Predigten

Predigt über 2. Petrus 1, 16-19

Predigt über 2. Petrus 1, 16-19 am letzten Sonntag nach Epiphanias 2014

gehalten in der Thomaskirche in Grünwald (9.2.2014)

Gnade sei mit euch und Friede, von Gott unserem Vater und Jesus Christus unserem Herrn, AMEN.“

Liebe Gemeinde,

Unsicherheit ist ein Zustand, den wir Menschenkinder gar nicht gerne haben. Auf körperlicher Ebene drückt sich Unsicherheit in feuchten Händen, Stottern, Schüchternheit, Erröten, Schwitzen usw. aus. Oder auch in ständiger Unruhe, Hektik und Bewegung. Zur-Ruhe-Kommen-Können hat mit dem Ertragen von Unsicherheit und/oder dem Erleben von Sicherheit zu tun. Ich vermute, dass wir auch deshalb am Sonntag in den Gottesdienst gehen, um so etwas wie Sicherheit zu erleben und vielleicht sogar zu bekommen.

Was verleiht uns Sicherheit?

Die NSA würde antworten: Kontrolle verleiht Sicherheit. Deshalb müssen wir abhören, überprüfen, kontrollieren… „Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser!“ – das stammt übrigens nicht aus Amerika, sondern wird Lenin in den Mund gelegt, was nur sinngemäß stimmt.

Ich möchte Ihnen heute eine ganz andere Sicherheitsstrategie vorschlagen:

Sicherheit entsteht durch das Verbunden-Sein mit Wahrheit.

Auf der Seite der Wahrheit stehen heißt, auf der sicheren Seite stehen.

Und was ist Wahrheit?

Die Wahrheit an sich ist unerkennbar. Erkennbar ist (bestenfalls) „der Glanz der Wahrheit“ eines Augenblicks. Von so einem „wahrhaftigen“ Augenblick handelt unser heutiges Evangelium. Jesus wird vor den Augen seiner Freunde verklärt, ein Glanz umhüllt ihn und eine Stimme ertönt: „Dies ist mein Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe; auf ihn sollt ihr hören.“ (Mt. 17,6)

Nun – falls es diesen Augenblick wirklich gegeben hat – er ist jedenfalls lange vergangen. Fast zwei Jahrtausende liegen zwischen damals und heute. Daran ändert sich auch nichts, wenn es in unserem heutigen Predigttext – einem Brief – heißt: „Denn wir sind nicht ausgeklügelten Fabeln gefolgt, als wir euch kund getan haben die Kraft und das Kommen unseres Herrn Jesus Christus; sondern wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen. Denn er empfing von Gott, dem Vater, Ehre und Preis durch eine Stimme, die zu ihm kam von der großen Herrlichkeit: Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Und diese Stimme haben wir gehört vom Himmel kommen, als wir mit ihm waren auf dem heiligen Berge.“ (2. Petrusbrief 1, 16-18)

Jetzt ist es so; dass der Autor dieser Sätze sich als Petrus ausgibt, unter diesem Namen den 2. Petrusbrief schreibt – sicherlich aber nicht Petrus ist. Ich verschone sie mit historisch-kritischen Argumenten – nur soviel: seriöse katholische wie evangelische Theologie, die nach Kriterien von Vernunft und historischer Wissenschaft vorgeht, ist zu dem übereinstimmenden Ergebnis gekommen, dass dieser Brief nicht von Petrus selbst geschrieben worden sein kann. Das heißt natürlich auch, dass sein Autor nicht auf dem Berg mit dabei gewesen sein kann.

Warum macht jemand so etwas?

Um Sicherheit zu geben. Vermutlich war er ein überzeugter Christ, der mit diesem Brief der Sache des Christentums weiterhelfen wollte.

Jetzt bekommen wir ein Problem: vorhin haben wir gesagt, Wahrheit gibt Sicherheit. Der Verfasser des 2. Petrusbriefes will Sicherheit geben, indem er etwas vortäuscht: er tut so, als wäre er Petrus.

Und das ist ja wohl der größte Vorwurf an uns Christen: dass wir so tun, als ob wir das glaubten, was wir z.B. im Glaubensbekenntnis gemeinsam gebetet haben. Dass wir uns das vormachen, weil es unser Leben leichter mache. Weil wir die „wahre“ Einsamkeit, die Gottlosigkeit des Lebens nicht ertragen würden.

Das hartnäckige Glauben an eine „Illusion“ verleihe uns Christen – so der Vorwurf – Sicherheit.

Nun gibt es in der Tat eine Sicherheit des „als ob“, die viele von uns erlebt haben: ein kleines Kind empfängt Sicherheit über sein Stofftier, das unter keinen Umständen vergessen und auch nicht gewaschen werden darf, oder ein Handtuch oder einen Bettzipfel. Es tut so, als ob dies die Brust der Mutter wäre. Und dies beruhigt.

Später kann aus dem Stofftier dann ein lebendiges Tier werden, bei Mädchen ein Hund oder ein Pferd – bei Jungs wird eher etwas Unlebendiges aber ebenso Sicherheit Spendendes daraus: ein Motorrad, ein Auto usw.

Gemeinsam ist dieser Art Sicherheitsstreben das Anhaften an sinnlichen Dingen. An Materiellem. Mein Haus, mein Auto, mein Bankkonto – das alles kann Sicherheit geben.

Die Sicherheit von der die Geschichte der Verklärung Jesu handelt, ist völlig anderer Art: es ist eine Beziehungssicherheit: „Dies ist mein lieber Sohn…“ Wobei es hier nicht um die Vater-Sohn-Beziehung geht. Es könnte genauso heißen: „dies ist meine geliebte Tochter“ – gesprochen von einer Mutter.

Entscheidend ist: es geht um die Sicherheit in der Beziehung. (Das hebräische Wort für “Wahrheit“ – `ämät – heißt übrigens, wörtlich übersetzt: „Sicherheit in Beziehung“.

Und wodurch entsteht diese?

Wenn wir uns in unserem Text auf die Suche nach Elementen machen, die diese Sicherheit verleihen, so sind das:

  • das öffentliche Bekenntnis: „dies ist mein lieber Sohn“

  • die Art der Beziehung: sie ist getragen von Liebe: „mein lieber Sohn“

  • der Glanz, der Jesus umgibt

  • das Allein-Sein: „sie sahen niemand, als Jesus allein“

Zu den Elementen im einzelnen:

– das öffentliche Bekenntnis. Wir Menschen brauchen offenbar das Bekenntnis unserer Eltern zu uns. Es löst katastrophale Gefühle von Scham über Neid bis Hass aus, wenn dieses Bekenntnis fehlt. Das Unheil von Ödipus gründet darin, dass er sein Herkommen, seine Abstammung nicht wusste. Dies ist sicherlich ein Extremfall. Häufiger, geläufiger ist das Schicksal, dass der Sohn oder die Tochter zwar sicher ist, wer seine Eltern sind, aber unsicher, ob er/sie etwas wert ist, etwas kann. Ob er/sie eine Existenzberechtigung hat, ohne zu etwas zunutze zu sein. Ob er/sie einfach da sein darf – und bereits in seinem/ihrem Dasein willkommen ist. Dies war das große Problem Martin Luthers: wie bekomme ich einen gnädigen Gott? D.h., wie bekomme ich in mir „innere Elternfiguren“, die mir wohlgesonnen sind – vor aller Leistung, vor allem mich über „Werke rechtfertigen müssen“? Kinder und Jugendliche spüren genau, ob es um sie geht oder um Eltern, die sich in ihren Leistungen sonnen wollen. Um Eltern, die in Gegenwart ihres Kindes ihm seine Fehler vorwerfen und in seiner Abwesenheit sich mit seinen Leistungen schmücken. Schlaue Kinder verhindern dies durch vorsätzliche Erfolglosigkeit: sie vermeiden es, ihren Eltern „Stoff“ zu geben, den diese zum Angeben missbrauchen könnten.

– „Mein lieber Sohn!“ „Meine liebe Tochter!“ Glücklich wer in einer Beziehung aufwachsen darf, die getragen ist von Liebe. Mit Liebe meine ich nicht Romantik. Häufig wird Liebe verwechselt mit romantischen Gefühlen. Mit Schmetterlingen im Bauch und Kerzenlicht und Sonnenuntergang. Das ist alles sehr schön, hat was mit Verliebt-Sein zu tun – aber nicht mit Liebe. Eine weitere Gefahr ist, lieben mit brauchen zu verwechseln. Ich brauche dich so sehr, ich kann ohne dich nicht leben – auch dies drückt nicht Liebe aus, sondern – Besitzansprüche. Liebe ist etwas sehr Feines, materiell nicht fassbar, nicht greifbar. Petrus, der Realistische, schlägt vor, Hütten zu bauen – aber darum geht es nicht. Die Architektur der Liebe ist nicht von dieser materiellen Welt, ist aus dem Material dieser Welt nicht baubar. Sie lässt sich nicht „dingfest machen“ oder „in Stein meißeln“. Liebe ist etwas Scheues; wird sie eingesperrt entzieht sie sich.

– So ist es auch mit dem „Glanz“, der Jesus umgibt. Dies ist der sichtbare Ausdruck des sich geliebt Fühlens. Menschen, die sich geliebt fühlen, strahlen Liebe aus – und geben sie weiter. In der Psychologie spricht man vom „Glanz im Auge der Mutter“, wenn sie sich ihres Kindes erfreut. Das ist etwas Ähnliches. Wie schön wäre es, wenn wir Christen diesen Glanz in unseren Augen trügen, um ihn in die Welt hinein zu strahlen. Viel wichtiger, als alles Reden, Predigen, Diskutieren ist unsere Ausstrahlung: sie ist es, die beim Anderen ankommt, die uns glaub-würdig oder eben unglaub-würdig macht.

– „Und dann war Jesus wieder allein.“ Die Fähigkeit allein zu sein ist direkter Ausdruck von innerer Sicherheit. Allein-sein ist etwas ganz anderes als einsam sein. Im Allein-sein wird alles mit einander verbunden, es gibt keine Exkommunikationen mehr. Und im Allein-Sein bleibt alles in guter Ordnung von einander getrennt: es gibt keine Verschmelzung (Konfusionen) mehr. Und in diesem guten Verbunden- und Getrennt-Sein sein wird die Finsternis der Einsamkeit verwandelt in in den dunklen Glanz eines gestirnten Himmels.

Als Wegweiser dieser Verwandlung (Transformation) benennt unser Predigttext das prophetische Wort. Es möge Sicherheit geben im Angesicht der Flüchtigkeit und Nichtigkeit des Augenblickes. So lautet der letzte Satz: „Um so fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen.“

Dies ist die poetische Formulierung für einen nüchternen Sachverhalt: es bedarf eines Führers in Anbetracht der völligen Dunkelheit des Weges zu Gott. Dieser Führer ist das „prophetische Wort“: es ist ein Wort, das in die dunkle Tiefe der unbewussten Bedeutung dessen weist, was „sich gerade zeigt“, was im Zeigen selbst unsichtbar bleibt. Das prophetische Wort ist der Wegweiser hinein in die Wahrhaftigkeit des Augenblickes. Wir stehen in der Gefahr, uns von dem Sichtbaren „ver-führen“ zu lassen: zu meinen, das Sichtbare, das den Sinnen sich Aufdrängende wäre „alles“. So wird die Welt zweidimensional: es entsteht eine flache Welt – eine Welt ohne Schatten, ohne Tiefe, ohne Geheimnisse.

Die Sterne leuchten um so mehr, je abgedunkelter der Himmel ist. Und wenn schon der Morgenstern den nahenden Morgen ankündigt, so kündigt derselbe Stern als Abendstern die heraufziehende Nacht an. Der Morgenstern ist der Abendstern! Der Abendstern ist der Morgenstern!

Eine Gefahr christlichen Glaubens ist es, zu sehr auf das „Licht“ zu blicken. So sehr, dass wir gar nichts mehr sehen – weil unsere Augen geblendet sind.

Die Bewegung des Lebens ist eine ganzheitliche: am Morgen verschwindet die Nacht, am Abend verschwindet der Tag. Beides gehört wesentlich dazu: sonst bleiben wir „im Morgenglanz der Ewigkeit“ stecken. Dann weiß unsere innere Dunkelheit nicht mehr, wohin mit ihr. Dann werden wir rechthaberisch und besserwisserisch. Und sind enttäuscht, dass es auch einen Abend unseres Lebens gibt, an dem sich unser Ich, das wir mit soviel Mühe aufgebaut und kultiviert haben, von uns wieder verabschiedet.

Gebe Gott, dass wir diesen „Werdegang des Lebens“ immer tiefer in uns hineinlassen, mehr noch: dass wir selbst zu diesem Werden und Vergehen werden. Gebe Gott, dass wir die Sicherheit und Leichtigkeit eines Lebens spüren dürfen, das von innen heraus leuchtet: in starker Verbundenheit mit jenem Gott, der dein Leben trägt, der dich in deinem So-Sein willkommen heißt, der nur darauf wartet, die milde Sonne seiner Barmherzigkeit in deinem Leben erstrahlen zu lassen, AMEN.

Und die Liebe Gottes, die unsere Vernunft übersteigt und unsere Sinne in Dunkelheit hüllt, bewahre unser Sehnen und Denken, in Christus Jesus, AMEN.

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Predigt am 4. Advent über Jesaja 52,7-10

Liebe Gemeinde,

je älter ich werde, desto stärker wächst in mir die Überzeugung, dass ich viel weniger weiß als früher. Am meisten wusste ich – oder glaubte ich zu wissen – so zwischen 15 und 25. Dann war noch einmal ein Höhepunkt, als ich begann Psychoanalyse zu studieren. Die Arbeit mit meinen Patienten und meine eigenen alltäglichen Erfahrungen, nicht zuletzt mit meinen Kindern, haben mich in vielen durchaus mühsamen Schritten eines Besseren belehrt.

Die größte Herausforderung war (und ist?) für mich dabei einzusehen, dass weder die mir Nahestehenden noch die mir Ferner stehenden so sind, wie ich sie gerne hätte. Wie sie meiner Meinung nach („und ich meine es ja bloß gut!“) sein sollen. Am wenigstens halte ich es aus, wenn ich jemand anderem entgegen komme, und der das nicht einmal zu bemerken scheint. Wenn ich mir Mühe gebe mit dem Kochen, und doch keine Chance haben gegen Dr. Oetkers Fertigpizza. Wenn ich jemand anderem großzügig die Durchfahrt freihalte und – keinerlei dankbare Rückmeldung bekomme.

Wenn ich mich dann ärgere – und ich kann mich da ziemlich ärgern – dann halte ich das zunächst einmal für völlig normal. Übergangen-werden. Übersehen-werden ist ärgerlich. Noch etwas tiefer: übersehen-werden löst Panik aus. Denn: wir sind Säugetiere. Und wir haben alle eine Zeit erlebt, in der zu langes Übersehen-werden mit Vernichtungsängsten verknüpft worden ist.

Anders ausgedrückt: wenn ich lernen soll zu akzeptieren, dass ich alleine in der Welt stehe und dass ich es nicht in Hand habe, auch wenn ich mir die größte Mühe gebe, ob und wie der Andere auf mich reagiert – wenn ich das lernen will, muss ich irgendwie mit meinen alten Vernichtungsängsten lernen umzugehen.

Und genau das ist die Stelle, warum ich Christ bin. Ich durfte und darf erfahren, dass es eine Kraft, eine Macht, eben „Gott“ gibt, der mich in meinem Allein-Sein aushält. Deutlicher noch: je näher ich diesem „Gott“ komme, je ununterscheidbarer es zwischen mir und Gott wird, desto leichter, desto freier, desto freudiger wird es in mir und (Verblüffung!) um mich herum.

Die Botschaft an diesem vierten Adventssonntag handelt von dieser Freude und Leichtigkeit: „ Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch! Der Herr ist nahe!“ Dies ist das Eingangsportal für heute.

Freuet euch! Der Herr ist nahe“

Wir haben vorhin (als Evangelium) ein Lied gehört, das in poetischer Sprache die „Innen-Ansicht“ dieses Satzes ausdrückt. Das Magnifikat ist das Lied einer Seele, die erlebt: „Der Herr ist nahe!“ Es ist das Lied einer durchlässig gewordenen Seele, die befreit wurde von einem Ich, das den Anderen für die eigene Ich-Sicherheit braucht. Denn das vorhin beschriebene Geschehen: „Ich gebe mir solche Mühe, dann musst du aber auch so sein, wie ich dich haben will“ – ist ja letztlich ein Geschehen, in dem zwei aneinander gefesselt werden.

Diese „Lösung“ der Seele in ihre Freiheit hinein hat zu tun mit dem Sich Lösen von diesem klammernden, zwingenden Ich. Ganz wörtlich übersetzt heißt der Anfang des Magnifikat: „Es erhebt meine Seele Gott, den Herrn“ – und nicht: „Ich erhebe den Herrn“. Welches Ich sollte denn auch in der Lage sein, Gott selbst zu erheben? Luther hat dies erkannt, wenn er den ersten Satz so auslegt: „als wollte Maria sagen: ‚Es schwebt mein Leben samt all meinen Sinnen in Gottes Liebe, Lob und hohen Freuden, dass ich, meiner selbst nicht mächtig, mehr erhoben werde als mich selber erhebe zu Gottes Lob.’“

 

Spüren Sie die Schönheit dieser Worte?

 

In ihnen drückt sich für Maria, und Maria ist ein Bild für „unsere gläubige Seele“ die Bedeutung von Advent aus.

Glücklich, wer so etwas von sich sagen kann. „Meine Seele erhebt den Herrn“ – das ist weder das depressive „ich bin bedrückt und nieder-geschlagen, meine Ängste und Sorgen nagen an meiner Seele“ noch das manisch-euphorische „ich stehe über den Dingen, meine Seele kann fliegen.“

 

Das Erleben der Nähe des Messias drückt sich aus in Einfachheit, Schönheit und Wahrheit. Dies bildet sich auch in dem heute zu predigenden Text ab, einem Wort des Propheten Jesaja (c. 52, 7-10):

JESCHAJAHU

Wie anmutig sind auf den Bergen

die Füße dessen, der (frohe) Botschaft bringt,

der hören lässt: Friede!,

der gute Nachricht bringt,

der hören lässt: Befreiung!

der zu Zion spricht:

Dein Gott trat die Königschaft an!

Stimme deiner Späher,-

sie erheben die Stimme,

sie jubeln vereint,

denn Aug in Aug sehn sie,

wie ER nach Zion zurückkehrt.

Aufjauchzet, jubelt vereint,

ihr Trümmerstätten Jerusalems,

denn ER tröstet sein Volk,

er löst Jerusalem aus.

Entblößt hat ER

den Arm seiner Erheiligung

vor aller Weltstämme Augen,

dass sehn alle Enden der Erde

die Befreiertat unseres Gottes. (M. Buber)

Wie anmutig sind auf den Bergen die Füße dessen, der frohe Botschaft bringt: Frieden!“

Anmutig“ ist ein altes Wort – es bedeutet so etwas wie „Lust erwecken“ auch „Liebreizend“. Luther übersetzt: „Wie lieblich…“

Man sieht es dem Überbringer der Botschaft an – man merkt es an seinem Schritt: er hat eine wirklich frohe Botschaft mitzuteilen: „Friede“! Es ist ein leichter tänzerischer Schritt, nicht der niedergedrückte schleppende Schritt des Denkers oder Grüblers und auch nicht der soldatische Stechschritt der Macht.

Das Lied des Friedens ist weder ein Trauermarsch noch ein Triumphmarsch.

Friede!“

Und damit untrennbar verbunden: „Befreiung“!

Und warum?

Dein Gott trat die Königsherrschaft an.“

Dein Gott – und niemand anders – regiert.

Lass ihn regieren – und du wirst es erleben: Friede – Befreiung – Freude!

Unglaublich, oder?

Was bedeutet das?

Das bedeutet, dass alles „weltliche“ Regieren ein Vorläufiges ist. Wir Menschen können und dürfen das Regiment Gottes nicht ersetzen. Alles was wir können, und das ist zugleich unsere Aufgabe, ist: SEINEN Platz frei zu halten.

Es scheint mir nämlich so zu sein, dass jeder Mensch von seinem inneren „Regiment“, einer inneren ihn leitenden und steuernden Kraft geführt wird.

Bildlich ausgedrückt: jeder von uns hat ein inneres Parlament, in dem diskutiert wird, in dem Entscheidungen getroffen werden, die schließlich im „Außen“ ausgeführt werden. Je unfreier und unfriedlicher wir uns erleben bzw. (was eher der Wirklichkeit entspricht) von unseren Mitmenschen erlebt werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass unser inneres Parlament kein demokratisches sondern ein diktatorisches ist. Das heißt, dass es einen Machthaber oder auch eine kleine Gruppe von Mächtigen gibt, denen es nicht um das Wohl des Ganzen, sondern um das Durchsetzen der eigenen Macht geht. Freie Meinungsäußerung, zuhören, sich Gedanken machen, versuchen anders Denkende und Anders-Handelnde zu verstehen – ist nicht erwünscht.

Dies sind die Feinde der „Königsherrschaft Gottes“. Denn sie wissen: wenn Gott selbst die Macht ergreift, sind sie entmachtet, wird ihre Propaganda durchschaut, zerfallen ihre Lügen zu Staub.

Der Herr ist nah!“ heißt also: der Friede ist nah, die Freiheit ist nah! Friede und Freiheit sind so nah, wie es uns Menschen gelingt, uns von unseren inneren totalitären Strukturen befreien zu lassen. „Zu lassen“: wir können uns nicht aktiv befreien – aber wir können aktiv verhindern, uns befreien zu lassen. Das Verhindern hat mit unerträglichen Gefühlen zu tun, die mir das Erkennen der „ganzen Wahrheit“ macht. Es ist nämlich nur die halbe Wahrheit, dass ich der bin, der es mit den Anderen stets gut meint. Die andere Hälfte ist, dass ich auch der bin, der den Anderen mit seinen Bedürfnissen ignoriert, dass ich der bin, der meint zu wissen, was richtig ist, was sich gehört, was gut schmeckt usw.

Friede und Freiheit beginnen da, wo mein Wissen seine Beschränktheit einsieht und sich nicht mehr selbstherrlich absolut setzen muss. Wo mein Ich lernt, seine eigene Endlichkeit und Vorläufigkeit anzuerkennen. Wo es nicht mehr darum geht, dass mein „Ich“ recht hat.

Die große Frage ist, ob mein inneres Regiment ausgerichtet ist auf die eine unauslotbare und unerkennbare Wahrheit dessen, was gerade geschieht.

Damit ändert sich der Blickwinkel radikal.

Was geschieht gerade zwischen uns. Von außen betrachtet (sinnenfällig) scheint es so zu sein: ich rede – Sie hören zu. Die Innen-Ansicht ist eine ganz Andere. Wofür verwende ich meine Worte? Was will ich damit?

Wofür verwenden Sie meine Worte. Was wollen Sie damit? Kommen wir über diese Worte in Beziehung? Und wenn ja: in welche? Ich hoffe, dass sich meine Worte für weiteres Denken, für Nach-Denken eignen. Ich will ihr Denken anregen – nicht will ich Sie von irgend etwas überzeugen. Und ich will mir Mühe geben, nicht zu enttäuscht zu sein, wenn Sie meine Gedanken nicht bekömmlich finden. Wenn Sie lieber zur vertrauten Fertig-Pizza greifen. Das kann ich dann halt auch nicht ändern.

Indem ich überzeugen will, stehe ich in der Gefahr, mich auf den Platz zu setzen, der IHM, der Gott allein zusteht. Damit entkräfte ich SEINE Herrschaft. Die Königsherrschaft Gottes wird erst da wirksam und glaubwürdig, wo Freiheit entsteht. Freiheit für Ihr anders-denken und anders-sein. Wo Raum entsteht für unser Verschieden-Sein. Wo unser Verschieden-Sein nicht nur geduldet, sondern willkommen geheißen wird.

Unser Text handelt auch von der Rückkehr Gottes „nach Hause“. Sein zuhause ist im Alten Testament die Stadt Jerusalem: „….wie ER nach Zion zurückkehrt“. Übertragen bedeutet das die Rückkehr Gottes in mein Leben. Seine Rückkehr als Herrscher meines Lebens führt zur Entmachtung der Tyrannei meines allmächtigen und allwissenden Ichs. So ist der härteste Gegner Gottes nicht im außen bei den Anders- oder Un-Gläubigen zu suchen und zu finden, sondern im eigenen Inneren. Mein eigenes inneres Regime hat Gott ins Exil gezwungen.

Liebe Gemeinde,

Freude, Friede und Freiheit entstehen und geschehen in der Anerkennung des eigenen Allein-Seins auf dieser Welt. Ein Allein-Sein, das zwar einsam aussieht, sich aber nicht einsam anfühlt. Denn in diesem Allein-Sein wird der Messias geboren. Maria konnte vom Heiligen Geist nur so befruchtet werden, indem sie sich leer gemacht hat. Das bedeutet ihre Jungfräulichkeit: Gott als leeres Gefäß zur Verfügung zu stehen. Diese Leere mag unser Ich ganz und gar nicht. Je näher wir Gott „an uns heran lassen“, desto mehr lösen sich unsere vertrauten Denkmuster, mit denen unser Gehirn angefüllt ist, auf. Am Ende stehen wir mit leeren Händen da, befinden uns, wie der Heilige Johannes vom Kreuz immer wieder betont, in einer dunklen Nacht.

Weihnachten ist das Fest dieser dunklen Nacht.

ich wünsche uns allen einen vierten Adventssonntag voller Freude und ein gesegnetes Weihnachten angefüllt mit Frieden und Freiheit, in dem wir die Dunkelheit Gottes aushalten anstatt uns von blendenden Trugbildern verführen zu lassen. AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all‘ unsere menschliche Vernunft, und die Freude Gottes, die anmutiger ist als all‘ unsere Schönheit und die Freiheit Gottes, die ganzheitlicher ist als all‘ unser Streben nach Befreiung – bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN.

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Predigt über Lukas 8,1-8 am drittletzten Sonntag im Kirchenjahr in der Jakobuskirche in Pullach

Predigt über Lukas 18, 1-8 am drittletzten Sonntag im Kirchenjahr (10.11.2013)

 

Liebe Gemeinde,

 

drittletzter Sonntag“ weist auf Ende hin. Das Ende des Kirchenjahres steht unmittelbar bevor.

Das Zu-Ende-Gehen wird meist mit unangenehmen Gefühlen begleitet. Während „allem Anfang ein Zauber innewohnt“, scheint dem Ende eher Entzauberung, ja Ernüchterung inne zu wohnen.

 

Ende heißt ja auch: „das war’s – es kommt nichts mehr nach.“

 

Ende hat mit end-gültig zu tun. „Es ist vorbei!“

 

Der Sommer ist vorbei.

Die Schule ist vorbei.

Die Jugend ist vorbei.

Der Großteil meines Lebens ist vorbei.

Vorbei heißt – ich kann nichts mehr daran ändern.

Weder an dem Guten, noch an dem Schlechten.

Ich muss mich damit auseinander setzen, dass es so und nicht anders gewesen ist. Was heißt ich muss – ich muss gar nicht.

 

Wenn ich das nicht aushalte – wenn ich mich der Wirklichkeit meines gelebten und erlebten Lebens nicht stellen kann, werde ich davor ausweichen. Bleibt mir nichts anderes übrig, als die Wirklichkeit zurecht zu biegen. Sie mir schön oder wenigstens erträglich reden. Oder sie vergessen. „Glücklich ist, wer vergiss, was doch nicht z ändern ist.“ Operettenseligkeit mit einem Gläschen Sekt. „Ist doch alles nicht so schlimm!“

Oder: „Schwamm drüber!“ „Jetzt nach vorne blicken!“ Die Zukunft soll retten. Wie geht es weiter? Und wenn es nicht mehr weiter geht. Weil die Arbeitslosigkeit endgültig geworden ist, die Krankheit chronisch, das Alter unaufhaltsam?

 

Wenn dann die Schmerzen zu groß, die Verletzungen unerträglich sind, so habe ich keine Möglichkeit, der Wirklichkeit und Wahrheit dessen, was und wie es gewesen ins Auge zu blicken. Als Mahnmal bleiben namenlose körperliche Schmerzen über, die ihres Sinnes beraubt wurden. Die einzige Möglichkeit, die dann noch bleibt, ist, sich zu betäuben.

 

Was haben unsere heutigen Texte dazu zu sagen? Bekommen wir Nahrhaftes zu diesem unerfreulichen Thema? Oder billige Vertröstungen auf eine bessere Zukunft im Jenseits. Religion als Droge?

 

Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils.“ (Der Wochenspruch aus dem 2. Korintherbrief)

 

Für denjenigen, der die Gegenwart nicht aushält, ist der Wochenspruch blanker Sarkasmus. Was soll daran heil sein, wenn es mir schlecht geht? Wenn ich meinen ganzen Trost darauf richte, von einer besseren Zukunft zu träumen?

 

Paulus ist anderer Meinung. Das Ertragen-Lernen des Hier und Jetzt macht stark. Nicht die Flucht davor. „Der wichtigste Augenblick ist immer die Gegenwart“, sag Meister Eckehart.

 

Aber was ist: wenn die Gegenwart zuviel ist? Wenn sie unerträglich wird? Wenn man nur noch schreien könnte? Wenn man in der Nacht von entsetzlichen Albträumen gequält wird? Wenn man das Gefühl hat, nicht mehr schlafen zu können? Wenn die Zeit zerstört, der Raum vernichtet ist? Wenn es nur erstarrte, dunkle, kalte Ewigkeit gibt? Gepaart mit dröhnenden Schmerzen.

 

(Dann ist es Zynismus zu sagen: „Siehe, jetzt ist der Tag des Heils…“)

 

Das Problem ist die Unerreichbarkeit. Je mehr sich jemand zurück gezogen hat, desto unerreichbarer hat er sich gemacht. Für ihn bleiben auch so starke Sätze, wie: „Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn; ob wir also leben oder sterben, wir sind des Herrn…“ (Lesung: Röm14,7-9) hohle Formeln.

 

Menschen, die sich „unerreichbar“ gemacht haben, sind für ihre Mitmenschen nur schwer erträglich. Und je bedürftiger ich bin, je angewiesener ich darauf bin, den Anderen zu erreichen, desto unerträglicher ist es. Kinder wissen intuitiv, ohne wahrgenommen zu werden, können sie nicht überleben. Der Kampf darum, den anderen zu spüren, von ihm etwas zu „bekommen“ kann für Kinder ein Überlebenskampf sein. Kinder, die das Gefühl haben, ich kann meinen Papa, ich kann mein Mama nicht erreichen, kämpfen mit Gefühlen entsetzlicher Verzweiflung. Sie kämpfen ums seelische Überleben.-

 

Unser heutiger Predigttext handelt von einer Beziehung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass zwei unerreichbar füreinander sind. Der einzige Ausweg ist der Gedanke an Gewalt. Gewalt als letzter Ausweg dafür, dass der andere mich wahrnimmt. Leider auch heute noch gar nicht so selten. Unser Text ist ein Gleichnis aus dem Lukasevangelium, das Gleichnis vom ungerechten Richter oder – wie es auch heißt – von der bittenden Witwe:

 

1 Er sagte ihnen aber ein Gleichnis, dass sie allezeit beten und nicht nachlassen sollten. 2 Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen. 3 Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher. 4 Und er wollte lange nicht. Danach aber dachte er bei sich selbst: Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue, 5 will ich doch dieser Witwe, weil sie mir soviel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage. 6 Da sprach der Herr: Hört, was der ungerechte Richter sagt! 7 Sollte da Gott nicht auch Recht schaffen seinen Auserwählten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er’s bei ihnen lange hinziehen? 8 Ich sage euch: er wird ihnen Recht schaffen in Kürze. Doch wenn der Menschensohn kommen wird, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden?“

 

Das sind alle beide keine sympathischen Typen, die uns in diesem Gleichnis vorgestellt werden. Auf der einen Seite eine Witwe, die wohl in aufdringlichster Weise dem Richter auflauert, ihn versucht zu nötigen, sich an keine Instanzen und an keinen Rahmen hält. Womöglich scheut sie nicht einmal davor zurück, dem Richter „eine zu scheuern“, wenn er nicht endlich tut, was sie erwartet. Es ist keine „bittende“ Witwe, sondern eine „stalkende“ Witwe, würde man heute sagen.

 

Auf der anderen Seite ein egozentrischer Richter, dem Gott und die Menschen gleichermaßen egal sind. Selbstgerecht um sich zu kreisen – das scheint alles zu sein, was ihn auszeichnet.

 

Beiden Menschen fehlt eine wesentliche Fähigkeit, über die allererst so etwas wie „Menschlichkeit“, „menschliche Wärme“ in die Welt kommt: die Fähigkeit, sich in den Anderen (hinein-)zufühlen. Der Richter interessiert sich überhaupt nicht für die Bedürfnisse der Anderen. Die Witwe auch nicht. Sie will nur eines: „ihr Recht bekommen“. „Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher!“

 

In beiden Menschen ist Raum zerstört. Es gibt keinen Denk-Raum, innerhalb dessen Verbindungen hergestellt werden können: kein Bemühen, die andere Seite zu verstehen, sich in den Anderen einzufühlen.

 

Nun verwendet Jesus dieses Gleichnis merkwürdigerweise nicht dafür, die Bedeutung der Wahrnehmung des Anderen, der Einfühlung in den Anderen herauszustellen. Vielmehr heißt es: „Jesus sagte ihnen ein Gleichnis darüber, dass sie allezeit beten und nicht nachlassen sollen.“

 

Werden wir also dazu aufgerufen, Gott zu nötigen, ihn zu bedrängen, ihm in den Ohren zu liegen? Dann wäre ja Gott so ähnlich wie der Richter. Der, wenn überhaupt, aus Angst Recht schafft.

 

Sollen wir so beten? Sollen wir zu Gott sagen, wenn du dich nicht endlich für mein Recht einsetzt, dann schlage ich dir ins Gesicht?

 

Wohl kaum.

 

Was sollen wir dann aus dem Gleichnis lernen? Es ist gesagt worden, dass die Witwe für die Armen und Benachteiligten steht, dass Lukas diese ermuntert, zu Gott zu schreien – und dass Gott sich gerade ihrer annimmt. Lukas – der Evangelist der Armen. Diese Deutung mag historisch korrekt sein – aber berührt sie uns Heutige? Hier, im reichen Pullach?

 

Mich berührt sie jedenfalls nicht. Und es ist ganz sicher kein Gleichnis, das mich dazu bewegt, meine Praxis des Betens zu überprüfen. Es schreckt mich eher ab. Und ich kann die Stimmen gut verstehen, die sagen, dass man daran sieht, wie veraltet das NT ist.

 

Mich ärgert es übrigens auch, wenn ich genötigt werden soll. Ich kann auch gegenüber der Witwe keine Sympathie empfinden. So wenig, wie ich Sympathie empfinden kann, wenn mich jemand mit dem Kauf eines Zeitungsabonnements bedrängt oder jemand Sturm läutet, um mir zu sagen, dass er/sie Hunger habe, aber mich ganz böse anschaut, wenn ich dann etwas zu essen anbiete – und kein Geld.

 

Auf der anderen Seite ist es keine Frage, dass das (zu) große Gefälle zwischen arm und reich auf Dauer katastrophal ist, und zwar nicht nur für die Armen, sondern genauso für – uns: die Reichen.

 

Aber darum geht es jetzt nicht. Die große Frage ist: wie geschieht Veränderung. wie kann es gehen, dass jemand seine verhärteten Positionen, seine Vorurteile über sich und die Anderen in Frage stellt, dass jemand beginnt, sich in den Anderen, in das „Fremde“ einzufühlen?

 

Jesu Vorschlag lautet: über unablässiges Beten. Dasselbe rät Paulus den Thessalonikern: „Betet ohne Unterlass!“ (1. Thess. 5,17) Aber wie soll das gehen? Soll die Witwe beten: Lieber Gott mach’, dass der ungerechte Richter mir endlich recht gibt? Oder der Richter: Lieber Gott, befreie mich von der Witwe, mach dass sie verschwindet – wie, ist mir egal? Dies ist ein Missbrauch des Gebets. Eine Verwendung des Gebets, das noch einmal betoniert, dass es kein Verständnis für den Anderen gibt.

 

Dies kann Jesus schwer gemeint haben. Wenn man sich seine Gebete anschaut, dann handeln die vom Loslassen. „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe…“ Und der Beter will nicht Gerechtigkeit, sondern er betet um Vergebung: „wie ich vergebe meinen Schuldigern…“

In solchen Gedanken, in solchen Gebeten geschieht „Heil“. Das heißt: wird etwas „heil“, etwas, was zerbrochen war, wird „ganz“.

 

Betet ohne Unterlass“ heißt also: betet dafür, dass ihr lernt loszulassen davon, euch um euch selbst zu drehen. Wer sich um sich selbst dreht, der hält sich für den Mittelpunkt der Welt. Gleichzeitig – und das ist die Tragik dahinter – ist er blind für sich: er spürt sich nicht, kann sich selbst nicht wahrnehmen, kann sich auch selbst nicht berühren. Und wer sich selbst nicht berühren kann ist auch für andere unberührbar geworden.

 

So sind der Richter und die Witwe Repräsentanten von sehr, sehr einsamen Menschen. Die in der Tiefe ihrem Hass auf das Leben ausgeliefert sind. Und den Anderen als Bestätigung dafür verwenden, dass ihr Hass in jedem Fall berechtigt ist.

 

Das Einzige, was ihnen helfen könnte, ist die Fähigkeit, sich selbst, das eigene Denken in Frage zu stellen. Sich selbst zu relativieren. Und genau dazu sind sie nicht in der Lage. Sie wollen/müssen an ihrem Hass festhalten – er scheint das einzig Verlässliche zu sein. Das ist ja der große Vorteil des Hasses: dass er Trennung unmöglich macht. Der Richter und die Witwe sind im Hass untrennbar aneinander gebunden. Solche Beziehungen sind die Hölle auf Erden. Aber noch schlimmer scheint die Vorstellung der Trennung, des Loslassens zu sein. Das muss man hinzu nehmen, um zu verstehen, weshalb Menschen sich in grausamsten Beziehungen aufhalten.

 

Von daher kann ich das Gleichnis nur so verstehen: betet ohne Unterlass, damit ihr nicht in einer derartigen Hassbeziehung erstarrt, wie es zwischen Richter und Witwe geschehen ist. Dazu gehört dann auch das vorhin gehörte Evangelium: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch!“ Oder auch: „Das Reich Gottes ist mitten unter euch!“

 

Das Reich Gottes geschieht da, wo Menschen loslassen können von ihrem Hass und lernen, die Wirklichkeit anzunehmen. Es ist ein Problem der Wahrnehmung des Anderen und der Einfühlung in den Anderen. Den Anderen kann „Ich“ erst wahrnehmen, wenn ich irgendwie mich von mir selbst distanzieren kann. Wenn ich den Anderen nicht mehr dafür brauche, meinen Hass und all das Andere Unangenehme, das ich in mir habe, aber bei mir nicht wahr haben will, beim Anderen unter zu bringen.

 

Ganz konkret heißt das: immer wenn der Ärger über den Anderen in mir hoch kochen will, bete ich: „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner!“ Oder auch: „Erbarme dich seiner!“ Damit nehme ich meinem Hass die Spitze.

 

Oder wenn ich meinen Hass auf mein Alt-Werden spüre und meinen Neid auf die Jugend. „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner!“

 

Sie werden sehen – es funktioniert. Aber es funktioniert natürlich nur, wenn ich mich von meinem Hass distanzieren will. Solange ich ihn liebe, gibt es gar kein „Dran-Denken“, meinen Hass zu verwandeln. Im Gegenteil: es macht ja auch noch heftige Lust- und Triumphgefühle, dem Anderen eine reinwürgen zu können. Es ihm mal so richtig zeigen zu können, „wo der Bartl den Most holt!“

 

Anstatt diese Gefühle auszuleben – ihnen Einhalt zu gebieten; anstatt über den Anderen zu triumphieren „unablässig zu beten“: erscheint als ziemlich dämlich.

 

Aber ein paar so Dämliche findet man immer wieder. Meister Eckehart gehört dazu. „Die wichtigste Zeit ist der Augenblick.“ Und es heißt weiter: „Und der wichtigste Mensch ist der, der dir gerade gegenübersteht. Und das notwendigste Werk, das stets zu üben ist, ist – zu lieben.“

Wobei „lieben“ nicht heißt, dem Anderen (oder sich selbst) alles durchgehen zu lassen und so zu tun, als wäre nichts. Lieben heißt zunächst einmal: ich nehme wahr, ich nehme ernst, ich bin aufmerksam: für das was in mir vorgeht und für das, was ich beim Anderen beobachte. Und wenn ich wahrnehme, dass dies etwas Destruktives ist, dass ein Missbrauch geschieht, dann heißt „lieben“: Einhalt gebieten, Grenzen ziehen. Es kann ein Akt erkennender Liebe sein, sich zu trennen. Wissend: ich tue mir selbst und dem Anderen nichts Gutes, zu allem Ja und Amen zu sagen.

 

Dass wir in diesem Sinne lieben lernen, dass wir immer tiefer in diese Haltung wahrnehmender Liebe fallen und aus ihr heraus unser Alltag sich gestaltet – darum lasst uns wirklich beten – ohne Unterlass, AMEN.

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Predigt am 23. Sonntag nach Trinitatis in der Petruskirche über Mt. 5, 33-37

Predigt am 23. Sonntag nach Trinitatis in der Petruskirche über Mt. 5, 33-37

(3. November 2013)

Die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

Klarheit beruhigt. Sie ordnet ein. In ihr entstehen gute, dem Leben dienende Verbindungen: „Gebt dem Kaiser, was ihm zusteht, gebt Gott, was diesem zusteht.“

So einfach ist das.

Bis heute. Nur anstelle von Kaiser sagen wir heute: „Staat“. Gib dem Staat, was ihm zusteht und gib Gott, was Gott zusteht.

Bleiben wir kurz bei dem ersten Satz: gib dem Staat, was ihm zusteht. Das, was dem Staat zusteht, nennen wir „Steuer“. Die ursprüngliche Bedeutung von „Steuer“ ist laut Duden: „Stütze, Unterstützung, Steuerruder.“ Also eine Vorrichtung, die das „Rudern“ in eine bestimmte Richtung unterstützt. Die vermeidet, plan- und orientierungslos „herum zu dümpeln“ – um eine weiteres Bild aus dem Bereich Schifffahrt zu verwenden. Indem wir unsere Steuern bezahlen, unterstützen wir unseren Staat. Und indem wir dies tun, unterstützen wir letztlich uns selbst und zwar als soziale Gemeinschaft. „Wir sind der Staat!“

Wer Steuern hinterzieht, betrügt an der Oberfläche die Gemeinschaft; in der Tiefe betrügt er sich selbst. Bekannte Ausreden, wie: „Ich sehe nicht ein, dass ich einem Staat, der dies und jenes macht oder unterlässt, mein Geld gebe…“ oder: „Sollen doch die da oben erst einmal anfangen, sich an Ordnungen zu halten…“ sind kindisch. Wer so denkt, weigert sich, Verantwortung zu übernehmen.

Zum zweiten Satz: „Gib Gott, was Gottes ist“. „Was ist Gottes“? Was steht ihm zu. Welche „Steuer“, welche „Unterstützung“?

Darauf gibt es natürlich vielfältige Antworten. Mit einer Antwort haben wir uns heute näher zu beschäftigen: sie steht im heutigen Predigttext, aufgezeichnet bei Matthäus Kapitel 5, Vers 33 bis 37:

33 Ihr habt weiter gehört, dass zu den Alten gesagt ist (3. Mose 19,12; 4. Mose 30,3): ‚Du sollst keinen falschen Eid schwören und sollst dem Herrn deinen Eid halten.’ 34 Ich aber sage euch, dass ihr überhaupt nicht schwören sollt, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Thron; 35 noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel seiner Füße; noch bei Jerusalem, denn sie ist die Stadt des großen Königs, 36 Auch sollst du nicht bei deinem Haupt schwören; denn du vermagst nicht ein einziges Haar weiß oder schwarz zu machen. 37 Eure Rede sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.“

Die Antwort Jesu auf die Frage: „Was ist Gottes, was steht ihm zu?“ ist also eine radikal negative: nichts von dem, auf das du dir etwas einbildest, auf das du stolz bist, nichts von deiner Eitelkeit erfreut Gott. Hier kommt unser Wochenspruch ins Spiel, der auf das radikale „Anders-Sein“ Gottes abhebt: „Dem König aller Könige und dem Herrn aller Herrn, der allein Unsterblichkeit hat, dem sei Ehre und ewige Macht.“ (1. Tim. 6, 15f.)

Bei diesem „König aller Könige“ zu schwören ist schlicht – unmöglich. Gott zu geben, was Gottes ist, bedeutet: sein radikales Anders-Sein zu ertragen und nicht zu versuchen, es in unsere eigenen, selbstgestrickten Machenschaften hinein zu verwickeln. Abgesehen davon, dass wir es gar nicht können: es steht uns Menschen auch nicht zu, der Ehrlichkeit unserer Rede durch einen Schwur bei Gott zusätzliches Gewicht zu verleihen. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen“, soll Martin Luther seinem Kaiser auf dem Reichstag zu Worms gesagt haben. Das ist ebenso klar wie bescheiden. Nicht: „ich schwöre bei Gott, dass meine Rechtfertigungslehre richtig ist“ – nein: „ich kann nicht anders – Gott helfe mir…“ Das ist nahe bei: „In deine Hände befehle ich meinen Geist…“

Noch tiefsinniger hat es Rabbi Michal von Zlotschow in einer chassidischen Geschichte ausgedrückt. Er deutet eine Stelle aus dem 5. Buch Mose, wo Moses sagt: „Ich stand zwischen IHM, den Herrn und euch…“ (um die 10 Gebote zu empfangen) so um: „Nur das Ich, das Empfinden des eigenen Ich, ist die Scheidewand zwischen uns und Gott. Denn Gottes Herrlichkeit ruht nur auf demjenigen, der sich für nichts hält. Das Wort ‚Ich’ darf Gott allein sagen.“ (Bloch S. 75)

Das ist (nicht nur) für unsere Zeit und unsere Gesellschaft schwer erträglich. „Unter’m Strich zähl ich“, heißt der Slogan einer großen Bank. Damit wird ein Lebensgefühl ausgedrückt. Unser Lebensgefühl. Und stimmt es nicht wirklich: brauchen wir nicht ein starkes Ich, das Verantwortung tragen, das sich hinstellen kann. „Hier stehe ich…“

Keine Frage: Ein spirituelles Ich ist ein starkes Ich. Denn nur ein starkes Ich kann sich loslassen. Nur ein starkes Ich ist ein Ich, das sich selbst nicht in den Mittelpunkt stellen muss. Es ist gerade nicht ego-zentrisch. Es kreist gerade nicht um sich. Es weiß sich vielmehr als Teil eines größeren Ganzen. Und darin weiß es um seine Grenzen. Wir können zwar Haare färben – aber wir können nicht ein einziges weißes Haar in ein schwarzes Haar verwandeln. Der Slogan eines spirituellen Ich lautet: „Unter’m Strich zählt – es“ Es – das ist im jüdischen Glauben ER, der unerkennbare Gott, es, das ist im Zen-Buddhismus die Kraft des „es ist nichts“.

Ein starkes Ich ist ein demütiges Ich. Es weiß, wie wenig es wirklich weiß. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, hat einer der großen Denker, Sokrates, am Ende seines Lebens bekannt. Ein starkes Ich hält sein eigenes Unwissen aus und versinkt darob nicht in Depression. Im Gegenteil: indem es lernt, sich zurück zu stellen, Rück-Sicht zu nehmen, gelangt es zu einer inneren Ruhe, die es vorher nicht kannte. Alte, wohl-vertraute Hektik und Getriebenheit lösen sich „in Nichts“ auf: die Zeiten, in denen „Ich mich selbst beweisen musste“ verlieren an Bedeutung.

Heitere Gelassenheit beginnt zu wachsen. Dies alles geht freilich nicht so schnell und einfach, wie ich das hier im Zeitraffer zusammenfasse. Es ist ein langer Entwicklungsprozess der – wenn wir Glück haben und Gott uns gnädig ist – zu einer Weisheit des Alters führt, die dann in Sätze münden kann, wie der von Herrmann Hesse: „Je älter ich werde, desto mehr freue ich mich.“ Oder der von Johann Heermann: „… vor Sünd’ und Schanden mich bewahr, dass ich mit Ehren trag all’ meine grauen Haar.“

Zu schwören ist Ausdruck von Unsicherheit. Im Schwur wird nicht „der Wahrheit die Ehre gegeben“; stattdessen wird die Wahrheit an ein „beteuerndes Ich“ gefesselt. Schwören ist Ausdruck von „so glaube mir doch!“ – und nicht: „lass uns gemeinsam unsere Knie vor der Wahrheit beugen“. Das Schwören versucht den Anderen zu meinen Beteuerungen „herüber zu ziehen“. Dies aber ist Ausdruck eines schwachen Ich, das sich nach „Verschmelzung“ sehnt.

Gier, Geiz, Neid und die dazugehörigen Beteuerungen und Schwüre, dass alles ganz anders war, niemand abgehört worden ist, und wenn, dann dies ein großes Versehen war … all’ dies sind Ausdrücke eines schwachen Ich. Ein schwaches Ich ist ein ängstliches Ich, das sich von seiner Umgebung bedroht fühlt.

Ein schwaches Ich denkt in Misstrauen, Angst und Kontrolle, ein starkes Ich denkt in Vertrauen und Sicherheit.

Nun ist es auch eine Täuschung zu meinen, Misstrauen und Angst ließen sich so überwinden, dass es sie nicht mehr gibt. Misstrauen, Angst, Kontrollstreben und die daraus sich ergebenden Strebungen von Neid, Gier und Egozentrik gehören zum Leben dazu. Sie haben mit unserer Triebnatur, unserem Leben und Überleben-Wollen zu tun. Die Geschichte ist voll von Schwüren und Ehrenwörtern, die nicht der Wahrheit entsprachen. Dahinter steht ein Ich, das der Wahrheit ausweicht. Es bedarf eines starken Ich, um der Wahrheit gewachsen zu sein. Ein schwaches Ich kommt um vor Schuld und Scham, wenn „die Wahrheit ans Licht“ kommt.

Wir haben vorhin gesagt: Klarheit beruhigt. „Gebt dem Staat, was des Staates ist, gebt Gott, was Gottes ist.“

Jetzt haben wir auch eine Ahnung davon bekommen, wie beunruhigend das ist, was hinter dem Satz: „Gebt Gott, was Gottes ist“, steckt.

Es bedeutet das Loslassen unserer vertrauten Muster und Gewohnheiten. Es bedeutet das Loslassen von einem Ich, das in der Täuschung lebt, es hätte alles im Griff, könnte das eigene Leben kontrollieren und das der Mitmenschen auch noch.

Von wegen! Was wir als Katastrophe erleben, was unser Ich als Katastrophe erlebt, ist ja nichts anderes als die Anerkenntnis, dass etwas geschehen ist, mit dem „ich“ überhaupt nicht gerechnet habe. Das mir vor Augen führt: Unterm Strich zählt, was ich zu erleben habe. Ob es meinem Ich gefällt oder nicht.

Das Gesagte gilt natürlich auch und gerade für uns, die wir Kirchgänger sind.

Die große Frage ist: mit welcher Haltung besucht mein Ich den Gottesdienst?

Hierzu gibt es eine kleine Geschichte von Baalschem – dem Gründer der chassidischen Bewegung:

Der Baalschem blieb einst an der Schwelle eines Bethauses stehen und weigerte sich, es zu betreten. ‚Ich kann nicht hinein’, sagte er. ‚Es ist ja von Wand zu Wand und vom Boden bis zur Decke übervoll der Lehre und des Gebets, wo wäre da noch Raum für mich?’ Und als merkte, dass die Umstehenden ihn anstarrten, ohne ihn zu verstehen, fügte er hinzu: ‚Die Worte, die über die Lippen der Lehrer und Beter gehen, kommen nicht aus einem auf den Himmel ausgerichteten Herzen, steigen nicht zur Höhe auf, sondern füllen das Haus von Wand zu Wand und vom Boden zur Decke.’“

Gebt Gott was Gottes ist:

Ein auf den Himmel gerichtetes Herz, Füße, die sich vom Boden der Wirklichkeit tragen lassen, Knie, die sich vor der zu erlebenden Wahrheit beugen, in Ehren getragene graue Haare und ein Ich, das dafür Sorge trägt, dass dies alles in guter Gemeinschaft geschieht, AMEN.

Und die Liebe Gottes, die höher ist als unser menschliches Reden und Denken bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN.

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Predigt über Johannes 4,19-26 am Israelsonntag 2013 in der Apostelkirche in Solln

Predigt über Johannes 4, 19-26 am Israelsonntag 2013 in der Apostelkirche Solln

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und Christus Jesus unserem Herrn, AMEN.

„Meine Lieben, es tut mir leid dies sagen zu müssen, aber niemand hat bis jetzt begriffen, dass Ödipus nicht von der Aufdeckung der Wahrheit, sondern von ihrer Vertuschung handelt. Alle wissen von Anfang, wer Ödipus ist, und alle verschließen sich davor. Genau wie bei Watergate. Genau wie durch die ganze Geschichte hindurch – die Lüge ist es, worauf sich die Gesellschaften gründen.“

Dieses außergewöhnliche Zitat, liebe Gemeinde, möchte ich meiner heutigen Predigt am Israelsonntag 2013 voranstellen. Es stammt aus dem Jahr 1974, von einem nicht sehr bekannten Theaterdirektor namens Pilikian.

Und ich möchte dieses Zitat gegenüberstellen, einem anderen außergewöhnlichen Zitat, das zugleich den Höhepunkt des heutigen Predigttextes bildet: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ Es stammt aus dem Jahr 110 n. Chr. (ungefähr) von einem weltberühmten Religionsgründer, namens Jesus (aus Nazareth).

Und ich möchte eine Verbindung zwischen den beiden Zitaten herstellen: weder Gott noch die Wahrheit bedürfen der Überzeugungsarbeit, oder gar der Mission. Sie gelten aus sich heraus. Ihre Existenz gilt unabhängig davon, ob irgend jemand Interesse daran hat, sie zu erkennen. Die Täuschung und Lüge hingegen leben vom Subjekt des Lügners: ohne ihn zerfallen sie zu Staub.

Das heißt: während der Lügner sein Subjekt in den Mittelpunkt stellt, stellt sich Wahrheit von selbst dar. Oder anders: Wahrheit kann – bestenfalls –  gefunden werden, sie ist gewissermaßen immer schon „da“. Lüge hingegen wird gemacht, erzeugt, hergestellt. Der Lügner verfolgt mit seiner Lüge eine (verborgene) Absicht.  Er hält nicht aus, dass „die Wahrheit (von selbst) ans Licht kommt“. Ego-Zentrik ist die gegenläufige Bewegung zum Suchen von Wahrheit.

Nun hat Freud zurecht darauf hingewiesen, dass der Mythos von Ödipus Ausdruck menschlich-seelischer Entwicklung schlechthin ist. Er drückt den mächtigen Drang aus, sich nicht an Grenzen zu halten: da sind zunächst einmal die Eltern, die aus Angst und Panik ihr eigenes Babys dem Tode preis geben, anstatt es zu pflegen und um es sich zu kümmern. Aus diesem Baby wird ein Mann, der keine Ahnung hat, wer er ist. Er ist in Täuschung aufgewachsen, da seine Adoptiveltern ihm in bester Absicht „weiß machten“, sie seien seine wirklichen Eltern. So nicht auf das Leben vorbereitet, durchbricht der junge erwachsene Ödipus alle Grenzen, ermordet seinen Vater, heiratet seine Mutter. So dringt der bei seiner Geburt gewaltsam Ausgeschlossene ebenso gewaltsam in die Beziehung seiner wirklichen Eltern ein, setzt sich selbst gewaltsam an die Stelle des Vaters.

Der heutige Israelsonntag ist ein Gedenktag: indem wir des Leidens gedenken, das dem Volk Israel (gerade auch von Christen) zugefügt worden ist, können wir auch bedenken, dass dieses Leiden viel damit zu tun hat, dass Menschen nicht in der Lage waren (und sind), das Sein des Anderen, seine Beziehung zu Gott und der Wahrheit zu achten und zu respektieren. An die Stelle der gemeinsamen Für-Sorge und der gemeinsamen Suche nach Wahrheit, nach Gott tritt ein gewaltsames „entweder du oder ich“. Dahinter steht Verunsicherung. Solange ich panische Angst davor habe, die freie Entwicklung des Anderen wird mich vernichten (und eben dies hatte das Orakel den Eltern von Ödipus vorhergesagt) bin ich gezwungen, in entweder-du-oder-ich zu denken. Entweder du oder ich bedeutet: es darf nichts zwischen dir und mir sein, entweder ich verschmelze mit dir, oder du mit mir. Entweder du bemächtigst dich meiner, oder ich bemächtige mich deiner. Ein Drittes gibt es nicht – genauer: das Dritte ist vernichtet!

Unsere christliche Religion eignet sich sehr gut für diese Art von Bemächtigung über Andersdenkende, da wir ja der Überzeugung sind, unser Jesus ist wirklich Gottes Sohn. In ihm – und in niemand anderem – ist Gott Mensch geworden. Unser heutiger Predigttext aus dem Johannesevangelium eignet sich ausgezeichnet, darüber nachzudenken, was das eigentlich bedeutet: wir bekennen in Jesus den Messias.

Der Text ist ein Ausschnitt aus der Begegnung Jesu mit einer Samariterin, die sich an einem Brunnen (dem Jakobs-Brunnen) ereignet, wo Jesus, „müde von der Reise“, rastet, während seine Jünger in die Stadt gegangen sind, um Essen zu besorgen. Jesus bittet die Frau, ihm zu trinken zu geben, worüber sich diese sehr wundert, da üblicherweise ein Jude mit Samaritern nichts zu tun haben wollte. Jesus antwortet der erstaunten Frau: „Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir sagt: gib mir zu trinken!, du bätest ihn und er gäbe dir lebendiges Wasser“ (4,10).

Hier ist die erste Gefahr für Täuschung. Der, der „lebendiges Wasser“ geben kann, muss eine Verwandlung durchlebt haben, ansonsten bleiben wir in einem gefährlich konkreten Denken stecken. Ansonsten entsteht das üble Argument: Die Juden waren zu dumm, um zu erkennen, dass der Messias unter ihnen ist.  Noch schlimmer: aus diesem Konkretismus heraus entsteht die unselige Idee, selber als Stellvertreter dieses allmächtigen Messias hier schalten und walten zu können. Dies ist eine Verblendung, unter der die Kirche leidet, seit es sie gibt. Wenn das Zentrum unser christlichen Religion lautet: „Gott ist Mensch geworden“, so heißt das keineswegs: „Wir sind Gott!“  Unsere Aufgabe ist es vielmehr, Menschen zu werden, für die das Adjektiv „menschlich“ oder „human“ eine Aussagekraft hat, die in Richtung Erhaltung, Bewahrung, Zusammenarbeit und Liebe geht, und nicht in Richtung Überheblichkeit und Zerstörung.

Und diese Zusammenarbeit gilt natürlich ganz besonders innerhalb der verschiedenen Konfessionen.

Doch schauen wir, wie sich das Gespräch am Brunnen weiter entwickelt:
„Die Frau spricht zu ihm: Herr, ich sehe, du bist ein Prophet“ (In Klammer: Jesus hatte ihr auf den Kopf zu gesagt, dass sie in moralisch fragwürdigen Beziehungen mit Männern lebte und lebt, was die Frau offenbar beeindruckte.) „Unsere Väter haben (Gott) auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, in Jerusalem sei die Stätte, wo man anbeten soll. Jesus spricht zu ihr: Glaube mir, Frau, es kommt die Zeit, dass ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Ihr wisst nicht, was ihr anbetet; wir wissen aber, was wir anbeten; denn das Heil kommt von den Juden. Aber es kommt die Zeit und ist schon jetzt, in der die wahren Anbeter den Vater anbeten werden im Geist und in der Wahrheit; denn auch der Vater will solche Anbeter haben. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“

Bemerkenswert am Verlauf dieses Gespräches ist die Bewegung vom Konkreten hin zu etwas „Geistig-Mentalem“. Es ist ein nutzloser Streit, ob Gott auf einem Berg oder in Jerusalem angebetet werden will – viel wichtiger ist die Haltung, in der das Gebet geschieht: im Geist und in der Wahrheit!

Es ist ein nutzloser Streit, ob Jesus „der Messias“ ist, ob Mohammed der einzige wahrhafte Prophet Gottes ist, oder ob der Messias erst kommen wird. Es ist natürlich auch ein gefährlicher Satz, zu sagen: „das Heil kommt von den Juden“. Das „Heil“ kommt von den Juden und von den Christen, von den Moslems und den Hindus, von den Buddhisten und den Taoisten, von den Inkas und den Indianern … das Heil kommt von den Menschen, denen es nicht mehr wichtig ist, ob von ihnen das Heil kommt. Denen es allein um eine Haltung geht, um eine Gebets-Haltung, die in unserem Text so genannt wird: Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.

Und da wir allesamt Menschen sind, die mit einer konkreten Sprache in einer konkreten Kultur aufgewachsen sind, drücken wir diese Gebets-Haltung in unserer Mutter-Sprache aus. Das ist völlig in Ordnung, solange wir dies im Respekt und in der Achtung für die Fülle der Verschiedenheit der religiösen Muttersprachen tun.

In dieser Haltung  und nur in dieser Haltung kann ich das Ende unseres Textes lesen: „Spricht die Frau zu ihm: Ich weiß, dass der Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn dieser kommt, wird er uns alles verkündigen.“ Jesus spricht zu ihr: Ich bin’s, der mit dir redet.“ Natürlich ist dieses „Ich bin’s“ eine Anspielung auf die berühmte Offenbarung Jahwes im Dornbusch: „Ich bin, der ich bin.“ Natürlich öffnet diese Stelle alle Schleusen für Grandiosität, Überheblichkeit und Allmacht. Aber nur solange, wie wir hierfür verführbar sind. Wenn wir mit unserem Messias gehen und seine Worte wirklich ernst nehmen, dann müssen wir auch ihn selbst hineinverwandeln, „hineinbilden“ in den Satz: „Gott ist Geist und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“ Wenn wir an diesem Jesus aus Fleisch und Blut festhalten als wäre das unser Besitz, unsere Geheimkampfwaffe, mit der wir unseren Brüdern und Schwestern im Glauben überlegen sind, die uns unbesiegbar macht, haben wir gerade die Botschaft dieses Jesus aus Nazareth verfehlt. Nicht Gewalt, nicht Überheblichkeit ist das Zentrum seiner Rede, sondern die Bereitschaft, sich der Wahrheit dessen, was ist, hinzugeben. Und dazu bedarf es einer Fähigkeit, von deren Bedeutung nahezu jede Geschichte über Jesus und seine Predigten handeln: die Fähigkeit zur Liebe zum Anderen, zu dem mir Fremden. Es bedarf dieser Liebe, um den Schmerz zu ertragen, in der eigenen Wahrheit des So-Seins und So-geworden-Seins gesehen zu werden. In dieser Liebe geschieht echte Verwandlung, die immer auch schmerzhaft und traurig ist.
Und in dieser Liebe wird mir die Kraft geschenkt, meinen Nächsten in seinem So-Sein zu wahrzunehmen und zu respektieren.

In der Geschichte von Ödipus fehlt die Kraft der Liebe. Es ist nicht Liebe, aus der heraus er seine Mutter heiratet, sondern der Lohn seiner Intelligenz, mit der er das Rätsel der Sphinx löste. Tragische Ironie: Abstakt weiß Ödipus, wer der Mensch ist – auf sich und sein Leben angewandt, hat er keine Ahnung davon.

Liebe Gemeinde,

es ist die Kraft der Liebe, die diesen konkreten Jesus in einen „Christus des Glaubens“ verwandelt. Gerade die Liebe zum Anders-Sein des Anderen schenkt mir die Kraft des Loslassens von meiner und seiner Konkretheit, von dem, wie der Andere für mich sein muss, womit er mich befriedigen muss. Erst über die Liebe entsteht Raum zwischen mir und dem Anderen, kann ich mich von meinem Entweder-du-oder-ich-Denken lösen. Diese Lösung, dieses Loslassen, fühlt sich an wie ein Sterben. Und es stimmt auch: Jesus muss sterben dürfen, damit ein Christus aufersteht, der als Geist (bei Johannes ist das der „Tröster“) unter uns wirkt. Und dieser Geist ist ein Frei-Geist („er weht, wo er will“), der sich mit all den Menschen verbindet und verbündet, die sich ernsthaft und liebevoll um Wahrhaftigkeit bemühen und die heftigen Gefühle von Verwirrung und Sterben ertragen. Für diesen „Geist der Wahrheit“ ist die Konfessionalität eines Menschen von untergeordneter Bedeutung. Die Gegenbewegung zu diesem Geschehen ist unsere Angst: es ist nackte Panik, geschürt durch das Orakel, die Ödipus’ Eltern dazu verführt, ihn auszusetzen. Es ist nackte Panik, aus der heraus die berühmte „self fullfilling prophecy” ihre Kraft bezieht. Es ist nackte Panik, aus der heraus ich dem Anderen meine Anschauungen aufzwinge oder mich nötigen lasse, ihm gleich zu werden.

Ich bin im übrigen überzeugt davon, dass wir am Ende unseres Lebens nicht von Gott gefragt werden, welcher Religionsgemeinschaft wir angehörten, sondern: ob wir ein Leben geführt haben, das dem Prädikat entspricht, wozu wir als Lebewesen geschaffen und bestimmt sind: ob wir Menschen waren, die versucht haben, Menschlichkeit – lateinisch: Humanität in diese Welt zu bringen. Und dazu gehört eine Ahnung davon, wer ich bin und wozu der liebe Gott mich in diese große Welt hineingestellt hat. AMEN.

Und die Liebe Gottes, die höher ist als all’ unser menschliches Denken  und Predigen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn, AMEN.

Predigt über Johannes 4,19-26 am Israelsonntag 2013 in der Apostelkirche in Solln Weiterlesen »

Predigt an Trinitatis 2013 über 4. Buch Mose, 6, 22-27

“Mein Freund, die Kunst ist alt und neu.
Es war die Art zu allen Zeiten,
Durch Drei und Eins und Eins und Drei,
Irrtum statt Wahrheit zu verbreiten.
So schwätzt und lehrt man ungestört;
Wer will sich mit den Narrn befassen?
Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört,
Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.“

Mit diesen Mephisto in der Hexenküche in den Mund gelegten Worten macht sich Goethe über die christliche Trinitätslehre lustig.

Sind wir heute die „Narrn“, liebe Gemeinde, die an diesem Sonntag „Trinitatis“ in die Kirche gehen und über „drei und eins“ klug schwätzen? Dass wir Worte aussprechen, ohne ihre Bedeutung zu verstehen?

Nun ist die Trinitätslehre in der Gemeindefrömmigkeit von untergeordneter Bedeutung – zwar werden die kommenden Sonntage bis zum Ende des Kirchenjahres „nach Trinitatis“ genannt, doch das Trinitatisfest als Fest findet wenig Zuspruch. Hinzu kommt: in der Bibel gibt es keine Trinitätslehre – sie ist ein von Theologen entwickeltes „Konstrukt“, um ein Kernproblem der christlichen Religion zu lösen: wie es sein kann, dass es in dem einen und einzigen Gott einen Anderen, einen „Sohn Gottes“ gibt. Durch diesen Gedanken war eine bis dahin unvorstellbare Zweiheit in Gott hineingekommen.

Nun ist eine Zweiheit stets eine unaufgelöste Spannung: fehlt die Idee von etwas Drittem, so führt die Zweiheit in die Ver-Zweiflung. Die Zwei ist nur denkbar von der Drei her. Von der Drei her entsteht „Raum“ – für die Zwei oder für die „Beiden“. In der Zwei selbst gibt es nur „entweder – oder“, links oder rechts, gut oder böse, schwarz oder weiß. In der Zwei selbst gibt es keine Perspektive: die zwei an sich ist flach.

Emotional ist die Zwei voller Turbulenzen, voller Zwei-fel auf der einen, voller Triumph auf der anderen Seite. In der Zwei herrscht Kampf: der Eine greift den Anderen an. Ich oder Du, das Eine gegen das Andere  ist das Motto des ver-zweifelten Kampfes. Versöhnung ist in der Zwei undenkbar: die Zwei ist hart, es geht um Macht, um oben oder unten, um Sieg oder Niederlage. Der Sieger ist der manisch Triumphierende, der Unterlegene der depressiv am Boden Liegende. Die Welt des Sportes ist eine Domäne der Zwei. (Stellen Sie sich vor, Borussia Dortmund und der FC Bayern hätten gestern Abend in einem konstruktiven Gespräch beschlossen, dass es keinen Sieger und keinen Verlierer gibt, und die Einnahmen werden für karitative Projekte in der dritten Welt verwendet. Wobei es auch bei einem Fußballspiel Denk-Ansätze in Richtung „drei“ gibt: z.B. in dem Wunsch, ein schönes Spiel zu sehen.)

„Trinitatis“ ist das Fest der Kraft des Dritten. Die Kraft des Dritten ist die Kraft des Wachstums, der Entwicklung, des Fruchtbar-Werdens, des „Kindes“. Das Dritte verbindet das Eine mit dem Anderen, und zwar so, dass es das Neue, das Dritte eben „zwischen“ dem Einen und dem Anderen ist. Im „Entweder – Oder“ kann kein „Drittes“ entstehen.

Die irdene Grundlage der Trinitätslehre ist die Beziehung Vater – Mutter – Kind. Ich meine jetzt nicht das Retortenbaby, sondern das aus der liebenden Vereinigung von Mann und Frau entstehende Kind. Das heißt in Theologie übersetzt: aus der liebenden Beziehung zwischen Gott als Vater und Gott als Sohn geht der Heilige Geist hervor; zugleich ist diese liebende Beziehung das „Werk“ des Heiligen Geistes. In ihm, dem „Dritten im Bunde“, geschieht die Ver-Söhnung zwischen den „Beiden“ und in dieser Ver-Söhnung sind wir, ist die ganze Welt mit eingeschlossen. „In Christus wurde diese Welt mit Gott versöhnt“. Ausdruck unseres Hinein-Bezogen-Seins ist die Ausgießung des Heiligen Geistes, jener dritten Person in Gott, die Augustinus als „vinculum caritatis“, als „Band der Liebe“ zwischen Vater und Sohn bezeichnet. Dies haben wir letzten Sonntag als Pfingstfest gefeiert. Heute an Trinitatis stehen wir staunend vor dem großen Bogen der heilsamen Entwicklung Gottes in diese unsere Welt hinein.

Unser heutiger Predigttext aus dem 4. Buch Mose benennt diesen Bogen, benennt unser Hineingenommen werden in diesen großen Wachstumsbogen des dreieinigen Gottes als „Segen“.

„ER redete zu Mosche, sprechend:
Rede zu Aharon und zu seinen Söhnen, sprechend:
So sollt ihr die Söhne Israels segnen:
Sprecht zu ihnen:
Segne dich ER und bewahre dich,
lichte ER sein Antlitz dir zu und sei dir günstig,
hebe ER sein Antlitz dir zu und setze dir Frieden.
Sie sollen meinen Namen auf die Söhne Israels setzen,
ich aber werde sie segnen.“  (Kapitel 6, 22-27)

„Segnen“ im Hebräischen bedeutet: „mit heilsamer Kraft ausstatten“, auch „loben, preisen, danken“. Auch „niederknien“.

Trinitatis ist also das Fest, in der „die heilsame Kraft“ des trinitarischen Gottes uns durchströmt: zu unserem eigenen wie zum Wohle unserer Mitmenschen.
Schauen wir uns an, wie diese „heilsame Kraft“ in den Segens-Worten ihren Ausdruck findet.

„Der Herr segne dich und behüte dich“ – wörtlich: „Segne dich ER und bewahre dich.“

ER. Nicht ICH segne dich. Es ist keine Ich-Du-Beziehung. Es ist eine „ER segnet“ Beziehung.
ER – das ist Personalpronomen der 3. Person.
Es ist die heilsame Kraft des Dritten, von dem hier die Rede ist. Nicht romantische Ich-Du-Verschmelzung, romantisches Schmachten nach der/dem fernen Geliebten. ER ist nüchtern. ER ist, der ER ist. ER ist die Wirklichkeit.

„ER behüte dich“: hebräisch samar: „bewachen, beobachten Acht haben, bewahren, sorgfältig tun, den Bund bewahren.“

Die heilsame Kraft des Segens fließt hinein in die Achtsamkeit für den Augenblick. Für das, was gerade „Not tut“. Achtsamkeit hat mit nüchterner Beob-„acht“ung zu tun: und der Fähigkeit, ernst zu nehmen, was ich sehe und wahrnehme. Ernst-Nehmen als Wahr-Nehmen bedeutet: „nichts machen“. Dem Impuls des Tuns zu widerstehen. Das ist das Schwierigste: ES geschehen lassen. „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.“ (Joh. 3,8) – haben wir vorhin im Evangelium gehört. Das Blasen des Windes, das Wehen des Geistes entzieht sich unserer Machbarkeitsfantasien. „Wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?“ (Jesaja 40,13) Indem wir alles loslassen, was uns Halt gibt: die Fragen nach Sinn, die Urteile und Bewertungen, die Welt des links oder rechts, die Welt der Zwei – tauchen wir in die Leere des Nichts hinein. Dieses Hineintauchen (Taufe!) ist unweigerlich verbunden mit höchst unangenehmen Gefühlen von Verwirrung (confusion) und Selbst-Auflösung. Dieser nicht ungefährliche Weg ist nur gehbar in einem Grundgefühl des Gehalten-Seins: eben jenes Segens, der „behütet“ und „bewahrt“.

„Der Herr lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig“ – wörtlich: „Lichte ER sein Antlitz dir zu und sei dir günstig.“

Das Lichten SEINES Antlitzes ist das Werk oder die Wirkung des „Sohnes“. Der Vater, hebräisch „aw“, „wohnt im Dunklen“ (siehe oben). Nur der Mystiker – wenn überhaupt – erträgt es, ihn zu sehen. Unser Johannisevangelium hat die Metapher des „Lichtes“ aufgegriffen und sie auf Jesus Christus bezogen: „Und das Licht scheint in der Finsternis und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.“  Die Finsternis hat es nicht ergriffen, die Finsternis kann das Licht nicht „erfassen“. Die Finsternis ist die Matrix, der Hintergrund, auf dem sich etwas „zeigt“, auf dem mir „ein Licht aufgeht“. Wieder: ES geht auf – nicht Ich zünde es an. Wir stellen uns gerne dieses Licht als leuchtende Fackel, als starken Scheinwerfer vor, der die Finsternis erhellt. Das ist wieder unser haus-gemachtes Licht: es erhellt nicht die Finsternis, es vertreibt die Finsternis. Das Licht des Segens ist ein Abglanz der Dunkelheit selbst: in ihm leuchtet die Dunkelheit aus sich heraus. Unseren Augen wird dieses Leuchten erst zugänglich, wenn sie sich an die Dunkelheit gewöhnt haben. Dann weiten sich die Pupillen und es wird sichtbar, was im hellen Licht der Sonne oder im grellen Schein der Scheinwerfer überblendet wird.

„… und sei dir günstig (gnädig)“

Wir kommen alle als Babys auf die Welt. Nicht wir sehen, sondern wir werden gesehen. Und irgendwann, um das dritte Lebensmonat, schauen wir zurück, erkennen wir das „Antlitz“ der Mutter, des Vaters, der Geschwister usw. Es ist nicht gesagt, dass dieses Antlitz uns „günstig“ zugeneigt ist. Das ist ein Geschenk. Wenn wir Pech haben, schauen wir in müde, oder gar tote Augen einer depressiven Mutter, die sich angesichts ihres Babys völlig überfordert fühlt. Wenn wir Pech haben, schauen wir in enttäuschte Augen, weil wir nicht der ersehnte Junge oder das ersehnte Mädchen sind, weil wir jemandem ähnlich sehen, der in die Familie abgelehnt wird. Wenn wir Pech haben, sehen wir nur selten Antlitze, bleiben uns selbst und unserer Einsamkeit überlassen. Wenn wir Pech haben, erblicken wir Augen voller Panik davor, ob das Baby überhaupt die Kraft hat zu leben  … Das Problem ist: wir können als Baby gar nicht anders als wahrnehmen, aufnehmen, in uns hinein lassen. Alles fließt in das Baby hinein, das Entwicklungsfördernde wie das Entwicklungshemmende, die Trauer der Mutter wie ihre Freude, der Streit der Eltern wie ihre Liebe. Und glücklich das Baby, das in die gegenseitige Liebe der Eltern hineinwachsen darf. Es bekommt einen unschätzbaren Rückhalt, genannt „Urvertrauen“ (Erikson) für sein ganzes Leben.

In dieser frühen Zeit entstehen die Grundgefühle, die emotionalen Basics unseres Lebens, aus denen heraus sich unser Unbewusstes bildet. Je älter wir werden, desto stärker „überblendet“ das helle Licht unseres Verstandes die dunklen Grundgefühle unserer Herkunft, die doch unser ganzes Leben so wirksam prägen.

„Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und schenke dir Frieden“ – wörtlich: „hebe ER sein Antlitz dir zu und setze dir Frieden.“

Das Problem ist, dass echtes Wahrgenommen-werden heftige Gefühle auslöst. Sie merken es schon bei der Begrüßung: es gibt Menschen, die vermeiden den Blick-Kontakt. Wahrgenommen-Werden bedeutet Gesehen-Werden. Und Gesehen-Werden ist gefährlich. Je schlechtere Erfahrungen wir in unserem Leben mit Gesehen-Werden gemacht haben, desto reflexhafter werden wir Situationen des Gesehen-Werdens vermeiden. Das Problem ist die Verlinkung von Gesehen-Werden mit Beschämt-Werden. Die dazu gehörigen Schamgefühle kreisen allesamt um ein Verschwinden-Wollen: „Ich könnte in den Boden versinken – so habe ich mich geschämt“. Ich vermute, die meisten von uns erinnern sich  mühelos an derartige Erlebnisse aus dem eigenen Leben.

In unserer Segensformel wird Gesehen-Werden verbunden mit „Frieden geschenkt bekommen“. Und das hebräische Wort für Frieden, „Schalom“ meint nicht nur den Frieden als Abwesenheit von Krieg, sondern einen Frieden als ein tiefes inneres und äußeres Wohlbefinden, ein Genug-haben und Genug-Sein. Der in diesem Frieden gesegnet lebende Mensch würde der berühmten Fee, die ihm sagt, er habe drei Wünsche frei, lächelnd antworten:

„Ich bin zufrieden.“

Und im selben Moment würden Stimmen in ihm auf den Plan treten, die ihn des Wahnsinns bezichtigen würden. Reichtum, Macht, Ansehen, Status, Einfluss: all’ dies, wofür und worum wir Menschen so kämpfen – wie kann jemand so blöd sein, darauf zu verzichten?

Und der in diesem Frieden Gesegnete würde antworten: „mir genügt das Geld, das ich verdiene, mir genügt die Macht, die es mir ermöglicht, mich an die Gebote und die Gesetze zu halten, mir genügt das Ansehen, das ich bei denen genieße, mit denen ich zusammen bin, mir genügt der Status, der mir ermöglicht, mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen, mir genügt der Einfluss, mit dem ich mein Leben zum Guten für mich und hoffentlich für meine Mitmenschen gestalten kann.“

Und die Stimmen würden sagen: Und was ist mit deinem Alt-Werden, mit deinen alltäglichen Schmerzen, mit deiner Müdigkeit und deinem Erschöpft-Sein? Du hättest dir wenigstens ewige Jugend wünschen können.

Und der in diesem Frieden Gesegnete würde antworten: „Ja, ich werde schneller müde als früher, mein Kräfte schwinden, mal zieht es da, mal dort. Na und? Es gibt kein Leben ohne Vergehen, Leben ist Wandel, ist Veränderung. Es wäre töricht, sich etwas zu wünschen, was dem Grundsatz des Lebens entgegen läuft. Das kann nur unglücklich machen!“

„Und noch eines“ würde der in diesem Frieden Gesegnete antworten:

„Friede und Freiheit und Freude und Freund gehören zusammen. Man kann es noch hören. Sie stammen alle von ein- und demselben Wortstamm ab. Die Verwechslung von Freiheit mit Maßlosigkeit, mit: ‚Ich mache jederzeit, was mir gefällt’, führt in die Sklaverei. (Diese Verwechslung ist freilich unvermeidlich auf dem Weg des Erwachsen-Werdens.)

Die freiwillige Rück-Bindung des Sohnes an den Vater ist eine Rückkehr (re-ligio) im Dienste des Wachstums und der Entwicklung. Es ist auch eine Wiedergutmachung, eine erneuernde Wieder-Herstellung („Restauration“) des Eingebettet-Seins in die liebevolle Beziehung zwischen Vater und Mutter, Gott-Vater und Gott-Sohn. Und in dieser Erneuerung geschieht ‚das neue Geboren-Werden aus Wasser und Geist’. Und so werden alle, die in diesem Vertrauen leben, zu Kindern der Liebe, umhüllt und gehalten von dem Segen des dreieinigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“

Gebe dieser dreieinige Gott, dass wir es wagen, uns als Kinder seiner Liebe zu fühlen, dass wir es wagen zu glauben, wir seien so erwünscht, wie wir sind, dass wir es wagen zu hoffen, dass das, was wir tun und was wir unterlassen und wie wir alltäglich versuchen zu leben und zu überleben:  – dass es genug sei! AMEN.

Predigt an Trinitatis 2013 über 4. Buch Mose, 6, 22-27 Weiterlesen »

Predigt über Matthäus 27,33-50 an Karfreitag 2013

Predigt am Karfreitag 2013 in der Petruskirche in Solln über Matthäus 27, 33-50

Liebe Gemeinde,

ich spüre Widerwillen.

Widerwillen gegen diese grausame Kreuzigungsgeschichte.
Es ist derselbe Widerwille, mit dem ich in der Zeitung über Grausamkeiten und Gewalt lese. Sei es im Kleinen, im Familiären, sei es im Großen, in einzelnen Staaten, in der Welt.

Was ist das mit der Gewalt?
Woher stammen diese Grausamkeiten?

Es ist anzuerkennen: die Fähigkeit, grausam zu sein ist eine Menschliche. Ein Lebewesen zu quälen, es an ein Kreuz zu nageln, wo es elendiglich verendet, ist eine menschliche Fähigkeit. Tiere töten um zu überleben. Im Tierreich gibt es nicht den Gedanken einer „Strafe“.

Vorsätzliche, bewusste Grausamkeit ist ein höchst intensives Beziehungsgeschehen. Sie hat damit zu tun, jemanden etwas „spüren“ zu lassen.
„Wer nicht hören will muss fühlen“ – steht schon im Struwwelpeter.
„Wen der Herr liebt, den züchtigt er“ – steht schon im Alten Testament.

Die Grausamkeit ist also ein von uns Menschen erfundenes Mittel, mit dem Anderen in eine bestimmte Art der Beziehung zu treten. In eine Beziehung, in der ich dem Anderen zeige: „So nicht!“ „Du musst dich ändern!“ Oder: „Du hast dein Leben verwirkt! Und jetzt lasse ich dich meinen Hass spüren.“

Wir müssen anerkennen, dass der Mann, dessen Gedanken uns so tief berühren, dessen Gebete wir nachsprechen, den wir als unseren Messias bekennen,-  wir müssen anerkennen, dass unser „Herr und Meister“ von und vor dieser Welt als Verbrecher verhaftet und mit dem Tode bestraft worden ist.

Sein angebliches Verbrechen war: sich als Gottes Sohn auszugeben. Wobei – hätte er es beim Predigen belassen, wäre ihm wohl eher nichts passiert. Aber als er nicht mehr nur predigte, sondern begann zu handeln, als er die Geschäftsleute aus dem Tempel hinaus warf: da wurde er zu einer echten Bedrohung. Es ist nicht gut, sich mit den herrschenden Wirtschaftsmächten anzulegen. Das gilt heute genauso wie damals:

Man macht sich nicht beliebt, wenn man gegen die Massentierhaltung predigt. Oder gegen die Ölbohrungen in der Arktis.
Oder gegen die Unterdrückung von Freiheit und Demokratie im Dienste wirtschaftlicher Interessen.
Oder gegen Tierversuche in der Kosmetikindustrie.

Man macht sich nicht beliebt, wenn man den Finger auf die Wunde legt, von deren Nicht-Heilung einige Wenige auf Kosten einer großen Mehrheit profitieren. Und noch weniger beliebt macht man sich, wenn man nicht nur predigt, sondern handelt. Stellen Sie sich vor, unsere Führer, Bischöfe und Kardinäle würden geschlossen dazu aufrufen, Unternehmen, die ihre Angestellten nachweislich abhören, ausbeuten und unterdrücken, zu boykottieren. Oder Firmen, die nachweislich unsere Umwelt gefährden. Oder  sie würden dazu auffordern, nur noch den Umweltbanken Geld zur Verfügung zu stellen. Und alle Christen würden sich geschlossen daran halten.

So weit – so gut. Dies alles ist wichtig. Und richtig. Und es bleibt im Außen. Ich möchte diesen Faden hier nicht weiter verfolgen. Ich wäre nur dankbar, wenn sich die christlich-religiösen Führungspersönlichkeiten bewusst machten, dass unser „Jesus“ nicht vom einfachen Volk, nicht von den Armen gekreuzigt wurde, sondern vom religiösen Establishment seiner Zeit in Zusammenarbeit mit der weltlichen Führungsmacht, den Römern. Und ein wesentlicher Grund für seine Hinrichtung war sicherlich, dass er sich mit den „Händlern“, also den wirtschaftlich Mächtigen anlegte.

Aber jetzt zu Wichtigerem: dem „inneren“ Erleben, der „inneren“ Bedeutung des Karfreitags. Dies erscheint mir deshalb als wichtiger, weil echte Veränderung im Inneren beginnt, von innen nach außen wirkt. Veränderung nur im außen zu suchen verdeckt eigene Starrheit: anstatt sich selbst in Frage zu stellen, sollen die Verhältnisse, das System, jedenfalls etwas, was „draußen“ ist, sich ändern.

Wenden wir also unseren Blick nach innen. Wovon könnte das „innere“ Erleben des Karfreitags handeln?

Gerade haben wir gesungen: „Herr, lehre mich, dein Leiden zu bedenken, mich in das Meer der Liebe zu versenken, die dich bewog, von aller Schuld des Bösen uns zu erlösen.“

Das innere Erleben des Karfreitags handelt von der Hingabe: von dem unverdrossenen, gehorsamen Sich-Fallen-Lassen in die liebevoll-tragenden Hände Gottes.

Gottes Liebe ist für mich die Matrix, die „innere Mutter“ des Karfreitags-Geschehens. Man könnte auch sagen: Karfreitag erzählt von der Unzerstörbarkeit der Liebe – sogar und auch im Angesicht äußerster Gottverlassenheit.
In unserem heutigen Predigttext, der die Kreuzigung aus der Perspektive des Matthäus schildert, sind denn auch die letzten Worte Jesu kein beruhigendes: „Es ist vollbracht“, sondern ein schreiendes „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Psalm 22,1)

Der Karfreitag als inneres Geschehen ist das Geschehen des Verlassen-Werdens. Er ist der radikale Rückzug Gottes aus der Welt. Er ist die Abwesenheit Gottes von der Welt. Er ist die Zerstörung der menschlichen Natur Gottes.

Und genau dies ist die Katastrophe!

Der Weg zur Katastrophe ist vorgezeichnet. Es ist ein Kreuzweg. An dem sich die Geister scheiden. Am Ende bleibt Jesus allein übrig. Bei Matthäus – anders als bei Johannes – stirbt er ganz alleine. Ich werde jetzt den Text in Abschnitten Ihnen vortragen – und mich fragen, wo ich stehen könnte

„Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt Schädelstätte, gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und als er’s schmeckte, wollte er nicht trinken.“

„Galle“ wurde beigemengt, damit „es schneller geht“. Eine Art Betäubungsmittel. Wer betäubt ist, muss die Schmerzen nicht so spüren. Also ein kleiner Akt von Humanität? Vielleicht. Vielleicht wollte man sich aber auch das Geschrei der unbetäubt am Kreuz zugrunde Gehenden ersparen.

Galle steht aber auch für die Bitterkeit und Verbitterung.
Ich frage mich: wo betäube ich mich? Welche Schmerzen will ich nicht aushalten? Und:  bin ich auch verbittert? Mische ich auch in den mir vom Leben eingeschenkten Wein die Galle meines Misstrauens, ja meines Hasses?
Jesus lehnt übrigens dieses Getränk ab. Hat er wirklich die Kraft, nüchtern und ohne verbittert zu sein diesen letzten Weg zu gehen? Es gibt nur eine Kraft, die dies ermöglicht: die Kraft der bedingungslosen Hingabe an die Gegenwart dessen, was ist. Habe ich Zugang zu dieser Kraft, um mein eigenes Kreuz zu tragen? Habe ich Zugang zu meiner Fähigkeit zu lieben.
„Es ist, was es ist – sagt die Liebe.“

„Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum.“

Jesus hängt nackt am Kreuz. Bloß gestellt und entblößt. Seine Kleider werden verlost. Sie sitzen unter dem Kreuz und geben sich dem Glücksspiel hin. Gedankenlos – nichts ahnend.
Ich frage mich: wage ich es, mich nackt anzuschauen. Wer bin ich, wenn ich meine Titel, meinen Status, mein Geld, mein Auto, mein Haus weglasse. Wer bin ich  – in meinem nackten Sein – vor Gott? Oder ziehe ich es vor, mir lieber nicht selbst zu begegnen? Sind wir nicht alle Meister darin geworden, uns abzulenken? Deutschland sucht den Superstar – wer wird Germanys next Topmodell, schafft es Bayern ins Europapokalfinale, wie entwickelt sich der DAX, wohin fahren wir in den nächsten Urlaub.

„Und sie saßen da und bewachten ihn. Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König.“

Ob die Bewachung nötig war? Na ja, sicher ist sicher. Immerhin: hier hängt der Juden König. Angeblich. Aber es gibt kein großes Interesse an diesem König. Keinen Aufstand, um ihn zu befreien, um ihn vom Kreuz zu holen. Stattdessen prasselt noch einmal Spott und Hohn über diesen einsamen gekreuzigten König mit seiner merkwürdigen Krone aus Dornen.

„Und da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. Die aber vorübergingen lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz.! Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: Anderen hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Ist er Der König von Israel, so steige er nun vom Kreuz herab. Dann wollen wir ihm glauben. Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren.“

Jesus antwortet nicht mehr. Alles, was zu sagen war, hat er gesagt.
Schweigen.

Ich frage mich: wie schaut es mit meinem Hang zum Lästern aus? Ist es nicht reizvoll über andere zu lästern. Und ist es nicht am reizvollsten, das hinter dem Rücken der Anderen zu machen? Da bringt man so schön die eigene Gehässigkeit unter. Ganz harmlos. Was gibt es Schöneres, als gemeinsam sich lustig zu machen. Über die unfähigen Politiker, über die scheinheiligen Pfarrer, über die faulen Arbeitslosen, über die gemeinen Lehrer, über die blöden Schüler, über die unmöglichen Autofahrer? Ist es nicht reizvoll zu denken: „Recht geschieht es ihm, hast den Mund eben zu voll genommen!“
Schadenfreude ist die schönste Freude!

„Und  von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, eli, lama asabtani? das heißt: mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia. Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm trinken. Die andern aber sprachen: Halt, lass sehen, ob Elia komme und ihm helfe! Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.“

Eine letzte Verspottung: „Lass sehen, ob Elia komme, ihm zu helfen…“
Das war’s.
Ein letzter Schrei.
Jesus ist tot.

Und jetzt?

Ich frage mich nicht mehr.
Es ist stumm geworden in mir.
Aus und vorbei.

Gibt es ein Darüber hinaus?
Bei Matthäus kommt schnell der Satz: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“

Mir geht das zu schnell. In mir bleibt es nachdenklich.
Wirkliche Veränderung ist etwas anderes als das Kippbild zwischen zu Tode betrübt und himmelhoch jauchzend.
Wirkliche Veränderung braucht Zeit.
Sie wächst. Im Dunklen.
Gleicht einem Samenkorn.

„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein …“

Wirkliche Veränderung fühlt sich immer auch nach Sterben an. Sterben für das Leben. Für ein neues Leben, das sich losgelassen hat. Das sich gelöst hat von dem Kreisen um sich selbst. Das sich nicht mehr selbst erschaffen muss. Das in seinem Loslassen Gelassenheit erlernte.

Aus der Gott-Verlassenheit keimt die Gott-Gelassenheit. Nicht mehr von Gott verlassen, sondern: in Gott gelassen. Nichts kann mich mehr vertreiben aus der Barmherzigkeit Gottes.

Gelassen in Gott leben und sterben und leben und sterben … dazu verhelfe uns das Gedenken an das Leiden seines Sohnes, AMEN

Predigt über Matthäus 27,33-50 an Karfreitag 2013 Weiterlesen »

Predigt über Johannes 11,47-53 am Sonntag Judika (17.3.2013)

Liebe Gemeinde,

zu den (jedenfalls für mich) schwierigsten Aussagen der christlichen Religion gehört der Satz: „Jesus hat für deine Sünden gelitten, für dich ist er gestorben.“ Ich möchte ärgerlich antworten: erstens gab es mich zu der Zeit, als Jesus starb, noch gar nicht, zweitens habe ich ihn nicht darum gebeten. Und drittens möchte ich für meine Sünden auch selbst die Verantwortung tragen.

Sind diese Gedanken blasphemisch? Gott lästernd?
Mag sein. Aber das ändert auch nichts daran, dass ich sie habe. Ich kann und will sie nicht abstellen, abschalten wie ein Fernsehprogramm, das mir nicht gefällt.

Ich will verstehen.

Als erstes verstehe ich die Wirkung des Satzes: „Jesus ist für deine Sünden gestorben“: lasse ich den Satz an mich heran, so erzeugt er Schuldgefühle. Und wer Schuldgefühle gemacht bekommt, ohne sich schuldig zu fühlen, der widerspricht. Er sagt: ich bin nicht schuldig, ich habe nichts Unrechtes getan.  Daraufhin wird er ermahnt: du hast nicht zu widersprechen, du hast zu gehorchen. Früher wurde dem Gehorchen mit Prügeln nachgeholfen. Na ja – was heißt früher? Ich vermute, Kinder zu verprügeln gehört auch heute noch zu den Erziehungsmitteln. Was lernt das geprügelte Kind? Es lernt, aus Angst zu gehorchen. Nicht aus innerer Überzeugung. Im Gegenteil: innerlich beginnt man die Autoritäten, Erzieher, Lehrer, Pfarrer und den Gott, in dessen Namen sie sprechen, in dessen Namen sie prügeln, zu hassen. Innerlich heißt: der Hass wandert in den Untergrund, in das Unbewusste. Äußerlich wird man brav, angepasst. Spricht mit gespaltener Zunge. Je größer die Angst wird, desto verzweifelter wird der Anpassungsdruck. Anpassen heißt, in den Aggressor, in den Täter hineinzuschlüpfen. Das schützt. Werde ich selbst zu einem Teil des prügelnden Vaters, der prügelnden Mutter, können sie mich nicht mehr treffen. In dieser Anpassung finde ich meinen gesunden Ärger, meine gesunde, natürliche Wut darauf, über Gewalt und Schuldgefühle manipuliert worden zu sein, selbst als böse. Als weitere Sünde. Die Verzweiflung wächst. Ich wurde gebrochen. Die Gefühle des Gebrochen-Seins schlagen sich nieder in Schwermut – und in Hass. Wir nennen das dann Depression. Depression hat viel mit einzementiertem Hass zu tun. Dies macht ihre Verbindung zu Suizidalität verständlich. (Der Roman „Boot Camp“ von Morton Rhue beschreibt diese Entwicklung hin zu einem gebrochenen Menschen sehr eindrucksvoll.)

Unser heutiger Predigttext handelt vom Sterben Jesu „für“: aber es ist mit keinem Wort von unserer Sünde die Rede. Hören Sie selbst: Johannesevangelium c. 11, 47-53 heißt:

„Da versammelten die Hohenpriester und die Pharisäer den Hohen Rat und sprachen: Was tun wir? Dieser Mensch tut viele Zeichen. Lassen wir ihn so, dann werden alle an ihn glauben, und dann kommen die Römer und nehmen uns Land und Leute. Einer von ihnen, Kaiphas, der in dem Jahr Hoherpriester war, sprach zu ihnen: Ihr wisst nichts; ihr bedenkt auch nicht: Es ist besser für euch, ein Mensch sterbe für das Volk, als dass das ganze Volk verderbe. Das sagte er aber nicht von sich aus, sondern weil er in dem Jahr Hoherpriester war, weissagte er. Denn Jesus sollte sterben für das Volk, und nicht für das Volk allein, sondern auch, um die zerstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen. Von dem Tage an war für sie beschlossen, dass sie ihn töteten.“

Im Zentrum steht die mehrmalige Betonung des Todes Jesus „für“: nicht für ein Vergehen, für Sünden, sondern für das Volk, „für“ die zerstreuten Kinder Gottes – um sie zu versammeln.

Und – warum würde das Volk verderben, wenn man Jesus so weiter leben ließe, so dass immer mehr Leute an ihn glauben würden? Wäre das nicht viel besser „für das Volk“ – einen Messias, einen Heiland in der Mitte zu haben, der wirklich hilft, der wirklich heilt?

Dann kämen die Römer, heißt es, und nähmen uns Land und Leute.

Stellt euch das bitte so vor: Kaiphas, der Hohepriester, ist Vorsitzender des religiösen Establishments. (Establishment kommt von to establish, das heißt einrichten, herrichten. Es ist eine Gruppe von Menschen, die mächtig ist und die Richtlinien des Denkens „einrichtet“. Jede Gesellschaft braucht ihr Establishment – ähnlich einem Wolfsrudel, das die Alpha-Tiere zu ihrem Schutz und ihrem Überleben benötigt.) Kaiphas ist der „Chef“ der jüdischen Religion. (Im heute: Kaiphas ist so was wie der Papst, oder der Vorsitzende der EKD.) Die Römer auf der anderen Seite sind die herrschende Weltmacht, im Heute mit Amerika oder China vergleichbar. Mit dieser Macht legt man sich vernünftigerweise nicht an, so eine Macht provoziert man nicht.

Das Argument des Kaiphas ist also ein politisches: er hat Angst, dass das Volk sich einen Gegenführer zum weltlichen Establishment, zu Rom erwählt, dem das Volk mehr Vertrauen schenkt als den Römern. Der vielleicht das Volk darin bestätigt: wir brauchen die Römer nicht, wir sind autonom. Wir sehen aktuell am Konflikt zwischen Tibet und China, wie gefährlich es ist, wenn ein kleiner Staat einen charismatischen Führer wie den Dalai Lama hat. Das sehen die Großen nicht gerne. Auch unser Martin Luther war so ein Führer, der den Mächtigen seiner Zeit, den Kardinälen und dem Papst immer mehr zum Dorn im Auge wurde – und zwar gerade deshalb, weil er viel Anerkennung vom einfachen Volk (den „Bauern“) bekam.

Und so sagt Kaiphas, der Realpolitiker, politisch völlig vernünftig: wir müssen ihn töten – und zwar für das gute Weiterleben des Volkes im Schutze und im Rahmen der Weltmacht Rom.
Der Tod Jesu ist in diesen Gedanken eine politische Notwendigkeit. Nicht mehr und nicht weniger.-

Nun heißt es aber in unserem Text: Das sagte aber Kaiphas nicht von sich heraus, sondern er „weissagte“. Weissagen heißt, eine tiefere Weisheit verkünden, die möglicherweise dem Sprecher der Weissagung gar nicht bewusst ist.

Was könnte diese tiefere Weisheit/Wahrheit sein?

Was könnte es auf einer tieferen, unbewussteren Ebene heißen: „Jesus sollte sterben für das Volk, und nicht für das Volk allein, sondern auch, um die zerstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen.“ Wörtlich heißt es: „in eins zu versammeln.“
Es geht offenbar um ein Sterben „für“ ein „Zusammenbringen“, für ein „Versammeln“. Es geht um eine Bewegung, in der Zerstreutes („Dis-Parates“) sich zu einem größeren Ganzen verbindet. Es geht um eine Wachstums- um eine Entwicklungsbewegung. Die Gegenbewegung dazu ist das Zerstreuen. In der Zerstreuung wird vereinzelt, gespalten. Teile, noch kleinere Teile, Moleküle, Elemente, Atome, Atom-Spaltungen.  Damit „Ganzheitliches“ sichtbar wird, müssen sich die Teile ihrer „Teilhaftigkeit“ bewusst werden. Ein sich selbst absolut setzendes Teil zerstört das Wachstum zu einer größeren Gemeinschaft hin. Wenn sich ein Teil einer Gruppe absolut setzt, stagniert ihr Wachstum – es gibt keine neue gemeinschaftliche Entwicklung mehr, stattdessen wird die Gemeinschaft zerstört. „Krebs“ ist die medizinische Bezeichnung für dieses Geschehen.

Jesu Tod als Opfer für unsere Sünden zu deuten, ergibt erst und genau auf diesem Hintergrund Sinn: indem ich Sünde definiere als das Sich-selbst-Absolut-Setzens eines Teiles auf Kosten der Gesamtheit, der Gemeinschaft. In der Sünde die soziale Beziehung zerstört. Der wirkliche Sünder setzt sich selbst absolut. Er denkt und handelt selbst-gerecht!
Unser heutiger Sonntag „Judika“ ist nach einem Psalmwort benannt. In der Übersetzung M. Luthers heißt es im 7. Psalm Vers 9: „Richte mich Gott, nach meiner Gerechtigkeit, nach meiner Frömmigkeit, die an mir ist.“ „Gerechtigkeit“ und „Frömmigkeit“ sind die beiden „Scheitelpunkte“, an denen der Beter dieses Psalms gemessen werden möchte. Die vielen Tage und Jahre meines gelebten Lebens sollen auf diesen Maßstab bezogen werden: war ich „gerecht“? war ich „fromm“?

Es gab und gibt Menschen, die haben mit der Beantwortung dieser Frage überhaupt keine Schwierigkeiten: „Lieber Gott, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie die Sünder!“ Das ist das Gebet des Pharisäers, des Selbst-Gerechten. Das ist das Gebet des wirklichen Sünders!

Moderne Sätze für Selbstgerechtigkeit sind Sätze wie diese: „Ich habe so viel für den Staat getan, da sehe ich überhaupt nicht ein, mich an die Steuergesetze zu halten!“ Oder von der anderen Seite: „Ich verdiene so wenig, warum soll ich das auch noch versteuern. Sollen erst mal die Reichen ihre Steuern bezahlen.“ Hemmungslos selbstgerecht ist die Redewendung: „Man gönnt sich ja sonst nichts!“ Der Standpunkt des Selbst-Gerechten ist letztlich: ich habe es überhaupt nicht nötig, mich an Regeln zu halten, Gesetze anzuerkennen, die mir nicht einleuchten, oder auch nur nicht gefallen. Der Selbstgerechte lebt nach seinem eigenen Gutdünken, nach seiner eigenen Willkür. Er hat seine eigene Zeitrechnung, kommt wann es ihm passt, geht wann es ihm passt. Sich an Vereinbarungen zu halten erscheint ihm „kleinkariert“. Der Selbst-Gerechte ist verliebt in einen recht einfachen Grundsatz: „Ich mache zu jeder Zeit das, wozu ich gerade Lust habe!“ Nicht selten ist diese Lust als Arbeit getarnt.

Kurzum: die selbstgerechte Position kreist ausschließlich um das eigene Ich – die „Anderen“ dienen höchstens als Publikum – für Bewunderung. Der Selbst-Gerechte setzt sein „Ich“ absolut, das Du verschwindet.

Das ist übrigens exakt die Kehrseite des traditionellen Verständnisses von: „Jesus ist für deine Sünden gestorben“. Hier wird ein Du absolut gesetzt, demgegenüber mein Ich in lauter Schuld und Sünden verschwindet.

Beide Gedanken zerschneiden die gute Verbindung von Ich und Du. Einmal erhebt sich das Ich über das Du (das ist der Selbstgerechte) – einmal unterwirft sich das Ich dem Du (das ist der ewige Sünder). Beide Male ist Beziehung als gemeinsames Wachstumsgeschehen zerstört.

(Dies drückt sich übrigens auch im Evangelium für diesen Sonntag aus, in der Bitte von Jakobus und Johannes, neben Jesus im Reiche Gottes sitzen zu Sie sind Repräsentanten eines selbstbezogenen Denkens und nicht eines dem Wachstum der Gruppe sich zuwendenden Denken. Die Folge dieses Denkens ist Rivalisieren: „Als die Jünger dies hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes.“ Natürlich: die beiden wollten eine Extrawurst, wollten sich über die anderen stellen.

Jesus antwortet: „Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viel.“

Diese Antwort hat zwei Aspekte. „Die Letzten werden die Ersten sein.“ Dies dreht das geläufige Denken nur um. Ändert aber nichts an der Struktur: es bleibt ein Denken in oben und unten, in erster und letzter, in gut und böse, in richtig und falsch. Es gibt auch einen Hochmut im Demütig-Sein: ein bei religiösen Menschen gar nicht so seltenes Phänomen. Die radikale Veränderung des Denkens drückt sich in dem Gedanken aus: „der Menschensohn ist gekommen, dass er diene“. „Der Menschensohn ist gekommen, der Wahrheit zu dienen. Für die Wahrhaftigkeit des Mensch-Seins hat er gelebt. Dafür hat er die ‚zerstreuten Kinder’ geeint, ihnen einen Rahmen, eine Heimat gegeben, die nicht „von dieser Welt ist“. Diese Heimat hat er Reich Gottes genannt.

Beziehung als gemeinsames Wachstumsgeschehen ist das Geschenk des sich entwickelnden Gottesreich. Es lässt sich nicht machen. Voraussetzung ist die Fähigkeit, dass die Mitglieder einer Gruppe in der Lage sind, sich auf ein Drittes, auf die Wahrheit dessen, was sich gerade zeigt zu beziehen. M. Buber übersetzt Gerechtigkeit mit „Wahrhaftigkeit“ und „Frömmigkeit“ mit „Schlichtheit“. Der „Wahrhaftige“ ist auf „Wahrheit“ bezogen – und diese Bezogenheit sieht man ihm an: es geht etwas „Schlichtes“ Unspektakuläres von ihm aus.
Auch etwas Gefährliches, denn er verschweigt die unangenehmen Seiten von Wahrheit nicht. In meiner Wahrhaftigkeit mute ich mich mir und meinen Mitmenschen zu: mit dem, was ich bei mir und bei anderen wahrnehme. Ohne zu bewerten, zu beurteilen. Und das ist gar nicht so leicht!

Jenseits von Selbstgerechtigkeit und Schuldgefühlen versuche mich leiten zu lassen von ehrlichem Verstehen: was bedeutet das, was ich wahrnehme?

Die auf Entwicklung gerichteten Fragen sind keine Warum-Fragen. Sie dienen nicht als Geschosse („Vor-Würfe“); ihr Sinn und Zweck ist es, gemeinsam die Bedeutung dessen, was ist, aufzudecken. (Im Griechischen heißt ja Wahrheit auch „nur“ das „Nicht-mehr-Verborgene“, das „Aufgedeckte“.)

Diese Fragen zu formulieren erfordert Mut: erstens den Mut wahrzunehmen, zweitens den Mut, das, was ich wahrnehme, auch auszusprechen. Dieser Mut fließt aus dem Vertrauen, dass es „jemand“ gibt, der „sich vor mich stellt“. Der mit mir und für mich ist – der in meiner Wahrhaftigkeit seine Stärke entfaltet. Hierfür brauche ich einen starken Gott: und einen menschlichen, einen Mensch gewordenen Gott. Einen Gott „für mich“ oder „für uns“. Einen in „Christus“ als Barmherzigkeit offenbaren Gott.

Gebe Gott, dass wir alltäglich in unsere Wahrhaftigkeit hineinwachsen, dass unsere Wahrhaftigkeit unsere Gedanken formt und unser Tun und Lassen prägt.  Gebe Gott, dass wir seine Stärke alltäglich in uns spüren: die Kraft der Wahrheit, die Kraft der Schlichtheit, die Kraft der Freiheit und die Kraft der Liebe, AMEN.

Predigt über Johannes 11,47-53 am Sonntag Judika (17.3.2013) Weiterlesen »

Predigt über Johannes12, 34-36

Predigt über Johannes 12, 34-36 in der Apostelkirche in Solln am letzten Sonntag nach Epiphanias 2013 (20. 01. 13)

Liebe Gemeinde,

in dem noch jungen Neuen Jahr erleben wir – liturgisch – bereits den ersten Abschied: in unserem Gottesdienst zum letzten Sonntag nach Epiphanias nehmen wir Abschied von der Weihnachtszeit, die nach der Epiphania, der „Erscheinung“ Gottes als Mensch benannt ist. Epiphania – das griechische „phaino“ (deutsch: „Phänomen“) ist die Wurzel – es bedeutet „erscheinen lassen“, „sichtbar werden“, „leuchten“. Das Er-Scheinen des Lichtes ist das Zentrum der Epiphaniassonntage.

„Im Anfang war das Wort“, heißt es im Johannesevangelium, und weiter: „in ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis … und die Finsternis hat es nicht erfasst“ (Joh 1,4-5) Die Finsternis kann es auch gar nicht erfassen. Wie sollte das gehen? Licht lässt sich nicht fassen, nicht halten, nicht in Besitz nehmen! Licht ist flüchtig, ihm fehlt die Trägheit der Materie, die Bodenständigkeit.

Ich kann mich noch gut erinnern, als kleines Kind, wie es mir unendlich wichtig gewesen ist, nicht im Dunkeln einschlafen zu müssen. Ich wollte das Licht „behalten“. Meine Kinderzimmertür musste wenigstens einen Spalt breit offen stehen, und durch diesen Spalt schien ein von dem Licht im Flur, das unbedingt brennen musste. Und dieser – wenngleich schwache – Lichtschein beruhigte mich. Als ich dann einmal mitten in der Nacht aufwachte, musste ich mit Entsetzen feststellen, dass das Licht verschwunden war. Stattdessen sah ich sich bewegende Schatten, die mir ziemlich Angst machten. Wie gebannt sah ich diesen dunklen Gestalten zu, versuchte ihnen Formen zu geben, sie zu erkennen, hatte Angst, dass es Gespenster sind, oder Tiere – und konnte nicht denken, dass es die vom Wind bewegten Zweige eines Baumes waren, deren Schattenspiel durch das Licht einer Straßenlaterne entstand und sich an meiner Kinderzimmertüre abbildete. Ich vermute, viele von uns könnten solche Gruselgeschichten aus ihrer Kindheit erzählen, Geschichten, die von der Unheimlichkeit der Dunkelheit handeln. So ist es verständlich, dass wir versuchen, die Dunkelheit abzuschaffen, das Licht festzuhalten. In unseren Städten sind wir ja auch schon recht erfolgreich darin, die Nacht zum Tag zu machen. Wenn man sich überlegt, wie dunkel es auf dieser Erde vor der Erfindung der Elektrizität gewesen sein muss!

Auf der anderen Seite: meine schaurig-grußeligen Gefühle verdanke ich der Dunkelheit. Es gibt ein langweiliges, steriles Licht, dem die Lebendigkeit fehlt. Das Licht in Einkaufszentren oder Parkhäusern zum Beispiel. In diesem Licht ist kein Leben, sondern fade schimmernde Langeweile.

Und dann gibt es noch eine ganz andere Idee. Sie klingt an in dem Wochenspruch: „Steh auf und werde licht! Denn dein Licht ist gekommen und die Herrlichkeit des Herrn ist über dir aufgegangen“ (Jesaja 60,1-2). Hier geht es erstens um ein Licht, das sich physikalischer Messbarkeit entzieht. Und zweitens um ein Licht, das nicht mehr „draußen“ ist. Du selbst „werde licht!“ „Die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir.“ Freilich – dieses „du“ bei Jesaja ist kein einzelner Mensch, sondern es ist gerichtet an eine Stadt: Jerusalem, die zerstörte Stadt Gottes, soll in neuem Licht, im Lichtglanz seines Gottes selbst erstrahlen.

Auf einen einzelnen Menschen wird dieses Wort erst im christlichen Kontext bezogen, und hier wiederum im Besonderen im Johannesevangelium. Und aus ihm ist auch unser heutiger Predigttext.

Johannes erzählt eine merkwürdige Begebenheit: Es ist die Zeit vor dem Passahfest, Jesus ist mit seinen Jüngern nach Jerusalem gekommen, die Menge hat ihm zugerufen, mit Palmenzweigen applaudiert. Da bitten ein paar griechische Männer seinen Jünger Philippus, er möge einen Kontakt mit Jesus herstellen. Philippus bespricht sich kurz mit Andreas und dann kommt es zu der Begegnung. Jesus aber wartet keine Frage ab, sondern verweist auf sein Sterben: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirb, bleibt es allein; fällt es aber in die Erde, bringt es viel Frucht … Wenn ich erhöht werde von der Erde, will ich viele mit mir ziehen.“ Das wiederum hören jüdische Männer, und die wollen es genauer wissen:

„Da antwortete ihm das Volk: Wir haben aus dem Gesetz gehört, dass der Christus in Ewigkeit bleibt; wieso sagst du dann: der Menschensohn muss erhöht werden? Wer ist dieser Menschensohn?“

Jesus hatte der geläufigen Messias-Erwartung, derzufolge der Messias/Christus, wenn er auf die Erde kommt, „in Ewigkeit bleibt“ – und nicht mehr verschwindet, widersprochen. Wenn der „Menschensohn“ „erhöht“ werden soll, dann kann das nicht der erwartete Christus sein. Wer also ist er dann?

Jesus antwortet in guter rabbinischer Tradition, nämlich indirekt. Er greift – und deshalb gehört dieser Text zu den Epiphaniassonntagen – auf die Metapher des Lichtes zurück.

„Da sprach Jesus zu ihnen: Es ist das Licht noch eine kleine Weile bei euch. Wandelt, solange ihr das Licht habt, damit euch die Finsternis nicht überfalle. Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hin geht. Glaubt an das Licht, solange ihr’s habt, damit ihr Kinder des Lichts werdet.
Das redete Jesus und ging weg und verbarg sich vor ihnen.“

Das „Volk“ vertritt die Anschauung der herkömmlichen Lehre: „wir haben aus dem Gesetz gehört.“ Das „Gesetz“ ist das was, was Gültigkeit hat. Es gibt uns Orientierung und Struktur und die damit verbundene Klarheit. Das Gesetz „scheidet“: Richtiges von Falschem, Gutes von Bösem. Mit dieser Scheidung kommen die „Ur-Teile“ auf die Welt: bitte beachten Sie, wie im Wortlaut „Ur-Teil“ enthalten ist, was ausgesagt werden soll: es sind „Teile“, also Produkte von „Scheidungen“. Es sind erste Scheidungen: „Ur“-Scheidungen. Eine der ersten Scheidungen geschieht in Genesis 1 als die trennende Scheidung von Dunkelheit und Licht: „Und Gott schied das Licht von der Dunkelheit“ (Gen 1, 4b). Solche Scheidungen sind lebensnotwendig – sie schaffen „Ordnung“ im „Durcheinander“ (Tohuwabohu) des Erlebens „vor der Schöpfung“. Aber sie schaffen nicht nur Ordnung, sondern sie dämmen auch Angst ein. Zu den Ur-Scheidungen gehört die Ur-Angst, im Chaos zu versinken, nichts zu verstehen, keine Orientierung zu finden. Vielleicht kennen manche von ihnen die Albträume, in einer fremden Stadt zu sein, sich verlaufen zu haben, nicht mehr zu wissen, wo man herkommt, wo man hin will. Die in diesen Träumen „untergebrachten“ Gefühle sind Abkömmlinge des Erlebens von Tohuwabohu.

Aus den Ur-Scheidungen entsteht Ordnung, aus der Ordnung entsteht das „Gesetz“ (wörtliche: das Gesetzte, das nicht mehr zu hinterfragen ist). Die Bedeutung des „Gesetzes“ ist es also, Orientierung zu geben, ein „Bollwerk“ zu bilden gegen das ängstigende Chaos. Das Gesetz sagt: ich bin deine Rettung: bleibe bei mir, dann musst du deine entsetzlichen, namenlosen Ängste nicht mehr spüren. Halte dich an mich und dir wird nichts passieren. Das Problem dabei ist nur, dass ein „Bollwerk“ etwas „gegen“ etwas ist – aber das, wogegen es ist, nicht verwandeln kann. Die starke Stadtmauer kann die Bewohner einer Stadt beruhigen – aber sie kann die „Feinde draußen“ nicht zum Verschwinden bringen. Das Licht kann zwar leuchten, aber unaufhaltsam folgt jedem Tag die Nacht.

Als ich als kleiner Junge darauf bestand, beim Einschlafen müsse Licht brennen, wollte ich nicht wahrhaben, dass die „Finsternis das Licht nicht annimmt und nicht annehmen kann“. Als ich dann in der Dunkelheit aufwachte, kamen die alten Ängste hoch, die zu erleben mir das Licht erspart hatte. Daraus erwächst der naheliegende Gedanke: es muss immer ein Licht da sein, es muss immer „gut“ sein, es muss immer „schön“ sein. Es sind unsere Ur-Ängste, die uns zu der Sehnsucht nach Unvergänglichkeit, nach „ewigem Leben“ bringen. In dem vorhin gehörten Evangelium der Verklärung Jesu verkörpert Petrus die Stimme dieser Sehnsucht: „Herr, hier ist gut sein. … Willst du, so will ich hier Hütten bauen“ – um das Wunderbare, die „Vision“ Jesu festzuhalten, ihr Form zu geben. Viele Kirchen sind an solchen Orten erbaut worden, wo ein Wunder geschah, oder jemand eine Vision hatte, was durch den Bau einer Kirche gleichsam „in Stein gehauen“, verewigt werden sollte.

Von daher erschließt sich uns eine verblüffende Erkenntnis: das „Gesetz“, das den „ewigen Messias“ erwartet, ist ein Bundesgenosse der Sehnsucht nach Unvergänglichkeit, nach Ewigkeit. Der Messias soll diese Ewigkeit verbürgen: Gerechtigkeit, Glück Zufriedenheit – und zwar für immer! „Deine Tränen sollen getrocknet werden…“ Das „Gesetz“, das doch mit Strenge, Disziplin vielleicht sogar Askese in einer Reihe steht – es steht also im Dienste der Sehnsucht nach Unvergänglichkeit. Die Sehnsucht nach Ewigkeit aber ist legiert – darauf hat Nietzsche hingewiesen – mit dem Lustprinzip: „Doch alle Lust will Ewigkeit -, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“ (Nietzsche, Also sprach Zarathustra).

Jesus weist darauf hin, dass der Menschensohn/Messias kein Handlanger des Lustprinzips ist. Anstelle der Lust steht der Ver-Lust. Es ist kein Zufall, dass der Verlust, das Fehlen, der „Frust“ in seinem Wortstamm die verlorene Lust birgt.

„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt“ – wenn das Weizenkorn nicht bereit ist, sich selbst zu verlieren, seiner selbst verlustig zu gehen, geht es nicht weiter, wird es keine Frucht tragen. Ein ewiges Weizenkorn wird seiner Bestimmung nicht gerecht, es ist nicht mehr Ausdruck von Wachstum, sondern von Stagnation!

Und natürlich lässt sich auch der Glaube an Jesus Christus als den Messias als das „neue Licht in der Finsternis“ im Sinne von Stagnation verwenden. Dann wird das jüdische „Gesetz“ durch einen „Messias“ ersetzt – mit genau denselben Problemen, die die jüdische Religion hatte. Und in der Tat sieht man an der Geschichte der jungen Christenheit, dass der Versuch, das alte, jüdische Establishment zu entmachten zu einem neuen christlichen Establishment geführt hat, mit der neuen Hauptstadt Rom. Das Establishment ist immer auf der Seite des Gesetzes, deshalb ist es wesentlich konservativ, bewahrend. Und das ist gut so. Aber das bewahrte Weizenkorn trägt keine Frucht. Es muss in die Erde fallen. Damit die Gruppe, die Gesellschaft in ihrem Wachstum nicht stagniert, bedarf sie der Mystiker, bedarf es derjenigen, die sie zugleich radikal in Frage stellen. Erst so entsteht Fruchtbares, Sich-Entwickelndes.

Damals, als kleiner Junge, als ich in der Nacht aufwachte und es mir so mulmig zumute war, habe ich die Dunkelheit gehasst. Weil sie mir so verdammte Angst machte. Je höher der Angstpegel steigt, desto mehr überflutet er die Ufer des nüchternen, besonnenen Denkens. Jemand anders wäre vielleicht auf die Idee gekommen, sich eine Taschenlampe zu besorgen. Um mit ihrer Hilfe sich der Dunkelheit nicht mehr so ausgeliefert zu fühlen. Ich vermute, unser Forschergeist hat viel mit Angst und ihrer Vermeidung zu tun. Welt mitgestalten können erleichtert, führt aus der Verzweiflung des sich gänzlich ausgeliefert Fühlens heraus.

Gestalten, verändern, modifizieren: dies geht alles erst, wenn die Erstarrung gelöst ist. Der Menschensohn muss „erhöht“ werden. Aber nicht so, dass er nur bewundert und verehrt wird, dass er auf einen goldenen Sockel gestellt wird. Auch nicht so, dass das Kreuz seines Leidens vergoldet wird. Dies führt nicht ins Leben.

Der Messias will nicht in ewiger Erstarrung „stecken“ bleiben: er will verwendet, er will von uns gebraucht werden. Nicht um sein ewig-totes Dasein geht es, sondern: er will uns ein Vorbild für Wachstum und Entwicklung, für Werden und Vergehen geben: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt…“ Und weiter: „Während ihr das Licht habt, glaubt an das Licht, damit ihr Söhne des Lichts werdet!“ Um sich als Weizenkorn der dunklen Erde anzuvertrauen, bedarf es des Glaubens an das Licht. Bedarf es des unbedingten Vertrauens in die Möglichkeit des Werdens. Das ewig „selbst“ bleiben wollende, das perfekte Weizenkorn ist das tote Weizenkorn. Ihm fehlt das Vertrauen für Wachstum und Entwicklung – gerade so bleibt es von der Erde abgeschnitten. Das sich dem Wachsen hingebende Weizenkorn aber trägt viel Frucht. Dies hatte Jesus erkannt. Und er hat das religiöse Establishment seiner Zeit damit konfrontiert. Das Ergebnis dieser Konfrontation ist bekannt. Man macht sich nicht beliebt, wenn man die mühsam errungenen Bollwerke gegen die Angst radikal in Frage stellt.

Und so endet unser Predigttext mit dem lapidaren Hinweis: „Dies redete Jesus und ging weg und verbarg sich vor ihnen.“ Auch dies gehört zu diesem merkwürdigen Menschensohn, den wir als unseren Messias bekennen, dazu: er ist nicht der coole Überflieger, stets souverän, mal dort eine Heilung, mal hier ein kluges Wort. Er verbirgt sich – vielleicht hat er Angst, ahnt, dass die Wirkung seiner Worte explosive Kraft in sich birgt. Vielleicht heißt das Verbergen aber auch, wie wichtig es ist, immer wieder zu sich selbst zurück zu finden, sich auf sich selbst zu besinnen – gerade wenn man in der Öffentlichkeit steht. Denn die Verführung, sich als den Messias bewundern und feiern zu lassen ist groß.

Und so bewegen wir uns von den vielen Weihnachtslichtern kommend auf die Passionszeit hin. Auf eine Zeit des Sich-Verbergens, und des beginnenden Wachsens.
Gebe Gott, dass wir genügend Kraft empfangen, den Messias in uns wachsen zu lassen, dass wir genügend Geduld finden, Ungewissheiten zu ertragen und dass wir genügend Vertrauen erleben, das unsere Ängste vor der Vergänglichkeit lindert. Gebe Gott, dass wir nicht die Ewigkeit suchen, sondern uns unserem alltäglichen Leben im Geiste der Barmherzigkeit und Liebe hingeben, AMEN.

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Predigt über Jesaja 40, 1 – 8

Predigt über Jesaja 40, 1-8 am 3. Adventssonntag 2012 in Jakobus

Liebe Gemeinde,

ich finde, es gehört zum Schwersten überhaupt, jemanden zu finden, von dem man sich wirklich wahrgenommen und verstanden fühlt. Einen Arzt zum Beispiel, der sich die Mühe macht, erst einmal zuzuhören, ohne gleich nach Lehrbuch und Statistiken etwas zu verschreiben. Oder einen Physiotherapeuten, der nicht nur mein Knie oder meine Schulter sieht, sondern meinen ganzen Körper. Oder einen Psychotherapeuten, der in der Lage ist, etwas von meinem Unbewussten, von meinem seelischen Erleben zu verstehen, etwas, das mir selbst unklar, verschwommen, diffus ist. Oder einen Pfarrer, der nicht schon die Bibelzitate parat hat und seine Theologie mir versucht nahe zu bringen. Oder einen Partner, eine Partnerin, die bereit ist, sich mit mir aufmerksam und nüchtern auseinander zu setzen, ohne mir gleich Vorwürfe zu machen ohne mir gleich Ratschläge zu geben, ohne falschem Mitleid meine Seele zu verkleben.

Ich glaube, das alles ist deshalb so schwierig, weil wir Menschen durchaus gerne anderen Menschen helfen, aber uns extrem schwer damit tun, auszuhalten, dass wir keine Hilfe zur Hand haben, dass wir ohnmächtig sind. Gerade als Arzt, als Therapeut als Pfarrer habe ich die Rolle eines Heilers, eines Helfers – und so wird von mir auch erwartet, dass ich helfen kann. Es macht sehr unangenehme Gefühle, sich einzugestehen, zunächst einmal keine Ahnung davon zu haben, woran der Andere wirklich leidet. Hinzu kommt, dass viele Menschen auch gar nicht wissen wollen, woran sie leiden, sondern sie wollen nur aufhören zu leiden. Die Schmerzen sollen weg, die Depression mit ihren Ängsten soll sich in Wohlgefallen auflösen, die Leistungsstörung soll verschwinden usw. So entsteht ein Druck, den sensible Menschen so auf sich beziehen, dass sie meinen, sie müssen in jedem Fall helfen können. Die sich schuldig fühlen, wenn sie mit ihrer eigenen Ohnmacht in Kontakt kommen. Gerade in helfenden Berufen finden sich viele Menschen, die schon als Kinder gespürt haben: „meine Lebensaufgabe ist es, meinen Eltern zu helfen, sie zu stabilisieren oder gar sie glücklich zu machen.“

Und genau das ist das Problem: je stärker ich darauf angewiesen bin, für den anderen gut zu sein, desto stärker komme ich unter Druck, wenn der oder die mir Anvertraute mein Gut-Sein nicht „würdigt“.

Sehr einfaches Beispiel: ich möchte eine gute Mutter sein, die ihrem Kind ein gesundes Abendessen selber kocht, vitaminreich, mit Bio-Gemüse, Bio-Salat usw. Und eben dieses Kind kommt bestens gelaunt zur Abendessenszeit nach Hause und sagt freundlich: „Ich komme gerade von Mekki – das war echt lecker dort. Du musst übrigens für mich nicht mit decken, ich bin satt.“

Das macht je intensivere Gefühle, je mehr ich darauf angewiesen bin, dass ich nicht nur gut gekocht habe, sondern auch ein gute Mutter bin. Diesen Gedanken umdrehen bedeutet: die Freiheit einer Beziehung hängt damit zusammen, wie bedürftig der Einzelne ist. Wie angewiesen er darauf ist, gelobt zu werden. Wie viel „Nein“ in Anführungszeichen er aushält. Denn in unserem Beispiel ist es ja gar kein „Nein“ zum Essen der Mutter, sondern nur Ausdruck eines selbständig Gewesen Seins. Wenn ich so bedürftig bin, dass ich das selbstständig Werden und Sein des Anderen als gegen mich gerichtet erlebe, dann haben wir beide es schwer. Wenn ich das Gefühl habe, das Selbstständig-Sein des Anderen vernichtet mich, weil sein Selbstständig-Sein bedeutet, dass ich in Vergessenheit versinke, wird die Beziehung unerträglich.

Dies alles gilt nun auch für unsere Beziehung zu Gott. Viele von uns, so vermute ich, sind mit einem Gott aufgewachsen, der kein Interesse an meiner Selbstständigkeit hat, aber viel wert legt auf meinen Gehorsam, ja auf meine Unterwürfigkeit. Ein Gott, der einem totalitären Herrscher näher steht als einem gütigen, barmherzigen und liebevollen Vater oder Mutter. Die Umkehr dieser Gottesbeziehung ist, dass auch ich das Selbstständig-Sein Gottes nicht ertrage. Dann gehöre ich zu den Leuten, von denen Meister Eckehart sagt, sie „wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine Kuh ansehen, und wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du wegen der Milch und des Käses und des eigenen Nutzens.“ Und er fährt fort: „So halten’s alle jene Leute, die Gott um äußeren Reichtum oder inneren Trostes willen lieben; die aber lieben Gott nicht recht, sondern sie lieben ihren Eigennutz.“

Ein ziemlich anderes Gottesbild entwirft der Verfasser unseres heutigen Predigttextes, mit dem das 40. Kapitel des Jesajabuches beginnt.

„Tröstet, tröstet mein Volk spricht euer Gott
redet zum Herzen Jerusalems und rufet ihr zu,
dass vollendet ist ihr Frondienst, dass abgegnadet ist ihre Schuld,
dass gedoppelt von seiner Hand sie empfängt für ihre Sündenbußen.“

Mit diesem Kapitel beginnt zugleich die Verkündigung eines Propheten, von dem man bis heute nicht genau weiß, wer er war. War es Jesaja selbst? Dann müsste er über eine sehr lange Zeitspanne hinweg gelebt haben. War es ein weiterer Prophet, der sich in seinem Personsein zurück genommen hat, der stark im Geiste Jesajas predigte? Man hat ihn deshalb Deuterojesaja genannt, den zweiten Jesaja. Wie auch immer: unser Predigtext und die Botschaft dieses Propheten beginnt mit radikal neuen Gedanken: keine Gerichtsansage, keine Strafpredigt, keine Beurteilung und schon gar keine Verurteilung seiner Volksgenossen, des Volkes. Stattdessen:

„Tröstet, tröstet mein Volk!“
Gott als ein Gott des Trostes.

Was ist das: „Trost“?

Das Wort „Trost“ gehört zu der indogermanischen Wortgruppe „treu“ und bedeutet „innere Festigkeit“, „innere Sicherheit“. Auch das Wort „trauen“ gehört hierher: jemandem „trauen“ zu können, ihn als „zuverlässig“ zu erleben ist „tröstlich“.  Denken Sie auch an das englische „true: wahr, richtig, echt“. Und auch in tree, „Baum“. als Sinnbild von Festigkeit, ist der Stamm von Trost enthalten.

Ein Trost, der das ist, was sein Wortstamm verheißt, verleiht also „innere Sicherheit“. Davon zu unterscheiden ist das schnelle Trostpflaster, der „billige“ „Es-wird-schon-wieder-Trost“. Gottesdienste, auch Predigten sind sehr gefährdet für den schnellen, scheinbar tröstenden Kick. „Schnell mal die Kuh melken…“ und schon am Sonntag Nachmittag ist alles wieder beim Alten. Die alten Ängste, die alten Schmerzen, die alte Enttäuschung …

Deshalb lautet die Überschrift des Trostes: „Rede zum Herzen Jerusalems:“ Erst dann kommt der Inhalt des Trostes: „Die Zeit deiner Sklaverei ist vorbei …“

„Rede zum Herzen Jerusalems!“ heißt: was mich wirklich und wirksam tröstet ist etwas, das tief in mich hineinkommt, was mir zu Herzen geht. Die dem Trost entgegen kommende Bewegung ist ein sich öffnendes Herz. Ein verschlossenes Herz ist untröstlich. Und ein untröstliches Herz ist unersättlich. Nicht satt zu kriegen.

Verdeutlichen wir es uns an unserem kleinen Beispiel: natürlich ist die Mutter, die liebevoll gekocht hat enttäuscht, dass ihr Kind satt ist. Alles hängt davon ab, wie sie mit ihrer Enttäuschung umgeht. Es gibt die mitleidige Art: jetzt habe ich mir solche Mühe gegeben und du undankbares Kind bist schon satt. Diese Methode erzeugt Schuldgefühle und Hass; der Hass kann sich richten auf diejenige, die mir Schuldgefühle macht, oder – auf mich selbst. Es gibt die zornige Art: du kannst gleich in dein Zimmer gehen, dich will ich heute nicht mehr sehen. Diese Methode ist die des Beziehungsabbruches, bei der das Kind lernt, erwünscht ist es nur, wenn es „passend“ ist. Und natürlich gibt es noch viele Varianten dazwischen. Entscheidend ist: dies alles ist eine Welt ohne Trost, ohne  Gnade und ohne Barmherzigkeit. Es ist eine Welt der Ver-Zwei-flung – in der es nur entweder oder, nur dich oder mich, nur eine Position gibt.

Der Trost, der „Halt und Sicherheit“ geben kann, geschieht über die Öffnung der „Zwei“ zur „Drei“ – zum Dritten. Der Tröster, so wird im Johannesevangelium der Heilige Geist genannt – ist die dritte Person Gottes, die aus der Katastrophe der Kreuzigung des Sohnes im Angesicht des ohnmächtigen Vaters herausführt – hineinführt ins Leben. Der Dritte in unserer Geschichte kann der Vater und Ehemann sein, der seiner Frau vielleicht sagt, dass er sich jedoch sehr auf das Essen freue aber auch Verständnis hat für jenen, der da bei Mac Donalds sich verköstigte. Und dass in Zukunft vorher besprochen wird, wie das Abendessen sein wird. Die Absprache, die Vereinbarung, der Vertrag ist ebenfalls ein wirkungsvoller Dritter. Der Dritte darf weder mit dem Einen noch mit dem Anderen verschmelzen, um seine tröstende und heilende Aufgabe wahrnehmen zu können. Es ist ein verbreiteter Irrtum, gute Erziehung bedeutet, dass die Eltern immer einer Meinung sind. Das führt nur dazu, dass von vorne herein klar ist, wer die „A-Karte“ zieht!

Es ist Gott selbst, der im Dritten geschieht, der lebendig macht und tröstet. Allerdings, und das sagt Jesaja sehr mit recht: Diese Lebendigkeit bedarf eines sich öffnenden Herzens. Wer den Weg zum Dritten nicht finden kann, der bleibt Gefangener seines polaren Denkens, für ihn gibt es nur: entweder du bist die Kuh, die ich melken kann, oder ich bin die Kuh, die gemolken wird.

Jesaja ruft – so verstehe ich ihn jedenfalls dazu auf, diese Wahrheit so tief als möglich in sich hinein zu lassen. Ihr den Weg zu öffnen:

„Stimme eines Rufers:
In der Wüste bahnt SEINEN Weg,
ebnet in der Steppe eine Straße für unseren Gott.
Alles Tal soll sich heben,
aller Berg und Hügel sich niedern,
das Höckrige werde zur Ebne und das Hügelige zur Senke.
Offenbaren will sich SEIN Ehrenschein, alles Fleisch vereint wird’s sehen.
Ja, geredet hats SEIN Mund.

Stimme eines Sprechers: Rufe!
Er spricht zurück: was soll ich rufen! Alles Fleisch ist Gras, all seine Anmut der Feldblume gleich!
Verdorrt ist das Gras, verwelkt ist die Blume, da SEIN Windhauch sie angeweht hat.

-Gewiss,
Gras ist das Volk, verdorrt ist das Gras,
verwelkt ist die Blume,
aber für Weltzeit besteht die Rede unseres Gottes.“ (M. Buber)

„Für die Weltzeit besteht die Rede unseres Gottes“. Die „Rede unseres Gottes“ ist das Wort, ist die Sprache. Die Sprache ist ebenfalls ein Drittes: sie ist die Brücke zwischen mir und Ihnen, zwischen dem Sprecher und der Welt da draußen. Sie vermittelt gleichsam zwischen innen und außen. Sie vermittelt aber auch zwischen meinen Gefühlen und meinem Verstand, vorausgesetzt ich verwende sie auch dafür. Wenn Sie Reden von totalitären Machthabern hören (Hitler, Göbels), merken Sie, wie sehr hier die Sprache von aggressiven und hasserfüllten Gefühlen okuppiert ist. Und die Sprache schafft den Vertrag zwischen Gott und uns. Die einfachste Form dieses Vertrages sind die zehn Gebote, zusammengefasst im Doppelgebot der Liebe: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte und deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

„Die Rede unseres Gottes“ ist eine Sprache des Verständnisses und der Güte gerade im Angesicht eigener Nichtigkeit. „Alles Fleisch ist Gras, all seine Anmut der Feldblume gleich!“ Das Verrückte ist: der mein Herz öffnende, mein Leben verändernde Trost bedingt das Erleben meiner eigenen Vergänglichkeit. Wenn die Mutter in unserem Bespiel sagen kann: „Na ja, ich kann dich schon auch verstehen, du hattest Hunger usw…“ ist sie in der Lage, ihre eigene Enttäuschung zu relativieren. Sie lässt etwas ihr Fremdes, nämlich das Verständnis für das Handeln ihres Kindes, in ihr Herz hinein. Und dieses Verständnis beschränkt und begrenzt ihre eigene Enttäuschung. Jede Grenze aber erinnert an das Ende, an das Vergehen unseres Lebens. Und das macht unangenehme Gefühle, Gefühle, die mir ein „hartes, kaltes Herz“ erspart.

Nebenbei: das Kind, das Verständnis, gerade auch für seine nicht so tollen Seiten spürt, wird seinen Eltern in der Tiefe – so was zeigt man natürlich nicht – sehr, sehr dankbar sein. Verständnis ist auch so ein „Drittes“ – es ist erst möglich, wenn ich die Absolutheit meines Standpunktes aufgeben kann.

Was heißt also Gott den Weg zu bereiten? Es heißt, die zerklüftete Landschaft unserer Seele ebnen, es heißt Brücken bauen, wo unüberwindbare Gräben sind, heißt die hohen Gipfel eigenen Wissensdünkel verlassen ebenso wie die dunklen Täler unserer Niedergeschlagenheit und unseres Unwert-Fühlens. Und immer wieder heißt es: sich leer machen, sich leer machen von seinem Vor-Wissen, von seinen Vor-Urteilen, die ja letztlich eine Ansammlung von Erinnerung. Nur ein leeres Gefäß kann etwas anderes aufnehmen. Deshalb „sollst du schweigen!“ predigt Johannes Tauler. „In diesem mitternächtlichen Schweigen, in dem alle Dinge in tiefster Stille verharren und vollkommene Ruhe herrscht, da hört man das Wort Gottes in Wahrheit. Denn soll Gott sprechen, so muss du schweigen. Soll Gott in dich eingehen, so müssen alle Dinge ihm den Platz räumen.“ AMEN.

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Predigt am 15. Sonntag nach Trinitatis in der Jakobuskirche in Pullach

Predigt über Galater 5,25-26.6,1-3.7-10 am 15. Sonntag nach Trinitatis 2012 in der Jakobuskirche Pullach

Liebe Gemeinde,

in den Texten unseres heutigen Gottesdienstes ist viel von „Sorge“ die Rede. In den Nachrichten auch: jeder dritte Deutsche macht sich Sorgen um seine Rente. Die Eurokrise macht Sorgen. Mit zunehmenden Alter häufen sich die Gespräche über Krankheiten, die Sorgen machen.
Und natürlich machen Kinder Sorgen.
„Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder große Sorgen“ heißt es.
Warum sagt man eigentlich nicht: „Kleine Kinder, kleine Freuden, große Kinder große Freuden?“

Sich Sorgen zu machen, scheint ziemlich verbreitet zu sein. Demgegenüber muten die gehörten Texte naiv an: „Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet“ (Matthäus 6,25). Und unser Wochenspruch überrascht mit dem einfachen Vorschlag, wie man seine Sorgen los wird:
„Alle eure Sorgen werft auf ihn!“ (1. Petr. 5,7).

Aber wie soll das gehen? Sorgen auf jemand werfen?
Na ganz einfach: ich brauche bloß in missmutigster Laune sagen: „ich mache mir solche Sorgen um dich. Um deinen Lebenswandel.“ Oder: „Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht!“ Was im Klartext heißt: ich bin so was von sauer, dass du mir das und das zumutest. Schon sind meine Sorgen in Form von Schuldgefühlen beim Anderen. Und was bekomme ich dafür? Einsicht? Die schuldbewusste Unterwerfung: „Es tut mir ja so leid. Ich will das nie mehr machen!“?  Sehr unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist eine Verhärtung der Beziehung, ein Abbruch des freundlichen Kontaktes. Diese Art von „Sorgen auf den Anderen werfen“ erzeugt in der Tiefe Hass.

Auf der Anderen Seite: wohin mit den eigenen Sorgen. Sorgen haben etwas Klebendes, einem Kaugummi vergleichbar, in den man hineingestiegen ist. Der die Freude am Gehen, am sich frei bewegen verleidet.

Dazu passt die Grundbedeutung des Wortes „Sorge“: „Kummer, Gram“. Im Russischen gibt es das Wort „Soroga“, ein „mürrischer Mensch“. Vergleichbar vielleicht dem bayrischen Begriff „Z’widerwuarz’n“.

Nun gibt es im Deutschen noch eine weitere Bedeutung des Wortes „Sorge“ und zwar in Verbindung mit der Präposition „für“: die „Fürsorge“. Fürsorge ist eine Haltung, die sich wesentlich von dem „sich Sorgen machen“ unterscheidet.
Der mürrische Mensch, dem alles zuwider ist, ist gerade nicht fähig zu Fürsorge. Fürsorge hat mit Freude, mit Anteilnahme und mit Liebe zu tun. Oder anders: es gibt eine Art von Sorgen, bei denen kreist der Mensch nur um sich. Nichts passt ihm: an allem gibt es etwas auszusetzen. Der „notorische Nörgler“, der nicht zufrieden zu stellen ist. Der sich eher die Zunge abbeißen würde, als zu sagen: etwas ist in Ordnung, ist gut, so wie es ist. Oder – noch undenkbarer: du bist in Ordnung, so wie du bist!

Und es gibt eine Art von Fürsorge, in denen öffnet sich der Mensch dem Leben: dem eigenen Leben wie dem Leben der Mitgeschöpfe. Der fürsorgliche Mensch lebt in guter Beziehung: mit sich selbst und mit dem Leben, das ihn umgibt. Der fürsorgliche Mensch hat (an-)erkannt: die Quelle seiner Sorgen sind seine eigenen Ängste vor der Lebendigkeit des Lebens. Und: dass seine Sorgen in direktem Zusammenhang mit fehlendem Vertrauen stehen. Der „Soroga“ will nicht akzeptieren, dass Leben geschieht und sich seiner Kontrolle entzieht. Die Haltung der Fürsorge strömt aus einem ganz anderen Grundgefühl: aus dem des Vertrauens und der Liebe – zum Leben. Ich verbinde diese Haltung mit dem, was Paulus als „Leben im Geist“ bezeichnet. Und ich füge hinzu: Leben im Geist der Liebe.

Davon handelt unser heutiger Predigttext, ein Abschnitt aus dem Galaterbrief, Kapitel 5, 25-26. 6, 1-3.7-10.

„Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. Lasst uns nicht nach eitler Ehre trachten, einander nicht herausfordern und beneiden. Liebe Brüder, wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid; und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest. Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst.“

„Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln“:  das von Paulus hier verwendete griechische Verb für „wandeln“ (stoicheo) ist wenig gebräuchlich im NT – anders als das zu ihm gehörige Substantiv: stoicheion, der Baustein. Und sein Plural, stoicheia, das sind die Bausteine der Materie, die Atome, aus denen Anderes, Zusammengesetzeres entsteht. „Im Geist wandeln“ ist also auf einer elementaren Ebene (Elementarteilchen) anzusiedeln; nicht auf der Ebene von fertigen Gedanken (komplexen Molekülen), sondern da, wo die Quelle für die Entstehung von Gedanken sich befindet. So ist es kein Zufall, dass der alttestamentliche Text, der dem heutigen Sonntag zugeordnet ist, die Schöpfungsgeschichte ist, und zwar jene ältere, in der es heißt: „Und ER, Gott, bildete den Menschen, Staub vom Acker, er blies in seine Nasenlöcher Hauch des Lebens, und der Mensch wurde zum lebenden Wesen“.

Im Geist wandeln heißt also zweierlei: die radikale Anerkennung der Nichtigkeit unseres Lebens („Staub vom Acker“) und die ebenso radikale Anerkennung des Angewiesenseins auf IHN/ES, der/das uns geschaffen hat. Die Gegenbewegung dazu ist die Leugnung unserer Nichtigkeit verbunden mit der Idee, ich muss mich aus mir selbst heraus erschaffen oder modern ausgedrückt „neu erfinden“ (können). Letzteres führt zur Haltung des „soroga“, der lieber in seinen Sorgen erstickt als dass er sein Angewiesensein, sein Abhängigsein anerkennen will. Der „soroga“ ist in der Tiefe ein einsamer, misstrauischer Mensch, der nicht bereit ist, seine Sorgen von der Wirklichkeit in Frage stellen zu lassen. Er verwendet seine Sorgen dafür, sich von der Wirklichkeit abzuschotten. Er sieht nicht die Schönheit eines Sonnenstrahls, sondern die Gefahr, dass zu langes In- der-Sonne-Sein Hautkrebs auslöst.  Er hat viele Versicherungen, um abgesichert zu sein. Aber all dies erleichtert ihn nicht wirklich.

Jesus betont in seiner Bergpredigt (aus ihr stammt das heutige Evangelium) das Trügerische des sorgenden Kreisens um das materielle Wohl („Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung, und der Leib mehr als die Kleidung?“ Matthäus 6, 25b), und Paulus betont den Selbstbetrug des sorgenden Kreisens um das eigene Wichtig-Sein: „Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst!“ Die Gefühle dieses Selbstbetrugs sind: nicht mehr abschalten können, sich gehetzt und getrieben fühlen, Nachts nicht zur Ruhe kommen, am Morgen sich gerädert fühlen.

„Wenn jemand meint er sei etwas…“
Um wie viel hätten wir selbst, unsere Mitgeschöpfe und nicht zuletzt unsere gute alte „Mutter Erde“ es leichter, wenn wir Menschen uns nicht so ungeheuer wichtig nähmen! Um wie viel leichter hätten wir es, wenn wir statt unsere Talente für die „eitle Ehre“ zu opfern, unser ohnehin so kurzes Leben der Wahrheit unseres Seins und unseres Geworden-Seins und unseres Vergänglich-Seins zur Verfügung stellten. Und in diesem Geschehen lernten loszulassen, uns fallen zu lassen in die barmherzigen Hände des lebendigen Gottes.
„All’ eure Sorgen werft auf ihn, auf den barmherzigen Gott!“ Heißt: nimm die Wirklichkeit als, die sie ist. Lass dich tragen von deiner Lebendigkeit, die dir Gott jeden Tag aufs Neue schenkt.
„Sich tragen lassen.“ Ich habe im fortgeschrittenen Alter begonnen zu reiten. Und es macht viele Gefühle, von Angst bis Glück, von Freude bis Verzweiflung. Es ist so ungeheuerlich, sich einem um so viel stärkeren, mächtigeren Lebewesen anzuvertrauen. Gerade wir Männer haben es mit dem sich tragen lassen scheint mir besonders schwer. Wir meinen „es im Griff haben“ zu müssen. Ein recht anstrengender Lebensmodus. Und vor allem eine fette Illusion. Leben lässt sich nicht in den Griff kriegen. In den Griff genommenes Leben ist gewürgtes Leben. Mit der großen Gefahr, es schließlich ganz zu erwürgen.
Auf der anderen Seite: „Sich tragen lassen“ heißt nicht: den anderen auszubeuten, auf Kosten des anderen zu leben. Ebenso wenig wie reiten heißt, wie ein nasser Sack auf dem Pferd zu hängen. So wird man nicht lange getragen werden. Reiten, so wie ich es jedenfalls kennen lerne (denn natürlich gibt es auch hier die Gedanken, man müsse zuerst das Pferd brechen) ist ein fein abgestimmtes Miteinander zwischen Pferd und Reiter. Ein Geben und Nehmen. Einer trage des anderen Last ist ein wechselseitiges Geschehen – das zerbricht, wenn die Rollen statisch werden: einer, der nur trägt, einer der nur getragen wird. Diese Art der Beziehung muss auf Dauer an ihrer Einseitigkeit scheitern.

So ist es auch mit dem Leben: Leben spielt sich im „Dazwischen“ ab. Mal so, mal so. Leben ist nicht statisch. Natürlich gehört zum Leben krank sein dazu, und Schmerzen haben, und traurig sein, und nicht schlafen können und sich aufregen und enttäuscht sein und zu viel getrunken haben und was es so alles gibt. Und dass mein Leben ein Ende hat. „Aus Staub bist du gemacht, zu Staub wirst du wieder werden.“ Natürlich ist das alles so. Sich darüber Sorgen zu machen führt zu nichts. Viel interessanter ist zu erleben, zu spüren: es gibt ein dazwischen, es gibt ein heute, es gibt ein jetzt. Und dieses Jetzt ist alles, alles, was wir haben!

Je sicherer und selbstverständlicher wir verankert sind in unserem vergänglichen Leben, desto großzügiger werden wir auch mit den großen und kleinen Fehlern unserer Mitmenschen umgehen können. Der „sanftmütige Geist“, von dem Paulus spricht, der dazu dienen soll, dem anderen „aufzuhelfen“, entstammt einer tiefen inneren Zufriedenheit. Je selbstverständlicher ich in Gott verankert bin, desto weniger kann mich der andere nerven. Desto mehr Spielraum finde ich in mir, den Anderen so anzunehmen, wie er eben gerade ist. Und erst in diesem Spielraum entsteht die Möglichkeit, sich über „Schwieriges“ liebevoll auszutauschen. Wenn ich mich von vorne herein unverstanden fühle – wenn ich eh’ damit rechne, wieder eine (verbale) Ohrfeige zu bekommen: dann schütze ich mich doch lieber, halte mir die Hände über den Kopf – anstatt dem anderen in die Augen zu schauen und mit ihm in einen wahrhaftigen Dialog zu treten.

Und dann sagt Paulus etwas so Wichtiges: „Und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest.“ Ins Bayrische übersetzt heißt das: „nimm dich erst bei deiner eigenen Nasen – anstatt deine Nase in die Angelegenheiten anderer hinein zu stecken!“ Es ist genauso leicht, die Fehler beim Anderen zu sehen, wie es schwer ist, die eigenen Schattenseiten kennen zu lernen und ernst zu nehmen.

Es ist um so viel leichter, noch einmal deftig ausgedrückt, sich über jemand Anderen „das Maul zu zerreißen“ als bei sich selber nach zu schauen, was meine Affekte mit mir selber zu tun haben. Das sind die Lasten, die ich dem Anderen zumute, ohne es zu merken: er wird zum Träger meiner eigenen Schattenseiten, meiner eigenen Balken im Auge. Eine besonders schwere Last für unsere Mitmenschen sind unsere Sehnsüchte und Wünsche. Die Sehnsucht nach einem Retter, nach einem Messias, der mir alle meine Wünsche erfüllt, der mir alles Schwere abnimmt, der mich versorgen soll: der Träger meiner Hoffnungen. Begabte Kinder sind besonders missbrauchbar als Hoffnungs- und Sehnsuchtsträger. Und wenn sie die eigenen Hoffnungen nicht erfüllen heißt es: „ich mache mir solche Sorgen um dein Leben.“ Übersetzt heißt das: ich ertrage es nicht, dass du dich anders entwickelst, als ich es für richtig halte!

„Einer trage des Anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen!“ Noch einmal: ein wunderschöner Gedanke. Mit einer weiteren Ergänzung: im Rahmen der eigenen Kräfte und Möglichkeiten. Es gibt gerade in den „helfenden Berufen“ eine Verführung hin zu einer falsch verstandenen, größenwahnsinnig gewordenen Idee, den Anderen tragen zu können. Die Wirklichkeit ist: ich kann niemand, der beschlossen hat, sein Leben zu zerstören, sei es durch Drogen, sei es durch Suizid, davor bewahren. Ich kann niemand aus dem Sumpf seiner Depressionen ziehen. Das ist so, weil wir in der Tiefe allesamt allein und auf uns gestellt sind.

Aber auch hier gibt es ein „dazwischen“: ich kann dem anderen wirklich zuhören. Ich kann versuchen auszuhalten, was mir gesagt wird, ohne gleich mein Eigenes hinzustellen. Es gibt Menschen, die warten in Gesprächen nur darauf, das, was sie wichtig finden, in einer Art Monolog vor sich hinzustellen. Der Andere ist dann nicht Gesprächspartner, sondern Publikum. Statt eines raumöffnenden Dialoges entsteht ein eintöniger Monolog.

Eine andere Möglichkeit, den Dialog im Keime zu ersticken ist das Bewerten. Der sich öffnende Dialog, vertrauensvolles Loslassen geschieht erst da, wo ich mich angenommen fühle. Wo mir nicht ein besserwisserisches Wertesystem von „wie es sich gehört“ und „was an mir falsch ist, und was ich besser machen soll, und wie ich anders sein soll, und überhaupt…“ übergestülpt wird. Natürlich ist es viel leichter, das Gehörte nach dem eigenen Raster zu bewerten. Es erspart mir Gefühle der Verunsicherung.  Und es erspart mir die Schmerzen des mich wirklich in den Anderen Hineinzufühlen – gerade in seine Schwächen. Und in der Tiefe glaube ich spüren wir, ob und wie der Andere an uns selbst interessiert ist, oder daran, seine eigenen Überzeugungen auszubreiten. Und in der Tiefe spüren wir auch selbst, wie viel anteilnehmendes Interesse wir für den Anderen, den Fremden aufbringen.

Paulus bezieht dieses tiefe unbewusste Wissen auf Gott selbst, wenn er am Ende unseres Predigttextes schreibt:

„Irrt euch nicht. Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer auf sein Fleisch sät, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten. Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen. Darum, solange wir noch Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.“ (Vers 7 –10).

„Gott lässt sich nicht spotten!“ Spott, Gelächter, Sarkasmus über die Kirchen, über religiös ausgerichtete Menschen ist verbreitet. Gott reimt sich ja auch auf Spott – und umgekehrt! Die kirchliche Seite antwortet gerne mit der Überheblichkeit des: ‚Ihr werdet schon sehen, wohin ihr mit eurem Spott kommt’. Auch hier gilt es, ein Dazwischen zu finden: zwischen Spott und Bigotterie. Der Spötter erspart sich die mühsame Auseinandersetzung und den harten Weg, moralische, religiöse Positionen zu beziehen. Der allzu Fromme erspart sich dasselbe von der anderen Seite: er übernimmt „kindlich“, was ihm gesagt wird, versucht mit seinem kindlichen Glauben an einen im Himmel sitzenden allmächtigen Vater durchs Leben zu kommen. Dazwischen ist das Ringen und Kämpfen um einen Glauben an Gott, der im Alltag trägt und der sich im Alltag ausdrückt. Dazu gibt es jetzt noch eine Geschichte, eine alte chassidische Geschichte:

„Rabbi Israel von Rizin, genannt der Riziner, bekam einmal von einem jungen Mann einen Bittzettel, darauf stand, Gott möge ihm beistehen, damit es ihm gelinge, die bösen Triebe zu brechen. Der Rabbi sah ihn lachend an: „Triebe willst du brechen? Rücken und Lenden wirst du brechen, und einen Trieb wirst du nicht brechen. Aber bete, lerne, arbeite im Ernst, dann wird das Böse an deinen Trieben von selbst verschwinden.“ (Chassidische Geschichten S. 500)
Beten, lernen und im Ernst arbeiten – das können wir bis ins hohe Alter. Wobei ich unter Ernst die Abkehr von zynischer Verspottung verstehe – aber nicht Freudlosigkeit. Im Gegenteil: Ohne Freude taugt weder das Beten, noch das Lernen, noch das Arbeiten. Und deshalb brauchen wir so dringend die Sätze des heutigen Evangeliums dazu: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes … so wird euch alles andere zufallen. Darum sorge nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Mühe und Plage hat.“ AMEN.

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Predigt über 1. Johannes 1,5-2,6 am 3. Sonntag nach Trinitatis in der Thomaskirche Grünwald (Juni 2012)

Predigt über 1. Johannes 1,5 – 2,6 am 3. Sonntag nach Trinitatis
Lothar Malkwitz

Liebe Gemeinde,

„Gott ist Licht und in ihm ist keine Finsternis“: mit dieser These beginnt der heutige Predigttext aus dem 1. Johannesbrief. Dem scheint die Kernaussage der mystischen Theologie zu widersprechen: dass der Weg zu Gott in einer „dunklen Nacht“ zu beschreiten ist. „Scheint“. Es hat den Anschein. Es gibt ein Licht, das blendet, das täuscht. Es gibt ein trügerischer Licht: wir nennen es „Illusion“ (wörtlich: Irr-Licht). Die Personifizierung des Irr-Lichtes heißt „Luzifer“ (wörtlich: der Licht-Träger). Für Luzifer ist es unerträglich, ein „Gefäß“ für das göttliche Licht zu sein. Er möchte selbst leuchten. Daran zerbricht er, zerbricht sein Gefäß und er fällt in den namenlosen Abgrund höllischer Einsamkeit.

„Gott ist Licht und in ihm ist keine Finsternis“ – und genau darin unterscheidet sich Gott von uns Menschen. Wir Menschen sind finster. Wir sind für uns selbst finster. Unser Leben entsteht in der Dunkelheit. Neun Monate wachsen wir und entwickeln uns, ohne das „Licht dieser Welt sehen zu können.“ Höchstens ein rötliches Schimmern nehmen wir am Ende der Schwangerschaft wahr. Und dann gibt es diesen Augenblick des auf die Welt Kommens, in dem wir das Licht der Welt erblicken, mit weit geöffneten Augen – und das ist „alles“ viel zu viel – und unsere Augen verschließen sich wieder. Und jeden Abend schließen sich unsere Augen und es kann so wohlig sein, sich von der Dunkelheit umfangen zu lassen… Und es kann so verdammte Angst machen, dass wir nicht einschlafen können.

Das ist also die „Paradoxie“, der „zweifache Schein“: unser getrennt sein von Gott bedingt den Unterschied zwischen ihm und uns, bedingt, dass wir Gott wenn überhaupt nur im Dunklen, im Abgedunkelten begegnen können, so wie es „Ein-Sichten“ gibt, die zu heftig sind, zu schmerzhaft. Ich denke an Familienaufstellungen, wo Emotionen ans Tageslicht kommen können, die ohne Schutz und Begleitung vernichtend sein können. Ich denke auch an das Sich-Einlassen auf das Leiden in dieser Welt.

„Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit.“ So fährt unser Predigttext fort. Das ist die geläufige Verführung, reden tut nicht weh, gesagt ist etwas leicht – ganz etwas anderes ist es, ob das Gesagte gilt, ob ich mich selbst, ob ich den anderen „beim Wort nehmen“ kann. Sprache erhellt, „bringt Licht ins Dunkle“. „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.“ In der „Finsternis wandeln“ meint ein „sprach- und gedankenloses Tun“ (kein Handeln). Die Wahrheit tun heißt, Sprache und Handeln in Einklang bringen.

Aber bringt nicht auch der Verführer Sprache und Handeln in Einklang, war nicht in Hitlers „Mein Kampf“ sehr präzise nachzulesen, was dieser Mann vorhatte? Wer Sprache und Handeln in Einklang bringt, der ist deshalb so gefährlich, weil er weiß, was er will. Das war eines der Probleme, dass Viele nicht glauben wollten, dass Hitlers gesprochenen und geschriebenen Sätze ernst zu nehmen sind, so ernst, weil sie verwirklicht werden sollten. Nur: die Gedanken, auf denen ein Hitler, ein Diktator, ein rechtsradikaler Bombenwerfer sein Tun gründet: sie entsprechen nicht der Wahrheit. Die Wahrheit ist in Diktaturen gefangen genommen, sie soll gerade nicht ans Licht kommen. Wir müssen also unterscheiden: Sprache und Handeln in Einklang bringen sagt nur etwas über Wirksamkeit (Effizienz), nicht etwas über Wahrheit aus. Die Wahrheit beginnt da, wo jemand den Mut hat, über die Bedeutung seiner Gedanken nachzudenken. Hätte Hitler den Mut gehabt, sich zu fragen: „Was bedeutet es, was hat es mit meiner Lebensgeschichte zu tun, dass ich einen derartigen Hass auf alles Jüdische habe?“ er hätte allein durch diese Frage seinem „blinden“ Hass den Schimmer einer Relativierung hinzufügen können.

Die Wahrheit tun heißt, Gedanken zu finden, heißt eine Sprache zu entdecken, in der die „Bedeutung“ meines Handelns und Wandelns auf dieser Welt durchscheint. Indem ich in der Lage bin anzuerkennen, es bedeutet etwas, dass ich gerade jetzt krank bin, dass ich mich schlecht fühle, dass ich unbedingt etwas erreichen will, dass ich in der Situation gelogen habe, dass ich nicht aushalte, wie etwas ist,  beginnt „es mir zu dämmern“, beginnt „ein Licht“ in meine Blindheit „hinein zu leuchten“. Ein Licht, das meinen Standpunkt relativiert. Ein Licht, das wir Menschen zum menschlich Werden unbedingt brauchen, wollen wir nicht als Sklaven unseres eigenen Hasses unser Leben fristen.

Johannes drückt das so aus: „Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde. Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit. Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.“

Das „Referenzsystem“, das Johannes benennt, ist der „Sohn“: „wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist.“ Und wie ist der Sohn im Licht? Als das ewige Wort des Vaters. Als der vom Vater Unterschiedene und darin der mit ihm Geeinte. Gemeinschaft entsteht erst in der Unterschiedenheit. Und Unterschiedenheit geschieht in einer sich trennenden Bewegung. Was ist eine sich trennende Bewegung? Es ist eine Rückzugs-Bewegung. Erst und indem ein „Rückzug auf sich selbst“ möglich wird, entsteht „Zwischen“-Raum. Und erst die Entdeckung des Zwischenraumes ermöglicht eine Ahnung der überaus schmerzhaften Wahrheit, dass wir alle, die wir hier gemeinsam sind, auch alleine sind, jeder für sich, jeder in seinem einmaligen Leben sich befindend, jeder seinen eigenen Tod sterbend. „Wenn wir im Licht dieser Wahrheit wandeln“, dann erst entsteht lebendige Gemeinschaft zwischen uns: erst dann kommen wir in die Lage, uns füreinander zu interessieren, uns gegenseitig wahrzunehmen. Dies ist die Bewegung des Lebens. Ihre Gegenbewegung ist die des Todes: in ihr zielen meine Gedanken darauf, den anderen mir gleich zu machen, oder, was dasselbe ist, mich dem anderen gleich zu machen. In der „Bewegung des Todes“ setzt sich der einzelne Mensch absolut. In der „Bewegung des Lebens“ entdeckt sich der einzelne als ein Teil der Gemeinschaft. Die „Bewegung des Todes“ ist selbst-verliebt, die „Bewegung des Lebens“ ist sozial.

„Zwischen den Eltern darf kein Blatt hinein passen“, hörte ich kürzlich jemand sagen. „Sonst werden die Kinder verwirrt.“ Es ist anders herum. Kinder, die nicht lernen können, zwischen den Eltern zu unterscheiden, werden verwirrt. Als Erwachsene ertragen sie nur „den einen, absoluten Standpunkt“. Sie konnten nicht lernen, dass es eine mütterliche und eine väterliche Position gibt, dass sich diese beiden Positionen voneinander unterscheiden und in Achtung und Liebe aufeinander bezogen sind. Beides gilt: die liebende Beziehung von Vater und Mutter trägt ihre Unterschiedenheit und umgekehrt belebt, stimuliert gerade diese Unterschiedenheit die wechselseitige Liebe belebt. Gleichheit ohne Unterschiedenheit hingegen führt in die Monotonie der Langeweile. Faschistische Strukturen sind monoton. Faschistische Kunst ist langweilig. Abbild des Todes.

„Und das Blut seines Sohnes macht uns rein von aller Sünde“ – unsere Ur-Sünde ist nicht die, uns von Gott zu unterscheiden, unsere Ur-Sünde ist, uns an die Stelle Gottes zu setzen. Nicht wahrhaben zu wollen, dass wir nicht Gott sind: nicht allwissend, nicht allmächtig, nicht absolut. Und indem wir selbst an der Stelle Gottes sitzen, meinen wir, unser Mit-Mensch, unser Mit-Tier, unsere Mit-Pflanze muss unserem Bilde entsprechen, ja nach unserem Bilde leben! Und unser Bild, das sind unsere Bedürfnisse, in denen der, die, das Andere aufzugehen hat. Grenzen verweisen auf Unterschiede. Sie werden in diesem Geschehen einfach übergangen. Ein wegen Steuerhinterziehung angeklagter Topmanager hat vor kurzem in einem Interview gesagt: (ich zitiere sinngemäß) „Was heißt hier Steuerhinterziehung? Ich habe soviel für diese Gesellschaft getan, da steht es mir zu, mir auch was zu nehmen.“

„Es steht mir zu!“ Wer meint, das, was er tut, stehe ihm zu, der ist immun für „Sünde“. Und so ist er auch immun für Vergebung. Juristisch heißt das: es fehlt das Unrechts-Bewusstsein. Neutraler ausgedrückt: es fehlt das Bewusstsein für eine Grenze. Verschiedenheit ist nicht denkbar.

Und schon lauert die nächste Gefahr: dass der Prediger und die Gemeinde sich genau darauf einigen: wir hier sind die Anderen, wir sind die Guten, wir wissen das, wir halten uns an die Regeln und an die Gesetze. Das ist die Position des daheim gebliebenen Sohnes, der sich bitter darüber beschwert, dass für seinen Bruder aus Freude über seine Rückkehr ein Lamm geschlachtet wird. Welch’ ein ungerechter Vater!

Auch der daheim gebliebene Sohn „wandelte nicht in der Wahrheit“. Wäre dem so, würde er sich mit dem Vater über die Umkehr seines Bruders freuen. Die „Sünde“ des daheim gebliebenen „braven“ Sohnes ist es, die Trennung vom Vater gar nicht erst gewagt zu haben, sich mit dem Willen des Vaters „gleich geschaltet“ zu haben. An seinem Ärger über die freudige Aufnahme seines Bruders wird deutlich, dass er nicht aus innerer Freiheit und Souveränität bei seinem Vater geblieben ist. Wäre dem so, würde er sich mit seinem Vater über die Rückkehr des Bruders freuen. So aber gönnt er seinem Bruder die Freude seines Vaters nicht, ist offenbar neidisch, nach der Art: wenn das so ist, dann habe ich mich ja ganz umsonst jahrelang geplagt.

Was die beiden Brüder eint, was uns eint, ist die Gemeinschaft des Sünder-Seins. Nicht so, dass wir jetzt nur mehr auf Knien herum rutschen und unser „mea culpa“ auf die Brust schlagen. Aber so, dass wir anerkennen: es gehört zum Menschsein die dringende Sehnsucht nach „Gleichmachen“ ebenso dazu, wie sich vom Anderen trotzig abzuwenden, sich sein Erbe auszahlen zu lassen und es „durchzubringen“. Die beiden Söhne sind die beiden notwendigen und unvermeidlichen Seiten menschlicher Entwicklung: man könnte auch sagen der „brave“, angepasste Sohn und der „böse“, sich ablösende Sohn. Bleibt man auf der Ebene dieser „Spaltungen“ zwischen brav und böse („Brave Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin“) stehen, wird weitere Entwicklung blockiert. Es sind gleichzeitig die Wölfe gegen die Lämmer zu verteidigen und die Lämmer vor den Wölfen in Schutz zu nehmen. Anders ausgedrückt: Die Positionen der beiden Brüder sind richtig, beide Brüder haben „sozusagen recht“. Und beide Positionen sind „sündig“, sind von Gott fern. In beiden Positionen fehlt nämlich das Entscheidende: die Anerkenntnis des Dritten. Der „brave“ Sohn bleibt in der Zweieinigkeit mit dem Vater, der „böse“ Sohn bleibt in der „Zweieinigkeit“ gegen den Vater. Noch einmal anders: der böse Sohn braucht Aspekte des braven Sohnes, der brave Sohn braucht Aspekte des bösen Sohnes. Zurecht heißen sie in der Geschichte Brüder: es sind Verwandte, die einander brauchen, die nur zusammen gedacht „ein Ganzes“ ergeben.

Erst indem dies anerkannt wird, beginnt der wirkliche Weg zu Gott. Zu jenem Gott, der im Dritten geschieht. Der mit Johannes vom Kreuz eine „dunkle Nacht“ für unsere Sinne wie für unseren Verstand ist. Natürlich: unser Verstand lebt von der Unterscheidung in falsch und richtig, in gut und böse. Und unsere Sinne können mit Gott von vorneherein nichts anfangen, da sich Gott weder sehen noch hören noch riechen noch tasten noch schmecken lässt.

Erst indem dies anerkannt wird, beginnt unser Denken über unsere Sinne und über unseren Verstand „hinaus“ zu wachsen.  Es wächst „hinein“ in eine Sphäre, die mit Worten nur schwer zu beschreiben ist. Es ist jene Sphäre, in der alles auf seinen guten Platz gekommen ist: das Ja, das Nein und schließlich das „es ist“.

Dies ist die Sphäre der Liebe.

Die Sphäre der Liebe ist in der konkreten Entscheidung nicht zu finden. Was wir uns aber fragen können, ist: was ist das Referenzsystem meiner Entscheidung, worum geht es mir bewusst/unbewusst wirklich, was treibt mich zu meinem Tun? Luther hat dazu gesagt: woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott. Die Frage ist nur, wie finde ich „das“, woran ich mein Herz hänge?

Das, woran sie Ihr Herz hängen, liebe Gemeinde, erkennen Sie an Ihren Gefühlen und den daraus sich speisenden Gedanken: je absoluter, ausschließlicher, rechthaberischer diese werden, desto sicherer sind Sie einem vermeintlich guten oder einem vermeintlich bösen Sohn auf der Spur. Und je freier, je gelassener, je großzügiger und barmherziger Sie ihre Gefühle zu sich selbst und zu ihren Mitmenschen erleben, desto gewisser sind Ihre Gedanken auf den Spuren der Liebe unterwegs. Zu deren Spuren auch das Anerkennen gehört, dass natürlich zum Leben auch das Schuldig-Werden gehört – wie zum Essen die Ausscheidung. Ein guter Tag ist nicht ein Tag ohne Sünde, ein guter Tag ist ein Tag, an dem ich mir Mühe gebe in der Sphäre der Liebe zu bleiben, gerade dann, wenn ich merke, dass ich „gesündigt“ habe. Die Sphäre der Liebe, das ist die Sphäre der freundlichen Aufmerksamkeit für all das, womit ich gerade zu tun habe. Und natürlich gehört zu der Sphäre der Liebe auch die „Nachsicht“ gegenüber den Verfehlungen, dem Sünder-Sein meiner Mitmenschen. Die Liebe, die ich versuche zu leben und zu predigen, hat also gar nichts mit: „alles ist toll zu tun“; aber viel mit Fürsorge, Nachdenklichkeit aber auch Gelassenheit und Heiterkeit.

Und in dieser Stimmung endet auch unser heutiger Predigttext:

„Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt. Und wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist. Und er ist die Versöhnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt. Und daran merken wir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten. Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner, und in dem ist die Wahrheit nicht. Wer aber sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe Gottes vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind. Wer sagt, dass er in ihm bleibt, der soll auch leben, wie er gelebt hat.“

Wir haben gesagt, das Referenzsystem, der Maßstab für unser Handeln ist der Sohn. Der Sohn ist der, der sich mit dem Vater über die Umkehr des Sünders freut. So können die beiden Brüder nur gemeinsam zum Sohn werden. Die beiden Brüder sind Aspekte des Lebens, die auf einander zu beziehen sind. Anpassung in Freiheit, oder Eins-Werden im Getrennt-Sein könnte man es nennen. Oder, vertrauter ausgedrückt: Der Sohn ist das Offenbar-Werden der Liebe Gottes selbst. In dieser Liebe lösen sich unsere Verhärtungen auf – vorausgesetzt, wir sind in der Lage, unser Sündig-Sein anzuerkennen. In dieser Liebe gibt es kein falsch und kein richtig mehr, kein gut und kein böse, kein moralisch und kein unmoralisch. Es sind eben diese Verhärtungen des Entweder-Oder-Denkens, die den als Liebe des Vaters „eingeborenen“ Sohn zerstört haben. Sein Blut hat aber uns von diesen Blockaden befreit, hat uns „gereinigt“. Indem wir uns in dieses Geschehen hineinbegeben, ergießt sich Gottes Liebe über uns, strömt in uns hinein. Das ist das Wirken des Heiligen Geistes. Und in dieser Liebe löst sich unser Denken auf, wird es Teil des einen großen Seins. Oder des einen großen Nichts. Beides ist dasselbe.
Gebe Gott, dass wir die Kraft finden, unsere Sünden zu erkennen, um dadurch hinein wachsen zu dürfen in jene Liebe, die höher ist als all unsere Vernunft. Gebe Gott, dass wir die Kraft finden, uns vergeben zu lassen, so dass wir gar nicht mehr anders können, als seine Liebe auszustrahlen, AMEN.

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Predigt am Sonntag Trinitatis über Epheser 1,3-5

Predigt über Epheser 1, 3-14 an Trinitatis 2012 in der Jakobuskirche in Pullach
von Lothar Malkwitz

Liebe Gemeinde,

heute wird wieder einmal deutlich, dass Masse über Bedeutung nur bedingt etwas aussagt. Von der Anzahl der Gottesdienstbesucher her betrachtet, scheint unser heutiger Sonntag Trinitatis ziemlich bedeutungslos zu sein. Im Ranking der Sonntage des Kirchenjahres dürfte er abgeschlagen am unteren Ende liegen, nicht wert, dass man in ihn investiert. Weihnachten, Ostern, Erntedank, Sommerfest – das sind die Spitzenreiter gemeinsam mit den Konfirmationssonntagen. Schon Pfingsten ist abgeschlagen, obwohl mit zwei Feiertagen ausgestattet. Und dann heute Trinitatis.

Nun –  ich behaupte: Weihnachten, Ostern werden ebenso überbewertet wie Trinitatis unterbewertet wird. Weihnachten ist eine Blase voller Illusion und Sentimentalität. Ostern läuft große Gefahr, als Feier menschlicher Allmachtsfantasien missbraucht zu werden. In Trinitatis hingegen geht es um nichts weniger als um – Gott selbst! Trinitatis ist ein echter Geheimtipp! Wenn Sie mich fragen: ich rate in Trinitatis zu investieren!

Trinitatis ist nichts Geringeres als das Fest der Erkennbarkeit Gottes. Nicht der Erkenntnis, denn „die Erkenntnis Gottes bleibt eine dunkle Nacht bis zu unserem Lebensende“ wie der Heilige Johannes vom Kreuz betont. Trinitatis ist das Fest der Möglichkeit, IHN selbst, gepriesen sei sein Name, zu entdecken. Und so ist es gut, die langen nun folgenden Sonntage bis zum Ende des Kirchenjahres von diesem Sonntag Trinitatis aus zu zählen.
Man könnte es auch anders sagen: In und mit Trinitatis wird unser Glaube an Gott erwachsen. Das heißt, er entwächst kindlichen Sehnsüchten, Illusionen und Projektionen, und erwächst so als ein Glaube, in dessen Zentrum weder das überhebliche Triumphieren noch das verbitterte Bitten und Klagen steht. Von Trinitatis herkommend ist die Mitte unseres Glaubens das Denken und das Danken, der Lobpreis: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr der Heerscharen (Zebaoth), alle Lande sind seiner Ehre voll!“ (Jesaja 6,3) Das ist das Wort dieser Woche, mit ihm begann unser heutiges Zusammensein.

Auch unser heutiger Predigttext beginnt mit einem dreifachen Lobpreis – er steht zu Beginn des Briefes des Paulus an die Epheser:
„3 Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen im Himmel durch Christus.“
Dreimal verwendet Paulus hier das griechische „eulogeo“: wörtlich heißt es „gut reden“ (lateinisch: („bene dicare“). Indem wir von Gott „gut reden“, redet Gott auch von uns gut. Das ist das Verblüffende: es gibt nicht nur einen „Teufelskreis“, sondern auch einen „Gotteskreis“, ein Mehren und Wachsen und Gedeihen „im Segen“. Und Segen heißt nicht nur „gut reden“, in „Segen“ steckt auch das Lateinische „signum“, das von „secare“ „schneiden“ abstammt und wohl zunächst „ein auf Holzstäben eingekerbtes, eingeschnittenes Zeichen“ darstellte. Die Säge als „Schneidewerkzeug“ erinnert noch an die Stammverwandtschaft von „Segen“ und „Säge“. So finden sich in dem Begriff „Segen“ die zwei großen Errungenschaften der Menschheit: die Sprache („gut reden“) und die Schrift („signum“).

Paulus „lobt Gott“ (wörtlich: „segnet“ Gott) für den Segen, den wir Menschen durch Jesus Christus empfangen dürfen. Die Rede von Jesus Christus verführt natürlich sofort zu konkretem Denken. Und wahrscheinlich brauchen und suchen wir Menschen auch immer wieder das Konkrete, weil es uns Halt und Sicherheit gibt. Aber das Wesen dieses Segens besteht nicht in etwas Konkretem, Dinglichem: es ist ein „geistlicher Segen im Himmel“. Was heißt das? Es ist der Segen des Heiligen Geistes, der an Pfingsten „sich offenbarte“. Und das Gute am Heiligen Geist ist, dass er sich jeder verdinglichten, verfestigten Vorstellung von vorneherein entzieht. Er „weht, wo er will“ (Joh. 3,8a). Aber er weht nicht willkürlich, nicht nach Lust und Laune.  Er ist ein „vinculum“, eine Verbindung, wie der Heilige Augustinus sagt, nämlich die liebende Verbindung zwischen Vater und Sohn. Im Heiligen Geist ist die Liebe entsprungen, die Liebe, die Raum schenkt für drei.

Und das ist das Geheimnis des Glücklichseins: indem Platz ist für drei, muss sich keiner mehr verloren, verlassen oder gar verraten fühlen! Im Heiligen Geist verwandelt sich das „oder“ in ein „und“, verwandelt sich der Ausschluss in ein konstruktives Miteinander. Der Heilige Geist ist der „Dritte Weg“, der sich dem eröffnet, der es wagt, sein Entweder-Oder-Denken zu hinterfragen. Schärfer formuliert: das Entweder-Oder-Denken, das digitale Denken ist unheimlich erfolgreich für Unlebendiges – um aber Lebendigem nachzudenken, bedarf es eines beseelten, eines geistlichen Denkens.

Sie können es auch anders herum sich verdeutlichen: überall da, wo das Dritte ausgeschlossen wird, entsteht Geist- und Seelenloses, findet eine tödliche Reduktion statt. Unsere  Seele selbst ist insofern die „leibliche Schwester“ des Heiligen Geistes, als auch sie ein Drittes, nämlich die lebendige Verbindung von Körper und Verstand darstellt. Und so hatten unsere Altvorderen sehr recht, wenn sie sagten, Gottes Wohnstatt ist die Seele – natürlich nicht nur die von uns Menschen, sondern des Belebten schlechthin. Würden wir Menschen dies wirklich Ernst nehmen, könnten wir Menschen dies wirklich erleben, dann wären wir gar nicht mehr dazu in der Lage, geist- und gedankenlosen Raubbau an uns selbst, an unseren Mitmenschen, am Leben auf dieser Erde vorzunehmen. „Alle Lande sind gefüllt mit Gott“ – wörtlich heißt das: „die Erde“ ist voll mit Gottes gutem Geist! „Gott wohnt auf unserem Planeten.“ Aber leider gilt eben auch der „Teufelskreis“: wer in sich das Dritte als vernichtet erlebt, der muss diese Vernichtung auch nach außen tragen.

Aber warum ist die Vernichtung des Dritten so weit verbreitet und warum ist „Zweieinigkeit“ so verführerisch?

Ich glaube, weil wir Säugetiere sind. Und weil wir als Säugetiere alleine nicht überleben können. Wir brauchen den Anderen. Schon als „Junge“ konnten wir nur überleben, weil es eine Brust/Flasche gab, die uns fütterte. Die Anwesenheit dieser Lebensquelle war unabdingbare Voraussetzung für unser Überleben. Am Anfang unseres Lebens sind wir „unbedingt (absolut) abhängig“.  Alleinsein ist tödlich. Genauer: zu langes Allein-gelassen-Werden ist tödlich. Denn natürlich sind wir auch von Anfang an allein: bereits im Mutterleib sind wir „allein“ in dem Sinne, dass wir „ganz“ sind, und nicht ein Teil der Mutter. Das Gefühl „ein Teil des Anderen“ zu sein, ist Ergebnis eines langen zerstörerischen Prozesses, in dem das „Eigen“-Sein oder „Selbst“-Sein des Anderen konsequent abgelehnt (ex-kommuniziert) worden ist. Wer in einer Atmosphäre aufwächst, in der kein Raum für „Drittes“ ist, der kann sein „Eigen-in-Beziehung-Sein“ nicht finden. Und so kann er nicht erkennen, dass er selbst wesentlich ein „Dritter“ ist: das Zusammen-Treffen („co-itus“) einer Samen- und einer Eizelle. Dieses „Dritter-Sein“ bildet sich in der Wirklichkeit selbst des kleinsten Babys ab: es ist ein „eigenes Lebewesen“, dessen zentrale Lebensfunktionen, nämlich zu atmen, zu essen und zu verdauen ihm niemand abnehmen kann –  und zugleich ist es für sein Überleben auf die Beziehung zu anderen so dringend angewiesen.

Die Zweieinigkeit ist das süße Gift, sich vorzutäuschen, man könne ohne den Dritten leben. Wenn das „Junge“ spürt, von einer Brust abhängig zu sein, die es nur nährt, wenn es alles „Eigene“ aufgibt, wenn es ganz mit den Bedürfnissen der „Brust“ verschmilzt, dann gibt es kein Wachsen. Wachsen, Entwicklung bedarf eines Wachstums-Raumes und dieser entsteht erst in und mit dem Dritten. In der Zweieinigkeit  gibt es nur entweder „entzückende“ Verschmelzung, oder „höllische“ Einsamkeit. Gibt es nur „Hochgelobt sei der da kommt, im Namen des Herrn“ oder „Kreuzige ihn!“  Zur Zweieinigkeit gehört notwendig der Hass auf den Dritten und der Triumph der Verschmelzung! So ist die Zweieinigkeit die Keimzelle für Verfolgung, Fanatismus und Gewalt.

Ich vermute, für Paulus war die Entdeckung von Christus als Messias der erlebte Durchbruch zu einem dritten Weg. Auf ihm verwandelte sich der Verfolger in einen Bekenner, in einen Missionar – mit gefährlichen Tendenzen freilich zu einer neuen Zweieinigkeit… und einer neuerlichen Verfolgung des Fremden, des Dritten.

Im Namen des trinitarischen Gottes eröffnet sich ein Weg jenseits von Verfolgung, Zwang und Gewalt. Ein Weg der Freiheit des „mit meinem Eigenen-in-Beziehung-Seins“. Und dieser Weg fühlt sich an! Er fühlt sich an als „ein innerliches zur Ruhe Kommen“, als eine „Gelassenheit und Zufriedenheit“, als eine „lebendige Gelöstheit“. Innere Hetze, sich von Terminen gejagt fühlen, nicht zur Ruhe Kommen, chronische Unzufriedenheit, nicht Schlafen können – all’ dies ist Ausdruck, dass das Dritte in uns, dass die Wirkung des Heiligen Geistes geschwächt, schlimmstenfalls zerstört ist.

Kehren wir zurück zum Epheserbrief: In den folgenden Zeilen führt Paulus den „geistlichen Segen“, mit dem uns Gott gesegnet hat aus: „4 Denn in Christus hat er uns erwählt, ehe der Grund der Welt gelegt war, dass wir heilig und untadelig vor ihm sein sollten;“

„In ihm (Christus) hat er uns erwählt …“ „Ek-legomai“  – nicht das „Ek/Ex“ des Aus-Schließens (Ex-Kommunikation), sondern das Ek/Ex des Heraus-Holens aus der verführerischen Zwei-Einigkeit ist das Wirken Gottes!  Das Wirken Gottes gleicht dem einer „geistlichen Hebamme“: er steht uns bei, auf die Welt zu kommen und uns frei in dieser Welt zu bewegen. Und diese Freiheit ist eine Freiheit für diese Welt:  nicht moralisch ist das „heilig und untadelig“ gemeint, sondern ganzheitlich, selbstverständlich. Nur der innerlich Abhängige lebt rücksichtslos – der Freie lebt auch sich heraus besonnen, verantwortungsvoll in Rücksichtnahme. Der Freie lebt aus der Freiheit der verinnerlichten liebevollen Beziehung: theologisch ausgedrückt: die Liebe zwischen Vater und Sohn – menschlicher ausgedrückt: die Liebe zwischen Mutter und Vater. Wer als Kind das Glück hatte, ein sich liebendes Elternpaar zu erleben und verinnerlichen zu können, dessen Leben wird ein gesegnetes sein. Paulus formuliert diese Liebe wieder in Bezug auf den trinitarischen Gott:

„In seiner Liebe 5 hat er uns dazu vorherbestimmt, seine Kinder zu sein durch Jesus Christus nach dem Wohlgefallen seines Willens, zum Lob seiner herrlichen Gnade, mit der er uns begnadet hat in dem Geliebten.“ So fährt Paulus seinen Lobpreis fort. „Liebe“ ist freilich besonders missbrauchbar für zweieinige, romantische Verschmelzung. In Wirklichkeit ist Liebe wesentlich auf die Entstehung und das Wachstum eines Dritten ausgerichtet. Indem wir uns geliebt fühlen, können wir diese Liebe weitergeben, an alles was uns umgibt. Und so werden wir zu „Kindern Gottes“ – nicht infantil miss zu verstehen -, sondern als Erwachsene leben wir in kindlicher Offenheit, Neugierde und Herzensfreude.

Und Paulus fährt fort: „In ihm haben wir die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden, nach dem Reichtum seiner Gnade… (ich kürze aus Zeitgründen) „… in ihm sind wir auch zu Erben eingesetzt worden…“

Wieder so ein missverständlicher Satz. Der Streit der Religionen ist letztlich ein Erbstreit. Jede beansprucht, der wahre Erbe zu sein. Daraus entsteht ein falsches egoistisches Lob Gottes: „Ich danke dir, dass du mich zum Erben eingesetzt hast!“ Das heißt in Klammern -: und nicht die Anderen!

Ich möchte Ihnen abschließend eine Geschichte erzählen, die gut zusammenfasst, worum es mir heute geht:

„Mein Freund und ich gingen auf die Weltmesse der Religionen. Keine Handelsmesse, eine religiöse Messe. Aber der Wettbewerb war genauso verbissen, die Reklame genauso laut.
Am jüdischen Stand erhielten wir Prospekte, die besagten, Gott sei allbarmherzig und die Juden sein auserwähltes Volk.
Am islamischen Stand erfuhren wir,  Gott sei voller Gnade und Mohammed sein einziger Prophet. Das Heil erlange man, wenn man auf den einzigen Propheten Gottes höre.
Am christlichen Stand entdeckten wir, dass Gott die Liebe sei und es außerhalb der Kirche keine Rettung gäbe. Nur ein Mitglied der Kirche läuft nicht die Gefahr ewiger Verdammnis.
Beim Hinausgehen frage ich meinen Freund: „Was hältst du von Gott?“ Er widerte: „Er ist engstirnig, fanatisch und grausam.“
Wieder zu Hause, fragte ich Gott: „Was hältst du von so einer Sache, Herr? Merkst du nicht, dass man dich Jahrhunderte lang in Misskredit gebracht hat?“
Gott antwortete: „Ich habe die Messe nicht organisiert. Ich hätte mich geniert, auch nur hinzugehen!“ (Antony de Mello)

Liebe Gemeinde,

lassen Sie uns Gott loben und preisen. Lassen sie uns das drei Mal „heilig“ in der Abendmahlsliturgie singen. Lassen sie uns jetzt das Abendmahl feiern. Und dies bitte alles in der tiefen Anerkenntnis, dass wir nichts wissen, nichts haben und nichts sind – außer in unserem Glauben an den dreieinigen Gott, der als Heiliger Geist im Anderen, im Fremden, im Unbekannten, im Dritten geschieht. Auf dass Gott sich unseres Glaubens nicht genieren muss, AMEN.

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Predigt über 2. Korinther 4, 16-18 am Sonntag Jubilate 2012 in Pullach

Predigt über 2. Kor. 4, 16-18 am Sonntag Jubilate 2012 in Pullach

Gott kommt dazwischen!

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

Jubilate Deo! Sonntag Jubilate! „Jubilieren“, lateinisch „jubilare“ ist ein lautmalerisch entstandenes Wort.
Der Stamm ist dieses „j“, das wir im Deutschen in „jauchzen“, „juchzen“, im Bayrischen in „jodeln“ kennen.

Im Griechischen fehlt dieses Verb – aber es gibt den Ausruf  „iou!“ oder „io!“. Es wird mit „oh!“ ins Deutsche übersetzt und kann beides bedeuten: Ausruf der Freude – und Ausruf des Schmerzes! Bereits im Übergang von der lateinischen zu griechischen Sprache fand also eine Differenzierung statt. Differenzierung heißt: ich unter-scheide. Ich ordne. Und in diesem Geschehen schließe ich ein und schließe aus. „Jubilieren“ ist dann nur noch auf Freude bezogen. Schmerzliches muss sich anderswo einen Platz finden. Im Deutschen bildete sich ebenfalls lautmalerisch „ächzen“ als Ausdruck von Schmerzen empfinden heraus, im Gegenüber zu „juchzen“.

Die Schöpfungsgeschichte ist eine Trennungs-, Ordnungs- und Differenzierungsgeschichte. Am Anfang herrscht Chaos, hebräisch „Tohuwabohu“. Frei übersetzt: es geht drunter und drüber. Buber übersetzt poetisch: „Irrsal und Wirrsal“. Luthers bekanntes „wüst und leer“ gibt den hebräischen Sinn nicht wider. Aber es gibt wider, wie sich Luther den „Zustand“ vor der Schöpfung vorstellte. Wie eine tabula rasa, die dann „angefüllt“ wird. Aber Gott schafft nicht einfach „Dinge“, sondern er schafft gleichzeitig die Struktur, das „Zwischen den Dingen“. Gott schafft nicht nur das Licht, sondern er scheidet zwischen dem Licht und der Finsternis. Indem ich unterscheide, trenne ich. Wenn ich angemessen, „richtig“ trenne, entsteht eine Struktur, die mir Ordnung im Inneren wie im Äußeren gewährt. Durch diese Ordnung lerne ich, mich zu orientieren. Wesentlicher Bestandteil strukturierenden Ordnens ist der Gebrauch der Sprache. Gott nannte das Licht „Tag“ und die Finsternis „Nacht“.

Die Fähigkeit zu ordnen hängt also direkt mit der Fähigkeit etwas zu trennen, etwas auseinander halten zu können, zusammen. Im Chaos ist alles irgendwie miteinander und ineinander verschlungen. „Irrsal und Wirrsal“.

Nun ist das Trennen ein durchaus mühsamer Vorgang. Haben Sie schon einmal im Tierpark Hellabrunn beobachtet hat, wie lange es dauert, bis ein Küken auf die Welt kommt, mit welchem Kraftaufwand es sich mühsam durch die Schale durchgepickt muss? Und das Ganze gelingt nur, wenn die Schale, lange Zeit als Schutz für das Küken dienend sich zerstören lässt; nur so kann das Küken auf die Welt kommen. Auf die Welt kommen, sich trennen von der schützenden Schale bedeutet in diesem Fall: eben diese zu zerstören!

Die Texte an diesem Sonntag Jubilate handeln von Schöpfung, von auf die Welt kommen; mit dem Akzent auf „neu“:  von „neuer Kreatur“, von neuem Geschaffen-Worden-Sein, von Erneuerung ist die Rede. Und auch hier gehört die Zerstörung sofort dazu: „täglich muss der alte Adam ersäuft werden“, sagt Martin Luther, was sich früher in der Taufe sinnenfällig abbildete, wo der Täufling wirklich unter Wasser getaucht und gehalten worden ist, bis er keine Luft mehr bekam. Anders als „das Alte“ lässt sich „das Neue“ nicht besitzen.

„Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ (2. Kor. 5,17) Das Alte ist vergangen. Das ist solange gut, wie man selbst auf der Seite des Neuen steht. Aber wenn man sich selbst als zum Alten gehörig fühlt?

Wenn ich mich mit der Schale identifiziere, dann darf ich das Küken nicht auf die Welt kommen lassen, weil sein Leben-Wollen mich zerstört. Die Schale schützt das Leben, solange es sich nicht zeigt. Aber hält sie es auch aus, sich vom Leben zerstören zu lassen? Die Schale ist Schutz und Struktur zugleich – und muss doch für das Leben zerstört werden. Lässt sie sich nicht zerstören, so wird das Leben in ihr, so wird das Küken, zerstört. Ohne Zerstörung keine Geburt.

Die Schale ist das „Außen“ in deren „Innerem“ etwas wächst. In unserem heutigen Predigttext, aus dem 2. Korintherbrief (4, 16-18), spielt genau diese Unterschiedung zwischen außen und innen, zwischen „äußerem“ und „innerem“ Menschen eine große Rolle:

„16 Darum werden wir nicht müde; sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert. 17 Denn unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit, 18 uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.“

Der Vorgang des Unterscheidens und des Ordnung-Findens, haben wir gesagt, gehören zusammen. Indem sich „gute“ Schale von ihrem „Inneren“, dem lebendigen Küken unterscheidet, lässt sich für das Leben des Küken zerstören. Erst damit vollendet sich das auf die Welt-Kommen des Kükens und beginnt sein Wachstum, seine Entwicklung. Damit vollendet sich aber auch die Bestimmung der Schale des „Lebens“: genau das ist ihre Bestimmung, das Leben so zu schützen, dass es schließlich vom Leben für das Leben zerstört wird.

Die ihrer Bestimmung „gemäße“ Schale gibt sich diesem Lebensprozess hin, die ihre Bestimmung verfehlende Schale hasst das Leben des Kükens! Die ihre Bestimmung verfehlende Schale hasst Wachstum und Entwicklung, weil sie genau weiß, dass dies zu ihrer eigenen Zerstörung führt.

„Darum werden wir nicht müde“ sagt Paulus. Darum, weil das so ist, dass das Leben in Formen gerinnt, um diese wieder zu zerstören. Eine dieser Formen ist unser leibhaftes Mensch-Sein. Der „äußere Mensch verfällt“: wie wahr! Das ist die Schale, das ist unser leibliches Leben, zu dessen Entwicklung gehört, älter und schwächer zu werden, graue Haare und Falten zu bekommen. Zu dessen Entwicklung gehört das Sich-zurück-Ziehen unserer Muskeln, ein Nachlassen unserer Leistungskraft, eine Sehnsucht danach, am Morgen liegen bleiben zu können. Zu dessen Entwicklung gehört eine zunehmende Vergesslichkeit, gerade was das sogenannte „Kurzzeitgedächtnis“ angeht. „Was wollte ich jetzt eigentlich gerade machen?“ – ich vermute, viele von Ihnen kennen das.

Das alles ist keine Krankheit, sonder der gesunde und natürliche Prozess sich entwickelnden Alterns. Keine Frage: wir leben auf unseren eigenen körperlichen Verfall hin. Nun unterscheidet Paulus zwischen einem äußeren und einem inneren Menschen. In diesem Geschehen des äußeren Verfalls, sagt Paulus, wird unser „innerer Mensch von Tag zu Tag erneuert.“ Was ist unser innerer Mensch? Für Paulus ist das der Mensch, der untrennbar mit Christus verbunden ist. „Wir tragen allezeit das Sterben Jesu an unserem Leibe, damit auch das Leben Jesu an unserem Leibe offenbar werde“ (2. Korinther 4,10). Sind wir wirklich mit Christus verbunden, leben nicht mehr wir, sondern Christus in uns, und so findet in äußerem Verfall täglich innere Erneuerung statt, sagt Paulus. Der johanneische Christus sagt Ähnliches in seinem Bild vom Weinstock: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“ (Joh.) Gott Vater als Weingärtner, Christus als Weinstock und wir als Reben. Es ist übrigens kein Zufall, dass die Drei diejenige Zahl ist, die zu diesem Gleichnis gehört. Gott geschieht, vollendet sich im Dritten. Das Dritte ist das Leben. Ist die Schale auf das Leben des Kükens ausgerichtet, so wird sie sich „mit Freuden“ zerstören lassen. Denn in ihrer Zerstörung geschieht Leben. Kreist die Schale ein-sam um sich selber, muss sie sich mit aller Gewalt gegen den Prozess des Lebens sträuben. Die einsame Schale hat die Verbindung zum Leben durchschnitten.

Es gibt eine Geschichte in der jüdischen Mystik, derzufolge die Sünde von Adam und Eva nicht im Essen des Apfels vom Baum der Erkenntnis bestand, sondern dass dadurch die unterirdische Verbindung zwischen dem Baum der Erkenntnis und dem Baum des Lebens abgeschnitten, durchtrennt worden ist. Dahinter steht der tiefsinnige Gedanke, dass der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis in einem unterirdischen Wurzelwerk mit- und ineinander verflochten sind. Das hebräische Verbum „jadah“, das „erkennen“ und „sich lieben“ auch im sexuellen Sinne bedeutet („und Adam erkannte sein Weib Eva“) verweist auf der sprachlichen Ebene auf diese Verflochtenheit zwischen erkennen und lieben, zwischen denken und leben. Das um sich selbst kreisende Erkennen („ich denke, also bin ich“) hat sich vom Baum des Lebens los gesagt. Und so hat es seinen Sinn, dem Leben zu dienen verloren. In einsamer Sinnlosigkeit versucht es sich selbst zu erschaffen, sich selbst sinnvolle Existenz zu geben und lügt sich mit dem Satz: „ich denke, also bin ich“ in die eigene Tasche. Die Wahrheit ist: „Ich wurde (geschaffen), also darf ich (eine kleine Weile) sein!“ Die Schale, die sich weigert, ihr Küken auf die Welt zu bringen, hat sich selbst ihres Lebens beraubt. Erkennen, das sich weigert, dem Leben zu dienen, führt zu seelischem Tod, weil es sich seiner eigenen Lebendigkeit beraubt. Der Modebegriff für dieses Geschehen lautet „burn out“: er beschreibt nichts anderes als das Schicksal einer Seele, die als Brennholz für Karriere, Ansehen, Status verwendet, eben „verbrannt“ worden ist. Es ist die Gegenbewegung zum auf die Welt kommenden Küken: im „burn out“ bleibt eine perfekte, überaus erfolgreiche Schale übrig, aber in ihr, innen drin, ist Leben erstorben: wo keimendes Leben war, ist es „wüst und leer“ geworden.

Liebe Gemeinde,

ich denke, jeder von hat ein Gefühl dafür, wie viel Wert er auf seine Schale, auf seinen „äußeren Menschen“ legt und welche Bedeutung demgegenüber inneres, seelisches Wachstum für ihn hat. Und es steht auch jedem von uns frei, wie er sich an dieser zentralen Stelle seinem Leben und dem Leben überhaupt gegenüber verhält. Es ist ein großes Missverständnis zu meinen, man könne jemand irgendwie dazu bringen, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Es kommt vor, dass mir Menschen nach meiner Predigt sagen: Herr Pfarrer, Sie haben das so schön gesagt, wenn sich das nur der oder die SoundSo zu Herzen nehmen würde. Ich predige nicht für die oder den Soundso, sondern ich  versuche, aus meinem Herzen heraus zu predigen und freue mich, falls es dem einen oder anderen Gedanken gelingt, zu Herzen zu gehen.

In diesem Sinne bitte ich Sie, sich noch einen weiteren Gedanken anzuhören.

Ist Ihnen vorhin aufgefallen, dass der Schöpfungsbericht nicht mit dem sechsten Tage endet? Die „Vollendung“ der Schöpfung findet am siebten Tag statt, der Tag, an dem Gott nichts tut! „Und also vollendete Gott am siebten Tag seine Werke, die er machte, und ruhte am siebten Tag von allen seinen Werken, die er machte. Und Gott segnete und heiligte den siebten Tag…“ (1. Mose, 2, 2-3a). Die Vollendung der Schöpfung geschieht nicht im Machen, ihre Vollendung geschieht im Nicht-Tun.

Die Diskussion um die Abschaffung des Sonntags ist auf dem Hintergrund der Bedeutung des Nicht-Tuns zu führen! Die Bedeutung des Nicht-Tun aber liegt in dem, was Paulus „die Erneuerung des inneren Menschen“ bezeichnet.

Nicht-Tun ist Innehalten. Auch im Denken. Nicht-Tun geschieht in den kleinen Ritzen und Spalten zwischen unseren Gedanken. In der Musik stehen die Pausen für das Nicht-Tun. Nicht-Tun geschieht zwischen Einatmen und Ausatmen. Nicht-Tun geschieht „dazwischen“. Die verzweifelt sich an ihre Existenz klammernde Schale hält nicht aus, dass es sie „im dazwischen“ gibt. In diesem Dazwischen ist sie für das Leben des Küken von größter Bedeutung. Ja, ihre Bedeutung ist das „Dazwischen-Sein“. Und so ist es mit uns Menschen auch: der Sinn unseres Lebens ist es nicht, ewig zu leben: der Sinn unseres Lebens ist, „dazwischen“ zu leben. Das heißt, das uns geschenkte Leben voller Freuden anzunehmen und es in den Dienst von Wachstum und Entwicklung – im Inneren wie im Äußeren zu stellen.

Bei jeder Entscheidung, die wir treffen, geht es um die Frage: diene ich damit dem Leben, oder der Verweigerung des Lebens. Entscheidungen, die der Verweigerung von Leben dienen, fühlen sich grandios und euphorisch an. Ihre Kehrseite sind Niedergeschlagenheit, Sinnlosigkeit, Lustlosigkeit. Im Gefühl der Grandiosität erliegt man der Verführung, man könne Leben aus sich selbst heraus schaffen. Im Gefühl der Leere und Sinnlosigkeit erlebt man das Scheitern dieser Vorstellung.

Der Weg „dazwischen“ führt notwendig über die Zerstörung des Konzeptes, ich muss mein Leben aus mir selbst heraus schaffen können. (Das ist übrigens die Schwierigkeit der Behandlung von „burn out“: Oft lautet nämlich der Behandlungsauftrag, „Ich möchte einfach wieder der oder die Alte sein!“ Also: gerade keine Erneuerung!)

Der Weg „dazwischen“ ist der dritte Weg. So ist er der Weg des Lebens. Es ist der Weg des Schauens auf „das Unsichtbare“: und das Unsichtbare, das sind die guten, wohlgeordneten Verbindungen zwischen den Dingen und zwischen den Lebewesen. Die gute, freundliche und liebevolle Verbindung zwischen Weingärtner Weinstock und Reben. Sie geschieht im Unsichtbaren, aber ihre Auswirkungen sind eminent sichtbar: ihre Auswirkungen dienen lebendigem Wachstum und geordneter Entwicklung. Und in diesem Geschehen ist Tun und Nicht-Tun, ist Leben und Zerstörung in lebendiger Weise aufeinander bezogen. Wenn wir dies aushalten, dass auch unsere Bestimmung eine des „Dazwischen-Seins“ ist,  so werden wir eingebunden in das nie endende Schöpferhandeln des lebendigen Gottes. Als Christen dürfen wir dieses Eingebunden-Sein als ein „in Christus sein“ bezeichnen. Und „in Christus“ geschieht die „neue Schöpfung“, in ihm ist die Verbindung zwischen dem Baum des Lebens und dem Baum der Erkenntnis wiederhergestellt. Deshalb sagt Paulus: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur“ () Und unmittelbar vorher heißt es: „… auch wenn wir Christus gekannt haben nach dem Fleisch, so kennen wir ihn doch jetzt so nicht mehr.“ (2. Kor. 5, 16) Auch Christus muss für uns zum Nichts, zur Wirklichkeit „dazwischen“ werden, um so neu in uns geboren zu werden. Es gilt also nicht nur: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur.“  Es gilt im selben Atemzug: Nur wer es wagt, mit Christus zum Nichts zu werden, nur wer es wagt, sein altes Denken, das sich vom Baum des Lebens abgewandt hat, zu zerstören, in dem wächst Christus. Gestalt werden, Gestalt verlieren, ins Chaos des Nichts sinkend, um neu Gestalt werdend – das ist die Kontraktion des Lebens. Und wir dürfen – indem wir uns dem Leben hingeben – Tag für Tag an diesem ewigen Prozess teilnehmen. Noch einmal in christlicher Terminologie: in der Teilnahme an diesem Wachstums- und Zerstörungsprozess geschieht Reich Gottes. Im hier und jetzt.

Das ist alles ist kein Anlass zu Euphorie und Überheblichkeit. Und es ist kein Anlass, niedergeschlagen zu sein. Es ist Anlass zur Freude: zur ausgelassenen Freude an meinem mir von Gott geschenkten Leben. In dieser Freude stimmt das Griechische „io!“ Ist es doch eine Freude, die Schmerz nicht mehr exkommuniziert sondern integriert.

Und in dieser Freude wollen wir jetzt den Kanon singen:
„Jubilate deo, omnis terra, servite in laetitia!“

Zu deutsch: „Alle Welt preise Gott und diene ihm in Freude!“

Dass dies Wirklichkeit werde, daran lasst uns arbeiten! AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft und tiefer als unser Sich-Abmühen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus,  AMEN.

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Sonntag Judika 2012

Predigt über 4. Mose 21,4-9 am Sonntag Judika 2012
in der Thomaskirche in Grünwald
Von Lothar Malkwitz

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Konfirmanden, liebe Gemeinde,

offenbar tun wir Menschen uns schwer mit dem Allein-Sein. Wenn man den Geschichten der Bibel glauben kann, so sind die schlimmsten „Verfehlungen“ in Situationen des Allein-Seins, genauer des Allein-gelassen-worden-Seins entstanden. Schon im Paradies findet die erfolgreiche Verführung durch die Schlange zu einer Zeit statt, als Adam und Eva sich selbst überlassen waren – also in der Abwesenheit Gottes. Kain ermordet seinen Bruder Abel ebenfalls gleichsam „hinter dem Rücken Gottes“. Und das goldene Kalb entsteht, als das Volk das Warten auf Moses nicht mehr aushält. Jesus wird vom Satan verführt am Ende seiner 40tägigen Fastenzeit in der Wüste – auch da ist er ganz allein.

Unser heutiger Predigttext ist auch so eine Wüstengeschichte. Sie steht im 4. Buch Mose, das in der jüdischen Tradition „in der Wüste“ heißt. Es handelt von dem langen Weg des Volkes Israel durch die Wüste, aus Ägypten von den „Fleischtöpfen“ und der „Sklaverei“ kommend, in das gelobte Land, wo Milch und Honig fließen, ziehend. Ihr Führer ist – so wollte es Gott – der Mann Moses. Er stirbt – das „Gelobte Land“ vor Augen, ohne es je betreten zu haben. Große Führer können und dürfen nicht sich nieder lassen, sich zur Ruhe begeben: „Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“ (Matth. 8,20).

Aber auch vor ihrem eigenen Volk haben große Führer selten Ruhe. Das Volk Israel jedenfalls benimmt sich wie ein quengelndes, unzufriedenes Kind, dem man es einfach nicht recht machen kann.

„Wären wir doch bloß in Ägypten geblieben. Da hatten wir jedenfalls genug zum Essen und Trinken. Warum musstest du uns hierher führen?“ murren sie immer wieder. Und murren sie besonders, wenn sie sich allein und hilflos fühlen.

Das hat man dann davon: man setzt sein Leben dafür ein, die eigenen Leute aus der Sklaverei heraus zu führen, und was bekommt man als Dank? Jammern, klagen, murren. Eben noch hatten sie mit Gottes Hilfe gegen die Kanaaniter gesiegt – aber statt Dank und Freude „ward das Volk verdrossen“ – wie Luther so schön übersetzt. „und redete wider Gott und wider Mose: Warum hast du uns aus Ägypten heraus geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein Wasser und Brot hier und das Brotzeug hier widert unsere Seele an.

Da sandte ER gegen das Volk die Vipern, die Brandnattern aus, die bissen das Volk und viel Volk von Israel starb. Da kamen sie zu Mose, sprachen: wir haben gesündigt, dass wir gegen IHN und gegen dich geredet haben; setze dich bei IHM ein, dass er die Viper von uns nehme.

Mose setzte sich ein für das Volk. ER sprach zu Moses: Mache dir eine Brandnatter und tue sie an eine Bannerstange. So sei es: jeder Gebissene sehe sie an und er wird leben bleiben.

Mose machte die Viper von Kupfer, er tat sie an eine Bannerstange.
Es geschah: hatte die Viper einen Mann gebissen, blickte er auf die Viper von Kupfer und er blieb am Leben.“ (4. Mose 21,4b-9)

Folgen wir dem vertrauten Spuren, so wie wir das alle gelernt haben, dann ist die Geschichte schnell erklärt: das Volk ist ungehorsam, undankbar, redet gegen Moses und Gott. Schlimmer noch: es findet die göttliche Wüstennahrung, das Manna „widerlich“. So viel Eigensinn scheint grausam bestraft werden zu müssen: wer „Widerworte gibt“, wem das Essen nicht schmeckt, der wird mit dem Tod bestraft. Erst als das Volk bekennt: „Wir haben gesündigt, wir waren böse“, versucht Moses sich bei Gott für das Volk einzusetzen. Daraufhin gewährt Gott einen Ausweg: wer nämlich die kupferne Schlange ansieht, für den ist der Schlangenbiss nicht tödlich.

Ich weiß nicht, wer von Ihnen den Film „Das weiße Band“ angesehen hat – ein Film, der die grausame Erziehungsmethode eines evangelischen Pastors in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts schildert. Mühelos könnte sich dieser Pastor auf unsere Geschichte berufen. Gott ist zum Repräsentanten eines kalten Macht-Vaters geworden, dem Widerworte zu geben vernichtend bestraft wird. Mit Prügeln, mit Einsperren, mit tagelangem Schweigen. Moses wäre in diesem System die Mutter und Ehefrau, die sich der väterlichen Tyrannei unterworfen hat. Ab und zu – je nach Laune des Diktators, kann sie ein gutes Wort bei ihm für die Kinder einlegen. Natürlich nur, wenn die Kinder vorher ihre „Verfehlung“ zugegeben und um Entschuldigung gebeten haben. Alles, was sie dabei erreicht, ist eine Begrenzung der Todesstrafe: wer sich selbst demütigt, „hinauf“ zu dem Bild blickt, wer sich vor dem Diktator in den Staub wirft und seine Hoheit bedingungslos anerkennt, der kommt mit dem Leben davon. Ich vermute, unter uns sind noch Menschen, die Nachwirkungen dieser Erziehungsmethode am eigenen Leibe erlebt haben. Im 5. Buch Mose heißt es übrigens wörtlich: „So erkennst du in deinem Herzen, dass der Herr, dein Gott, dich erzogen hat, wie ein Mann seinen Sohn erzieht.“ Erziehung über Demütigung und Prügel, mit dem Ziel, den anderen in seinem Eigenwillen zu brechen: man nennt diese Erziehungsmethode „schwarze Pädagogik“. Leider gehört sie nur bedingt der Vergangenheit an.

Aber ist das alles, was zu unserem Text zu sagen ist?

Mich befriedigt diese Erklärung, in der Gott zu einem beleidigten Vater wird, der in seinem Zorn seine quengelnden Kinder vernichtet, nicht. Was muss das für ein in sich selbst verliebter Gott/Vater sein, der keinen Widerspruch duldet? Der unfähig ist, seinen eigenen Herrschaftsstandpunkt zu reflektieren, der gar nicht auf die Idee kommt, so etwas wie Mitgefühl mit seinen Kindern, mit seinem Volk zu entwickeln? Ich glaube nicht an einen Diktator-Gott, dessen Macht darin besteht, den anderen Angst zu machen, ihn einzuschüchtern und zu vernichten. Und ist es – nebenbei – nicht sehr verständlich, dass solch eine Erziehungsmethode vor allem eines schürt: Hass und Verachtung. Natürlich kann und darf aus Angst vor dem Macht-Vater dieser Hass sich nicht auf ihn selbst richten; so wird er umgelenkt, so richtet er sich auf die oder das „andere“, was nicht konform ist, was ein Eigen-Leben führt.

Ich bin auf der Suche nach einem Gott, der mich, der mein Eigenleben und der auch meine Schattenseiten aushält. Der mir beisteht durch die Wüstenwanderungen meines Lebens, der mich hält, wenn ich zu fallen drohe, der mich begleitet und ermuntert, anstatt mich auch noch zu schlagen, wenn es mir ohnehin schon schlecht genug geht.

Auf der anderen Seite: es gibt ein Quengeln, ein Jammern, ein Zetern, das einen in den Wahnsinn treiben kann. Das Gefühl zu haben, alles was ich dem Anderen anbiete, gebe, hilft nichts, macht ihn nicht zufrieden, kann einen zu einer Mischung aus Weißglut und Verzweiflung bringen. In der Weißglut explodiert das Ganze – dann fliegen die Teller an die Wand, dann werden die Türen geschmissen, die Gebotstafeln zertrümmert. Dann geschieht Mord und Totschlag. Oder es kommt zu einer Implosion. Dann bricht die Seele innerlich zusammen. Die Gefühle dazu sind tiefe Resignation und Suizidalität.

Gibt es einen Weg, der aus diesem Dilemma herausführt?
Einen Weg in die Freiheit?

Den gibt es wohl. Und zwar für jeden von uns. Es ist der Weg des Loslassens, des Sich-Trennens. Er-Lösung hat mit Los-Lassen, los-lösen zu tun. Und genau diesen Weg geht das Volk Israel: es ist der Weg, der aus der Abhängigkeit der „Fleischtöpfe Ägyptens“ („Hotel Mama“) „durch die Wüste“ in das eigene Land führt. So gesehen ist das Zetern und Quengeln des Volkes Israel nichts anderes als das Durchleben der Gefühle einer echten Pubertät: jeder Jugendliche ist mit den Problemen konfrontiert, groß und selbständig sein zu wollen und gleichzeitig klein und abhängig bleiben zu wollen. Letzteres wird natürlich gerne durch zur Schau getragene „Coolness“ überdeckt. Und – seien wir mal ehrlich: das Elternhaus als „kostenloses Vier-Stern-Hotel“ – wäre doch genial, oder?

Das Problem ist: erwachsen und selbstständig sein zu wollen.
Das Problem ist: sich den Gefühlen des erwachsen und selbstständig Werdens nicht auszusetzen. Unser Schulsystem verführt dazu, so zu tun, als wäre man schon erwachsen. Unser Schulsystem, besonders am Gymnasium, steht in der Gefahr, riesige Köpfe heranzuziehen, die nicht lernen, auf beiden Beinen zu stehen. Ich habe gehört, dass an der UNI München vor dem Raum, in dem die Immatrikulation stattfindet, ein großes Schild mit der Aufschrift steht: „Hier müssen Papa und Mama leider draußen bleiben!“

Was die Jugendlichen, was Ihr braucht, das sind Erzieher, die euere Entwicklung, euer ganzheitliches Wachstum freundlich begleiten und unterstützen. Was wir alle brauchen, ist ein Gott, dessen Anliegen unsere Entwicklung, unser seelisch-mentales Wachstum ist – und nicht unsere Unterwerfung unter ihm! Die Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, sich in den Anderen als einen Anderen, als einen mir Fremden einfühlen zu können. Je verletzter meine Seele ist, desto weniger finde ich „Spiel-Raum“ in mir, mich und meine Bedürfnisse zurückzustellen. In den Anderen einfühlen bedeutet nämlich, mich und meinen Stolz zurück zu stellen. Sich in den Anderen einfühlen zu können, muss man „sich leisten“ können. Das Gefühl, das sich auf dem Weg der Einfühlung schnell einstellt, lautet: wenn ich soviel Verständnis für den anderen aufbringe, dann gebe ich mich selbst ja ganz auf! Und genau das ist der Irrtum. Beim Einfühlen stimmt der alte Satz: Geben ist seliger als Nehmen!

Der Weg raus, der Weg der echten Trennung, der Weg der Erlösung führt über die Einfühlung in den Anderen, und nur über die Einfühlung. Einfühlung in den Anderen ist etwas grundsätzlich anderes, als mit dem Anderen zu verschmelzen, mit dem Anderen eins zu werden. Wirkliche Einfühlung beginnt mit einem Verzicht: ich stelle meine Wünsche an den Anderen zurück. Heißt: alles, was ich denke, mache, mache ich zuerst einmal für mich. Und es ist eine Überforderung und Überschätzung zu erwarten, dem anderen muss das, was ich gerade denke gefallen, er muss zu dem, was mir gerade wichtig ist, auch Lust haben. In dieser Erwartung an den Anderen mache ich mich von ihm abhängig und versuche ihn mir gleich zu machen. Das ist Verschmelzung!

Einfühlung konkret heißt: ich kann total verstehen, wenn ihr jetzt lieber mit Freunden in Facebook chatten würdet, als euch hier meine langweilige Predigt anzutun. Und ich predige zunächst einmal für mich: weil ich mich entschieden habe, heute hier zu stehen. Einfühlung heißt: ich finde in mir die Stärke und die Kraft, dass der Andere so anders sein darf, wie er eben gerade ist – ohne dass ich beleidigt und gekränkt reagieren muss.

Die Brandnattern, die vernichtenden Schlangen entstehen aus meinem eigenen Hass, aus meiner Kränkung, aus meinem Beleidigt-Sein, dass der Andere gerade nicht so ist, wie ich meine, ihn zu brauchen. In der Liebe, in der einfühlenden Annahme des Anderen lösen sich die Giftschlangen auf – wie Nebel in der Sonne verdunstet.

Aber woher nehme ich die Kraft, den Anderen so auszuhalten wie er ist? Indem ich vom Anderen getrennt bleibe. Indem ich nicht mit Haut und Haaren darauf angewiesen bin, wie der andere meine Gedanken, mich findet. Wenn Sie meine Predigt schlecht finden dürfen, ohne Angst haben zu müssen, dass ich Sie dann mit Giftschlagen verfolge, kommen wir in eine freie Beziehung. Andersherum gilt natürlich genauso: erst wenn ich meine Gedanken Ihnen zumuten darf, ohne Angst haben zu müssen, dass Sie mit Ihren Giftschlangen dann hinter mir her sind, kann ich wirklich mein Eigenes hier vortragen. Und dann, und erst dann geht ein echte Diskussion in Freiheit an. Erst dann werden wir zu einer Arbeitsgruppe, die sich um die Wahrheit bemüht. Nebenbei: Wenn ich in der Kirchenleitung etwas zu sagen hätte, dann wäre es dieses: ihr müsst euch darum bemühen, eine Arbeitsgruppe zu werden, in deren Zentrum nicht das Rechthaben einer Gruppe, sondern die Offenbarung der Wahrheit Gottes als eines annehmenden und barmherzigen Gottes steht. Eines Gottes, der Toleranz aufbringt für das Fremde, Unbekannte, Offene. Eines Gottes, der sich nicht mit Unterwürfigkeit bedienen lassen will, sondern gekommen ist, zu dienen: der Wahrheit, der Freiheit, der Liebe.

Wir sollten übrigens jeden Tag dankbar sein, dass wir weitgehend in demokratischer Freiheit leben dürfen. Die Geschichte lehrt uns, wie wenig selbstverständlich dies ist: denken wir an Sokrates, der wegen seiner Gedanken real vergiftet worden ist, denken wir an Solschenizyn, der ob seiner Gedanken in das Straflager (Archipel Gulag) verbannt worden ist. Denken wir an Jesus aus Nazareth, der wegen seiner Predigt von der Gegenwart des Reiches Gottes und von der Barmherzigkeit Gottes als Verbrecher hingerichtet worden ist.

Und unser Text? Wie können wir ihn bei diesen Gedanken verwenden? Können wir ihn anders lesen denn als Ausdruck eines totalitären, absolutistischen Gottesbildes? Ich sehe es so: unser Text zeigt, wie ein verbreitetes Zerrbild Gottes, eine Gottesvergiftung entstanden ist. Der giftige Gott schickt die Brandnattern – nicht der barmherzige! Wie aber wird Gott giftig? Es sind wir selbst, die Gott vergiften, nämlich dann, wenn uns die Kraft zum Annehmen der Wirklichkeit fehlt. Das Bild des vernichtenden, strafenden Gottes ist eine Projektion unserer eigenen Vernichtungswünsche, unseres Hasses auf Gott. In dieser Projektion wird die göttliche „Nahrung“, das Manna, widerlich, ekelhaft. Es ist unser eigener Hass auf die Wirklichkeit, der Gott so sehr vergiftet hat. Dieser Hass speist sich aus dem Alleingelassen worden sein. In diesem Hass vergessen wir die Güte Gottes und verwandeln ihn in ein uns vernichtendes gewalttätiges Monster. Diesem Monster können und müssen wir Einhalt gebieten, indem wir lernen, Gottes Abwesenheit in Liebe zu ertragen! Diese Fähigkeit bedarf eines tiefen inneren Gottvertrauens, einer unerschütterlichen  Liebesbeziehung zu Gott. In ihr geschieht die Wandlung des Hasses in Vertrauen: aus dem verzweifelten „mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“(Ps. 22,2) wird ein „ich will deinen Namen predigen meinen Brüdern…“(PS. 22. 23). Das Banner der ehernen Schlange ist eine Vorwegnahme des Kreuzes: beide, das Banner wie das Kreuz können das Gebissen-Werden von den Giftschlagen nicht ungeschehen machen – aber beide stehen für den Scheitelpunkt, den Wendepunkt der Abwesenheit Gottes! Die Wendung zur Auferstehung der Liebe, des Lebens. Und in dieser Wende müssen wir den Anderen nicht mehr mit unserem Hass kreuzigen, stattdessen lernen wir unser eigenes Kreuz zu tragen … und so stark zu werden. Ein starker Rücken kennt durchaus Schmerzen, aber ein starker Rücken trägt sein eigenes Lebenskreuz, sein eigenes Lebensschicksal – ohne Jammern und Murren.

Dass uns Gott jeden Tag aufs Neue unseren Rücken stärke, dass wir mit Rückgrat und erhobenen Hauptes durch unser Leben gehen und gerade so uns in die Menschen, die unsere Nächsten sind, einfühlen können, darum bitten wir den allmächtigen und barmherzigen Gott, durch Jesus Christus seinen Sohn, unseren Herrn, AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, AMEN.

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Predigt am Sonntag Invokavit 2012 (Thomaskirche Grünwald)

Predigt über 1. Korinther 6,1-10
am Sonntag Invokavit 2012 in Grünwald (Thomaskirche)
von Lothar Malkwitz

Liebe Konfirmanden, liebe Gemeinde, lieber Paulus!

Ja, auch und gerade lieber Paulus. Ich wende mich mit dieser Predigt direkt an dich, der du mir nicht zum ersten Mal erhebliche Probleme machst. Ich fürchte mich allmählich schon davor, wenn wieder eine Stelle aus deinen Briefen der Text ist, über den ich zu predigen habe. Ich bin aber auch zu stolz, mich einfach über den vorgegebenen Predigttext hinweg zu setzen. Also bleibt mir nichts übrig, als mich mit dir auseinander zusetzen.

Nun weiß ich als Beobachter menschlichen Seelenlebens, wie häufig es sich so verhält, dass das, was mich an anderen Menschen ärgert, empört usw. in der Tiefe Teile meiner eigenen Seele sind. Unbewusste Teile meiner eigenen Seele, mit denen mein Bewusstsein, mein denkendes Ich nichts zu tun haben will, über die sich mein moralisches Ich empört. „Was siehst du die Splitter im Augen deines Nächsten, die Balken in deinem eigenen Auge aber siehst du nicht.“

Die große Verführung besteht darin, das Denken des Anderen dafür zu verwenden, gegen diese (meine eigenen mir unbewussten) Teile anzukämpfen. Dies führt zu immer tieferen Gräben mit den dazugehörigen „Grabenkämpfen“, von denen die Geschichte der Religionen, auch die des Christentums voll ist. Der Weg heraus ist unangenehm: er geht nämlich über die Anerkenntnis, dass in mir selbst sich eben dies findet, was ich im Anderen so sehr bekämpfe. Der Weg heraus aus den Gräben führt also „in mich hinein“: erst wenn ich es wage, in mich hinein zu hören, mich mit meinen eigenen unangenehmen Seiten kennen zu lernen, lerne ich verstehen, wie sehr ich den Anderen als „Entsorger“ meiner eigenen dunklen Seiten verwendet habe. Der heutige Sonntag „Invocavit“ ist ein Psalmwort, wo es heißt: „er ruft mich an, darum will ich ihn erhören“. Heißt für mich: mein „ich rufe hinein“ verhallt nicht ins Leere, die Bewegung nach „innen“ führt paradoxerweise aus meiner Verzweiflung, aus meinem Gefängnis heraus.

Übrigens: Die drei Versuchungen des Teufels handeln davon, Jesus dazu zu verführen, nicht nach innen zu rufen, die äußere Welt an die Stelle der inneren zu setzen. Und Jesus weist die Versuchungen zurück, indem er auf die Bedeutung und Ordnung seiner inneren Beziehung zu Gott verweist: der Mensch lebt von den Worten, die aus Gottes Mund fließen; du sollst niemand anbeten, außer Gott; du sollst Gott deinen Herrn nicht verführen.

Gestärkt und identifiziert mit diesem Jesus möchte ich mich dem heutigen Predigttext zuwenden, in dem du, lieber Paulus, Einblicke in dein Leben als Apostel Jesu Christi gibst. Du scheinst mit dem Rücken zur Wand zu stehen und verteidigst dich kraftvoll, indem du darauf hinweist, wie du als „Mitarbeiter der Gemeinde Christi“ lebst:

2. Korinther 6,1-10:

„1 Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt. 2 Denn ER spricht (Jes. 49,8): ‚Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tag des Heils geholfen.’

Siehe jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils.

3 Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit unser Amt nicht verlästert werde; 4 sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten, 5 in Schlägen, in Gefängnissen, in Verfolgungen, in Mühen, im Wachen, im Fasten, 6 in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, in heiligem Geist, in ungefärbter Liebe, 7 in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, 8 in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; 9 als die Unbekannten, und doch bekannt; als die Sterbenden und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet; 10 als die Traurigen, aber allzeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben.“

„Als Mitarbeiter ermahnen wir euch…“ parakaleo im griechischen hat etwas freundliches, liebevolles: herbeirufen, ermuntern, freundlich auffordern, einladen … ohne Gewalt, ohne Zwang.

„Wir ermuntern euch, damit ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt.“ Das scheint deine Sorge zu sein, dass Gemeindeglieder, obwohl formal zum Christentum bekehrt, die „Gnade“ vergeblich empfangen. Was das heißt, sagst du nicht so genau, aber es hat natürlich schon Schärfe, dem Anderen zu sagen, er hätte die Gnade Gottes vergeblich empfangen. Zugleich betonst du: „Siehe, jetzt ist der Tag des Heils, jetzt ist die Stunde der Gnade.“ Und diese Betonung wird untermauert mit dem Hinweis auf den Propheten Jesaja: „Ich habe dich zur Zeit der Gnade erhört und habe dir am Tag des Heils geholfen“ (Jes. 49,8). Du rufst uns in die Gegenwart. Und das tut gut. „Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart“, sagt Meister Eckhart. Wir haben letzte Woche, als wir zusammen in dem Predigtvorbereitungskreis diesen Text heftig und kontrovers diskutierten, dieses „jetzt“ erleben dürfen. Zeit der Gnade heißt nicht: langweilige Harmonie. Zeit der Gnade heißt lebendige Auseinandersetzung, aber in Liebe zu einander; heißt sich am Ende wieder die Hand geben können, heißt sich im Gebet zusammen finden und sich auf die unsichtbare Mitte zurück zu besinnen.

„Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit unser Amt nicht verlästert wird.“ Das glaube ich dir sofort, lieber Paulus, und es macht dich recht menschlich, dass du das so betonst. Man möchte dich beinahe trösten und sagen: ja, ja, beruhige dich doch, du bist ein bedeutender Apostel, ein Kämpfer des Glaubens für den Glauben an Jesus Christus. Aber so leicht bist du nicht zu beruhigen. Wenn du einmal in Fahrt bist, dann bricht deine Leidenschaft mit dir durch:

„…sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Trübsalen, in Nöten, in Ängsten, 5 in Schlägen, in Gefängnissen, in Verfolgungen, in Mühen, im Wachen, im Fasten, 6 in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, in heiligem Geist, in ungefärbter Liebe, 7 in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken, 8 in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig; 9 als die Unbekannten, und doch bekannt; als die Sterbenden und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten, und doch nicht getötet; 10 als die Traurigen, aber allzeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben, und doch alles haben.“

Im Laufe des Predigtvorbereitungskreises habe ich erfahren können, lieber Paulus, was mein Problem mit dir ist: dass ich so misstrauisch bin, ob du mit erhobenem Zeigefinger hier hinter mir stehst. Dann kommt dein Satz so bei mir an, als würdest du dich dessen brüsten, was du für ein herausragender Diener Gottes du bist. Und dann fühle ich mich klein gemacht, und dann beginne ich mich zu ärgern. Und dann kann ich dir nicht mehr offen zuhören. Das ist das Problem von Strafpredigten: sie bleiben so wirkungslos, weil sie den Anderen in der Tiefe nicht erreichen, und gar nicht erreichen wollen. Strafpredigten führen nicht zu einer Veränderung aus dem Herzen heraus, sondern zu einer Veränderung aus Angst. Der Glaube aber, der dir und mir so wichtig ist, Paulus, geschieht gerade nicht aus Angst heraus. Das ist ja doch eine deiner Kernideen, dass wir nicht vor Gott rechtfertigt sind, indem wir ängstlich seine Gesetze erfüllen. Aus Glauben, aus dem tiefen Vertrauen auf Jesus Christus und seine Botschaft von der Liebe und Barmherzigkeit Gottes werden wir rechtfertigt. Und niemals können wir uns selbst rechtfertigen!

Wenn ich deinen langen Satz von deiner Rechtfertigungslehre her lese, wenn ich ihn ohne erhobenen Zeigefinder hören kann, dann klingt er ganz anders. Dann klingt er für mich so: wer Mitarbeiter Gottes sein will, der sei ein Diener Gottes: und er möge sich von vorne herein darüber im Klaren sein, dass dies keine  Freikarte in das Paradies immerwährender Glückseligkeit ist. Diener Gottes sein heißt: Geduld aufbringen können, Trübsale, Nöte, Ängste ertragen, heißt Schläge, Rück-Schläge hinnehmen, heißt im Gefängnis (auch der eigenen Ängste, des eigenen Unvermögens) eingesperrt sein, heißt verfolgt werden (auch von hässlichen Gedanken und bedrückenden Gefühlen),  heißt sich abmühen, heißt wachsam sein gegenüber teuflischen Verführungen, heißt Fasten im Sinne von sich zurückhalten können, heißt ehrlich sein, heißt sich offen halten dafür, Neues zu  erkennen, heißt langmütig und nicht gleich gereizt sein, heißt freundlich und so im Heiligen Geist bleiben, heißt zu lieben ohne Partei zu ergreifen, heißt sich bemühen, die wahren, gerade passenden Worte zu finden, heißt nicht aus eigener sondern in der Kraft Gottes zu leben und keine anderen Waffen als die der Gerechtigkeit zu verwenden; und in alledem geschieht dem Diener Gottes Ehre ebenso wie Schande und beides erträgt er genauso wie die guten und die bösen Gerüchte über ihn; und natürlich verführt er auch, aber so, dass er hinführt zu einem Leben in Wahrhaftigkeit vor seinem Gewissen, seinem Nächsten und vor Gott; der Diener Gottes lebt davon, sich überflüssig zu machen, er verschwindet hinter seiner Botschaft – so ist er unbekannt, bekannt nur als der, der für die Botschaft eintritt, und natürlich ist er ein Sterbender und Sterblicher, wie alle anderen Menschen auch – aber immer wieder: „und siehe wir leben“ wird er erleuchtet und gekräftigt vom Gott des Lebens, in dessen Dienst er steht und bleibt, auch wenn er sich gezüchtigt und ungerecht behandelt fühlt, und so setzt sich doch seine lebendige Beziehung zum lebendigen Gott über alle diese Widrigkeiten hinweg. Und natürlich sind die Diener Gottes traurig, eine Trauer, die aber getragen ist von einer noch tieferen Fröhlichkeit – „mich wundert, dass ich so fröhlich bin“ – und natürlich sind die Diener Gottes „arm“ – jedenfalls arm im Herzen, weil sie versuchen leer zu sein, um sich so von Gott füllen zu lassen und mit dieser Fülle auch andere reich machen können. Sie haben nichts in Händen und haben doch alles, was sie zum Leben brauchen: „Ich glaube“, bekennt ein Diener Gottes, D. Bonhoeffer, „dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen, aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf IHN verlassen.“

Es ist für mich selbst völlig überraschend, welche anderen, neuen Gedanken mir kommen, wenn ich die Freiheit verspüre, mich auf deinen Briefausschnitt einzulassen können, mein lieber Paulus. An dieser Stelle möchte ich dem Predigtvorbereitungskreis Danke sagen, da mir im Laufe des Abends diese Freiheit begann zu dämmern. Ich glaube, diese Freiheit ist viel viel wirkmächtiger als jeder eifernde Zwang. Und der rechtfertigende, barmherzige Gott bedarf keiner Eiferer. Im Gegenteil: die Eiferer, die Fanatiker machen die Botschaft der Barmherzigkeit Gott unglaubwürdig. Es ist ein unglaubwürdiger Gott, in dessen Namen Gewalt ausgeübt wird, Bomben geworfen werden. Es ist ein Gott, der in seinem eigenen Hass stecken geblieben ist. Dies gilt auch für die Prediger des Zornes.

So brauchen wir uns nicht über die Abwendung von Gott und die Hinwendung zur Vernunft bei uns in Westeuropa wundern. Es steckt so tief die Erfahrung in uns, dass wegen des sogenannten „richtigen“ Glaubens an Gott sich die Menschen die Köpfe eingeschlagen haben! Dabei ist der wahre Gott seinem Wesen nach unerkennbar, jenseits und höher als all’ unsere menschliche Vernunft, unverfügbar und von niemandem in Besitz zu nehmen. „Gott wohnt in einem Lichte, zu dem niemand kommen kann…“ (1. Tim 6,16b) So dass angemessenes Reden von Gott dem Stammeln eines kleinen Kindes gleicht, so unfassbar, so gewaltig so über unseren kleinen Verstand erhaben ist er.

Und auf der anderen Seite ist echtes Reden von Gott wieder so einfach: „Gott ist die Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ (1. Joh. 4, 16b). Im Grunde genommen lässt sich das, was du uns heute alles aufgezählt hast, was das Leben eines Mitarbeiter Gottes ausmacht, zusammenfassen zu der einfachen Botschaft: „in der Liebe bleiben – und zwar gerade angesichts der Widrigkeiten und Schicksalsschläge des Lebens“. Und: nicht irgendwann, sondern heute: „Heute ist die Zeit der Gnade, jetzt ist die Stunde des Heils.“

Du sagst an anderer Stelle, wenn Jesus nicht von den Toten auferstanden ist, dann ist unser Glaube nichtig. Ich finde, wir sollten dem nicht so viel Gewicht geben, unseren Glauben nicht so leicht aufs Spiel setzen. Viel wichtiger ist doch, ein auf dem Fundament unseres Glaubens heraus verantwortungsvolles Leben in der Gegenwart zu führen. Unser Glaube hängt doch nicht an einem historischen Faktum; unser Glaube hängt an der Wahrheit der Barmherzigkeit Gottes. Und Gott braucht keine Beweise. Alles was Gott braucht, ist unser Vertrauen. Unser Glaube vertraut, dass es möglich ist, ein Leben in innerer wie äußerer liebevoller Begleitung, ein Leben in hinein und aus Gott heraus zu führen. Unser Glaube ist sich sicher, dass Gott nur eines will: uns lieben. Und unser Glaube erkennt an, dass nicht wir es sind, die unser Leben im Griff haben, sondern dass wir von IHM oder ES gelebt werden. Ich darf dich noch einmal zitieren: ‚Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben, wir so sterben wir dem Herrn; ob wir also leben oder sterben, wir sind des Herrn.’ (Röm 14,7) Mir ist das genug. Ich lasse mir an deiner Gnade genügen.

Lieber Paulus,

da ich nicht weiß, ob du mich hören kannst, kann ich jetzt auch keine direkte Antwort von dir erwarten. Du hast so viele kluge und schöne Gedanken entwickelt, die weitergetragen werden wollen. In Freiheit und Liebe. Ich bin mir nämlich sicher, dass, falls unsere Welt noch zu retten ist, dann nur über die Liebe zum Leben. Die Liebe, die allein die Kraft hat, das Leben in seinem Werden und Vergehen anzuerkennen, die Liebe, die die eigene Schwäche und Vergänglichkeit erträgt, und die Liebe, die nichts mehr braucht, nichts mehr will, nichts mehr sucht, weil sie angekommen ist in IHM, den unendlichen, barmherzigen, liebevollen Gott.

Mögen wir in ihn uns immer tiefer hineinbilden, mögen wir in ihm unserer eigenen Wahrheit begegnen und so zu einem Frieden finden, der höher ist als all’ unsere menschliche Vernunft AMEN.

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Predigt an Septuagesimae 2012 (Jakobuskirche Pullach)

Predigt über Jeremia 9, 22-23 am Sonntag Septuagesimä 2012
„Wer sich rühmen will, rühme sich des Herrn!“
Von Lothar Malkwitz

Liebe Gemeinde,

ich weiß nicht, wie es Ihnen mit dem bislang Gehörtem geht; bei mir löst es jedenfalls ganz schön heftige Gefühle aus.

„Wir liegen vor DIR mit unserem Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf DEINE große Barmherzigkeit“ (Dan. 9,18)

Wann liegen wir vor Gott mit unserem Gebet? Vor Gott im Gebet liegen: das ist das Bild des Untertanen, der sich vor seinem König in den Staub wirft. Es bedeutet, sich IHM, seinem Willen voll und ganz hinzugeben, sich IHM zu unterwerfen. Sind wir nicht freie, mündige Bürger, mit Vernunft begabt. Vor wem sollten wir uns niederwefen? Das war einmal – zu Zeiten absolutistischer Herrscher, aber heute?

Und wenn wir beten, sagen wir dann nicht: lieber Gott, mach, dass es so und so wird. So und so, wie wir es uns wünschen. So und so, wie wir es als gerecht empfinden. „… und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit…“ eigentlich hätten wir ja angesichts der Ungerechtigkeiten auf dieser Welt, angesichts unseres Unvermögens, eine gerechte Weltwirtschaftsordnung zu verwirklichen allen Grund, nicht auf unsere Gerechtigkeit zu vertrauen. Aber natürlich haben wir unser Rechtsempfinden mit dem wir die Zeitung lesen, unsere Kinder erziehen, Einkaufen, Auto fahren usw. Was soll das heißen, wir vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf „DEINE große Barmherzigkeit“?

Die Arbeiter im Weinberg: natürlich sind diejenigen  ärgerlich, enttäuscht, die den ganzen Tag für ihren Groschen gearbeitet haben und am Ende dasselbe bekommen wie die, die nur eine Stunde gearbeitet haben. Das ist doch zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit! Wird hier nicht wiederum einem absolutistischen und auch noch willkürlichen Machthaber das Wort geredet?

Auf der anderen Seite: Der Besitzer des Weinberges hat ja Recht, wenn er sagt, dass er sich durchaus an seine Vereinbarung hält. Die Provokation entsteht erst dadurch, dass die ersten Arbeiter sich verständlicherweise mit den Hinzugekommenen vergleichen. Und dass sie dann eben „auch mehr haben wollen“. Schließlich haben sie auch länger gearbeitet.

„Auch haben…!“: ein kurzer Appell, den schon recht kleine Kinder beherrschen.
Es ist die „Will-auch-Haben“-Gerechtigkeit, die es als ungerecht empfindet, dass der andere etwas hat, was ich nicht habe, oder etwas bekommt, was ich nicht bekommen habe. (Dies ist meines Erachtens der tiefere emotionale Grund dafür, dass das Zölibat nicht abgeschafft wird: es müsste ja von denen abgeschafft werden, die sich selbst mehr oder weniger damit abgequält haben.)

Oft besteht der Wert des „Auch-Haben-Dinges“ nur darin, dass ihn der andere hat – und nicht ich. In dem Moment, wo ich ihn habe, verschwindet mein Interesse. Die Werbung versteht es geschickt, unsere Bedürfnisse genau an dieser Stelle zu manipulieren.

Die „Will-auch-haben-Gerechtigkeit“ lebt vom Vergleich. Und hier liegt die Provokation unserer heutigen Texte: sie stellen nicht Gerechtigkeit an sich, sondern unsere „Will-auch-haben-Gerechtigkeit“ massiv in Frage! Sie brüskieren unser Vergleichen und unser Gleich-Machen. Sie weisen uns zurück, in des Wortes doppelter Bedeutung: sie weisen unsere Sehnsucht nach dem Vergleich zurück und sie (ver-)weisen uns zurück auf IHN.

Der Prophet Jeremia drückt das so aus:

So hat ER gesprochen:
Nimmer rühme sich der Weise seiner Weisheit,
nimmer rühme sich der Held seines Heldenmuts,
nimmer rühme sich der Reiche seines Reichtums,
sondern dessen rühme sich, wer sich rühmt:
zu begreifen
und mich zu erkennen,
dass ICH es bin,
der Huld, Recht und Wahrhaftigkeit macht auf Erden.
Ja, an solchem habe ich Gefallen,
spricht ER. (Jeremia 9,22-23, unser heutiger Predigttext)

Vielleicht denken Sie sich jetzt: was hat denn das Sich-Rühmen mit der „Das- will-ich-auch-haben-Gerechtigkeit“ zu tun?

Die Klammer zwischen beidem ist ein ziemlich ursprüngliches und ziemlich unangenehmes Gefühl, über das man eher nicht spricht: die Klammer ist der Neid.

Der, der sich rühmt, erzeugt Neid im Anderen („gell, da schaust du, ich hab’ was, kann was, was du nicht hast/kannst“) – der, der „es auch haben will“, erlebt Neid auf den Anderen. Wobei das Sich-Rühmen subtil ist: keiner stellt sich hin, klopft sich auf die Schultern und sagt, „schaut mal, was ich Tolles habe!“ Es ist ein gesellschaftliches Agreement, was toll ist: es sind die Marken, die Namen, der Status und die damit verbundenen Fantasien, die das „Tolle“ erzeugen. Ein So-und-so-Auto fahren, ein Einfamilienhaus besitzen, einen tollen Urlaub machen, einen Titel haben, ein wichtiges Amt ausüben, ein Star sein…

„Auch haben…“

Und so entsteht eine Beziehung, die von Neid durchtränkt, die durch Neid vergiftet ist. Eine Steigerung des Giftes ist es, nicht nur „es auch haben zu wollen“, sondern auch so sein zu wollen, wie der andere, sich an die Stelle des Anderen zu setzen:

„Ihr werdet sein wie Gott…“ mit dieser Verführung fing alles an.

Es ist die Sehn-Sucht nach „mit dem anderen gleich sein“, die zu der Sucht führt, sich selbst an die Stelle des Anderen zu setzen. Der dahinter liegende Gedanke ist einfach: wenn ich den anderen ersetze, dann bin ich endlich der Bestimmer, der Mächtige, der das Ohnmächtig-sein nicht länger ertragen muss.  Ohnmächtig-sein wird nämlich als gedemütigt-sein erlebt.

Hätten Adam und Eva der Schlange antworten können: „wir wollen gar nicht so sein, wie Gott – Gott ist Gott und wir sind wir und wir leben in einer guten Beziehung zusammen…“ es wäre uns Vieles erspart geblieben. Das Problem ist: Adam und Eva haben sich (zurecht) so willkürlich klein gemacht gefühlt, nicht vom Baum der Erkenntnis essen zu dürfen. Die Verführung des „ihr werdet sein wie, ich setze mich an die Stelle des Anderen“ greift an bei den Gefühlen des klein gehalten Werdens.

Könnten die Arbeiter im Weinberg sagen: wir werden nach unserer Abmachung bezahlt und wenn der Herr des Weinberges so großzügig ist, den später Hinzugekommenen dasselbe wie uns zu geben: wie schön! Dann freuen wir uns mit den Anderen mit! – und schon wäre das Problem erledigt. Dies geht aber nur, wenn ich an dem, was ich bekomme, mich sättigen kann. Wenn es mich befriedet!

Die Frage ist, ob ich es mir materiell und emotional leisten kann, statt neidisch großzügig zu sein. Auch materiell: es ist Zynismus, vom Harz-IV-Empfänger zu erwarten, er solle großzügig sein, sich am Wohlstand der Reichen erfreuen – und nicht schwarz arbeiten, weil das den Staat schädige. Die Großzügigkeit sollte von den Reichen ausgehen – die Großzügigkeit könnte von uns ausgehen.

Wer aber in der Welt des Neides gefangen ist, der ist – auch bei äußerlichem Reichtum – in (innerer) Wahrheit ein ziemlich armer Wicht: er hat nichts herzugeben, er muss an sich raffen, was er nur gerade kriegen kann, er ist getrieben nach mehr und mehr …
Und so wird verständlich, was von außen betrachtet unverständlich erscheint: dass materieller Reichtum nicht vor einem gefühlten „Am-Verhungern-Sein“ schützt. Dies ist ein innerer, ein emotionaler Hunger: die neidische Seele ist eine Seele, die panische Angst vor dem Verhungern hat: und in ihrer Panik glaubt sie, sie muss alles und ohne Grenzen von Moral und Anstand zu sich nehmen, was es nur gibt: jede Möglichkeit nach Anerkennung, nach Ruhm, nach Macht, nach Einfluss und natürlich nach Materiellem. In ihrer Panik merkt sie nicht, dass dies alles äußere Dinge sind, die sich für Vieles eignen, aber nicht dafür, satt zu werden. Und so sucht sie immer weiter, wird immer getriebener, immer verzweifelter, immer gieriger…

Aus diesem Hamsterrad von Neid, innerer Getriebenheit und Gier kann sich niemand selbst befreien. Es bedarf eines Anderen, eines, der draußen steht (extra nos), auf festem Boden, eines, der sich nicht mitdreht. Es bedarf des Erkennens, „dass ICH es bin, der Huld, Recht und Wahrhaftigkeit macht auf Erden“, wie der Prophet Jeremia sagt.

Aber wie soll die hungrige Seele dort hinkommen : die im Hamsterrad gefangene Seele  – zu IHM, der Huld, Recht und Wahrhaftigkeit macht auf Erden.

An der Stelle sind sich die großen Denker des Glaubens alle einig:
Allein durch Glaube!
Allein durch Gnade!

Aber wie kann der Glaube, wie kann die Gnade in das Hamsterrad hinein finden?
Oder anders: Wie kann dem Hamster bewusst werden, dass er selbst, und nur er selbst es ist, der das Rad am Laufen erhält?
Zunächst einmal überhaupt nicht.
Solange der Hamster läuft, solange „es läuft“, gibt es keine Chance. Erst wenn „es“ nicht mehr so läuft, wenn eine unerwartete Krankheit sich ereignet, eine Trennung, eine Kündigung, ein Todesfall, entstehen Chancen. Es bedarf einer kleineren bis mittleren Katastrophe, wenn sich etwas ändern soll. Bis dahin „läuft“ alles wie gewohnt. Das gilt für die individuelle Geschichte wie für Geschichte der Menschheit: alle Änderungen sind erzwungene, üblicherweise durch Krieg oder Revolution.

Individuell heißt das: ohne starkes Leiden an dem, wie es ist, gibt es nichts Neues. Wobei: nicht wenige Menschen kommen in die Sprechstunde des Therapeuten mit der Bitte: es soll wieder so laufen wie früher. Ihnen ist völlig unbewusst, dass eben das Frühere sie dorthin gebracht hat, wo sie jetzt sind.

Erschwerend kommt hinzu, dass Glaube und Gnade zwar etwas sehr Schönes sind, aber das Leiden auf die Schnelle nicht wegnehmen können. Sie sind keine Betäubungsmittel. Mit Betäubungsmittel meine ich nicht nur Tabletten – auch das sich Zu-Dröhnen mit Arbeit, mit Terminen, mit Aktivitäten kann wirksam betäuben. Nur nicht „inne halten“, nur nicht zur Ruhe kommen, nur nicht sich besinnen: das ist gefährlich. Das Strampeln im Hamsterrad ist selbst ein recht wirksames Betäubungsmittel.

Die Stille ist Gottes Schwäche und Stärke zugleich: in ihr kann der Glaube entstehen, in ihr kann die Gnade wirken, in ihr hören wir auf, um etwas zu bitten, in ihr ergeben wir uns in Gottes Willen, in ihr liegen wir Gott zu Füßen im Gebet und vertrauen auf seine Barmherzigkeit. Aber die Stille will ausgehalten sein. Wer in die Stille kommt, der hat alles, was er machen kann, aus der Hand gegeben. In diesem Loslassen sind Gefühle schwerer Enttäuschung zu durchleiden. Mein Stolz will nicht zugeben, wie sehr ich mich in meinem Hamsterrad getäuscht habe. Wie sehr ich mich täuschte, in der Überzeugung, ich hätte etwas im Griff. Wie sehr ich mich täuschte in der Idee, die Lösung meiner Ohnmacht wäre, ich muss selbst (all-)mächtig werden, autark und unabhängig von allem, auf nichts und niemand angewiesen. Wie sehr ich mich täuschte in der Idee, ich könnte mich und andere retten, oder auch nur bewahren vor dem, wie es wirklich ist. „Wer immer strebend sich bemüht…“:  welch’ eine Täuschung. Ohn-mächtig, ohne Macht bin ich vor IHM, ergebe mich vor dem, wie es gerade ist, und erleide aufs Neue meine alten Ohnmachtsgefühle. Das kann ich nur im Vertrauen darauf, dass meine Ohnmacht nicht von neuem ausgenützt wird, dass SEINE Macht SEINE Barmherzigkeit ist. („SO spricht der HERR: Ich habe kein Gefallen am Tod des Gottlosen, sondern dass sich der Gottlose bekehre von seinem Wesen und lebe.“ (Hes. 33,11).In diesem Vertrauen führt der steinige Kreuzweg über das Kreuz hinaus mitten hinein ins Leben des Reiches Gottes. Und im Reich Gottes ist anerkannt, dass ER es ist, der Huld, und Recht und Wahrhaftigkeit macht auf Erden.

In dieser Anerkenntnis der Hoheit Gottes  – und nicht der Hoheit eines anderen Menschen – wird meine Seele lebendig, wird zufrieden und satt, mein Jammern und Klagen findet ein Ende, mein Neid auf die Anderen und das, was sie haben, löst sich auf. Nur dass dies alles kein Besitz ist, sondern ein unendlicher, unverfügbarer, ewiger Weg der Anerkenntnis meines Seins, meines Geworden-Seins, meines In-Beziehung-Seins mit dem Lebendigen, mit Gott, dessen Barmherzigkeit keine Grenzen kennt. Und wer sich dann immer noch rühmen will, der rühme sich dessen, dass er teilnehmen darf am unbegreiflichen Geheimnis des Lebens,                                                                             AMEN.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unser menschliches Streben und Bemühen, bewahre unser Herz und unsere Sinne in Christus Jesus, AMEN.

Predigt an Septuagesimae 2012 (Jakobuskirche Pullach) Weiterlesen »

2. Sonntag nach Epiphanias 2012

Predigt über 1 Kor. 2,1-10 am 2. Sonntag n. Epiphanias (15.1.2012) in der Petruskriche
Von Lothar Malkwitz
Gott zur Ehre

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

da gibt es heute diese poetische Evangeliumslesung, die berühmte Geschichte der Hochzeit zu Kanaan. Ein bisschen märchenhaft ist sie, wie da der junge Jesus fast widerwillig den Wunsch seiner Mutter erfüllt und Wasser zu Wein verwandelt. Und sie hat etwas Strahlendes, ein junger Held scheint geboren, begabt mit übernatürlichen Kräften. Man darf auf ihn gespannt sein!

Und da gibt es heute einen Predigttext, aus der Feder des Paulus stammend, dessen erster Teil nüchtern und spröde sich darstellt: nicht um Heldentum, nicht um Wunder, nicht um strahlendes Wissen geht es, sondern: „allein Jesus Christus, der Gekreuzigte“ ist das Zentrum.

Hören Sie selbst: „Auch ich, liebe Brüder, als ich zu euch kam, kam ich nicht mit hohen Worten und hoher Weisheit, euch das Geheimnis Gottes zu verkündigen. Denn ich hielt es für richtig, unter euch nichts zu wissen als allein Jesus Christus, den Gekreuzigten. Und ich war bei euch in Schwachheit und Furcht und mit großem Zittern; und mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit, sonder in Erweisung des Geistes und der Kraft, damit euer Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft.“ (1. Kor, 2,1-5 – der erste Teil unseres Predigttextes)

„Jesus Christus allein, der Gekreuzigte“! Und schon wieder derselbe Widerspruch: Christus, griechisch Christos, der Gesalbte, hebräisch Messias – der ersehnte Erlöser, Retter der Welt. Und der Gekreuzigte, der als Verbrecher Hingerichtete, der Outlaw, der Gotteslästerer.
Wie soll man das zusammen bringen?

Nun – eine Art des Zusammenbringens bestand und besteht darin, das Kreuz zu vergolden – und es dann als Schmuckstück auszustellen oder gar sich umzuhängen. Doch Vorsicht: es ist das Gold des Galgens, das da glänzt!

Eine andere Art des Zusammenbringens war und ist es, das Leiden zu verherrlichen: sich opfern als Weg zur Erlösung, sich selbst geißeln und quälen. Und dies alles verbunden mit der Vorstellung eines grausamen Vater-Gottes, dem es eine „Genugtuung“ (satisfactio) ist, wenn sich sein eigener Sohn opfert.

Beide Arten des Zusammenbringens sind nicht integrativ: sie kippen auf eine Seite, entweder auf die Seite der triumphalen Erhöhung oder auf die Seite der niedergeschlagenen Bedrückung. Zur Zeit Martin Luthers hatte die ihm bekannte Kirche starke Schlagseite in Richtung „vergolden“. Mit seiner theologia crucis wollte er dies korrigieren, die Kirche reformieren. Leider hat es historisch zu einer weiteren Abspaltung und bis heute nicht zu einer guten ökumenischen Integration geführt.

Ich möchte mit Ihnen heute versuchen, ein paar Gedanken zu einer wirklichen Integration von Leiden und Erlösung, von Opfer und Befreiung, von Kreuz und Auferstehung zu entwickeln.

Ich beginne mit der persönlichen Stellungnahme des Paulus: „…ich war bei euch in Schwachheit und Furcht und mit großem Zittern.“ Was Paulus hier ausdrückt ist ein uns allen wohl bekanntes Gefühl: Angst!  Es ist zugleich ein Gefühl, das sich einzugestehen schwer fällt, besonders uns Männern. Und am Schlimmsten ist, Angst zu haben und nicht zu wissen, wovor. Die namenlose, atmosphärische,  nicht fassbare Angst. Und so haben wir Menschen viele schlaue Strategien entwickelt, Angst zu „binden“. Ein für mich immer wieder beeindruckendes Bild gebundener Angst sind die Dämonen im Eingangsbereich romanischer Kirchen. Indem sie hier einen Platz bekommen, können sie nicht mehr frei und nebelhaft durch den Raum schweben. Eine andere Art der Angstbindung ist die medizinische Diagnose: wenn ich nur weiß, was mir fehlt, dann scheint es schon nicht mehr ganz so schlimm zu sein. Leider ist das mit den Ängsten unserer Seele nicht so einfach; die „Dämonen im Inneren“ sind nicht so leicht in Stein zu hauen. Unsere nächtlichen Träume, falls wir es wagen sie ernst zu nehmen, sind ein Führer unserer Ängste und eine starke Möglichkeit ihrer Linderung. Denn alles, was ich träumen kann, ist schon einmal durch einen ersten Filter des Verstehens gelaufen, hat seine ungehemmte, unkontrollierte Gewalt verloren.

Zurück zu Paulus: er macht eine unerwartete Verbindung zwischen seiner Angst und dem Sinn und Zweck seiner Botschaft: „… mein Wort und meine Predigt geschahen nicht mit überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern in Erweisung des Geistes und der Kraft, damit euer Glaube nicht stehe auf Menschenweisheit, sondern auf Gottes Kraft.“ Die Angst verbunden mit Schwachheit und Zittern musste Paulus ertragen, indem er nicht versuchte zu überreden! Gottes Kraft bedarf keiner Überredungskünste! Gottes Kraft wirkt aus sich selbst heraus, wenn wir sie bloß wirken ließen. Denn es ist unsere Angst, die uns davon  abhält, unseren Körper, unsere Seele, unseren Geist dem göttlichen Wirken „wirklich und wirksam“ zur Verfügung zu stellen. Es ist unsere Angst, die uns hindert, uns mit unseren nächtlichen Träumen wirklich und wirksam auseinander zu setzen. Dann müssen wir uns nämlich darauf einlassen, nicht zu wissen, was da alles so heraus kommt! Es ist unsere Angst, die uns dazu führt, die Dinge „in den Griff kriegen zu wollen“: „Denn die Juden fordern Zeichen, und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit.“ (V. 22-23)

Der gekreuzigte Christus eignet sich nicht dafür, etwas „in den Griff zu kriegen“. Gleichviel ob man Kreuze vergoldet oder aber Asche auf sein Haupt streut: beides entspringt der Idee des „Machens“ – der gekreuzigte Christus aber entzieht sich allem menschlichen Machen. In diesem Entzug entspricht der gekreuzigte Christus der Predigt Jesu vom Reiche Gottes: auch dieses entzieht sich menschlicher Machbarkeit; es geschieht, es wächst, wie die Saat auf dem Acker, wie das Senfkorn, es entwickelt sich, wie guter Wein …
Und in diesem Entzug wird die Predigt vom Gekreuzigten Christus zur Torheit vor der Welt des Machen und der Machbarkeit, und zur Weisheit in der Welt des Reiches Gottes.

Davon handelt der zweite Teil unseres Predigttextes:

“Wovon wir aber reden, das ist dennoch Weisheit bei den Vollkommenen; nicht eine Weisheit dieser Welt, auch nicht der Herrscher dieser Welt, die zunichte werden. Sondern wir reden Gottes Weisheit, die in einem Geheimnis verborgen ist, die Gott vorherbestimmt hat vor aller Zeit zu unserer Herrlichkeit, die keiner von den Herrschern dieser Welt erkannt hat: denn wenn sie die erkannt hätten, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt. Sondern es ist gekommen, wie geschrieben steht (Jesaja 64,3):
’Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben.’
Uns aber hat es Gott offenbart durch seinen Geist; denn der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit.“ (V. 6-10)

In diesem Übergang wandeln sich die Gedanken des Paulus, verwandeln, zwar nicht Wasser zu Wein, aber doch menschliche Weisheit zu göttlicher Weisheit, zur „Weisheit der Vollkommenen“. Die Vollkommenen (teleios), das sind (wörtlich) die am Ziel Angekommenen. Das klingt sehr hoch und ist missbrauchbar für Überheblichkeit. Aber die teleioi, das sind im Griechischen auch ganz einfach die Erwachsenen. Dann geht es um die „Weisheit“ derer, die es wagen, „erwachsen“ zu werden. Und dieses Erwachsen-Werden ist nichts anderes als sich zu öffnen für jenen Geist, der in der Welt des „die Dinge in den Griff Kriegens“ nicht zu finden ist. Das ist die Welt des Machens, der Macher und der Macht. In ihr findet sich nicht, was Gott bereit hält für die, die ihn lieben. Und das ist gut so!

Und der gekreuzigte Christus ist die „Verwandlungsstelle“, ist das Bild, in dem das Denken der Welt an sein Ende kommt („Das Gesetz ist erfüllt.“) und gerade so die Keimzelle eines neuen, von der Gnade herkommenden Denkens geboren wird. Das ist der tiefere Grund für das heutige Evangelium: es geht nicht um irgend etwas Magisches, es geht um eine Verwandlung unseres Denkens.

Es ist die wandelnde Kraft der Liebe, die zu wirklicher Integration befähigt. Aus ihrer Kraft heraus wird das Kreuz verwandelt: es ist nicht länger der Galgen des Verbrechers, es wird zur Weg-Kreuzung, an der sich die Geister scheiden. Mit Christus, dem Gekreuzigten, ist nichts zu „machen“, nichts „in den Griff zu kriegen“, nichts zu erreichen. Mit Christus dem Gekreuzigten kann man auch keinen Staat machen. Christus der Gekreuzigte macht nichts her! Das ist es. Und so schützt er davor, sich selber zu wichtig zu nehmen, sich auf sich selbst (oder auf die eigene Predigt) zu viel einzubilden. Indem wir Christus den Gekreuzigten in uns wohnen lassen, in uns hineinbilden, brauchen wir uns freilich auch nicht zu wundern, dass wir nicht der Magnet der Massen sind. Dass unsre Botschaft nicht so wahnsinnig attraktiv ist. Bei „Deutschland sucht den Superstar“ brauchen wir mit unserem gekreuzigten Christus jedenfalls nicht anzutreten. (Gott behüte, ich würde es freilich auch gar nicht wollen!)

Mit Christus dem Gekreuzigten kommen völlig neue Gedanken auf die Welt: Gott selbst offenbart sich in seinem Sohn auch als ein verletzbarer und verletzlicher Mensch, fragil und zerstörbar, leidend und mitleidend. Gott verwandelt sich in Christus dem Gekreuzigten: er nimmt die Verachtung, die Einsamkeit, die Schmerzen seiner Kreaturen in sich selbst hinein. Und zwar so, dass er zunächst selbst die Ohnmacht erträgt, die zu ertragen ist, im Angesicht des Grauens, der Kriege, der Ungerechtigkeiten auf dieser unserer Erde. Auch die Ohnmacht, die zu ertragen ist, wenn ich mich nicht verstanden fühle oder nicht verständlich machen kann. Auch die Ohnmacht, wenn ich krank werde, Schmerzen erleiden muss und so fort…

Zunächst sage ich, ist die Ohnmacht zu ertragen: weil unser Denken und Erleben und dann auch unser Handeln nicht bei dem Gekreuzigten stehen bleiben darf. Christus ist der Gekreuzigte, der Messias ist der Gekreuzigte. Will sagen, zur Messias-Werdung gehört das (Er-)Tragen des eigenen Kreuzes: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!“ (Mk 8,34) Und in diesem Prozess geschieht die (Ver-)Wandlung, in diesem Prozess verwandelt sich das schwere Kreuz zu einem Früchte tragenden Lebensbaum. „Mein Joch ist sanft.“

Es gibt eine wunderschöne chassidische Geschichte, die in ihrer Weise Christus den Gekreuzigten predigt, vielleicht besser, als ich das mit vielen Sätzen kann. So höre ich jetzt auf, um ihnen die Geschichte zu erzählen, die ich ein wenig ausgeschmückt habe. Sie lautet:

Am Tag der Zerstörung

„Man fragte Rabbi Pinchas: ‚Warum soll, wie uns überliefert ist, der Messias am Jahrestag der Zerstörung des Tempels geboren werden?’

‚Das Korn’, sprach er, ‚das in die Erde gesät ist, muss zerfallen, damit die neue Ähre sprieße. Die Kraft, die in dem Korn ruht, kann nicht wachsen, kann sich nicht entwickeln, wenn sie nicht in die große Verborgenheit eingeht. Die feste Struktur des Kornes muss sich lösen, damit Neues entstehen kann. Diese Lösung geschieht in der Leere, im Durchschreiten der Dunkelheit des Nichts.

In der Schale des Vergessens wächst die Macht des Gedächtnisses.

Die Macht des Gedächtnisses ist das Gedenken daran, wer du wirklich bist, und was du wirklich zu tun hast auf dieser Welt. Dies ist die Macht deiner Erlösung. Die Macht deines Gedächtnisses führt dich zu deinem eigenen Selbst. Zu dem, der du wirklich vor Gott bist. So löst sie dich von deinen alten Illusionen darüber, wer du glaubtest zu sein, oder wer du meintest, für andere sein zu müssen. Oder was dir von anderen eingeredet wurde, wer du seiest. Wenn du dich traust, dich für Gott zerstören zu lassen, wird Gott in dir geboren.

Am Tag der Zerstörung, da liegt die Macht Gottes auf dem Grunde und beginnt zu wachsen. Darum sitzen wir an diesem Tag am Boden, darum gehen wir an diesem Tag auf die Gräber, darum wird an diesem Tag der Messias geboren. Wohl dem, der sich traut, sich von Gott zu Gott hin zerstören zu lassen.’“

Und jetzt wird auch verständlich, inwiefern die Predigt von Christus, dem Gekreuzigten, unbedingt zur Weihnachtsbotschaft dazugehört. Das Herz von
Weihnachten ist ja nichts anderes als die Geburt des Messias, „wo die Macht Gottes auf dem Grunde liegt …“                                                          AMEN.

Und die Liebe Gottes, die höher ist als all unser menschliches Verstehen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus AMEN.

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Predigt am 3. Advent 2011

Predigt am 3. Advent 2011 über Römer 15, 4-13 in der Jakobuskirche Pullach
Pfr. Dr. Lothar Malkwitz

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

diese Predigt, die ich Ihnen heute halten möchte, ist weitgehend eine Kinderpredigt. Sie ist geschrieben für alle die Kinder, die von früh an das Gefühl hatten, dass „irgend etwas nicht stimmt“. Und die dieses Gefühl immer wieder verworfen haben, weil Ihnen von allen Seiten, und besonders natürlich von den Großen, die es ja eigentlich wissen müssen, eingeredet worden ist, dass schon alles in Ordnung sei. Kinder haben ein sehr feines Gespür dafür, dass etwas nicht stimmt. Und suchen natürlich nach Anhaltspunkten für ihr Gefühl. Wenn ihnen dann gesagt wird, „nein, nein, das bildest du dir bloß ein“, sind sie verwirrt. Hinzu kommt, dass oft (jedenfalls bei uns) die materielle Versorgung funktioniert. Nicht die materielle Nahrung ist das Problem, sondern die emotionale. Schlimmer noch: oft wird die materielle Nahrung dafür verwendet, das Kind zu betäuben. Dass es unter keinen Umständen spürt, was es „nüchtern und unbetäubt“ zu spüren gäbe: dass man gar nicht so willkommen ist, wie einem immer vorgemacht wird; dass man vielleicht sogar falsch ist, weil man nicht der ersehnte Junge, das ersehnte Mädchen ist. Dass man vielleicht als Klotz am Bein der Eltern erlebt wird, weil man eine Karrierebremse ist. Je nach Charakter und Möglichkeiten formen sich hieraus die sogenannten bösen und die sogenannten braven Kinder. Den braven Kindern gelingt es super, sich an die Erwartungen und Ansprüche, die an sie gerichtet sind, anzupassen, sie zu erfüllen. Als Erwachsene leben sie davon, gut zu sein, Karriere zu machen, Status zu bekommen. Solange dies gelingt, haben sie keine Probleme. Die bösen Kinder heißen heute schwierige Kinder, haben ADS, bekommen Medikamente zur Ruhigstellung; als Erwachsene tun sich mit allem, was ihnen entgegenkommt, schwer, leben stark davon, nicht zu funktionieren, sich zu verweigern.

Ich vermute, dass wir hier, in der Kirche, eher eine Gemeinschaft der ehemals braven Kinder sind.

Aber wir sollten die ehemals braven und die ehemals bösen Kinder nicht auseinander dividieren: das ist nämlich auch so eine Erwachseneneigenart, zu bewerten: und brav heißt dann, du machst mir keine Probleme und böse heißt, immer habe ich Scherereien mit dir. Sie merken: die Beurteilung in brav und böse ist ausgesprochen egozentrisch. Die Bequemlichkeit meines Egos steht im Zentrum. Oder anders ausgedrückt: je mehr mein ICH darauf angewiesen ist, dass der andere so funktioniert, wie ICH ihn brauche, desto mehr muss ich die Wirklichkeit aufteilen in eine für mich erträgliche und eine für mich unerträgliche. Und wiederhole damit das in meiner Kindheit erlebte: wo die Großen mir vorgelebt haben, was alles an mir unerträglich ist: nämlich anders zu sein als erwünscht.

Liebe Gemeinde,

vielleicht denken Sie sich jetzt: „Themaverfehlung“: diese Einleitung passt doch nicht zu einer Predigt. Wo bleibt die Verkündigung des Evangeliums? Missbraucht da ein Therapeut die Kanzel? Hier soll das Evangelium verkündigt werden, dass Gott in Christus Mensch geworden ist und in Christus uns erlöst hat! Bei mir ist es so: ich kann nur ein Evangelium verkündigen, das mir einleuchtet. Bei dem ich etwas spüre. Das für mich alltäglich stimmt. Das alltagstauglich ist. Deshalb diese Einleitung. Diese Einleitung zu einem Ausschnitt aus dem Römerbrief von Paulus, der zu adventlicher Besinnung einlädt. Da er ein wenig kompliziert ist, will ich ihn Satz für Satz mit Ihnen durchgehen – und schauen, ob er Hilfestellungen anbietet und zwar sowohl für die braven, wie auch für die bösen Kinder. (In Klammern: Paulus spricht auch öfters von Kindern: nämlich von den „Kindern Gottes“, die zu denen wir durch die Taufe geworden sind.)

„… was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben.“  (Röm 15,4)

Das „zuvor Geschriebene“ sind für Paulus natürlich Schriften, die wir im Alten Testament finden.
Das „zuvor Geschriebene“ ist auch ein Hinweis darauf, dass es eine Zeit vor uns gab. Dass das Neue nicht vom Himmel fällt, sondern eingebettet ist in einem Rahmen. Einem Rahmen des Her-Kommens. Es ist gut und notwendig für ein orientiertes Leben, eine Ahnung zu haben, wo man herkommt. Die eigene Abstammung: sowohl die leibliche als auch die geistige. Das zuvor Geschriebene: Wenn man weiß, wo man herkommt, hat man es leichter zu erkennen, wer man geworden ist. Wo die Quellen des eigenen Werdegangs liegen. Und dass wir allesamt aus einer Verbindung heraus entstanden sind. Zwar Individuen seiend – gibt es uns nur in der innigen Verbindung einer Samen- und einer Eizelle. Zwar Individuen seiend sind wir von vorne herein etwas Drittes, nämlich eben diese Verbindung unseres Vaters und unserer Mutter. Wir können uns nicht selbst erschaffen. Und wir können uns auch keine anderen Eltern geben als die, die wir hatten. Die uns unser Leben schenkten.

Das „zuvor Geschriebene“ ist uns zur „Lehre“ geschrieben, sagt Paulus: wir können (könnten) lernen aus dem vielen, was Menschen „vor uns“ nieder geschrieben haben. Wir können lernen, wenn wir aushalten, dass wir weder die Welt noch uns selbst neu erfinden können – und auch nicht neu erfinden müssen. Dazu gehört freilich, dass wir uns mit Respekt dem materiellen wie geistigen Erbe unserer Mütter und Väter annähern. „Respekt“ heißt ja wörtlich übersetzt „Rück-Blick“ (re-spicere). Der Rück-Blick ist der Respekt vor dem Vergangenen, ist der Respekt vor unserem gelebten Leben, ist der Respekt vor dem Leben unserer Eltern. Der Respekt vor dem Vergangenen ist leicht, wenn ich das Vergangene wertschätzen kann: wie z.B. Felix Mendelssohn-Bartholdy, der die Musik Bachs wieder-entdeckte. Seinen tiefen Respekt vor ihm drückte er dadurch aus, dass er die Werke von Bach aufgeführt hat. Und damit erweckte er die Musik von Bach zu neuem Leben.

Schwieriger ist es natürlich, wenn man keinen wirklichen Respekt vor dem Vergangenen empfinden kann. Das uns am naheliegendste Vergangene ist die eigene Kindheit. Viele sagen: daran möchte ich nicht mehr erinnert werden. Was vorbei ist, ist vorbei. Andere klammern sich an das Schöne fest, färben Vergangenes schön. Ich kann mich noch gut erinnern, wie mir – als ich ein Kind war – mein Vater aus dem II. Weltkrieg erzählte: das klang wie ein spannender Abenteuerroman mit meinem Vater als dem Helden – und alles Elend, alle Verzweiflung waren eliminiert.

Für Paulus sind es die Schriften, die Geduld und Trost spenden – damit bezieht er sich natürlich auch auf seine eigene Vergangenheit. Paulus kann sich den „Respekt“ seiner Herkunft erhalten und sich dem Neuen, dem „Messianischen“ öffnen. Geduld ist wirklich die Fähigkeit auszuhalten, dass es nicht so ist, wie ich es mir wünsche, und dass es nicht so gewesen ist, wie ich es mir gewünscht hätte. Dass ich nicht so bin, wie ich gerne wäre, dass mein Nächster nicht so ist, wie ich ihn gerne hätte. Geduld hat damit zu tun, auszuhalten, dass „ich, du, er, sie, es“ gerade nicht so ist/sind, wie ich es brauche. Wie mein ICH meint, es zu brauchen. Geduld hat mit der Kraft zu tun, dass ich mein ICH mit seinen drängenden Wünschen irgendwie im Zaum halten kann. Dass Ich mich von meinem mich drängenden und bedrängenden ICH entfernen kann. Erst in dieser Entfernung von meinem Ich habe ich die Möglichkeit, auf mein ICH zurück-zublicken: re-spicere. Und in diesem Rückblick (Respekt) werde ich mir selbst bewusst, entsteht Selbst-Bewusstsein, das im Englischen übrigens „self-respect“ heißt. Man könnte auch sagen: Respekt entsteht dann, wenn ich mich nicht von meinen mich drängenden Impulsen hinreißen lasse. Und in diesem Respekt wird die Aufteilung in brave und böse Kinder als Täuschung entlarvt. In Wirklichkeit gibt es nur Kinder, die sind, und die leben wollen: und zum Leben brauchen sie hinreichende materielle Versorgung und hinreichende emotionale Versorgung. Und das Wichtigste an der emotionalen Versorgung ist die Wahrhaftigkeit, die Aufrichtigkeit der Erwachsenen.

Bei Paulus heißt das so: „Der Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander, Christus Jesus gemäß, damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt, den Vater unseres Herrn Jesus Christus. Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob! Denn ich sage euch: Christus ist ein Diener der Juden geworden um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen zu bestätigen, die den Vätern gegeben sind, die Heiden aber sollen Gott loben um der Barmherzigkeit willen…““

Die „Eintracht“, und die „Einmütigkeit“, von der Paulus hier spricht, haben keinen Selbstzweck, sondern sie dienen der Wahrhaftigkeit und der Barmherzigkeit Gottes. Eintracht entsteht dann und so, wenn wir aufhören, das Fremde, Andere, Unbekannte mit unseren (feststehenden) Urteilen abzuwerten. Christus ist nicht dafür zu verwenden, den Andersgläubigen zu beweisen, wie falsch sie liegen, sondern dafür, dass das Fremde, das Andere, das Unbekannte Raum gewinnt – angefangen bei uns selbst. Für jeden von ist Christus gestorben: das heißt, gerade da werden wir von Christus liebevoll umfangen, wo wir uns selbst so gar nicht mögen: unsere unannehmbaren, dunklen Seiten, unsere zu Kopfschmerzen erstarrten Wut-Tränen, unser Ungenügen, unser Hochmut mit dem wir unsere Versagergefühle mühsam kaschieren –  all’ dies uns selbst unannehmbar Erscheinende wird von Christus im österlichen Licht des Kreuzes verwandelt. Von jenem Christus, der nicht gekommen ist, sich dienen zu lassen, sondern zu dienen – für die Wahrhaftigkeit und die Barmherzigkeit Gottes. Mit diesem kühnen Gedanken öffnet Paulus übrigens auch die Türe für die christliche Botschaft weit hinaus über die Grenzen des Judentums. Die Wahrhaftigkeit Gottes stellt seinen Sohn in die Tradition der Verheißungen seines Volkes, die Barmherzigkeit Gottes schenkt seinen Sohn der ganzen Welt. Sein Sohn aber ist nichts anderes als das lebensspendende Wort der Liebe, das seine Geschöpfe miteinander verbindet. Und dann beschließt Paulus seine Adventspost nach einigen atl. Zitaten, die ich hier weglasse, mit dem Wunsch:

„Der Gott der Hoffnung erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, dass ihr immer reicher werdet an Hoffnung durch die Kraft des heiligen Geistes.“

Jetzt geht es nicht mehr darum, dass wir durch „zuvor Geschriebenes“ Hoffnung, Trost und Geduld bekommen, sondern der Gott der Hoffnung selbst möge uns erfüllen. Der Gott der Hoffnung kann uns aber erst erfüllen, wenn wir vorher leer geworden sind. Solange wir gefüllt sind mit unseren eigenen Sorgen und Ängsten, kann der Gott der Hoffnung sich nicht in uns ausbreiten. Solange wir uns unsere Sicherheiten selber geben, haben wir gar keinen Bedarf an Vertrauen. Erst wer es wagt, sich verunsichern zu lassen, wer es wagt, zurückzublicken auf seine Vergangenheit und sich mit ihr ehrlich aus einander zu setzen, wie es wirklich war, dem beginnen Worte wie Freude oder Frieden, oder Hoffnung oder Glauben etwas zu bedeuten. Gerade in der Weihnachtszeit stehen solche Worte in der Gefahr, als schöne Verzierung, als Deko missbraucht zu werden. Jene aber, die hungern nach Wahrheit, ihnen können diese Worte zur Nahrung werden, die aus dem Munde Gottes selbst fließt.

Die Hungrigen, das sind die, die mehr Fragen als Antworten haben, die mehr Zweifel als Wissen ihr eigen nennen, die mehr suchen und wenig gefunden haben. Die Hungrigen wollen nicht recht haben, aber sie freuen sich, wenn ihnen ein wenig Wahrheit einleuchtet. Die Hungrigen, das sind die, die Freude am Weg bereiten haben – für den HERRN. Und der HERR, den wir Christus nennen, ist immer und zugleich das unbekannte, undefinierbare, freie Wort Gottes an uns. In diesem Wort Gottes, in Christus, verbindet sich Wahrhaftigkeit mit Barmherzigkeit. Es ist wahrhaft, indem es mich wirklich wahrnimmt und erkennt in den Tiefen und Untiefen meines Seins. Es ist barmherzig, sofern es kein Interesse daran hat, mich zu verurteilen; es möchte mich vielmehr aufrichten für mein Leben, es möchte mich befreien zu meiner Lebendigkeit.

„Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat“ – lassen sie uns diesem adventlichen Aufruf des Paulus folgen, lassen sie uns dieses Wort hinaustragen aus dieser Kirche, und hineintragen in unseren Alltag. Und lassen Sie uns nicht vergessen: annehmen heißt, gerade das Schwierige und Mühsame, das „schwer Annehmbare“ bei mir selbst und bei meinen Mitmenschen liebevoll wahrzunehmen, anzuerkennen und geduldig auf die Gelegenheit zu warten, es so anzusprechen, dass es zu Herzen gehen kann, AMEN.

Und die Liebe Gottes, die unseren Verstand übersteigt, möge unser Fühlen und unser Denken bewahren in Christus Jesus, AMEN.

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Predigt am drittletzten Sonntag im Kirchenjahr

Predigt am drittletzten Sonntag im Kirchenjahr in der Thomaskirche in Grünwald über Lukas 11, 14 – 23
Jesus als Therapeut    

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen, AMEN.

Liebe Gemeinde,

es sind hauptsächlich drei „Felder“, in denen Jesus aus Nazareth sich wirksam aufhielt: meditieren, predigen und heilen. Die Texte der letzten Sonntage legen den Akzent auf das letzte Feld: das des Heilens.

Jesus als Therapeut also.

Die Grundbedeutung von „therapeuein“ lautet: „Sorge tragen für den anderen“. Und der Therapeut (der „Therapon“) ist ursprünglich der „Kriegsgefährte“, der „freie Mann“, der mit seinem Herrn freiwillig in den Krieg zieht – und nicht der „Knecht“ („Doulos“) der Sklave und Abhängiger seines Herrn ist.

Therapie wird oft missverstanden als ein Geschehen, bei dem einer aktiv und einer passiv, einer frei und einer abhängig ist. Das Missverständnis beruht auf der falschen Idee, als könnte einer den anderen heilen. Dies passt besser zu einer Operation als zu einer Therapie. Aber sogar bei einer Operation ist man zu dritt: ohne den Körper des Patienten „funktioniert“ auch eine Operation nicht.

Obwohl in vielen Therapiegeschichten Jesu der Glaube des „Patienten“ in den Mittelpunkt gestellt wird, – „ich glaube, hilf meinem Unglauben!“ (Markus 9,24) – ist doch die Verführung groß, den Heiler als Helden zu idealisieren: „Mir nach, spricht Christus unser Held“! (EKG 385) Darin bilden sich die hohen Wünsche an einen „Heiler“ und „Retter“, an einen „Messias“ eben ab.

Für mich ist Jesus Christus in erster Linie ein Kampfgenosse, der mit mir in den Krieg zieht: in den Krieg gegen jene Mächte, die mich lähmen, die mich blind sein lassen, die mich verstummen lassen in der Wahrnehmung des Fremden, des Anderen. Jene Mächte, die mich verführen, rechthaberisch meine Position zu verteidigen, jene Mächte, die es hassen, dass jemand anderes gute Ideen hat, etwas besser weiß und kann als ich. Es sind jene Mächte, die sich mit aller Macht gegen das Erleben des Reiches Gottes stemmen; des Reiches Gottes, das ja bekanntlich kein jenseitiges Paradies, sondern ein sehr diesseitiges Geschehen ist, in dem wir Menschen lernen, uns gegenseitig wahrzunehmen, zu achten, zu respektieren und füreinander Sorge zu tragen.

Das Reich Gottes beginnt mit der Fähigkeit, miteinander zu reden zu lernen: „Und er trieb einen bösen Geist aus, der war stumm. Und es geschah, als der Geist ausfuhr, da redete der Stumme. Und die Menge verwunderte sich.“ (Lukas 11, 14 – der Beginn unseres heutigen Predigttextes.)

Der Geist der Stummheit ist insofern ein „böser Geist“, als er Beziehung verhindert. Vor kurzem hat mir ein Patient am Ende einer intensiven Therapie-Stunde gesagt: „es ist so eine Mühe, Worte für mich zu finden. Aber die gefundenen Worte tun gut.“ Stummheit lastet wie eine schwere Grabplatte auf der Seele, belastet Leben. Gelingt es, den „bösen Geist der Stummheit“ auszutreiben, beginnt der Patient zu sprechen. Er beginnt, bekannte aber sprachlose Gefühle in Sprache zu fassen. Und so beginnt er, „geistlich“ zu wachsen, sich zu entwickeln. Er wird allmählich befreit von sprachlosem Tun-Müssen. Es gehört zum Wesen von Zwang und Gewalt, dass sie keine Sprache hat.

„Und die Menge verwunderte sich“. Die Menge, das ist die Gruppe, die das Geschehen zwischen Jesus und seinem Patienten beobachtet. Die Menge verwundert sich: es geschieht etwas Unerwartetes, nicht Vorhergesehenes: ein Stummer beginnt zu sprechen. Unerwartetes, Unvorhergesehenes, macht Gefühle, die verwirren. Gefühle, die überwältigend sein können. Um die Gewalt der Gefühle einzudämmen, entziehen wir ihnen (den Gefühlen) den Boden.

Das geht schnell und einfach: man wertet das, was überwältigende Gefühle machen würde, ab, und übergießt es mit einem Eimer aus Spott und Hohn: „Einige aber unter ihnen sprachen: er treibt die bösen Geister aus durch Beelzebul, ihren Obersten.“ (V. 15) Eine moderne Variante dieser Gehässigkeit ist die Bemerkung von Karl Kraus zur Psychoanalyse: „Psychoanalyse ist die Krankheit, die sie vorgibt zu heilen“. Indem ich etwas abwerte, erspare ich mir, mich damit ernsthaft zu beschäftigen. (Übrigens: das Wort „Beelzebul“ ist selbst ein Spottname; ursprünglich war damit der Stadtgott von Ekron im Land der Philister gemeint; Beelezebul heißt: „erhabener Fürst“, Beelzebub heißt „Herr der Fliegen“!) Mindestens genauso raffiniert ist eine andere Variante des Sich nicht Einlassens: Beweise fordern! Beweise erst einmal, dass es ein Unbewusstes gibt. Beweise erst mal, dass es mir etwas bringt, wenn ich bei dir eine Therapie mache. Beweise mir erst mal, dass es besser ist zu vertrauen als zu kontrollieren! Beweise mir erst mal, dass ich etwas davon habe, in die Kirche zu gehen!

„Andere aber versuchten ihn und forderten von ihm ein Zeichen vom Himmel. Er aber erkannte ihre Gedanken und sprach zu ihnen: Jedes Reich, das mit sich selbst uneins ist, wird verwüstet, und ein Haus fällt über das andere. Ist aber der Satan auch mit sich selbst uneins, wie kann sein Reich bestehen? Denn ihr sagt, ich treibe die bösen Geister aus durch Beelzebul. Wenn aber ich die bösen Geister durch Beelzebul austreibe, durch wen treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein. Wenn ich aber durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen. Wenn ein Starker gewappnet seinen Palast bewacht, so bleibt, was er hat, in Frieden. Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und überwindet ihn, so nimmt er ihm seine Rüstung, auf die er sich verließ, und verteilt die Beute. Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich; und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut.“

„Er aber erkannte ihre Gedanken…“: das ist das Schwierigste in der Therapie ebenso wie im alltäglichen Zusammensein: zu erkennen, wozu der Andere seine Gedanken gerade verwendet. Man kann Gedanken verwenden, um zu verstehen, man kann Gedanken verwenden, um miss zu verstehen, um Verwirrung zu stiften. Der Teufel, griechisch Diabolos (der „Durcheinanderwerfer“) ist die Personifizierung des Verwirrung-Stiftens.

Verwirrung entsteht aber auch, wenn völlig Unerwartetes geschieht: dass ein Stummer lernt zu reden. Es scheint eine göttliche und eine teuflische Verwirrung zu geben. Sokrates wurde zum Tode verurteilt, weil er – so ein „Verbrechen“ – die Jugend verführe.
Sokrates – ein Verführer? Die große Frage ist: wie können wir unterscheiden, ob hinter meiner Verwirrung Gott oder der Teufel steckt? Wie können wir einigermaßen sicher sein, dass wir mit unserem Denken und unserem Tun nicht dem Teufel zuarbeiten?  Wie können wir einigermaßen sicher sein, dass unser Glaube nicht selbst eine Verführung ist?

Wir brauchen ein Intuition, der wir vertrauen können. Jesu Intuition ist es, dass die Gedanken der Menge dazu dienen, ihm eine Falle zu stellen. Die Falle wäre, ein Zeichen zu geben. Es ist dieselbe Falle, in die der Therapeut tappt, wenn er anfängt seinem Patienten zu beweisen, dass er es gut mit ihm meint, dass er ihm nur helfen will. Jesus gibt kein Zeichen – Jesus heilt über wachsendes Vertrauen: „dein Glaube hat dir geholfen“ (Matth. 9,22) Glaube, Vertrauen lässt sich nicht beweisen. Vertrauen lässt sich nur erleben – oder eben auch nicht.-

Aber das ist nicht alles: Jesus gibt auch eine Antwort auf die Unterstellung, er treibe die bösen Geister mit ihrem Obersten, mit Beelzebul aus.
Jesus weist darauf hin, wenn er die Dämonen mit Beelzebul austriebe, dann wäre das Reich des Teufels ja mit sich selbst uneins und es würde in sich selbst zerfallen. Jesus geht es aber nicht um Zerfall, sondern um Wachstum, um heilsames Wachstum. So erklärt er die Heilung des Stummen lapidar so: „Wenn ich durch Gottes Finger die bösen Geister austreibe, so ist das Reich Gottes zu euch gekommen.“ „Die Finger Gottes“: das sind die Finger der vorsichtigen Berührung, der liebevollen Umarmung – die den Anderen berühren ohne ihn gefangen zu nehmen, ohne ihn zu vereinnahmen. Nicht der drohende Zeigefinder ist heilsam, sondern die sanfte Berührung. Die auch schmerzhaft sein kann: nämlich dann, wenn der Finger auf die Wunde gelegt wird. Auch dies gehört zur Heilung dazu: das Bewusst-Werden des eigenen Verwundet-Seins. Fließen dann die Tränen, so können die Wunden allmählich ausheilen. „Selig seid ihr, die ihr hier weint, denn ihr werdet lachen…“ (Lukas 6,21). In jeder echten Berührung, sei es im Lachen, sei es im Weinen, atmet der Geist der Reiches Gottes: „… so ist das Reich Gottes zu euch gekommen.“
 
„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist die Zeit des Heils!“ (2.Kor. 6,2) – dieses „Jetzt“ ist jederzeit möglich – es sind wir selbst, die es verhindern mit unserem Misstrauen und unserer Angst gegenüber der fremden Berührung. Zwischen dem Stummen und Jesus ist Reich Gottes geschehen – ganz einfach deshalb, weil jemand berühren konnte oder, was dasselbe ist, weil sich jemand hat berühren lassen.
Der Teufel berührt nicht – er verführt dazu, das Andere, den Anderen zu verteufeln. So sagt Jesus: „eure Söhne werden eure Richter sein“ (V. 19). Das heißt, ihr verteufelt nicht nur mich, sondern all jene aus euren eigenen Reihen, die sich ernsthaft bemühen, anderen zu helfen. Die Bewertung, die Verurteilung, fällt auf den Bewerter zurück: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ (Matth. 7,1)
Nun: wer richtet, fühlt sich stark. Wer, verurteilt, wähnt sich im Recht. Es stimmt schon: ein starkes Feindbild schafft ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. „Wenn ein Starker gewappnet seinen Palast bewacht, so bleibt, was er hat, in Frieden.“ (V. 21) Üblicherweise bewachen wir unseren Palast über Urteile und Bewertungen: falsch, richtig, böse, gut, schön, hässlich usw. Üblicherweise bewachen wir unseren Palast mit unhinterfragten Vorstellungen: Macht ist gut, Ohnmacht schlecht; Geld haben ist gut, keines haben ist schlecht; krank sein ist schlecht, gesund sein ist gut. Gute Noten, schlechte Noten usw. …
„Wenn aber ein Stärkerer über ihn kommt und überwindet ihn, so nimmt er ihm seine Rüstung, auf die er sich verließ, und verteilt die Beute.“ (V. 22) Jesus beschreibt nichts anderes, als eine gut verlaufende Therapie. Der Stärkere, der kommt, ist die sanfte Gewalt der Liebe. Die Liebe erkennt: all diese Bewertungen und Beurteilungen sind selbstgemachte Trugbilder, die in der Tiefe nicht tragen. Wer sein Haus auf Bewertungen baut, der hat auf Sand gebaut. Nicht Bewertungen, sondern Werte geben Grund und Fundament. Werte, die aus der Wahrheit der Liebe strömen. „So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung“ (Römer 13, 10). Vertrauen und Sorge tragen und zwar da, wo ich es gerade kann, wo ich gerade hingestellt bin. Und gerade da geschieht Reich Gottes mitten unter uns. Die Bewegung des Reiches Gottes ist eine integrative: eine Bewegung des Zusammen-Sammelns. Die Bewegung der Bewertungen ist eine Zerstreuende: das Falsche wir vom Richtigen weggenommen, Gesundheit soll mit Krankheit nichts mehr zu tun haben, kurz: das eine ist toll, das andere ist bäh.
Aber bewertet und polarisiert nicht Jesus selber, wenn er sagt: „Wer nicht mit mir ist, der ist gegen mich!“?
Sicher kann man dies als einen polarisierenden Satz verstehen. Wenn wir aber sagen, in Jesus Christus hat das Prinzip des heilsamen Vertrauens, der heilenden Liebe ein menschliches Antlitz bekommen, dann ist der Satz wahr. Denn man kann nicht gleichzeitig in der Liebe und im Vertauen leben und anderen Menschen die eigenen Urteile und Bewertungen überstülpen. Man kann auch nicht gleichzeitig in der Liebe und im Vertrauen leben und andere Menschen ausbeuten. Oder, ganz einfach: man kann nicht gleichzeitig verbinden und Kontakt abbrechen. Polar wird der Satz erst dann, wenn wir mit unserem „Helden“ Jesus meinen, die Nicht- oder Andersgläubigen abwerten zu dürfen. Dies ist übrigens auch nicht im Sinne Jesu, wie es wenig später heißt (Lukas 11,27f.): „Und es begab sich, als er so redete, da erhob eine Frau im Volk ihre Stimme und sprach zu ihm: ‚Selig ist der Leib, der dich getragen hat, und die Brüste, an denen du gesogen hast.’ Er aber sprach: ‚Ja, selig sind die, die das Wort Gottes hören und bewahren.“
 
Und das Wort Gottes ist nichts anderes als das Erleben dessen, was gerade Not tut: für einen selbst und für die Menschen, Tiere und Pflanzen mit denen ich gerade beisammen bin:

„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, jetzt ist der Tag des Heils.“
 
Oder (einmal mehr) mit Meister Eckehart:
„Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart.
Der wichtigste Mensch ist immer der, der dir gerade gegenübersteht.
Das notwendigste Werk ist stets die Liebe.“                                              AMEN.

Und die Liebe Gottes, die höher ist als all unser menschliches Verstehen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus AMEN.

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