nicht nur) diese Predigt. Sie kommt von der Dunkelheit des Vaters her, versucht ein wenig Licht in dieses Dunkle zu bringen (das Licht des Sohnes) und mündet in die Liebe und den Frieden des Heiligen Geistes. Und jetzt, am Ende, ist es nur recht und gut, auch diese Predigt-Gedanken der Dunkelheit anzuvertrauen mit der vertrauten Bitte: Und der Friede Gottes, der höher ist als unser Denken und Sprechen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN.

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Predigt über Lukas 2, 41 – 52

Liebe Gemeinde,

gerade noch haben wir Weihnachten gefeiert, die Geburt des Messias in uns, in unserem Leben. Und schon ist dieser Messias herangewachsen, ist volljährig. Volljährig wurde man als Israelit mit 12 Jahren, also mit Eintritt der Geschlechtsreife. Ab da wurde man auf das Gesetz Mose verpflichtet und galt – auch was die Verfehlungen anging – als Erwachsener!

Sie wissen, liebe Gemeinde, dass mein Anliegen es ist, Tiefendimensionen der biblischen Schriften aufzuzeigen. Ich versuche, die biblischen Texte so zu lesen und auszulegen, dass sie seelische Entwicklungsprozesse abbilden. Ich bin der sicheren Überzeugung, dass dieser Zugang zur Bibel zur Gesundung, zum Heil-Werden unserer Seele beiträgt. (Dies ist übrigens ebenfalls eine alte jüdische Tradition: es ist alter jüdischer Brauch, in Zeiten ernster Gefahr, bei tödlichen Epidemien die Thora – also die ersten fünf Bücher Mose – die sonst im Lehrhaus bleiben muss, durch die Straßen der vom Untergang bedrohten Stadt zu tragen, damit die Plage endet. (Vgl. Weinreb: Schöpfung im Wort)

Also – was bedeutet auf einer tieferen, unbewussten seelischen Ebene das vorhin gehörte Evangelium?

Nehmen wir noch den Wochenspruch dazu: „Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und voller Wahrheit.“ (Joh. 1,14b). Hierher gehört auch die Epistel aus dem 1. Johannesbrief:

„Gott gab uns das ewige Leben, und eben dieses Leben ist in seinem Sohn. Wer den Sohn in sich hält, der hält das Leben in sich. Wer das Leben nicht in sich hält, der hält auch nicht den Sohn Gottes in sich.“

Es ist also das Sohn-Sein, die „Sohnschaft“, um die es heute geht.

(Das Rechtschreibprogramm von Microsoft Word kennt übrigens den Begriff „Sohnschaft“ nicht; es schlägt stattdessen „Sohnschuft“, oder „Sohnchaot“ oder „Sohnschaf“ vor! Welche Vater-Sohn-Beziehung hat wohl der Programmierer dieses Programms erlebt?)

Sehen Sie: das passiert, wenn man Texte zu wörtlich nimmt. Es entstehen Missverständnisse. Ein weiteres Missverständnis wäre es, den Text als frauenfeindlich abzuwerten: so als ginge es nicht auch um Töchter und Mütter! Dies führt in die Irre: es geht um das Nachdenken darüber, wie der Messias in uns wachsen und sich entwickeln kann – unabhängig von unserem Geschlecht.

Der Messias – das ist unsere innere Weisheit, unsere inne Gelassenheit, unsere innere Sicherheit, unsere innere Ruhe. Es ist auch unsere innere Liebesfähigkeit, unsere Kraft der Einfühlung in Fremdes. Es ist auch unser Mut und unsere Besonnenheit, es ist unsere Liebe und unsere Großzügigkeit.

Wie kann dies alles wachsen und sich in uns entfalten? Das ist die große Frage.

Nun braucht der Messias in uns Eltern. Gute Eltern. Was sind gute Eltern? Gute Eltern sind Eltern, die das Anders-Sein und Anders-Werden ihrer Kinder nicht nur ertragen, sondern liebevoll begleiten. Mit „anders“ meine ich: anders als die (wir) Eltern selbst sind. Die Verzweiflung über unsere „Sprösslinge“ hat stets damit zu tun, dass sie nicht so „geraten“, wie wir uns das wünschen. Die Betonung liegt auf „wir“. Dies gilt nun wiederum nicht nur im außen, in der Welt des Konkreten, sondern ebenso und ganz besonders für unsere innere, für unsere seelische Welt. Unsere Seele ist unser „Sprössling im Inneren“ – sie möchte ebenfalls „sprießen“, sich entwickeln und so gesunden, ganz werden, heil werden.

Als gute Eltern haben wir zu ertragen, dass diese Entwicklung des Messias in uns mit „Schmerzen“ und Gefühlen tiefer Verunsicherung und Verzweiflung einhergeht. Weshalb?

Weil wir ihn nicht besitzen können. Er ist lebendig – und als Lebendiger nicht verfügbar. Dies erleiden Maria und Josef, als sie plötzlich merken, dass ihr Sohn Jesus nicht da ist, wo sie ihn vermuten. Nämlich irgendwie bei ihnen oder in ihrer Nähe. Die Vermutung ist naheliegend: er muss noch in Jerusalem sein. Aber Maria und Josef sind bereits eine Tagesreise von Jerusalem entfernt! Und es gab kein Handy, kein What’s App … (Aber das wäre schon wieder ins Konkrete gegangen.) Der Messias in uns hat sich verselbständigt.

Vielleicht kennen sie so etwas aus Träumen: dass ihnen etwas oder jemand verloren geht. Und zwar etwas oder jemand, den sie brauchen und lieben, an dem Ihr Herz hängt. Und dass sie verzweifelt suchen und es/ihn nicht mehr finden. Bzw. die Erleichterung, wenn er/es dann doch wieder auftaucht!

Dieses seelische Geschehen bildet sich in unserer Geschichte ab. Nachdem die Suche bei Bekannten und Verwandten erfolglos blieb, kehren Maria und Josef um. Sie gehen zurück nach Jerusalem. Auch dies ist ein wesentliches seelisches Geschehen: die Bewegung zurück. Oftmals muss man in Träumen alte, im konkreten Leben längst vergangene Orte aufsuchen, um noch etwas zu erledigen: eine Prüfung nochmal schreiben, noch mal jemanden, der früher einmal wichtig gewesen ist, begegnen usw. Diese Rückwärtsbewegungen sind oft nötig für weiteres Wachstum. Seelisches Wachstum geschieht nämlich nicht linear fortschreitend, sondern in spiralförmiger Bewegung. Und so entwickelt sich auch unsere Geschichte. Der Messias ist an einem völlig unvermuteten Ort. Er ist der Fremde, der Andere – so kann er nicht bei den Bekannten und Verwandten gefunden werden. Er findet sich im Tempel! Jesus bezeichnet den Tempel als „das, was meines Vaters ist.“ Und vorher heißt es : „Und es begab sich nach drei Tagen, da fanden sie ihn im Tempel sitzen.“ (V. 46b)

Das kann man natürlich als Anspielung auf Tod und Auferstehung Jesu lesen. In der inneren Welt bedeutet es den unweigerlichen Zusammenhang von Opfer und neuer Lebendigkeit. Der Tempel ist der Ort des Opferns. Der Tempel ist der innere Ort, an dem ich all‘ das aufgebe – in diesem Sinne opfere – was mich von meiner Beziehung zum Vater, zu Gott abhält. Was zwischen mir und ihm steht.

Im Tempel bringe ich mich Gott näher. Dafür muss ich das opfern, was mich von Gott entfernt.

Und was ist das?

Es ist die Verführung der Schlange, der ich erlegen bin. Das „Ihr werdet sein wie Gott!“ Es ist das Sich-selbst-Absolut, sich selbst an die Stelle Gottes Setzen. Diese Verführung, der ich als Mensch erlegen bin, weil ich ein Mensch bin – diese Verführung ist rückgängig zu machen. Sie ist zurück zu binden zu Gott. Für diese Rückbindung brauche ich den Messias.

Das hebräische Wort Messias (der „Gesalbte“) hat übrigens denselben Zahlen Wert wie das Wort für „Schlange“. Die Schlange ist gleichsam der Minus-Messias, das Prinzip, das von Gott wegführt. Der Messias führt zu Gott zurück: er ist selbst Gott – er ist die Selbst-Offenbarung Gottes, des Vaters. So ist sein Platz, seine Heimat im Tempel.

Liebe Gemeinde,

sie haben mein volles Verständnis, wenn sie das alles nicht so recht verstehen. Mir geht es genauso. Und Josef und Maria ging es ebenso: „Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte.“

Es ist auch nicht nötig, dass wir das alles verstehen. Viel wichtiger ist unsere Haltung, die wir dazu einnehmen. Hier ist Maria für mich vorbildlich: sie „behielt alle diese Worte in ihrem Herzen.“ (Dasselbe hieß es übrigens schon einmal: als die Hirten den erstaunten Eltern die Botschaft der Engel kundtaten.) Wir Menschen neigen dazu, das, was wir nicht verstehen, auszuscheiden, von uns zu weisen, damit nichts zu tun haben zu wollen. Das ist völlig in Ordnung – es hat nur den Preis, dass wir wenig Neues an uns heran lassen. Wenig Neues erleben werden.

Die Worte des Anderen „im Herzen behalten“ – auch und gerade wenn ich sie nicht verstehe: ohne gleich etwas zu erwidern. Ohne gleich ein „Ja, aber…“ hinterher zu setzen. Das eh meist nur zu Verhärtungen führt: das ist eine Haltung, die ich mir für 2015 vornehmen möchte. Es ist die Haltung der Achtsamkeit und Aufmerksamkeit – gerade für das Fremde, Neue, Ungewohnte.

Das sich oft im ganz gewöhnlichen Alltag abspielt. Hierzu gibt es eine schöne Geschichte von Anthony de Mello:

Es ist Morgen. Ein Vater klopft an der Tür seines Sohnes und ruft: ‚Wach auf.‘ Der Sohn antwortet: ‚Ich möchte nicht aufstehen, Papa.‘ Der Vater ruft daraufhin laut: ‚Steh auf, du musst zur Schule.‘ Der Sohn antwortet: ‚Ich möchte aber nicht zur Schule.‘ ‚Warum denn nicht?‘, fragt der Vater. ‚Aus drei Gründen‘, sagt sein Sohn. ‚Einmal, weil es doof ist, dann, dann weil die Kinder mich aufziehen, und schließlich, weil ich die Schule hasse.‘ Darauf der Vater: ‚Ich nenne dir drei Gründe, warum du zur Schule gehen musst. Zum einen, weil es deine Pflicht ist. Dann: du bist 45 Jahre alt; und schließlich: du bist der Klassenlehrer.‘

Auch eine Vater-Sohn-Geschichte. Und eine Geschichte für ins Leben kommen. Und dieses ins Leben kommen ist gar nichts Großes. Es geht nicht um die ultimative Reise, das ganz tolle Hotel, das wahnsinnige Auto oder was sonst noch. Ins Leben kommen heißt: „tue, was deine Pflicht ist.“ Oder anders ausgedrückt: „Du bist frei für, was du tun musst.“ Würde jeder Mensch an der Stelle, an der er steht, das tun, was zu tun ist, was seine Aufgabe ist – es würde genügen. Aber dazu müssten wir das eigene Leben akzeptieren, so wie es ist, mit allen Licht- und Schattenseiten. Dazu müssten wir unser So-geworden-Sein akzeptieren und unser Nicht-anders-Geworden-Sein. Dazu müssten wir die Ordnungen, Regeln und Gesetze akzeptieren und uns daran halten, die in unserer Gesellschaft gelten. Und dann wäre Schluss mit den Redewendungen: „das sehe ich gar nicht ein, weil … Sollen doch erst mal die Anderen! Oder: Das muss man doch ausnützen!“ Das sind Sätze, in denen die Verführung, die Schlange aus uns heraus spricht. Indem ich mich zu Gott zurückbinden lasse, verliert diese Verführung ihre Macht über mich. Ich will dann gar nicht mehr so sein wie Gott – sondern freue mich daran, in tiefer inniger Beziehung zu Gott leben zu dürfen. Und so geschieht, was im 1. Johannesbrief formuliert worden ist: „Wer den Sohn in sich hält, der hält das Leben in sich.“ Ich wünsche Ihnen und mir, dass dieser Sohn, dieser Messias in diesem Neuen Jahr in uns weiter wachsen darf und dass wir alltäglich in Beziehung mit ihm bleiben dürfen und er in uns zunimmt an „Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen“, AMEN.

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Silvesterpredigt 2014 über Lukas 12, 35-40

Liebe ökumenische Gemeinde,

ich weiß nicht, wie es mir jetzt erginge, wenn ich an Ihrem Platz, als ganz normaler Gottesdienstbesucher, heute mit dabei wäre. Ich vermute, der Text aus dem AT, Jesaja 42 – dass er das geknickte Rohr nicht brechen und den glimmenden Docht nicht erlöschen wird – würde bei mir Befremden auslösen. Was wäre das denn für ein Gott, der das ohnehin schon geknickte Rohr bricht, den ohnehin nur noch glimmenden Docht auslöscht? Ein Sadist?

Und das Evangelium: na ja, das ist die bekannte Ermahnung, „seid bereit, denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, da ihr’s nicht meint.“ Und zur Ermahnung gehört die Androhung der Konsequenzen: gut verpackt in dem „selig sind die Knechte, die wach sind!“ Es bleibt uns überlassen, sich auszumalen, was mit den Knechten passiert, die eingeschlafen sind. Jedenfalls sind sie nicht selig! Heißt genauer: die haben Pech gehabt. Selber schuld, wenn sie schlafen! Und das Kommen des Messias verpennen. Kann man ihnen auch nicht helfen.

Ein freundlicher Messias ist das für mich auch nicht. Ein freundlicher, liebevoller Messias, der würde doch die schlafenden Knechte aufwecken – um dann mit allen gemeinsam am Tisch zu sitzen und zu Abend essen? Oder etwas nicht?

Mir ist aufgefallen, dass in den von mir recherchierten Predigten zu diesem Text kein einziger Prediger diese naheliegende Frage stellt: warum weckt denn der Messias, der doch angeblich Ausdruck der unendlichen Geduld, Barmherzigkeit und Liebe Gottes ist, die schlafenden Knechte nicht auf?

Wahrscheinlich darf man als evangelischer Pfarrer oder als katholischer Priester so nicht denken.

Als jüdischer Rabbi schon eher: „Will der Messias in Ruhe kommen, dann mag er kommen; wir warten sehnsüchtig auf ihn. Will er aber im Sturm kommen und Leid und Not über die Welt bringen, dann soll er überhaupt nicht kommen, dann bedürfen wir seiner nicht und verzichten auf ihn!“ So hat sich Rabbi Meir einmal geäußert. Ganz schön mutig!

Wenn uns Christen nichts anderes einfällt, als die bekannte Botschaft: „wenn du nicht brav bist, dann mag dich der liebe Gott nicht“, dann ist es gut, wenn das Christentum allmählich ausstirbt. Diese Botschaft kann getrost entsorgt werden.

Ja und dann?

Haben wir dann noch etwas zu sagen?

Ich denke doch. Freilich etwas anderes. Etwas radikal anderes.

Der alte Karl Rahner hat einmal gesagt: „Das Christentum der Zukunft wird ein Mystisches sein, oder es wird nicht mehr sein!“

Was heißt das?

Ich werde Ihnen veranschaulichen, was ich darunter verstehe, indem ich mich dem vorhin gehörten Texten neu zuwende.

Die entscheidende Frage ist, wofür ich die Gedanken, die ich denke, die Texte, die ich lese, verwende. Eine verbreitete Verwendung von Religion ist es, den eigenen Hass, den eigenen Neid so in Predigtgedanken und Textauslegungen unterzubringen, dass die Welt zerfällt in die Falschen und die Richtigen, in die Bösen und die Guten. Und der, an den ich glaube, der Messias, oder Mohammed, oder wer auch immer, der ist natürlich auf meiner Seite: er gehört – wie ich, wie wir – zu den Richtigen, den Guten!

Nun geht es in unserem Evangelium – um damit zu beginnen – aber überhaupt nicht um richtig oder falsch: es geht um eine bestimmte Haltung zum Leben. „Seid auch ihr bereit!“ Das ist die Botschaft unseres Textes. Im Griechischen heißt das: „Ginesthe hetoimoi!“ „Hetoimoi“ heißt „bereit“. „Ginesthe“ kommt von „ginomai“ (altgriechisch „gignomai“) und das heißt in seiner Grundbedeutung: „zum Dasein gelangen, werden, entstehen!“

Das heißt, es wäre ungefähr so zu übersetzen: euer Bereit-Sein ist eines, das im Werden, im Entstehen ist. Ihr könnt es genau nicht machen! (Das gilt übrigens auch für den „Sinn“, von dem wir meinen, er wäre machbar: „das macht Sinn!“ Was wir machen können, ist höchstens Un-Sinn. Aber auch das stimmt nicht. Michel aus Lönneberga wusste es: „Unsinn“ oder „Unfug denkt man sich nicht aus. Unfug wird’s von ganz allein. Aber dass es Unfug war, weiß man erst hinterher.“ „Dann, wenn Papa Miichel schreit“, sagte Ida. )

Was können wir dann machen? Wir können versuchen, uns etwas bewusst zu machen. Um mir etwas bewusst machen zu können, muss ich aus der Selbstverständlichkeit und Routine meines Lebens ein bisschen aussteigen. Ich muss die Kraft haben, meine Gedanken, mein Tun in Frage zu stellen. Dies erfordert Kraft, weil damit eine Verunsicherung einhergeht. Gängigerweise quillt meine Sicherheit daraus, dass etwas so ist, wie ich es sage, sehe, meine.

Seid bereit!“ hieße dann: versucht in einer Haltung zu leben, in der ihr offen/bereit für das Unerwartete, für die Überraschung seid. Dies ist eine Haltung in der ich mich von meinem Vorher-Wissen: „wie es denn sein wird“ distanziere. Einfaches Beispiel: was Sie mit diesen Gedanken, die ich hier äußere, machen, darauf habe ich keinen Einfluss mehr. Indem ich dies anerkenne, entsteht zwischen Ihnen und mir Freiheit. Aber eben auch Ungewissheit.

Und eben diese Ungewissheit tut so gut.

Solange sie nicht zu viel Angst macht. Angst ist ein großer Gegner der Ungewissheit. Die Kraft, die Angst mildert, heißt Vertrauen. Hierher gehört unser Text aus dem AT: „Er wird das geknickte Rohr nicht brechen!“ Das geknickte Rohr – das bin ich in meinen Ängsten, in meiner Zaghaftigkeit, in meiner Unsicherheit. „Der glimmende Docht“ – das bin ich in meiner Dunkelheit, in meiner Müdigkeit, in meinem Abgebrannt-Sein.

Je mehr mich meine Ängste umfangen und einschließen, desto erschöpfter werde ich sein. Desto weniger Platz für Aufmerksamkeit, Wachsamkeit, Achtsamkeit finde ich in mir. Desto mehr ziehe ich mich in meine Welt hinein zurück und versuche so durchzukommen, dass ich nichts und niemand mehr an mich wirklich herankommen lasse. Da kann dann selbst der Messias an meiner seelischen Türe klopfen – ich werde ihn nicht hören. Ich will nämlich nur mehr eines: „meine Ruhe!“

Wer sich auf den Messias wirklich einlässt, dessen „Ruhe ist hin“. Zumindest an der Oberfläche. Wer den Messias in sich hinein lässt, der lässt das Leben in sich hinein. Das Leben aber ist nichts Perfektes, nichts Abgeschlossenes. Leben ist immer vor-läufig, voller Überraschungen. Und das sind durchaus nicht nur schöne Überraschungen.

Und weil Leben so ist, habe ich aufgegeben, mir gute Vorsätze zu machen. Selbst die besten Vorsätze sind hausgemacht. Ich will in 2015 eine Haltung finden, die sich in unseren Texten ausdrückt: die Haltung der Achtsamkeit für mich und all jene und jenes, womit ich zu tun habe. Ich weiß, dass diese Haltung eines starken Vertrauens bedarf. Auch dieses finde ich in den Texten der Bibel. Und ich hoffe, dass ich es täglich neu geschenkt bekomme. Und mit Michel aus Lönneberga bin ich der sicheren Überzeugung: was es war, was es bedeutete, was ich da zu erleben habe – davon bekomme ich immer erst im Nachhinein eine Ahnung oder manchmal auch ein Wissen. Leider gibt es keinen Papa mehr, der „Miichel“ schreit – woran man sich dann orientieren könnte.

Zur Veranschaulichung meiner Gedanken und zum Abschluss meiner Silvesterpredigt noch eine Geschichte – von Anthony de Mello mit leichten eigenen Abwandlungen:

Der Priester gab bekannt, dass Jesus Christus selbst am nächsten Sonntag in die Kirche kommen würde. Die Gemeinde kam in großer Zahl um ihn zu sehen. Jedermann erwartete, dass er predigen würde. Jeder bot ihm Gastfreundschaft für die Nacht an, besonders der Priester, aber er lehnte höflich ab. Er sagte, er wolle die Nacht in der Kirche verbringen.

Am nächsten Morgen schlich er sich früh davon, noch ehe die Kirchentore geöffnet wurden. Und zu ihrem Entsetzen entdeckten der Priester und die Gläubigen, dass ihre Kirche mutwillig beschädigt worden war. Überall an den Wänden stand geschrieben: „Gebt Acht!“ Kein Teil der Kirche war verschont geblieben, Türen und Fenster, die Säulen, die Kanzel, der Altar, nicht einmal die Bibel auf dem Pult. „Gebt Acht!“ In großen oder kleinen Buchstaben war es eingekratzt mit Bleistift, Feder, in jeder nur denkbaren Farbe hingemalt. Wohin das Auge blickte, sah man die Worte: „Gebt Acht, gebt Acht, gebt Acht, gebt Acht!“

Erschreckend, aufreizend, verwirrend, faszinierend, furchterregend. Worauf sollten sie Acht geben? Das stand nicht da. Es hieß nur „Gebt Acht!“ In einer ersten Regung wollten die Leute jede Spur dieser Schmiererei, dieses Sakrilegs wegwischen. Nur der Gedanke, dass Jesus selbst es getan hatte, hielt sie davon ab.

Nun begann dieses geheimnisvolle „Gebt Acht!“ in das Innere der Menschen einzusinken, wenn sie die Kirche betraten. Sie begannen auf die Heilige Schrift achtzugeben und lernten daraus für ihren Alltag. Sie begannen auf die Sakramente zu achten und lernten daraus für ein ganzheitliches Leben. Der Priester begann darauf acht zu geben, was die Bedürfnisse seiner Gemeinde sind und wie er mit ihnen in Kontakt kommen könnte. Und jedermann begann auf die eigene Religion zu achten in liebevoller Toeleranz für die anderen Religionen: denn wer nicht Acht gibt wird leicht selbstgerecht. Sie begannen die Gebote zu achten, sodass sie gesetzestreu wurden und barmherzig blieben gegenüber denen, die sich damit schwer taten. Sie begannen auf das Gebet achtzugeben; sie leierten es nicht mehr herunter und entdeckten so die alten Gebte ganz neu. Allmählich verwandelte sich sogar ihre Vorstellung von Gott: indem sie sich bewusst wurden, was sie mit „Gott“ verbanden, erkannten sie Gott immer häufiger außerhalb der Kirche – im Alltag ihres Lebens.

Schließlich schrieben sie das aufrüttelnde Wort über den Eingang ihrer Kirche, und wenn man in der Nacht vorbeifährt, kann man es in mehrfarbigem Neonlicht über der Kirche leuchten sehen: „GEBT ACHT!“

Gebe Gott, dass diese Neue Jahr unsere Achtsamkeit schärft. Gebe Gott, dass unsere Bereitschaft, uns auf Unerwartetes und nicht Vorhergesehenes einzulassen, wächst. Gebe Gott, dass unser Vertrauen alltäglich unsere Ängste besiegt, so dass wir die eigentümliche Färbung der vielen Lebensaugenblicke, die uns noch geschenkt werden, dankbar und innig empfangen dürfen. Gebe Gott, dass aus unseren Augen seine Liebe ausstrahle und unsere Handlungen vom Geist seiner Barmherzigkeit durchweht werden, AMEN.

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Predigt über Lukas 2, 15-20 am 1. Weihnachtsfeiertag 2014

Liebe Gemeinde,

„Weihnachten ist wie frisch gefallener Schnee – er deckt alles zu, aber darunter bleibt alles beim Alten!“

Mit diesem Satz begann vor genau 31 Jahren meine erste Weihnachtspredigt. Ich habe sie hier, an diesem Ort gehalten, natürlich nicht am ersten, sondern am zweiten Weihnachtsfeiertag, wie es sich für einen Vikar geziemt.

Und: natürlich war der Satz provozierend. „Wir lassen uns von Ihnen doch Weihnachten nicht versauen“, wurde mir empört gesagt.

Ja – und heute stehe ich wieder da, halte erneut eine Weihnachtspredigt, diesmal aber bereits am ersten Weihnachtsfeiertag. Eindeutig ein Aufstieg!

Nun ist es ja so, dass die Predigtgedanken zuallererst mit dem Prediger selbst zu tun haben. Im Nachhinein war die damalige nicht sehr besinnliche Einleitung meiner Weihnachtspredigt natürlich meinem eigenen Unmut geschuldet, meinem Gefühl, dass wirkliche Veränderung etwas anderes ist, als frisch gefallener Schnee, der nur zudeckt. Heute würde ich dieses Bild so nicht mehr verwenden: immerhin schützt die geschlossene Schneedecke auch, verhindert das Erfrieren frostempfindlicher Pflanzen, erspart das Anhäufeln von Rosen. So hat Schnee – neben seiner Schönheit – auch sein Gutes.

Das ist doch das Schöne am Älterwerden: es findet auch ein Milder-Werden statt!

Das vorhin gehörte Evangelium, das heute zu predigen ist, handelt von den Hirten. Sie sind es, die gemäß des Lukasevangeliums als erste von der Geburt des Messias erfahren. Von den Engeln erhalten sie die frohe Kunde, dass „heute der Heiland geboren ist“. Unser Predigttext setzt da ein, wo die Hirten beschließen, nach Bethlehem zu ziehen, um sich selbst davon zu überzeugen, was da geschehen ist:

„Und als die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns gehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat.“ (Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. Als sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, das zu ihnen von diesem Kind gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich über das, was ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um und priesen Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.)

Üblicherweise heißt es, die Hirten repräsentieren die Armen: und gerade das sei der Fokus des Lukasevangeliums, dass der Messias den Armen und nicht den Reichen oder den Weisen, dem Establishment zuerst erscheint. Das ist sicher richtig.

Ich möchte aber noch auf etwas anderes hinweisen. Der Hirte ist jemand, der sich in der Natur auskennt. Er lebt in und mit der Natur. Und er ist in erster Linie ein Behüter, ein Bewahrer und Beschützer des Animalischen: seiner Herde.

Ich habe gestern gesagt, dass es die Aufgabe von Josef, der männlich-ernährenden Kraft, ist, die messianische Schwangerschaft von Maria zu beschützen. Er „berührte“ sie in der Zeit der Schwangerschaft nicht, will sagen, er drang nicht ein in die Wachstumsbeziehung in der und aus der heraus der Messias wächst. Ich habe auch gesagt, dass ich die Geschichte von der Geburt des Messias wie einen Traumbericht lese, der von dem seelischen Geschehen der Entwicklung des Messias in uns handelt.

Die Hirten stellen in diesem träumerischen Blick auf Weihnachten ebenfalls Kräfte des Behütens in uns dar. Bei vielen von uns sind diese Kräfte in der Regel schwach entwickelt, da wir verlernt haben, in und mit der Natur zu leben. Die Natur ist ein guter Lehrmeister für Fähigkeiten, von denen wir gefährlicherweise meinen, sie hätten sich erübrigt. Bewahren, behüten, wachsen-lassen – und das Aushalten von Vergänglichkeit! – dies ist viel anstrengender und herausfordernder als Lebensmittel im Supermarkt einzukaufen. Dazu gehört auch das Schlachten der Tiere. Wer von uns würde noch Fleisch essen, wenn er vorher das Tier, von dem das Fleisch stammt, eigenhändig töten müsste?

(Nebenbei: dem AT zufolge ist der erste Mörder der Menschheit, Kain, ein Ackerbauer, der seinen Bruder Abel, den Hirten, erschlägt. Hintergrund ist: dass Gott gnädig auf das Tieropfer blickt – das vegetarische Opfer des Ackerbauers aber ignoriert. Diese Kränkung führt zu dem Mord. Und zugleich wird Kain von Gott behütet und mit dem berühmten Kainsmal „geschützt“! Aber diese Gedanken gehören in eine andere Predigt.)

Wir haben gesagt: die herausragende Kraft der Hirten ist die des Behütens. Hierzu gehört eine weitere Fähigkeit, die ebenfalls recht anstrengend ist: Ab-Warten zu können. Diese Fähigkeit verbindet und entfaltet sich in dem Gefäß der Geduld. Geduld – das „Dulden“ steckt darin, heißt vor allem Anderen: aushalten, dass es so ist, wie es ist, dass ich so bin, wie ich bin, dass der Andere so ist, wie er ist. Dies ist umso schwieriger, je turbulenter es in mir oder im Außen zugeht. Je heftiger die Emotionen, desto herausfordernder ist es, geduldig zu bleiben.

Starke Emotionen verunsichern. Und ängstigen. Unsere Sinne und unser Verstand verleihen uns vermeintliche Sicherheit. Das Erleben von Neuem, das Erleben Gottes, ist nur möglich, indem wir diese Sicherheit im Stich lassen. Der Heilige Johannes vom Kreuz nennt dies die beiden dunklen Nächte: die der Sinne und die des Verstandes.

Von daher stimmt es genau, wenn es heißt: Die Hirten hüteten des Nachts ihre Herde. In der Nacht legen sich unsere Sinne und unser Verstand zur Ruhe. Dadurch sind wir freier für eine andere Art der Wahrnehmung. Die unweigerlich mit Angst einhergeht: „Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie und sie fürchteten sich sehr.“

Man könnte meinen, dass es eigentlich doch etwas sehr Schönes ist, wenn die „Klarheit des Herrn“ um mich leuchtet. „Er lasse sein Angesicht leuchten über uns…“ Ja, das ist der Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit.

Wir brauchen starke Hirten in uns, die unsere Ängste und unsere Unsicherheiten ertragen, um die „Frohe Botschaft“ überhaupt hören zu können. Solange unsere Sinne und unser Verstand uns dominieren, sind wir taub für die Botschaft, dass „uns der Heiland geboren ist“.

Die Hirten in uns sind die Führer und Bewahrer unserer inneren Herde. Sie sind noch wach, während „der Rest, die Herde unserer Gedanken und Empfindungen“ in uns bereits schläft. So stehen sie „zwischen“ unserem Verstand und unseren Sinnen auf der einen Seite und der Botschaft der Engel auf der anderen.

Und während die Herde weiter schläft, setzen sich die Hirten in Bewegung. Sie vertrauen der Botschaft, die da von oben kam, so sehr, dass sie kurzzeitig sogar ihre Herde alleine lassen. Sie beschließen nach Bethlehem zu gehen, „und die Geschichte zu sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat“.

Auch dies geschieht in der Stille der Nacht.

Und dann sehen sie diese Drei, die wir in unseren Krippen nachbilden und nachspielen. Die Keimzelle der Familie: Papa-Mama-Baby – Josef-Maria-und das Christkind.

Und nu? Eine ganz gewöhnliche Familie, könnte man sagen. Wo bitte ist das Besondere?

Oftmals ist das Besondere gerade das Alltägliche, das scheinbar Normale. Erlösung, Gesundung, Heilung geschieht nicht in Superlativen. Jesus Christus ist von Anfang an kein Superheld, kein Herkules, der im zarten Alter von acht Monaten zwei Schlangen erwürgt. Jesus Christus ist einer von uns – wie sollte es auch anders sein, wenn wir ernst nehmen, dass Gott Mensch geworden ist.

Und doch ist er auch der, der uns retten kann, der Messias. Er kann uns retten, indem wir diesen Messias in unser eigenes Leben hinein lassen. Indem wir mit ihm schwanger gehen.

Dazu muss viel Altes zur Ruhe gebracht werden. Die Geburt des Messias geschieht in der Stille, in der tiefen Dunkelheit der Nacht unseres seelischen Erlebens. Und damit geschieht echte Veränderung. Die dunkle Nacht ist der Zeit-Raum für Veränderung, ähnlich der weißem Schneedecke, in und unter deren Schutz neues Wachstum geschieht.

Und so ist es auch stimmig, dass die Hirten es sind, die als Erste die die Botschaft von der Menschwerdung Gottes ausbreiten. Nicht die Mächtigen, nicht das religiöse oder politische Establishment erfahren als erste, was da im Gang ist.

Es sind die Hirten.

Die Mächtigen – Repräsentant König Herodes – reagieren mit Angst und Schrecken. Sie fürchten um den Verlust ihrer Macht.

Auch das stimmt: je inniger und sicherer der Messias in uns geboren wird, desto weniger Einfluss haben die alten Machthaber auf unser Leben. Die alten Machthaber, die uns einreden wollen, wir könnten das Leben kontrollieren, in den Griff nehmen. Herodes veranlasst, alle männlichen Kinder, die nicht älter als zwei Jahre sind töten zu lassen. Macht, Gewalt, Kontrolle – dies sind Geschwister. Dahinter steht Angst, nackte Existenz-Angst.

Und alle, vor die das Wort (der Hirten) kam, wunderten sich über das, was die Hirten gesagt hatten“ heißt es weiter. Das ist sehr neutral formuliert. Sich wundern geht von „so ein Blödsinn!“ bis zu einem neugierigen Erstaunen und Weiterwirken- Lassen. Maria ist die Repräsentantin für Letzteres: „Sie behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen.“

Und dann kehren die Hirten zurück zu ihrer Herde, zu ihrem Leben. Aber als Verwandelte. Sie preisen und loben Gott „für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.“

Liebe weihnachtliche Gemeinde,

im Grunde genommen ist das eine sehr bescheidene Geschichte. Gerade so, wie es zu den Hirten passt. Eine Geschichte, die nicht groß etwas her macht. Am nächsten Morgen ist wieder Alltag. Auch der Alltag eines Hirten macht nicht viel her. Das ist alles wenig spektakulär. So wenig, wie die Geburt eines Kindes.

Und doch haben die Hirten in dieser Nacht etwas erlebt, was sie nie mehr vergessen werden.

Gebe Gott, dass auch wir so eine Nacht erleben dürfen. Eine Nacht, die uns einen Zugang gewährt zu einem Be-Reich, der nicht von dieser Welt ist. Eine Nacht, in der wir erleben dürfen, dass unsere Sinne und unser Verstand nicht das letzte Wort in unserem Leben haben. Dass es etwas gibt, dass etwas geschieht, was dies alles in Frage stellt. Gebe Gott, dass in dieser Nacht in uns der Messias geboren werde, AMEN.

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Weihnachtspredigt 2015 über Matthäus 1, 18-25

Liebe Gemeinde,

das soeben gehörte Evangelium, die Geschichte von der Geburt Jesu, so wie sie im Lukasevangelium uns überliefert worden ist, gehört sicher zu einem der bekanntesten Texte der Weltliteratur. In seinem Schatten steht die Version der Geburt Jesu bei Matthäus; sie ist unser heutiger Predigttext.

Ich lese Ihnen diese Geschichte einmal vor:

Die Geburt Jesu geschah aber so: als Maria, seine Mutter, dem Josef verlobt war, fand es sich, ehe er sie heimholte, dass sie schwanger war von dem heiligen Geist. Josef aber, ihr Mann, war fromm und wollte sie nicht in Schande bringen, gedachte aber, sie heimlich zu verlassen.

Als er das noch bei sich bedachte (nämlich Maria zu verlassen) siehe, da erschien ihm der Engel des Herrn im Traum und sprach: Josef, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen; denn was sie empfangen hat, das ist von dem Heiligen Geist. Und sie wird einen Sohn gebären und den sollst du den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk erretten von seinen Sünden. Das ist aber alles geschehen, damit erfüllt würde, was der Prophet gesagt hat, der da spricht (Jesaja 7,14):

Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein, einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben‘, das heißt übersetzt: Gott mit uns.

Als nun Josef vom Schlaf erwachte, tat er, wie ihm der Engel des Herrn befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich. Und er berührte sie nicht, bis sie einen Sohn gebar, und er gab ihm den Namen Jesus.“

 

Ich möchte mit Ihnen zusammen in meditativer Weise dieser Geschichte nachdenken.

Anders als bei Lukas – wo Maria im Zentrum steht – geht es bei Matthäus um Josef. Dem Vater und zugleich Nicht-Vater von Jesus.

Josef – der „Nährende“ – repräsentiert am Beginn unserer Geschichte die uns vertraute Beziehung des Verstandes zur Wirklichkeit. Unser Alltagsverstand bearbeitet permanent die „Fakten“, die unsere Sinne uns „entgegenbringen“. Wir sehen z.B. etwas, und unser Alltagsverstand verleiht dem eine Bedeutung. Josef sieht, dass seine Verlobte schwanger ist. Da er weiß, dass dies mit ihm nichts zu tun haben kann, muss sie fremd gegangen sein. So die „logische“ Deutung. Unser Verstand ernährt uns, indem er unsere Sinneseindrücke interpretiert. Indem wir bzw. unser Verstand es ist, der „etwas“ (einem sinnlichen „Fakt“) eine Bedeutung verleiht, sind wir es auch, die sich täuschen können. Dies ist schwer erträglich. „Lehre mich die wunderbare Weisheit, dass ich mich irren kann“, betet Theresa von Avila in einem ihrer schönsten Gebete. Das Verharren in Täuschungen ist so was wie „fast food“ für unsere Seele. Es geht schnell, verleiht einen kurzen Kick, ist aber nicht wirklich nahrhaft.

Das Verlassen dieser Täuschungen führt zu Ent-Täuschungen. Die dazu gehörigen Gefühle mögen wir Menschen nicht.-

Josef ist einer, der die Kraft hat, sein Konzept von Wirklichkeit radikal in Frage stellen zu lassen. Josefs Kraft hat damit zu tun, sich verunsichern zu lassen. Wirkliche kognitive wie emotionale Stärke hat damit zu tun, Nicht-Wissen zu ertragen. Nicht-Wissen ist ein frontaler Angriff auf unseren Verstand, auf den wir so stolz sind. Da unser Verstand schlau ist, hat er sich im Laufe unseres Lebens viele Tricks und Strategien ausgedacht, die verhindern sollen, dass er verunsichert wird. Eine der verbreitetsten Strategien ist, das, was mich verunsichert, einfach zu ignorieren.

So etwas wie unsere Träume zum Beispiel. Bevor ich mich verunsichern lasse, behaupte ich einfach, dass Träume keinerlei Bedeutung haben. Irgendwelche nächtliche synaptische Entladungen meines Gehirns darstellen. Und schon habe ich Ruhe vor dem Blödsinn, den ich träume.

Während Josefs Alltagsverstand schläft, erlebt er Neues. Dieses Neue spricht zu ihm wie in einem Traum. Als er erwacht, ist er ein Anderer. Er nimmt das Geträumte ernster als seine ursprüngliche Interpretation der Wirklichkeit. Dazu bedarf es eines tiefen Vertrauens. Von diesem Vertrauen rät uns unser Alltagsverstand dringend ab. Er sagt: Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser.

Erst in der Bewegung des Vertrauens kann Josef eine Stimme hören, die aus einer anderen Wirklichkeit zu ihm spricht. Dies ist die Stimme Gottes, bzw. seines Engels oder Boten. Und indem Josef sich von dieser Stimme berühren lässt, übernimmt er Verantwortung. „Ver-Antwortung“ heißt ja wörtlich: eine angemessene Antwort geben auf diese „andere“ „ungewohnte“ Stimme in meinem Innern. Die Antwort, die Josef gibt, die Verantwortung, die Josef nunmehr trägt, ist die, für Maria und Jesus zu sorgen. Aus seiner Verantwortung entspringt seine Für-Sorge. Fürsorge ist nichts Großes: es genügt, da zu sein und da zu bleiben: als Mann und Vater. Die Gegenbewegung, der erste Impuls von Josef war die Flucht, war der Beziehungsabbruch. „Mit mir nicht!“ Wir Menschen neigen dazu, Wirklichkeit so zu interpretieren, dass wir uns nicht auf sie einlassen, keine Verantwortung und keine Fürsorge übernehmen. Die Gründe hierfür sind unterschiedlich. Josef geht es um die „Schande“. „Schande“ ist mit „Scham“ konnotiert – und sich schämen ist ein so ekelhaftes Gefühl, dass es sehr verständlich ist, alles daran zu setzen, sich dem nicht aussetzen zu müssen. Unser Verstand hilft uns dabei.

Josef lässt sich auf das Neue und Unbekannte ein. –

Josef ist auch ein männliches Prinzip, die männliche Kraft in unserer Geschichte. (In Klammer: sie merken schon: ich lese die Geschichte viel eher wie einen Traum, denn wie eine historische Begebenheit.) Seine nährende Sorge (jasaf heißt im Hebräischen „ernähren“) ist gerichtet auf das weibliche Prinzip in unserer Geschichte: auf Maria. Maria ist das Wachstums-Gefäß: in ihr kann sich der Messias entwickeln und schließlich auf die Welt kommen.

So handelt unsere Geschichte in der Tiefe davon, wie ein Retter, ein Messias in unserem seelischen Erleben auf die Welt kommt. All dies geschieht in uns – all dies sind Traumgedanken eines seelischen Wachstumsprozesses. Hierzu gehört auch die Jungfrauenschaft Marias – natürlich nicht im biologisch-historischen Sinne, sondern im übertragenen: das Gefäß, in dem die Kraft unseres neuen Denkens und Empfindens wächst, muss frei sein von Kontaminierungen des Alten, muss wirklich „neu“ und „unberührt“ sein – und in diesem Sinne jungfräulich. Der männliche Verstand darf hier nicht eindringen; seine Aufgabe ist es vielmehr, diesen Prozess zu bewachen, zu behüten und so zu nähren. Und in diesem Geschehen wächst ein „Gott mit uns“, ein Immanuel, einer, der sein Volk retten wird von seinen Sünden.

Das Volk, das sind die vielen unsortierten und ungeordneten Gedanken in uns, die uns, unser Denken nötigen, gedacht zu werden. Es sind Gedanken, die aus der Todes-Angst des Alleine-Seins quellen. Wir Menschen sind Säugetiere: ohne den Anderen konnten wir in der frühen Zeit unseres Lebens nicht überleben. So entwickeln wir Gedanken, die uns von dieser Angst ablenken. Das Zentrum dieser Gedanken ist die Idee: ich muss unabhängig werden, autark sein. Ich darf niemanden brauchen. (So gesehen ist es kein Zufall, dass das Automobil in kürzester Zeit die Welt eroberte: ist es doch sinnfälliger Ausdruck eines „genialen“ Lebensgefühls: ich bin selbst mobil, kann selbst bestimmen, wohin ich fahre und wohin nicht. (Es sei denn ich stehe im Stau! Oder jemand nimmt mir die Vorfahrt… An den Gefühlen, die kann kommen, lässt sich ablesen, wie wichtig die Auto-Mobilität ist!)

Die „Sünde“ dieses Volkes, dieser Gedanken ist keine moralische Verfehlung. Auto-Fahren ist nicht unmoralisch. Selbst-bestimmt leben genauso wenig. Die Sünde ist genau genommen eine Täuschung: so zu tun, als könnte ich mich und mein Leben aus mir selbst heraus erschaffen. Die Sünde hat damit zu tun, dass ich den Ruf, der an mich geht, der einzig und allein mir gilt, nicht hören kann oder hören will.

Indem der Messias in uns wächst, wächst – bildlich ausgedrückt – ein neues Sinnesorgan in uns. Es ist das Organ der Achtsamkeit, der Verantwortung und der Liebe. Und indem sich dieses neue, messianische Organ in uns vernetzt, nimmt es Einfluss auf unsere Gedanken und in Folge davon auf unser Tun. Mit dem Messias in mir verändert sich mein Leben radikal, von der Wurzel her. Und zwar so, dass ich mich als Teil der großen Gemeinschaft der Lebewesen erlebe. Das Wachsen des Messias in uns macht uns zu sozialen Lebewesen, die die Kraft bekommen, sich, ihr Ego, zurück zu stellen, sich einzugliedern in die Gemeinschaft des Lebendigen.

Leider ist es nun so, dass dieses Wachstum nicht reibungslos und glatt von statten geht. Er geht notwendig einher mit Gefühlen der Verwirrung und des Ver-rückt-Werdens. Diese (unangenehmen) Gefühle sind ein sicheres Zeichen dafür, dass wir mit dem Messias schwanger gehen. Der Messias in uns „ver-rückt“ unsere vertrauten Gedanken, stellt sie in eine ganz neue Ordnung. Und viele uns lieb gewordene Gedanken, die von den Fehlern der Anderen handeln, landen dabei im Papierkorb.

Um dieses Verrückt-Werden und die damit verbundenen Ängste zu überleben bedarf es eines starken Vertrauens in etwas, wofür es keine empirische Beweise gibt. Es bedarf des Vertrauens, einen Weg zu gehen, den ich, den „mein Ich“ nicht sieht.

Dies ist die eigentliche Herausforderung.

Der Heilige Johannes vom Kreuz nennt dies die „dunkle Nacht des Verstandes“.

In dieser dunklen Nacht geschieht unsere Befreiung: in ihr wird unsere Gottferne allmählich verwandelt; zuerst folgen wir Ahnungen, vagen Sternen, die sich allmählich zu einem „Gott mit uns“ verdichten. „Jesus“ heißt wörtlich: „Gott rettet“. Gott rettet, indem er sich verwandelt in einen „Gott mit uns“ (Immanuel). Und je tiefer wir diesem „Gott mit uns“ vertrauen, umso leichter wird unser Weg. Denn wir werden immer tiefer hinein gestaltet, hinein gestaltet in ein „wir in Gott“, bis wir schließlich den Unterschied zwischen uns und Gott nicht mehr erkennen können. „Hier ist es, wie wenn Wasser vom Himmel in einem Fluss oder eine Quelle fällt, wo alles nichts als Wasser ist, so dass man nicht weder teilen noch sondern kann, was nun das Wasser des Flusses ist und was Wasser, das vom Himmel gefallen.“ (Theresa von Avila)

Und hier ist es dann auch, wo wir fröhlichen Herzens sagen können:

Gott ist Mensch geworden! Er will in mir auf die Welt kommen, in dir und in dir und in jedem von uns.

Und genau dies und nichts anderes bedeutet Weihnachten.

Und so ist es auch kein Zufall, dass wir Weihnachten genau da feiern, wo die Nacht am längsten ist.

Gebe Gott, dass wir diese dunkle Nacht von Weihnachten in unserem Leben erleben können, jene Nacht, in der unser Vertrauen und unsere Liebe wachsen und kräftig werden dürfen, in der wir nicht nur heute, sondern auch morgen und übermorgen und an jedem Tag ein Leben führen dürfen, das in der Tiefe getragen ist von einem „Gott mit uns und wir in Gott“, AMEN.

Weihnachtspredigt 2015 über Matthäus 1, 18-25 Read More »

Predigt am 2. Advent 2014 über Lukas 21, 25-33

Die Dunkelheit des Vaters und das Licht des Sohnes und die verbindende Liebe des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

wirkliche Veränderung hat mit dem Durchleben und Durchleiden von Gefühlen der Katastrophe, des Zusammenbruchs zu tun. Dies ist einer der Gründe dafür, dass wir Menschen uns ebenso sehr nach Veränderung sehnen, wie wir versuchen, sie mit aller Kraft zu vermeiden.

Diese nicht sehr erfreuliche Erkenntnis gilt für Gemeinschaften wie für Einzelpersonen. Ohne die „Katastrophe“ der französischen Revolution gäbe es in Europa wohl keine Demokratie. Ohne die „Katastrophe“ des 2. Weltkriegs hätte Deutschland nicht gelernt, demokratisches Denken zu verinnerlichen.

Auch im individuellen Leben sind oftmals die Katastrophen die Vorboten des Neuen.

Man sagt dann umgangssprachlich: „Das war jetzt ein Schuss vor den Bug!“

Unser heutiger Predigttext, das vorhin gehörte Evangelium, beginnt mit solchen Anzeichen einer (kosmischen) Katastrophe: „Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden Angst der Nationen in Ratlosigkeit bei dem Brausen und Wogen des Meeres, und die Menschen werden verschmachten vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen, denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen.“ (V. 25-26)

Liest man den Text in der heutigen Zeit, legt sich die Frage nahe: Gab es damals auch schon eine Klimakatastrophe? Verbunden mit ratlosen Völkern/Menschen?

Unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist es, dass es sich um zeitlos-menschliche, kollektive Fantasien handelt.

Ich denke in unserer Seele liegt eine Fülle ungemalter Bilder/Fantasien bereit. Das Erleben im Außen stimuliert diese Bilder. In Träumen werden sie gezeichnet. Unsere Seele reagiert auf äußere Bilder, versucht sie im Inneren zu verarbeiten, zu verdauen.

Das gilt für Gutes und Schönes ebenso wie für Katastrophales.

Unseren heutigen Predigttext könnte man als Vision des Weltuntergangs bezeichnen. „Apokalypse“. Auch diese Bilder liegen in der Seele von uns Menschen seit Jahrtausenden bereit. Es geht um Zusammenbruch und Zerstörung. Das moderne Wort, das wir hierfür gefunden haben, lautet: „Traumatisierung“.

Dieses Wort will ausdrücken, dass es eine Zerstörung seelischen Lebens gibt, die oftmals irreversibel ist. Irreversibel heißt auch, dass Hilfe nur sehr begrenzt möglich ist. Es gibt menschliche Seelenlandschaften, die derart verbrannt und verödet sind, dass nichts mehr wachsen kann.

Die Hoffnung stirbt zuletzt“ heißt es. Das ist richtig. So gehört zu den Fantasien von Vernichtung und Zerstörung notwendig das Element der Rettung. Die Seele versucht, die im außen erlebte und nach innen gedrungene Zerstörung zu „heilen“. Zu dieser Heilung gehört die Sehnsucht nach einem Retter, einem Messias:

Und dann werden sie den Sohn des Menschen kommen sehen in einer Wolke mit Macht und großer Herrlichkeit.“ (V. 27) Je vernichtender die Katastrophe, desto grandioser die Rettung. Und eine grandiose Rettung braucht einen grandiosen Retter. Von ihm hängt alles ab. Er darf nicht in Frage gestellt werden. Hier liegt übrigens der Grund für die Gewaltbereitschaft jener Religionen, die Rettung direkt mit einer Person verknüpfen. Eine Infragestellung dieser einen Person führt zu einer Infragestellung des ganzen Systems. Also muss die Infragestellung verhindert werden, notfalls durch Liquidierung des Fragestellers. Denn es geht ja weiter: „Wenn aber dies anfängt, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ (V. 28) Der Retter aus den Wolken – er ist die Erlösung derer, die an ihn glauben. Dies darf nicht weiter hinterfragt werden.

Ein wenig überraschend erscheint in diesem ganzen Szenario dann dieses kleine Gleichnis vom Feigenbaum: „Seht den Feigenbaum und alle Bäume an: wenn sie jetzt ausschlagen und ihr seht es, so wisst ihr selber, dass der Sommer nahe ist. So auch ihr: wenn ihr seht, dass dies alles geschieht, wisst ihr, dass das Reich Gottes nahe ist.“

Das ist wie ein kleiner, mildernder Einschub. Wenn die Bäume ausschlagen, wird es Frühling. Aber es ist noch etwas Anderes: der Feigenbaum verweist auf den Baum des Paradieses, auf dem Baum der Erkenntnis. Das Essen von ihm brachte den Tod in die Welt. Durch das Essen von ihm „erkannte Adam sein Weib“: es geschah Sexualität und damit begann die Geschichte vom Werden und Vergehen.

In der jüdischen Tradition ist Erlösung nichts anderes als die Eins-Werdung, die Rückkehr oder Zurück-Bewegung aus der Vielheit. Aus der Zerstreuung. In diesem Zusammenhang ist der nächste Satz zu verstehen: „Wahrlich ich sage euch, dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis es alles geschieht. Himmel und Erde vergehen, aber meine Worte nicht.“ (V. 32-33) Das Wort, die Sprache, die mentale Welt, die Welt des Geistes ist unzerstörbar. Indem der Baum der Erkenntnis sich nicht mehr vom Leben abwendet, – und der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis sind im Unterirdischen ein einziges Wurzelgeflecht, und Sünde bedeutet nicht mehr und nichts anderes, als dieses Wurzelgeflecht zu zerschneiden, zu spalten – wenn der Baum der Erkenntnis und der Baum des Lebens aufeinander bezogen und ineinander verwoben sind – dann geschieht Erlösung!

Hier können wir die tiefe Verwandtschaft zwischen dem jüdischen Denken und dem griechischen „Erkenne dich selbst“ entdecken.

Der Erlöser ist also aus den Wolken herunter zu holen. Herunter auf die Erde, auf unsere Erde. Rabbi Israel von Ruzhin hat das so gesagt: „Die gemeinen Leute glauben, dass der Messias in Gestalt eines Engels vom Himmel hernieder steigen werde. Die Wahrheit ist aber die, dass in jedem Geschlechte der Messias geboren wird. Es kommt nur darauf an, dass ihn die großen Männer (und Frauen) des Zeitalters erkennen und ihm zurufen: ‚Du bist unser Geist, unser Erlöser!‘ Dann wird Gottes Geist über ihn kommen und er wird der Erlöser Israels sein.“

In dieser Geschichte wird der Messias vermenschlicht. Er wird in jedem Geschlechte geboren. Es kommt nur darauf an, ihn zu erkennen, ihn anzuerkennen, und ihm zuzurufen: du bist unser Geist, unser Erlöser.

Ich glaube allerdings nicht, dass dies ein einzelner Mensch jemals sein kann. In jüngster Zeit hat sich Barak Obama für messianische Fantasien geeignet. Auch er musste erfahren und erleiden, wie schwer es ist, gesellschaftlich wirklich etwas zu verändern.

Der Messias ist ein „Geist“. Nicht im Sinne eines Gespenstes, sondern im Sinne einer Kraft. Ein „Geist der Erlösung“. Geist bedeutet auch: der Messias entzieht sich dem Festmachen im Materiellen. Er entzieht sich überhaupt dem Machen. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ – es ist auch nicht in dieser Welt machbar – und doch geschieht es. Wo? „Irgendwo dazwischen´- und jedenfalls anders als erwartet!“

Und weil das so ist, ist die beste Haltung für uns – die wir auf der Erde sind: Geduld. Reifen bedarf der Geduld. Entwicklung bedarf der Geduld. „Habt nun Geduld, Brüder!“ – ist die Botschaft des vorhin gehörten Briefes von Jakobus, und so gehört sie hierher.

Auch Lernen bedarf der Geduld.

Nur Zerstörung bedarf keiner Geduld. Ein Baum der in 200 Jahren gewachsen ist, kann in 20 Minuten gefällt werden. Zerstörung ist machbar! Wir können das! Zerstörung ist nachweisbar. Und sehr effizient. Zerstörung entspricht unserem Zeitgeist viel mehr als Warten, als Geduld-Haben, als Sich-Entwickeln-Lassen. Sie brauchen bloß in unsere Schulen zu gehen, und Sie wissen, wovon ich rede.

Geduld haben“ heißt im Griechischen: makro-thymein: ein großes Gemüt, eine große Seele haben: Eine große Seele kann mehr in sich „halten“ als eine kleine. Sie muss nicht so schnell „überlaufen“ oder „hochkochen“ oder „auslaufen“. Eine „große“ Seele muss auch nicht immer etwas machen – sie hat gelernt besonnen zu handeln. Handeln ist etwas wesentlich Anderes, als mal das Eine mal das andere zu machen.

Wodurch wird eine Seele groß? Indem sie wachsen darf. Und seelisches Wachstum bedeutet an aller erster Stelle: sich selbst liebevoll kennenlernen dürfen. Zweimal zu unterstreichen ist liebevoll: denn meistens beschränkt sich unsere Kenntnis über uns selbst auf Vorwürfe, und „warum hast du nicht“, und „was warst du blöd“ usw. Und in diesem Wachsen-Dürfen löst sich der Druck, der Erwartungs-Druck, der uns niederdrückt. Unsere Häupter erheben sich, erhobenen Hauptes gehen wir unserer Wege. Und in alledem geschieht Erlösung, in alledem kommt der Messias nicht nur auf die Welt, er kommt hinein, in unser Leben, in unseren Alltag.

Das ist die unglaubliche Botschaft des heutigen Sonntags.

Und was ist mit den eingangs genannten Gefühlen der Katastrophe? Haben sich die jetzt in Wohlgefallen aufgelöst?

Noch einmal: es gibt Verwundungen und Verletzungen, die endgültig und nicht heilbar sind. Jedenfalls nicht heilbar in diesem einen Menschenleben.

Aber ein Zweites: es ist merkwürdigerweise so, dass es in uns Menschen einen heftigen Widerstand dagegen gibt, sich selbst liebevoll zu erkennen. Ich vermute, das hat mit den Scham- und Schuldgefühlen zu tun, die zu jeder ehrlichen Selbsterkenntnis unweigerlich dazu gehören. Und meistens haben wir von den Großen, von unseren Eltern und Lehrern auch vorgelebt bekommen, dass zu funktionieren viel wichtiger ist, als einfach da zu sein. Du musst lernen, damit etwas aus dir wird. Du darf nicht nachsichtig zu deinen Fehlern sein, sonst wirst du von den anderen überholt. Fang gar nicht erst an, dich in die Anderen einzufühlen – sonst wirst du über den Tisch gezogen. Und – was wir auch alle kennen: Wachstum ist schmerzhaft: das drückt das schöne deutsche Wort „Wachstumsschmerzen“ aus.

Wenn Sie mögen, können Sie sich in einer stillen Adventsminute einmal fragen: Wer bin ich eigentlich? Kenne ich mich wirklich? Verstehe ich mein Geworden-Sein? Sie können diese Fragen auch zu einem „Du“ hin stellen: Wie viel Einfühlung in den Anderen kann ich mir eigentlich leisten? Wie viel Verständnis für den Anderen bringe ich auf? Wie schnell werde ich ungeduldig? Lasse ich den Anderen überhaupt ausreden? Höre ich ihm zu? Habe ich die Kraft, bei ihm zu bleiben, oder geht es in meiner Antwort gleich wieder um mich?

Wie leicht fühle ich mich ausgebeutet? Und stimmen diese Gefühle auch? Oder sind das meine Vorstellungen und Erwartungen?

Sich ehrlich mit diesen Fragen zu beschäftigen erfordert Mut, Kraft und Geduld. Vielleicht gelingt sogar ein adventliches Gespräch mit ihrem Partner oder Ihrer Partnerin. Oder mit jemand Anderem, einem guten Freund. Wichtig ist die Atmosphäre solcher offenen Gespräche: dass ein Geist der Freundlichkeit und der Annahme weht – und nicht der schneidende Wind des Fehler-Aufzeigens, und was der Andere dringend ändern sollte. In der Anklage und im Vorwurf findet sich kein Messias. Darin findet sich nur mein Besser-Wissen – das den Messias ein weiteres Mal kreuzigt.

Gebe Gott, dass sich der Messias in unseren Alltag hinein ausbreite, dass wir ihm mit unserer Liebe und Geduld entgegen kommen können. Gebe Gott, dass so unsere Selbst- und Nächstenliebe wächst und wir in ihr uns immer sicherer und selbstverständlicher aufhalten dürfen, bis zu unserem seligen Ende AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN.

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Predigt über 2. Korinther 3, 3-9 (2014)

Predigt über 2. Kor. 3, 3-9 am 20. Sonntag nach Trinitatis 2014

gehalten in der Jakobuskirche in Pullach

Die Dunkelheit des Vaters und das Licht des Sohnes und die liebende Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

ich beneide Tiere um die Selbstverständlichkeit ihres Da-Seins. Tiere sind. Sie müssen ihr Tun nicht hinterfragen. Es ist Ausdruck unserer menschlichen Überheblichkeit zu sagen: Tiere sind eben primitiv. Leben nur von ihrem Instinkt gesteuert. Wer sich die Mühe macht, das unglaublich soziale und faire Miteinander-Leben eines Wolfsrudels zu beobachten, wird schnell eines Besseren belehrt. Von wegen primitiv. Da gibt es eine gute Rangordnung, die das Überleben aller – gerade auch der Schwachen gewährleistet. Von so einer guten Ordnung können wir Menschen bestenfalls träumen. Verwirklicht ist sie nicht.

Die Texte des heutigen Gottesdienstes beschäftigen sich mit guter Ordnung. „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist…“ so beginnt unser Wochenspruch aus dem Propheten Micha: Und was ist das? „Gottes Wort halten und Liebe üben und bescheiden gehen vor deinem Gott.“

Das klingt einfach und gut. Und es klingt nicht nur so, sondern es ist auch so. Würde sich die menschliche Gemeinschaft an die 10 Gebote halten, Liebe üben und bescheiden sein – wir könnten ein gutes Leben auf dieser unserer Mutter Erde führen.

Und warum tun wir es dann nicht? Offenbar ist es doch nicht so einfach.

Nun gibt es da die vielen Appelle, dass wir Menschen uns ändern müssen. Die sind so alt wie die Menschheit selbst.

Und dann gibt es die, die meinten sich opfern zu müssen für die Menschheit. Die Märtyrer. Vielleicht auch Jesus selbst.

Viel hat das alles nicht gebracht, wenn man sich die Geschichte von uns Menschen so anschaut.

Gewalt, Zerstörung, Vernichtung scheint einfach zu uns Menschen dazu zu gehören.

Platon nennt es „Todestrieb“.

Ist es also besser zu resignieren? Aufzugeben? Eine verbreitete Form der Resignation ist, so zu leben, dass wir uns von unserer eigenen Lust versklaven lassen: krasse Autos, geile Frauen, muskulöse Männer, Markenklamotten, Markenuhren, Luxushotels, Fernreisen etc. Zusammengefasst: „Hol dir, was Spaß macht!“

Dies ist eine – keineswegs neue – menschliche Haltung.

Wenn ich eben sagte, das ist eine Form der Resignation, so meine ich damit nicht euch Konfis, die Jugendlichen. Zur Pubertät gehört notwendig das Ausleben der eignen Lust. Hinter dem Erleben der eigenen Lust steht nämlich die riesige Entdeckung, auf der Welt zu sein! Es gibt mich! Ich spüre mich! Ich erlebe mich! Pubertät heißt Leidenschaft, an die Grenzen gehen, über die Grenzen gehen. Zur Pubertät gehört das Exzessive, auch das Fanatische. Und zur Pubertät gehört die Entdeckung einer ganz neuen Kraft, die dem Kind fehlte. Diese Kraft hat wiederum mit unserer Tiernatur zu tun: töten zu können und Sexualität leben zu können.

Nun ist es freilich so, dass für die große Mehrheit von uns die Pubertät – jedenfalls rein zeitlich gesehen – eine (kleine) Weile zurück liegt. Ich vermute, unsere Leidenschaften sind milder geworden, das prickelnde Gefühl des Auf-der-Welt-Seins hat sich ein wenig abgeflaut. Unsere Kräfte lassen nach. Stattdessen geht es eher um das Sich-Auseinander-Setzen mit Endlichkeit und Vergänglichkeit, auch damit, zu akzeptieren, wie das gelebte Leben sich entwickelt hat usw.

Ungefähr in der Mitte des Lebens (so zwischen Ende 30 und Ende 40) findet eine bemerkenswerte „Wende“ im Leben statt. Bzw. kann statt finden. Diese Wende hat damit zu tun, sich zurück zu wenden. Zurück zu besinnen. Und zwar darauf, wie wenig Leben sich „machen“ ließ. Unser heutiger Predigttext eignet sich dafür, diese „Wende“ ein wenig Gestalt werden zu lassen. Er steht bei Paulus im 2. Brief an die Korinther, Kapitel 3, Vers 3-9.

Paulus schreibt: „Ist doch offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid, durch unseren Dienst zubereitet, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist, des lebendigen Gottes, nicht auf steinernen Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln, nämlich eure Herzen.“ Das erinnert an den schönen Satz des Propheten Ezechiel: „Ich will euch ein einträchtiges Herz geben und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz wegnehmen aus eurem Leibe und ein fleischernes Herz geben.“

Die christliche Gemeinde ist ein Brief Christi, sagt Paulus. Es geht nicht darum, irgendwelche Dogmen zu erfüllen, oder besonders schlau zu sein. Es geht auch nicht darum, sich „aufzuamseln“ und von einer (gut gemeinten) Aktivität in die nächste zu springen. Es geht um etwas recht Schlichtes: Gott herein zu lassen, herein zu lassen in das eigene Herz. Unser Herz ist nicht nur die Pumpe, die unseren Blutkreislauf in Bewegung hält; unser Herz ist das Organ der Liebe. Indem wir Gott in unser Herz lassen, lassen wir seine Liebe in unser Herz hinein. Dies lässt sich nicht machen. Es ist ein Geschehen, das sich unserem Machen entzieht. Kein Therapeut, kein Pfarrer, kein Arzt – niemand kann da etwas machen. Gott in das Herz hinein lassen geschieht in radikaler Freiheit. „Da ist nichts zu machen!“

So fährt Paulus auch fort: „Solches Vertrauen aber haben wir durch Christus zu Gott.“ Es geht um Vertrauen, dass in mir bzw. im Anderen etwas wächst. Vertrauen heißt wieder: es gibt keine Gewissheit, keine Garantie. Vertrauen ist das Letztmögliche. Mehr geht nicht. Wir haben dieses Vertrauen „durch Christus“. Dies lässt sich auf Jesus beziehen: er hat uns vorgelebt, was es heißt, bis zuletzt, bis in die Stunde radikalen Allein-seins auf Gott zu vertrauen. Es lässt sich darüber hinaus auf „den Christus des Augenblicks“ beziehen. Damit meine ich das Offenbar-Werden dessen, was gerade noch in der unbewussten Tiefe war, das „Auftauchen“ eines „Geistes aus der Tiefe des Seins.“

Dieses Vertrauen ist ein direkter Angriff auf alle Ideen, dass wir selbst etwas in der Hand haben. Das pubertäre Denken ist geprägt davon, selbst etwas in der Hand zu haben, „sich selbst Lust verschaffen zu können“. Dahinter steht der Drang: sich selbst zu spüren. Dies ist unausweichlicher Bestandteil menschlichen Sich-Entwickelns.

Die Gedanken des Paulus wenden diese Ideen. Das Subjekt ist auf einmal nicht mehr mein Ich, sondern Gott: „Nicht dass wir tüchtig sind von uns selber, uns etwas zuzurechnen“ so fährt Paulus fort; „sondern dass wir tüchtig sind, ist von Gott.“ Das hört das pubertierende Ich natürlich gar nicht gerne. Mein Tüchtig-Sein kommt doch aus mir, sagt es und klopft sich selbst auf die Schulter.

(Nebenbemerkung: Das griechische Wort für „tüchtig“ bedeutet so etwas wie: „gut genug sein“. Das ist weit weg von „perfekt sein“ – und nahe bei: „es reicht“. (Winnicott hat dieses „gut genug“ in die Psychoanalyse eingeführt: es sei völlig ausreichend „a good enough mother“ zu sein – perfekte bzw. perfekt sein wollende Mütter hingegen sind gefährlich. 😉

Und weiter sagt Paulus: „Dieser Gott hat uns auch tüchtig (gut genug) gemacht zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.“

Der Buchstabe tötet, wenn er rein mechanisch verwendet wird, muss man hinzufügen. Das Gesetz ist tödlich, wenn es lieblos, rein mechanisch-bürokratisch ausgelegt wird. Dies gilt auch für das vorhin gehörte Evangelium mit dem Spitzensatz: „Was Gott zusammen gefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.“ Seine „tödliche“ Auslegung ist, dass Geschiedene exkommuniziert werden. Wer sich für diese Begründung auch noch auf Jesus beruft, der muss die Botschaft der Liebe und der Vergebung irgendwie missverstanden haben. Es ist doch schon traurig genug, wenn eine Ehe zu Bruch gegangen ist – dafür muss man doch nicht auch noch mit Exkommunikation bestraft werden.

Freilich gilt auch: wir Menschen brauchen Gesetze, weil es nur wenige gibt, denen der Geist Gottes in das Herz hinein geschrieben ist. Diese bedürfen tatsächlich keiner Gesetze. Sie brauchen das „Gott fordert“ nicht, weil sie spüren: „ich kann gar nicht anders als da sein in Beziehung zu meinem Gott, der mich errettet hat“. Sie sagen nicht: „Gott fordert das und das von mir“ – sie sagen: „alles, was ich habe und kann, gehört mir eh nicht, es ist nicht mein Verdienst; so ist es mir die größte Freude, es meinem Gott zu schenken.“

Diese Gedanken finden sich bei den Mystikern quer durch alle Konfessionen. Das ist sehr beruhigend. Keine Konfession, auch nicht wir als Christen, haben „die Wahrheit“ gepachtet! Und andersherum: Wahrheit geschieht da, wo man sie einlässt – egal, welche Hautfarbe, welche Weltanschauung, welche Konfession die Mehrheit hat.

In den folgenden letzten drei Versen unseres heutigen Predigttextes fällt Paulus seiner eigenen Weite und Offenheit in den Rücken. Er preist sein Amt als Apostel: es ist „das Amt, das den Geist gibt“, sagt er und deshalb sei es dem Amt des Mose, das nur die in Stein gehauenen Buchstaben brachte, an Herrlichkeit überlegen. Schade, dass Paulus hier mit einem Mal ins Vergleichen kommt. Auch dies ist eine verbreitete menschliche Eigenschaft, das Eigene herauszustellen, indem man Anderes, Fremdes abwertet. Hierzu gibt es eine schöne Fürbitte von Theresa von Avila: „Lehre mich Herr, an anderen Menschen unerwartete Talente zu sehen, sie zu fördern und verleihe mir die schöne Gabe, sie auch zu erwähnen.“

Hinzu kommt, dass auch Paulus in seinen Briefen nichts anderes macht, machen kann, als Buchstaben zu schreiben. Nicht die Buchstaben töten, sondern die unlebendige Verwendung dieser Buchstaben. So haben wir alle gelernt, dass die 10 Gebote uns sagen, was wir alles nicht „sollen“: „du sollst nicht …“ Die Bedeutung dieses „du sollst nicht“ ist aber eine ganz Andere. Es bedeutet: „Indem du mir, deinem Gott, vertraut hast, habe ich dich aus Ägypten, aus dem Land, in dem du versklavst worden bist, heraus geführt. Und in diesem Vertrauen, in dieser gewachsenen Vertrauensbeziehung zwischen dir und deinem Gott wirst du ein Leben führen, das den 10 Geboten entspricht. Es wird dir ein Bedürfnis sein, diesem erlebten Vertrauen entsprechend zu leben.“

Und so werden die steinernen Herzen in lebendige Herzen verwandelt.

Gebe Gott, dass wir in uns einen Führer finden, der die Kraft hat, uns alltäglich aus dem Land unserer Unfreiheit herauszuführen, der alltäglich unsere Ungeduld und unser Murren geduldig erträgt, der uns nicht beschämt, der uns aber Ernst nimmt in dem, was wir denken, tun und getan haben. Gebe Gott, dass wir so lernen dürfen, unser Herz für seine Liebe zu öffnen. Indem dies geschieht, wird es uns immer selbstverständlicher, alltäglich Gottes Gebote zu halten, Liebe zu üben und bescheiden unserer Wege zu gehen – voreinander und miteinander und vor und mit unserem Gott, AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher und tiefer ist als all unserer Denken und Predigen bewahre unsere Herzen und unser Sinnen in Christus Jesus, AMEN.

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Predigt über Hebräerbrief 13, 15- 16 an Erntedank 2014

Die Dunkelheit des Vaters, das Licht des Sohnes und die verbindende Liebe des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

es ist eine Tatsache, dass es der menschlichen Gemeinschaft nicht gelingt, ihre Mitglieder satt zu machen. Anders ausgedrückt: es ist uns offensichtlich nicht möglich, eine weltweit gültige Wirtschaftsordnung zu etablieren, die insoweit „gerecht“ ist, dass eine Befriedigung basaler menschlicher Bedürfnisse gewährleistet ist: ein Dach über den Kopf und genügend zum Essen und zum Trinken.

In Anbetracht der Hungernden und an Hunger Sterbenden ist der Psalmvers: „Aller Augen warten auf dich, ihre Nahrung gibst du ihnen zu ihrer Frist“ offen für Spott und Hohn. In ihm scheint sich die Wirklichkeit unserer Welt nicht abzubilden. Es scheint niemanden zu geben, der die Gesamtheit der Menschenkinder gut ernährt. So, dass niemand verhungern muss.

Inmitten dieser Wirklichkeit feiern wir Entedank. Singen Lieder wie: „Herr die Erde ist gesegnet von dem Wohltun deiner Hand…“

Hören uns Texte an, die von der Schönheit der Lilien auf dem Felde handeln. Da müssen wir uns nicht wundern, wenn wir als harmlose „Naivlinge“ belächelt werden.

Da ergeht es uns ganz ähnlich wie der Maus Frederik. „Warum sammelst du nicht mit uns?“ beschweren sich die Mäuse. „Du bist faul. Von deinen Sonnenstrahlen und deinen Liedern können wir uns nichts runter beißen.“

Stimmt. Nach diesem Gottesdienst haben wir ganz bestimmt keine gerechte Weltwirtschaftsordnung gefunden.

Wir haben „nur“ einen Gottesdienst gefeiert. Mehr nicht.

Ist das nicht ein bisschen wenig?

Wenn es alles ist, wenn es nur das ist, dann ist es wirklich wenig. Zu wenig. „Seid aber Täter des Wortes…“ steht unter den Orgelpfeifen.

Und: Hätten die Mäuse keine Nüsse etc. gesammelt, dann wären sie allesamt verhungert. Dann hätten auch die schönsten Geschichten nichts genützt.

Es kann also nicht um ein entweder – oder gehen. Wir sollten über das „und“ nachdenken. Martha und Maria. Tätig sein und kontemplativ sein. Sonnenstrahlen sammeln und Nüsse. Arbeiten und Inne-Halten, die Dinge tun und Warten-Können, eingreifen und loslassen. Einatmen und ausatmen.

Auch unser heutiger Predigttext, ein kurzer Abschnitt aus dem Hebräerbrief, stellt diese Verbindung her: In c. 13 heißt es: „So lasst uns nun durch ihn – gemeint ist Jesus Christus – Gott allezeit das Lobopfer bringen: das ist Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen. Gutes zu tun und mit Anderen zu teilen, vergesst nicht! Denn solche Opfer gefallen Gott.“

Es geht um beides, sagt der Autor des Briefes: Lobopfer bringen und Gutes tun. Und Gutes tun heißt: „mit Anderen teilen“ (Wörtlich heißt es koinonia: „Gemeinsinn“!)

Im „Lobopfer“ geschieht das Sich-Lösen. Das Loslassen. Das Loslassen von allem, was nicht so ist, wie ich es mir wünsche. Wie mein Ich es sich wünscht. Mein Ich hat nämlich genaue Vorstellungen davon, wie „es sein sollte“. Und wie der Andere sein sollte, dass er zu meinem Ich passt. Dass mein Ich zufrieden ist.

Das „Lobopfer bringen“ bedeutet, diese Vorstellungen meines Ichs aufzugeben. Zu opfern. Dies ist viel leichter gesagt als getan. Mein Ich ist nämlich ego-istisch. Was soll es auch sonst sein? Es kennt keine „koinonia“, keinen „Gemeinsinn“! Gemeinsinn heißt nämlich, dass das eigene Ich nicht der Mittelpunkt des Geschehens ist. Dass sich nicht alles „um mich“ dreht. Das mag mein Ich gar nicht. Es mag nicht Teil eines größeren Ganzen sein. Es mag sich nicht ein-ordnen – oder gar unter-ordnen.

So verstehe ich Rabbi Michals Auslegung des Wortes von Moses: „Ich stehe zwischen euch und Gott.“: „Nur das Ich, das Empfinden des eigenen Ich, ist die Scheidewand zwischen uns und Gott. Denn Gottes Herrlichkeit ruht nur auf demjenigen, der sich für nichts hält. Das Wort Ich darf Gott allein sagen.“

Und so ist es sehr verständlich, wenn unser Ich diesem ganzen Geschwätz von Gott den Krieg erklärt hat. Und da unser Ich über eine hohe Intelligenz verfügt, gießt es Spott und Hohn über die sogenannten „Gläubigen“.

Nur – was dieses Ich nicht durchschaut, ist, dass es Gott mit einem egoistischen Machthaber verwechselt. Mit einer Art Superman, der alles können muss. Der eine Welt schaffen muss, in der es kein Leid und kein Unrecht gibt. Und da es diese Welt nicht gibt, kann es auch keinen Gott geben. Das gehört auch zu diesem Ich-Denken: was meinem Ich nicht einleuchtet, das gibt es nicht. So einfach ist das. Gerechterweise muss man hinzufügen, dass auch in religiösen Kreisen selbst oftmals Gott mit einer allmächtigen Wunscherfüllungsmaschine verwechselt wird.

Hier ist Meister Eckhart heilsam: „Manche Leute wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen, und wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben,“ sagt er. „Die liebst du wegen der Milch und des Käses und wegen deines eigenen Nutzens. So halten es alle Menschen, die Gott äußeren Reichtums oder inneren Trostes willen lieben; die aber lieben Gott nicht recht, sondern lieben ihren Eigennutz.“

Man könne auch sagen: diese Menschen lieben in Gott ihr eigenes Ich.

Nun ist größte Vorsicht geboten, wenn ich „diese Menschen“ sagen. Eine große Gefahr des Predigens ist, mit dem Zeigefinger auf andere zu zeigen und von sich selbst abzulenken. „Koinonia“, „Gemeinsinn“ bedeutet, dass sich auch das Ich des Predigers in die Gemeinschaft hinein begibt. Auch das Ich des Predigers trennt ihn von Gott.

Es geht um das Loslassen vom eigenen Ich.

Und es gibt sogar einige Gradmesser, die anzeigen, ob und wie jemand auf dem Weg des Loslassens unterwegs ist.

Einer dieses Gradmesser gibt dem heutigen Gottesdienst seinen Namen: er heißt „Dankbarkeit“.

Dankbar sein heißt nämlich anerkennen, dass ich mich nicht selbst erschaffen habe. Dass mir mein Leben geschenkt worden ist. Mein Ich sagt: „Ich wüsste nicht, warum ich für etwas dankbar sein sollte, was mir einfach gegeben worden ist. Was ich vielleicht gar nicht wollte! Oder, das ich so nicht wollte. Über Dankbarkeit können wir reden, wenn etwas so ist, wie ich das auch will.“ Mein Ich sagt: „Hätte ich die Pflanzen nicht gegossen, gedüngt usw., wären sie eingegangen.“

Das ist natürlich ein Trick. Denn wenn etwas so ist, wie mein Ich das will, dann ist es nicht dankbar, sondern sagt: „Tja – das habe ich mir auch verdient. Lange genug habe ich dafür gerackert. Oder: das ist ja das Wenigste, was man erwarten kann…“ Mein Ich sagt: „Das Wachsen und Gedeihen ist in meiner Hand. Ich bin der Gärtner.“ So hat sich mein Ich an die Stelle Gottes gesetzt.

Und was kann man da machen? Nichts.

Das Wunderbare am Dankbar sein ist, dass es sich jedem Machen-Können entzieht. Es ist radikal freiwillig. Wir können uns noch so sehr bemühen, dass unsere Kinder auch schön „danke“ sagen. Danke sagen ist leicht. Und ist weit weg davon, Dankbarkeit zu empfinden, zu fühlen, dankbar zu sein.

Dankbarkeit lässt sich nicht herbei reden und nicht herbei predigen. Und das ist gut so. Dankbarkeit entzieht sich auch unserem verbreiteten „Nützlichkeitsdenken“.

Die verbreitete Frage: „Was bringt mir das? Was habe ich davon?“ läuft hier einfach ins Leere.

Die heiter gelassene Antwort ist: „Nichts hast du davon!“ „Überhaupt nichts!“

Auch das ist eine Versuchung des Predigers, des Ich des Predigers: überzeugen zu wollen. Etwas erreichen zu wollen. „Seht doch ein, dass es besser ist, so und so … (dankbar) zu sein!“ Dahinter steht: „seht doch ein, dass es besser ist so zu leben, wie ich lebe…“

Bei genauerer Betrachtung gibt es kein „besser“ oder „schlechter“. Es gibt im Letzten nur eines: so ist es – und darin sind die Konsequenzen zu ertragen.

Sonnenstrahlen sammeln ist nicht besser als Nüsse sammeln. Beides hat seinen Platz, beides ist wichtig.

Schön ist es, wenn beides in die Koinonia, in die Gemeinschaft eingeht. Das bereichert dann die Gemeinschaft, macht sie stark. Dies geht aber erst, wenn das „Ich“ sich eingliedern kann in eine größere Ganzheit. Wenn es sich selbst nicht mehr absolut, an die Stelle Gottes setzen muss.

Dies alles gilt nicht nur im Außen, sondern auch im Innen. Wer über eine starke innere Gemeinschaft verfügt, der ist nicht gefährdet, sich von einem Diktator (im Innen wie im Außen) verführen zu lassen. Seine Lippen bekennen und preisen den Namen, der das Leben selbst ist. Wir Christen sagen dazu Jesus Christus. Und indem wir dies sagen und wirklich meinen, könnte es sein, dass wir danke sagen und nicht nur sagen, sondern auch spüren. AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN.

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