Dr. Lothar Malkwitz

Predigt an Pfingsten 2021 über 1. Mose 11, 1-9

Liebe Gemeinde,

unser heutiger Predigttext ist einer der ganz großen Mythen der Menschheitsgeschichte. Er lautet missverständlicher Weise „Der Turmbau zu Babel“. In Wirklichkeit geht es um die Gründung einer Stadt und den Bau eines Turms. Der Mythos findet sich im 1. Buch Mose im 11. Kapitel.

„111Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. 2Als sie nun von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. 3Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel 4und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde.

5Da fuhr der Herr hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. 6 Und der Herr sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. 7Wohlauf, lasst uns hernieder fahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe!

8So zerstreute sie der Herr von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. 9Daher heißt ihr Name Babel, weil der Herr daselbst verwirrt hat aller Welt Sprache und sie von dort zerstreut hat über die ganze Erde.“

Die Struktur der Geschichte ist einfach: Da gibt es eine Gruppe – genannt Menschen – die wollen sesshaft werden. Von Osten kommen sie her und planen, eine „Stadt und einen Turm“ zu bauen. Dieser Plan wird von einer Gegenkraft vereitelt. Das Motiv der Gegenkraft: Wenn sie das tun, „wird man ihnen nichts mehr verwehren können“. Heißt: Dann sind sie allmächtig. Man hat diesen Mythos – wie viele Geschichten der Bibel – für schwarze Pädagogik verwendet. Der sich seiner selbst, seiner Möglichkeiten bewusst werdende Mensch wird für sein Denken und Handeln bestraft. Diese Pädagogik ist der Grund des Bündnisses von Religion mit reaktionärem Denken und der daraus folgenden Ablehnung neuer (natur-)wissenschaftlicher Erkenntnisse. Zu dieser Ablehnung gehört, dass dem wissbegierig-forschenden Menschen narzisstische Motive unterstellt werden: Er „will sich „einen Namen zu machen!“ Die Begründung freilich ist ganz und gar un-narzisstisch: „Wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde“.

Zerstreuung ist ein merkwürdiger Zustand: „Eben hatte ich doch noch meinen Wohnungsschlüssel – und jetzt ist er weg! Und wo ist eigentlich meine Brille? Was wollte ich noch mal aus dem Keller holen?“

Ich vermute, viele von uns kennen diese Art von Zerstreutheit – ohne dass sie das Gefühl haben, dement zu werden.

Gegen Zerstreutheit hilft die Definition.

Eine Definition beschränkt (finis) – und indem sie beschränkt, bestimmt sie. Die ersten 7 Schöpfungstage mit ihren 10 Schöpfungswerken sind lauter Definitionen: Himmel – Erde; Licht – Finsternis; festes Land – Wasser … usw.

Bei uns Menschen ist unsere Definition unsere Identität. Auch sie beginnt mit dem Namen und führt dann weiter. Unsere Idenität gibt Auskunft auf die Frage: „Wer bin ich?“

Sich einen Namen machen heißt so gesehen: Sich eine Identität schaffen. Identität hat mit dem Wissen zu tun, wer man ist und wo man hingehört.

I bin der Lothar, und do bin i dahoam!“

Für ein erfülltes, sinnvolles Leben brauchen wir wenigstens eine Ahnung davon, wer ich bin und wo ich hin gehöre. Andernfalls erlebe ich „Zerstreuung“ und „Verwirrung“.

Nun erzählt uns der Mythos, dass das Tun dieser Menschen gerade nicht zur Erfüllung dessen führt, was sie sich wünschen. Ganz im Gegenteil. Es tritt genau das ein, was befürchtet wurde: „8So zerstreute sie der Herr von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen.“ In der Psychologie heißt das: self fulfilling prophecy (Merton 1946) – eine Vorhersage, die sich selbst erfüllt. Dies ist ein machtvolles, verbreitetes und empirisch nachweisbares Geschehen: So ist z. B. erwiesen, dass Senioren, die Angst davor haben zu stürzen, auch wirklich häufiger stürzen.

Die befürchtete „Zerstreuung“ ist zunächst eine sprachliche, in der Folge davon auch eine räumliche. Sie wird auch als „Verwirrung“ bezeichnet. Was bedeutet das?

Die dahinter liegende Idee ist, dass es „einheitliche“ Sprache gibt, die das Wesen dessen, was sie benennt, ausdrückt. Eine wesentliche Sprache.

Eine wesentliche Sprache ist klar und eindeutig. Es wird gesagt, was zu sagen ist – nicht mehr und nicht weniger. Un-wesentliche Sprache ist „zerstreut“. In ihr drückt sich Beliebigkeit aus. Es kann das gemeint sein, es kann auch etwas ganz anderes gemeint sein. Oder es kann auch gar nichts gemeint sein. Unwesentliche Sprache ist in sich selbst verliebt, sie kreist um sich selbst. Eine wesentliche Sprache hingegen versucht dem Ausdruck zu verleihen, was ihr Sprecher wahrnimmt. Sie ist der Aufdeckung von Wahrheit verpflichtet. Unwesentliche Sprache will nichts aufdecken; sie will verschleiern – insbesondere dies, dass ihr Sprecher nichts zu sagen hat. Unwesentliche Sprache ist hohl.

Nicht selten werden Predigten in unwesentlicher Sprache verfasst.

Liebe Gemeinde,

vielleicht fragen Sie sich jetzt zurecht, was das ganze mit Pfingsten zu tun hat.

Die verbindende Klammer ist die Sprache:

Und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und begannen zu predigen in anderen Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden eingab“, heißt es in der Apostelgeschichte des Lukas.

Wie geht das? Welches ist das Werk des Heiligen Geistes? „Er wirkt zweierlei im Menschen; das eine: er entleert ihn; das andere: er füllt das Leere, soviel und soweit er es leer findet.“ So predigte der Dominikaner Johannes Tauler vor ungefähr 700 Jahren an Pfingsten. Und er fährt fort:

Diese Entleerung ist die erste und größte Vorbereitung für den Empfang des Heiligen Geistes. Denn ganz so weit und ebensoviel der Mensch entleert ist, so viel mehr wird er auch fähig, den Heiligen Geist zu empfangen. Denn will man ein Fass füllen, so muss zuvor heraus, was drinnen ist. … Alles Geschöpfliche muss heraus, es sei von welcher Art auch immer; es muss alles weg, was in dir ist und was du empfangen hast. … So muss der Mensch sich fassen lassen, sich leeren und sich vorbereiten lassen. Er muss alles lassen, dieses Lassens sich selbst noch ledig werden und es lassen, es für nichts halten und ins sein lauteres Nichts versinken. Andernfalls vertreibt und verjagt er sicher den Heiligen Geist und verhindert ihn, in höchster Weise in ihm zu wirken.“

Johannes Tauler weiß, wovon er spricht. Er weiß auch, wie mühsam dies ist:

Aber diesen Weg sucht (so leicht) niemand auf.“ sagt er.

So unterscheidet er spitz zwischen „Lesemeister“ und „Lebensmeister“. Die Lesemeister seien überaus „belesen“, würden aber das Gelesene nicht auf ihr alltägliches Leben anwenden.

Ja – so ist das, so war das vor 700 Jahren und so wird es in 700 Jahren sein.

Aber, so Tauler: „Wann immer diese Vorbereitung (also das Leer-Werden) im Menschen geschehen ist, wirkt der Heilige Geist sogleich sein zweites Werk in dem so vorbereiteten Menschen: er füllt ihn nach seiner ganzen Empfängnisfähigkeit aus. Soviel du in Wahrheit geleert bist, ebensoviel empfängst du auch; je weniger des Deinen du behältst, um so mehr Göttlichkeit empfängst du: der Eigenliebe, der Eigenmeinung, des Eigenwillens, aller diese sollst du dich entäußert haben …“

STOP! – müssen Sie jetzt rufen!

So geht das nicht: Eben noch sprichst du noch davon, wie wichtig das Gefühl einer Identität für uns Menschen ist: zu wissen wer wir sind und wo wir hingehören.

Also der Bedeutung des Ur-Eigenen!

Und jetzt heißt es – mit Johannes Tauler – das Eigene hat überhaupt keinen Wert; um vom Heiligen Geist erfüllt zu werden, ist es aufzugeben, ist es „zu lassen“ und auch dein Bemühen, „es zu lassen“, sollst du noch sein lassen. Also: Zunächst soll ich mir mühsam meine Identität erarbeiten, um sie dann wieder aufzugeben?

Das ist doch ein eklatanter Widerspruch!

Genau so ist es. Es ist nicht nur ein Widerspruch – es ist ein existentielles Dilemma oder eine existentielle Dialektik, in der jeder von uns lebt! Ob er will, oder nicht, ob sie/er es sich bewusst macht, oder nicht. Diesen Widerspruch kennt im übrigen jeder Künstler. Wenn ich z.B. ein Musikstück einübe, muss ich es analysieren, in kleine und kleinste Teile zerlegen, es „technisch“ üben usw. Wenn ich damit fertig und zu musizieren beginne, ist es am besten, wenn ich all das wieder vergesse. Und mich ganz dem Augenblick des selbst versunkenen Spieles überlasse.

Und eben hier scheiden sich die Wege. Es geht um die Beantwortung der Frage, was mir wirklich wichtig im Leben ist, womit ich mich identifiziere. Die gültige Antwort darauf geben nicht die Worte, die ich sage, sondern das Leben, das ich lebe.

Wenn ich mit Erfolg, Status, Einfluss, Macht identifiziert bin, wenn ich mir in diesem Sinne „einen Namen machen möchte“, „Karriere“ machen möchte, werden mich die Gedanken Taulers ärgern und ich werde sie bekämpfen – oder schlicht ignorieren.

Tauler, der insbesondere zu Nonnen gepredigt hatte, also zu Menschen, die sich einem Leben in klösterlicher Hingabe an Gott verschrieben haben, hatte in seiner Pfingstpredigt den Mut zu folgendem Gedanken: „Wenn der dem Geschöpf anhangende Mensch nicht seines eigenen Selbst entleert ist, glaubt er oft, dass Gott alles wirke, was in ihm geschieht; es kommt aber alles von ihm selber, ist sein eigenes Werk, kommt von seiner Anmaßung, seiner Selbstzufriedenheit.“ Mit anderen Worten: Dieser Mensch verwechselt sich selbst mit Gott.

Besonders gefährdet für diese Verwechslung sind Menschen in religiösen Berufen. In nicht-religiösen Berufen ist die Gefahr eine andere – und das Ergebnis dasselbe: Die Gefahr ist, das eigene Denken absolut zu setzen und eine Position zu erlangen, die mich mit der Macht ausstattet, meine Anschauung von der Welt und den Menschen durchzusetzen.

Gott aber wirkt nicht durch die Macht einer kriegerischen Armee, Gott wirkt nicht durch Gewalt – Gott wirkt in und durch seinen Heiligen Geist – so heißt es bei Sacharja, dem Wochenspruch für diese Pfingstwoche.

Im Wirksam-Werden und im Wirken-Lassen des Heiligen Geistes geschieht radikale Veränderung der Persönlichkeit des Menschen. Dies ist für Johannes Tauler der Kern des Pfingstwunders. Wer dieses „Wunder“ am eigenen Leib erleben darf, erlebt ein Durchlaufen von Gefühlen des „Ver-rückt-Werdens“. Ich werde verrückt, indem ich in Gottes Wirklichkeit hinein gerückt werde. Wer die damit notwendig einhergehenden Ängste nicht aushält, der ist „nicht geschickt für das Reich Gottes“ (Lukas 9,62).

Die „anderen Sprachen“, in denen die Apostel reden, sind für Tauler „neue Sprachen“: „Der Mensch soll seine alte Redeweise, wie er sie von Natur aus empfangen, in Zucht nehmen.“ Und er fährt in direkter Anrede fort: „Meine Lieben! Vor allen Künsten lernt die Kunst, eure Zunge zu hüten, und seht euch vor, was ihr sprecht, …“ Um Neues wirklich lernen und verinnerlichen zu können, ist Altes bleiben zu lassen!

Die neue Sprache hat für Tauler auch eine neue Verwendung: „Seht zu, dass euer Wort zu Gottes Ehre sei und zur Besserung des Nächsten und zu eurem eigenen Frieden diene.“

Wer diesen Rat beherzigt, in dessen Herz zieht Stille ein und Friede.

Meylana Dschelaluddin Rumi, Gelehrter und einer der bedeutendsten persischen Dichter des Mittelalters, – er lebte zwei Generationen vor Tauler – empfiehlt ganz im Sinne Taulers:

Bevor ein Mensch spricht, soll er seine Worte durch drei Tore gehen lassen. Beim ersten Tor frage: ‚Sind sie wahr?‘ Am zweiten frage: ‚Sind sie notwendig?‘ Am dritten Tor frage: ‚Sind sie freundlich?‘* (Stangl, 2021). Und erst wenn sich alle drei Tore öffnen (also das Tor der Wahrheit, das Tor der Notwendigkeit und das Tor der Güte) ist es gut, was mir in den Sinn kommt auch auszusprechen.

Es gibt noch „andere“ Sprachen, jenseits unserer „menschlichen“ Sprache. Zum Beispiel die Körpersprache. Wer mit Tieren arbeitet, weiß, dass dies die entscheidende Art der Verständigung ist. Auch hier geht es um die Genauigkeit des Sich-Ausdrückens. Probleme mit Haustieren sind zu allermeist Verständigungsprobleme.

Schließlich gibt noch eine ganz „andere“ Sprache, die zwar menschlich ist – und doch ohne Worte auskommt. Sie ist international, und wer sie spricht, der kann mit anderen Menschen kommunizieren, auch ohne ein Wort der gesprochenen Sprache des Anderen zu kennen.

Und so hört jetzt meine Sprachpredigt auf, nicht aber die Predigt als solche.

Die Prediger, die jetzt in „anderer Sprache“ predigen, sind Aldo und Lisa mit dem „Abendlied“ für Violine und Orgel von Josef Rheinberger.

*Stangl, W. (2021). Die drei Siebe des Sokrates – Wahrheit – Güte – Notwendigkeit – arbeitsblätter news. Werner Stangls Arbeitsblätter-News.
WWW: https://arbeitsblaetter-news.stangl-taller.at/die-drei-siebe-des-sokrates-wahrheit-gute-notwendigkeit/ (2021-05-16).

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Predigt über Lukas 19, 37-40 am Sonntag Kantate 2021

Liebe Gemeinde,

stellen Sie sich vor, jemand, der ein hohes politisches Amt bekleiden möchte, müsste erst einmal seine Musikalität nachweisen. Ob dadurch und damit Politik menschenfreundlicher, lebendiger, weniger starr würde?

Ich weiß es nicht. König David, von dem wir vorhin hörten, war jedenfalls Schafhirte und Harfenspieler. Er spielte die zehnseitige Kinnor, auch Davidsharfe genannt. Vielleicht sang er auch dazu. Jedenfalls hat seine Musik den zu Wahnsinn neigenden König Saul beruhigt.

Musik hat eine ganz eigene Wirkung. Sie bringt in uns etwas in Schwingung, was über die Möglichkeiten von Sprache deutlich hinaus geht. Musik berührt anders als Sprache: irgendwie tiefer. Vielleicht hat das damit zu tun, dass unser Hörsinn, unser Gehör schon im Mutterleib vollständig ausgebildet ist und funktioniert. Wir hören ab etwa 5 bis 6 Monate – also lange bevor wir sehen. Wir hören den Rhythmus des Herzens der Mutter, wir hören die gurgelnden Darmgeräusche. Und wir hören – wenn auch sehr abgedämpft – Töne, Geräusche, Stimmen aus der Welt, deren Licht wir in ein paar Wochen erblicken werden.

Musik ist auch nicht – wiederum anders als unsere Sprache – auf unseren Verstand angewiesen. Sie wirkt – selbst wenn wir nichts von ihr verstehen. Auch Tiere reagieren auf Musik: Kühe geben mehr Milch, wenn ihnen Musik von Mozart vorgespielt wird.

Die Fähigkeit Musik zu machen, zu komponieren, hat andererseits keine Auswirkungen auf den Charakter des Menschen, der sie macht. Sieht man sich die Biographien berühmter Musiker an, so ist jedenfalls eines anzuerkennen: Bessere Menschen waren sie auch nicht. Ein Mozart in seiner provokanten Überheblichkeit, ein Beethoven mit seinen Beziehungsabbrüchen und Wutausbrüchen, ein Schumann mit seinen schizophrenen Schüben, ein Schubert mit seinem Alkoholabusus. Von daher darf man skeptisch sein, ob der Text des bekannten Kanons: „Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder“, so stimmt. Was aber sicher stimmt, ist: Gemeinsames Singen ist ein im höchsten Maße sozialer Akt, es ist auf ein Miteinander angelegt – auch wenn man manchmal bei Chorproben eher das Gefühl eines Gegeneinanders bekommen kann …

In unserem heutigen Predigttext ist zwar nicht direkt vom Singen die Rede, sondern davon, „mit Freuden Gott zu loben“. Singen also als „Gotteslob“! Das ist im übrigen auch und sehr stimmig der Titel des Gesangbuches unserer katholischen Schwestern und Brüder. Und es ist davon die Rede, wie dieses „Gotteslob“ Missmut und Ärgernis hervorruft. Doch hören Sie selbst (Lukas 19, 37-30):

37 Und als er schon nahe am Abhang des Ölbergs war, fing die ganze Menge der Jünger an, mit Freuden Gott zu loben mit lauter Stimme über alle Taten, die sie gesehen hatten, 38 und sprachen: Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe! 39 Und einige von den Pharisäern in der Menge sprachen zu ihm: Meister, weise doch deine Jünger zurecht! 40 Er antwortete und sprach: Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.“

„Und als er schon an den Abhang des Ölbergs herankam …“ – damit beginnt unser heutiger Predigttext der zugleich das Sonntagsevangelium darstellt.

Der Ölberg war zur Zeit Jesu ein Hügel voll mit Olivenbäumen. Einige wenige sind noch erhalten. Von dort aus zieht Jesus als der erwartete Messias in Jerusalem ein, dort betet er unmittelbar vor seiner Gefangennahme die bekannten Sätze: „Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“ Und von dort aus ist er in den Himmel aufgefahren.

Der Ölberg ist also einerseits der Ort, an dem Jesus in innigster Beziehung mit seinem Vater ist – und zugleich der Ort, an dem er (von der Welt) gefangen genommen und mit dem Tode bestraft wird.

Mir geht es um dieses Zugleich. Mir geht es um Un-Eindeutigkeit. Dies widerspricht unseren Wünschen und Sehnsüchten. Sie wollen das Eine, das Absolute, das einzig Wahre. Sie wollen den Messias.

Jesus ist der Christus – und kein anderer.

Mohammed ist der größte Prophet – und kein Anderer.

Der einzige Gott ist unser Gott, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Und kein Anderer.

Eindeutigkeit stiftet Identität. Ich bin ich – und kein Anderer.

Diese Identität brauchen wir, andernfalls leben wir in Verwirrung. Es gibt Menschen, die heben im Nachsatz auf, was sie im Vorsatz gesagt haben. Solche Menschen sind verwirrt und verwirren. Sie scheuen Klarheit, Eindeutigkeit. Das hat damit zu tun, dass es eine verbreitete Verbindung von Eindeutigkeit und Machtausübung gibt. Ich sage, dir wie es ist – halte dich daran!

Dann wird aus „Ich bin ich“ „mia san mia“. Was soviel heißt wie: Wir bestimmen, was falsch und richtig ist, was gut und böse ist, wie man etwas zu machen und etwas zu lassen hat. Anders ausgedrückt: Dann wird eine Möglichkeit zu leben, die Welt zu sehen zur einzigen. Es gibt keine verschiedenen Perspektiven mehr, sondern nur die eine, eigene!

Es befreit unser Leben und unser Denken, wenn wir mit offenem Herzen anderen Perspektiven begegnen. Und noch befreiender ist der berühmte Perspektivenwechsel: D.h., ernsthaft versuchen, die Perspektive eines Anderen einzunehmen: und zwar soweit möglich „ganzheitlich“. Das ist die leider nicht sehr verbreitete Fähigkeit zu Empathie – zu deutsch Einfühlung. Ich fühle mich in den Andern ein, setzt die Bereitschaft voraus, ich sehe von meinen eigenen Gefühlen, von meiner eigenen Perspektive ab. Ich stelle mich zurück. So erst entsteht Raum für einen echten Dialog, einen echten Austausch zwischen zwei verschiedenen Menschen. Allerdings nur, wenn der Andere bereit, diesen „Gemeinschaftsraum“ mit mir auch zu betreten. Viel verbreiteter ist das „Absetzen“ der eigenen Meinung ohne Interesse an einem Miteinander. Monologische Kommunikationsformen wie z. B. eine Predigt eignen sich bestens dafür, die eigene Meinung absolut zu setzen. Es würde sehr viel Mut erfordern, dem Pfarrer, ausgestattet mit der Vollmacht seines Amtes, zu unterbrechen, zu widersprechen, eine andere Meinung zu äußern. In der schwarzen Pädagogik heißt das: „Nur böse Kinder geben Widerworte…“

Schauen wir auf diesem Hintergrund unseren Predigttext an:

Da gibt es die Perspektive der „Jünger Jesu“. Sie „loben Gott, und freuen sich“, denn für sie ist Jesus der erwartete Messias.

Dann gibt es die Perspektive der Pharisäer. Sie sind entsetzt und ärgerlich über die Perspektive der Jünger Jesu. In ihren Augen ist das alles Gotteslästerung, Und so fordern sie Jesus auf, seine Jünger zurecht zu weisen, dem blasphemischen Treiben Einhalt zu gebieten.

Und schließlich gibt es die Perspektive Jesu selbst, die sich in dem Satz ausdrückt: „Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.“ Was so viel bedeutet wie: Für das Offenbar-Werden des Messias gibt es kein Halten, es lässt sich nicht unterdrücken.

Dies sind die Perspektiven der Akteure unseres Textes.

Und dann gibt es noch die Perspektive des Verfassers des Textes, des Evangelisten Lukas. Alle drei Evangelien schildern den Einzug Jesu in Jerusalem, aber nur Lukas berichtet von dieser Episode mit den Pharisäern. Ihm ist der Lobpreis aller Völker – Lukas schreibt für Nicht-Juden – besonders wichtig.

Und so ist es auch bei uns: Jede und jeder von uns sieht die Welt aus der ganz eigenen Perspektive, hört meine Predigt aus ihrer oder seiner Perspektive. Und natürlich predige auch ich aus meiner Perspektive, meiner „Sicht“ der Welt heraus.

Dies ist eine Quelle für viele Missverständnisse, die zu Streit und sogar Beziehungsabbrüchen führen. Unsere menschliche Sprache scheint sich im übrigen besser für Miss-Verstehen denn für Verstehen zu eignen. Dies ist auch eine Form der babylonischen Sprachverwirrung, über die ich an Pfingsten predigen werde.

An dieser Stelle beruhigt mich die Erkenntnis, dass es bei aller Fülle unterschiedlichster Perspektiven nur eine einzige Wahrheit gibt. Zu dieser Wahrheit sage ich Gott: Sie bleibt in der Regel für uns „normal Sterbliche“ unerkennbar. Und es steht jedem Menschen zu jeder Zeit seines Lebens frei, sich mit dieser Wahrheit zu verbünden, sich ihr zuzuwenden oder eben nicht.

Sich mit der Wahrheit verbünden bedeutet, auf dem Boden dessen, was ist, zu stehen. Das ist der Boden der Wirklichkeit, der Realität.

Sich mit der Wahrheit verbünden heißt auch, und das ist die Herausforderung, anzuerkennen, dass mein „Ich“ sie nicht besitzt, schlimmer noch, dass sie mir unbekannt ist. Dieses Nicht-Wissen mag mein Verstand überhaupt nicht. Seine Strategie ist: Was ich nicht weiß und/oder nicht verstehe, das ignoriere ich. Es lohnt sich nicht, sich damit zu beschäftigen.

Dies wiederum ist der Wirklichkeit, der Wahrheit völlig egal. Sie braucht auch keine Steine, die irgend etwas schreien. Die Wirklichkeit ist. Punkt, Mehr ist dazu nicht zu sagen.

Beispiel: Dem Corona-Virus ist es völlig egal, ob jemand seine Existenz verleugnet oder anerkennt. Er wirkt.

Der Sonne ist es völlig egal, ob jemand sie in seiner Fantasie um die Erde kreisen lässt, oder ob sie als Fixstern anerkannt wird.

Dem Christus, dem Messias ist es völlig egal, ob er als Messias anerkannt, bekannt wird. Aber: es gibt nicht nur Christus – es gibt auch Jesus.

Jesus, das „fleischgewordene Wort Gottes,“ leidet, weil er (auch) Mensch ist. Gerade so wie Sie und ich. Unmittelbar nach unserem Text heißt es von diesem Jesus: „Und als er nahe hinzu kam und die Stadt (Jerusalem) sah, weinte er über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest an diesem Tag, was zum Frieden dient!“ In der Tat: Ist es nicht zum Heulen, dass uns Menschen – seit es uns gibt! – es derart schwer fällt, zu erkennen und zu leben, „was zum Frieden dient“?

An erster Stelle dient zum Frieden, sich selbst zurück zu nehmen. Es ist die Haltung und eine Handlung eines gesunden Egoismus, den Armen zu helfen und sich um Gerechtigkeit zu bemühen. Es ist die Haltung und eine Handlung eines kranken Egoismus, um sich selbst zu kreisen und sein Ich dafür zu verwenden, die eigenen süchtigen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Abholzung des Regenwaldes in Brasilien, das Fehlen von Impfstoff in den armen Ländern – in Amerika wird er gehortet – und damit verbunden die unkontrollierte Ausbreitung des Corona-Virus: Es sind zwei aktuelle Beispiele, wie der Egozentrisums von uns Reichen („me first!“) auf uns selber zurück fällt.

Und wie geht das „Sich-selbst-Zurücknehmen“? Es geht so, dass ich mich und das, was mich (an-)treibt kennen lerne. Nur wenn ich den „Gegner“ kenne, kann ich mich auf ihn einstellen.

Und es geht so, dass ich meine Fähigkeit zu lieben stärke. Liebe ist aber nichts Anderes als einverstanden zu sein damit, wie es gerade ist, wie ich gerade bin, wie der Andere gerade ist. Damit ist der ewige Kampf beendet.

Rabbi Sussja wurde immer wieder gequält von dem Gefühl, das, was er sei und was er mache, genüge nicht, es sei einfach zu wenig. So wird berichtet, wie er mitten in der Nacht von seinem Bett aufsprang und mit großer Hingabe und Innigkeit ausrief: „Mein Gott und meine Seele! Ich liebe ich,doch was kann ich tun, ich habe keine Kraft!“ Er lief im Zimmer auf und ab und wiederholte diesen Satz unzählige Male. Rabbi Mordechai stand mit seinem Freund an der Tür und lauschte. Schließlich hörten sie Rabbi Sussja rufen: Oh, pfeifen kann ich doch! So will ich mein Schöpfer, zu deiner Verherrlichung pfeifen!“ Und er begann zu pfeifen.

Komm, eilen wir von hinnen!“, rief der erschrockene Rabbi Mordechai seinem Freunde zu, „komm, dass uns das Feuer der Heiligkeit nicht verzehre!“

Ja – so ist das: Wenn dann wirklich der Heilige Geist über uns kommen möchte, wenn das, was wir uns so sehr wünschen dabei ist, sich zu verwirklichen, ist die Gefahr groß, dass wir davonlaufen! Und beruhigen uns mit Ritualen, die wir dann z.B. Gottesdienst nennen. Die oftmals genau dazu dienen, dass Gottes Heiliger Geist bloß nicht lebendig werden soll! Und so bleibt das Lied, das in jedem von uns schläft, das ureigene Lied, das unsere Seele so gerne singen würde, ungehört und unerhört.

Da können einem schon auch mal die Tränen kommen… AMEN.

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Predigt über Johannes 21, 1- 14 am 11. 4. 2021

Liebe Gemeinde,

Quasimodogeniti: „wie die neugeborenen Kinder …“ ist der Name unseres heutigen ersten Sonntags nach dem Osterfest. Es ist ein Zitat aus dem ersten Petrusbrief. Vollständig lautet es: „… seid wie die neugeborene Kinder begierig nach der vernünftigen, unverfälschten Milch , damit ihr durch sie wachset zum Heil“ (1. Petrus 2,2)

R.W. Bion sagt an einer Stelle: „Wahrheit ist die Milch der Seele“.

Es geht um die „unverfälschte Milch“ – griechisch „adolos“. „Dolos“ ist die List, die Strategie oder Manipulation. Diese Milch trägt nicht zu seelischem Wachstum bei. Wohl aber ist sie sehr wirksam, wenn ich etwas erreichen will.

Die Milch der Wahrheit lässt frei – die Milch der List, der Täuschung, des Betrugs zieht in eine bestimmte Richtung.

Deshalb ist in totalitären Regimen im Großen wie im Kleinen die Wahrheit der eigentliche Feind, die eigentliche Gefahr des Regimes – und ihre Repräsentanten sind die Verhassten und die Verfolgten. (In Klammern: Es gibt auch die List im Dienste der Wahrheit oder der Menschlichkeit. Denken Sie nur an „Schindlers Liste“! Das ist, das totalitäre System mit den eigenen Waffen schlagen …!)

Damit kommen wir zu Ostern: Für viele Menschen ist es nicht besonders glaubwürdig, dass ein Toter ins Leben zurückkehrt. Für mich ehrlich gesagt auch nicht. Und mache Passagen in Paulusbriefen lesen sich wie Werbetexte, doch endlich zu glauben, dass Jesus von den Toten auferstanden ist. Auf diesem Hintergrund ist verständlich, wie sehr in der Kirchengeschichte jene verhasst waren, die wagten, anderer Meinung als die sogenannte „Orthodoxie“, die „rechte Lehre“ zu sein. Ein freier Denker wie Meister Eckhart entkam dem Strafgericht der Inquisition nur dadurch, dass er – starb.

Anders als Paulus bin ich der Meinung, dass es völlig ungefährlich für den/unseren (christlichen) Glauben ist, die „leibhaft-konkrete“ Auferstehung Jesu anzuzweifeln. Ich persönlich vermute, der Körper dieses Jesus aus Nazareth erlitt das Schicksal alles Körperlichen: Er verging.

Ich glaube aber auch – und das ist für mich das Entscheidende – dass mit eben diesem Jesus aus Nazareth ein Denken auf die Welt gekommen ist, das radikal neu gewesen ist. Die Wurzel dieses Denkens war Barmherzigkeit verbunden mit der Fähigkeit, sich zunächst um die Balken im eigenen Auge zu kümmern, anstelle die Splitter (ist gleich Schwachstellen) beim Anderen zu suchen.

Und von diesem Denken soll heute die Rede sein.

Nun ist es bei uns Menschen so: Je besser es uns geht, je gelassener und heiterer wir sind, desto leichter fällt es uns, mit uns selbst und mit unseren Mitmenschen großzügig zu sein. Und andersherum: Je mehr wir uns unter Druck fühlen, eingespannt in ein hartes Korsett, je weniger wir uns selbst innerlich wie äußerlich frei fühlen – desto weniger Platz haben wir für so etwas wie Nächstenliebe oder eben auch Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ist nur in innerer Großzügigkeit möglich. Geben ist seliger denn nehmen –: stimmt, und setzt voraus, dass meine Grundbedürfnisse einigermaßen gesättigt sind.

Unter Grundbedürfnissen verstehe ich all das, was man wirklich braucht zum Leben. Physische Grundbedürfnisse sind Essen, Trinken, Schlafen und Sexualität. Psychische Grundbedürfnisse sind irgend eine Form von sozialer Verbundenheit. Eingebunden-Sein in eine Gesellschaft oder Gemeinschaft. (In der aktuellen Pandemie wird genau das Erleben dieses Eingebunden-Seins immer wieder beschränkt – was heftigste Reaktionen auslöst.)

Und dann gibt es immer wieder Verlusterfahungen. Dass „etwas wegbricht“. Je heftiger diese Erfarungen sind, desto schwieriger ist es, sie zu verarbeiten. Unser heutiger Pedigttext handelt davon, vom Leben nach so einer katastrophalen Verlusterfahrung.

„1 Danach offenbarte sich Jesus abermals den Jüngern am See von Tiberias. Er offenbarte sich aber so: 2 Es waren beieinander Simon Petrus und Thomas, der Zwilling genannt wird, und Nathanael aus Kana in Galiläa und die Söhne des Zebedäus und zwei andere seiner Jünger. 3 Spricht Simon Petrus zu ihnen: Ich gehe fischen. Sie sprechen zu ihm: Wir kommen mit dir. Sie gingen hinaus und stiegen in das Boot, und in dieser Nacht fingen sie nichts. 4 Als es aber schon Morgen war, stand Jesus am Ufer, aber die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war. 5 Spricht Jesus zu ihnen: Kinder, habt ihr nichts zu essen? Sie antworteten ihm: Nein. 6 Er aber sprach zu ihnen: Werft das Netz aus zur Rechten des Bootes, so werdet ihr finden. Da warfen sie es aus und konnten’s nicht mehr ziehen wegen der Menge der Fische. 7 Da spricht der Jünger, den Jesus lieb hatte, zu Petrus: Es ist der Herr! Als Simon Petrus hörte: »Es ist der Herr«, da gürtete er sich das Obergewand um, denn er war nackt, und warf sich in den See. 8 Die andern Jünger aber kamen mit dem Boot, denn sie waren nicht fern vom Land, nur etwa zweihundert Ellen, und zogen das Netz mit den Fischen. 9 Als sie nun an Land stiegen, sahen sie ein Kohlenfeuer am Boden und Fisch darauf und Brot. 10 Spricht Jesus zu ihnen: Bringt von den Fischen, die ihr jetzt gefangen habt! 11 Simon Petrus stieg herauf und zog das Netz an Land, voll großer Fische, hundertdreiundfünfzig. Und obwohl es so viele waren, zerriss doch das Netz nicht. 12 Spricht Jesus zu ihnen: Kommt und haltet das Mahl! Niemand aber unter den Jüngern wagte, ihn zu fragen: Wer bist du? Denn sie wussten: Es ist der Herr. 13 Da kommt Jesus und nimmt das Brot und gibt’s ihnen, desgleichen auch den Fisch. 14 Das ist nun das dritte Mal, dass sich Jesus den Jüngern offenbarte, nachdem er von den Toten auferstanden war.“

Unser Text wimmelt nur so von unterschiedlichsten Anspielungen auf die ich im Rahmen dieser Predigt nur bedingt eingehen kann: es sind sieben Jünger zugegen. Sieben ist die Schöpfungszahl, die Zahl der sieben Wochentage. Die Boote sind 200 Ellen vom Land entfernt: Zweihundert basierend auf zwei: der Zahl des Zweifelns, des entweder oder, soll ich oder soll ich nicht. Die Zahl der Ambivalenz. Der Spaltung.

Und dann gibt es noch die Zahl 153. 153 Fische haben die Sieben gefangen. Im Hebräischen ist 153 die Verbindung von Nadelöhr (100), Fisch (50) und Kamel (3) Aber was bedeutet das alles?

153 Fische wurden gefangen. Aber erst bei der zweiten Ausfahrt. Üblicherweise fängt man am Tag keine Fische. Und warum sollen sie das Netz zur Rechten des Bootes auslegen?

Nun – wenn Sie beginnen, diese Fragen zu recherchieren, werden sie auf erstaunliche Antworten stoßen.

Z.B. ist die 153 eine Dreieckszahl zur Basis 17. D.h., wenn Sie 1 + 2 +3+ … +17 addieren, ergibt das 153. Die 17 aber ist in der Kabbala die Zahl des göttlichen „Gut-Seins“. „Und Gott sah, dass es gut war“ – dieser Satz wird im ersten Schöpfungsbericht immer dann verwendet, wenn einer der sieben Schöpfungstage endet. Wenn das „Werk“, das diesen Tag ausmachte, getan ist.

In Schuberts Liederzyklus „Schöne Müllerin“ lautet ein Liedvers im „Feierabend“ :

Und der Meister spricht zu Allen, Euer Werk hat mir gefallen …“

Schubert hat das in tiefen F-Dur Akkorden sehr ruhig vertont. Das „Werk“ erklingt dann in C-Dur (C 7) . C-Dur gilt für den Orientalisten und Anthroposophen Herrmann Beckh als die Tonart des „Sonnenaufgangs“: mit ihr beginnt der Quintenzirkel – und mit ihr endet er. In F-Dur würde die „Helligkeit beginnen…“.

Doch zurück: Das „es ist gut“ des Schöpfungsberichtes lehrt:

Bei allem Schmerz, bei aller Trauer, bei allem Widerstand:

Es ist gut, gerade so wie es ist, gerade so, wie es auch zu ende geht!

(Weitere Bedeutungen von 153 sind: Die ersten vier Bücher des AT enthalten 153 Kapitel; 153 ist die Summe der Fakultäten von 1 bis 5. Der Hl. Hieronymus sagt, dass griechische Zoologen 153 Fischarten benennen; also betont 153 noch einmal die Fülle schlechthin! Aber das alles nur am Rande!)

Und warum wurden die Fische auf der „rechten“ Seite gefangen – und nicht auf der „linken“ Seite? Die rechte Seite ist in der Kabbala die Sonnenseite. Es ist auch die „eins“. Die linke Seite ist die „zwei“, die Wasserseite. Die rechte Seite handelt also von der Rückkehr zur Einheit im Sinne von Ganzheit. Das feste Land (die 1) ist nur mehr 200 Ellen entfernt.

Die Rückkehr zur Eins, zur Einheit im Sinne von Ganzheit ist gut!

In ihr vollendet sich der Weg, kommt an sein Ziel.

Wer diesen Weg zurück nicht findet, muss immer vorwärts gehen, meint, er würde satt, wenn er immer mehr bekommt. Mary Trump, die Nichte von Donald Trump, hat dem Buch über ihren Onkel den Titel geben: „Immer mehr und doch nie genug.“ Auf der quantitativen, horizontalen Achse gibt es kein Genug; es gibt es nur ein flaches zweidimensionales immer mehr, immer weiter. Erst wenn die vertikale Achse hinzukommt spannt sich ein Koordinatensystem auf. Erst dann entsteht „Sättigung“.

Im Koordinatensystem des Lebens hat hat auch der Tod, das Sterben, seinen „guten“ Platz. Es ist eingebunden in die große Ordnung des Lebens, des Werdens und Vergehens. Und die Anerkenntnis der Vergänglichkeit meines Lebens führt zur Fähigkeit des Loslassens. Eine bestimmte Art von Dringlichkeit im Sinne von: „Das hätte niemals passieren dürfen!“ oder auch: „Ich muss das unbedingt haben/schaffen …“ verliert ihre Kraft. Stattdessen wird deutlich, wie alles miteinander zusammenhängt. Von der Phase 1, über die Phase 2 bis zur Phase 17.

Es ist gut.

Wo es um Kampf und Macht ging, kehrt heitere Gelassenheit ein.

Wo es um die Notwendigkeit ging, andere Menschen zu verändern, entsteht Bereitschaft für Toleranz.

Das Plagen, dass etwas so und nicht anders sein muss, kommt zu Ende.

Ja – Jesus, der Prediger der Nächstenliebe wurde mit dem Tod bestraft.

Das ist auf der einen Seite schlimm und traurig.

Und auf der anderen Seite ist es gut. Im Sinne von: vollendet.

Mit ihm sind unzerstörbare Gedanken auf die Welt gekommen. Sie sind unzerstörbar, weil die Liebe unzerstörbar ist.

Ausdruck dieser Unzerstörbarkeit ist das Fischernetz, das nicht reißt.

Die Liebe hält. Sie hält zusammen.

Über die Liebe kommt die Nahrung zu uns, die wirklich satt macht.

Es ist die Liebe, die mir jeden Tag einen Hauch von Erkenntnis schenkt, wer ich bin und was ich auf dieser Welt zu tun habe.

Es ist die Liebe, die die Vergänglichkeit des Lebens anerkennt und mit dem gelebten Leben einverstanden ist.

Aus dieser Anerkennung heraus wächst das Erleben, dass alles gut ist – gerade so wie es gewesen ist. Nur über diesen Weg bin ich nämlich dahin gekommen, wo ich heute stehe.

Liebe Gemeinde,

für mich ist heute ein ziemlich besonderer Tag – und deshalb erlaube ich mir eine besondere, persönliche Schlussbemerkung:

Viele von Ihnen wissen, dass ich nicht immer Pfarrer gewesen bin.

Ursprünglich wollte ich Pianist werden, dann wollte ich Pfarrer werden und dann Psychoanalytiker. Ich bin also jemand, der sich nicht entscheiden konnte.

Der sich schwer tut, da zu sein, wo er sich selbst hingestellt hat.

Immer wieder meinte ich, das Glück ist gerade da, wo ich nicht bin. (Übrigens das Thema eines Liedes von Franz Schubert: „Der Wanderer“: „ … dort wo ich nicht bin, dort ist das Glück …“.)

Jetzt bin ich glaube ich ein ganz brauchbarer Hobby-Pianist, ein ganz brauchbarer Pfarrer im Ehrenamt und und ein ganz brauchbarer Psychotherapeut.

Und jetzt kann ich sagen: Es ist gut so. Und: Es ist halt mein Weg.

Es ist auch deswegen gut so, weil ich auf diesem Weg meine Frau kennen gelernt habe. Mit der ich heute auf den Tag genau 25 Jahre ziemlich glücklich und zufrieden verheiratet bin.

Um dies erleben zu dürfen, waren leider schmerzhafte Trennungen unvermeidbar. Insbesondere die sehr schmerzhafte Trennung von meiner ersten Familie, das Leid und die Enttäuschung, das ich meiner ersten Ehefrau und meinen beiden Kindern aus dieser erster Ehe zugefügt habe.

Das kann ich nur bedauern – aber nicht wieder gut machen kann.

Und doch: In allen Schmerzen, in allem Suchen, in allen Ängsten und bei aller Schuld, die ich auch auf mich geladen habe, traue ich mich heute zu sagen: Es ist gut.

Dies alles gehört zu meiner ganz persönlichen Siebzehn.

Und in diesem „Es-ist-gut-Gefühl“ sitze ich, sitzen wir alle zusammen mit dem Auferstandenen am Lagerfeuer. Er hat schon einen Fisch aufs Feuer gelegt. Das ist der 154. Es ist der Erste und der Letzte. Und es gibt Brot – Lebensbrot. Und wir essen zusammen und trinken und jemand packt die Gitarre aus und wir singen „Let it be“ von den Beatles … und wir trinken Wahrheit … die „Milch der Seele“. Das kann übrigens durchaus auch ein dunkles Lammsbräu oder ein schöner Wein sein.

Das alles ist für mich Auferstehung! Leibhafte, wahrhaftige Auferstehung, Auferstehung hinein in die 153 plus 1: In die Fülle alltäglichen Lebens. AMEN.

Predigt über Johannes 21, 1- 14 am 11. 4. 2021 Read More »

Predigt über Hiob 19, 19-27 am Sonntag Judica 2021

Liebe Gemeinde,

bereits in seinem Namen ist enthalten, worum es im Buch Hiob geht:

„Hiw“ heißt anfeinden – Hiob bedeutet: „Der Angefeindete“, „Der Widersacher“.

In dem alttestamentlichen Buch „Hiob“, dem unser heutiger Predigttext entstammt, geht es um eine ganz besondere Feindschaft: um die zwischen einem frommen, gottesfürchtigen Menschen – und Gott selbst.

Es geht um die Feindschaft – es geht nicht um Hiob.

Hiob ist für Gott nur ein Werkzeug: Er benötigt ihn, um eine Wette zu gewinnen, die er mit dem Teufel eingegangen ist.

Der Teufel hatte behauptet, dass Gottes Vorzeige-Sohn Hiob nur deshalb so fromm und rechtschaffen sei, weil sein Leben von Gott gesegnet ist. Er hat „sieben Söhne und drei Töchter, siebentausend Schafe und dreitausend Kamele, fünfhundert Eselinnen und sehr viel Gesinde …“ Mit anderen Worten: Wenn jemand so ein Leben führt, dann ist es ja wohl keine Kunst, „das Böse zu meiden“. Aber – so der teuflische Verführer weiter, „nimm ihn seinen Besitz und taste alles an, was er hat: Ich wette mit dir, er wird dir ins Angesicht fluchen!“

Und Gott lässt sich auf diese Wette ein: Der Teufel darf Hiob alles nehmen, was er hat, nur nicht sein Leben.

Und so geschieht es: Zuerst verliert Hiob seinen Besitz, dann seine Kinder, schließlich befällt ihn eine ekelerregende Krankheit in Form eines stinkenden Ausschlags.

Und Hiob wird stetig verzweifelter. „Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren wurde und die Nacht, da man sprach: Ein Knabe kam zur Welt!“ Hiob wird suizidal: „Warum bin ich nicht gestorben im Mutterschoß?“ „Warum bin ich nicht umgekommen, als ich aus dem Mutterleib kam? Warum hat man mich auf den Schoß genommen? Warum bin ich an den Brüsten gesäugt?“

Es geht um Gefühle, liebe Gemeinde. Wer den Mut hat, in seine inneren Abgründe zu schauen, dem sind Hiobs Gedanken nicht fremd.

Bei all dem, das ich erleben musste: Wozu? Wozu bitte sehr soll das gut sein? Warum gerade ich? Warum gibt es mich überhaupt?

Es sind die Gefühle eines zutiefst missbrauchten Menschen.

Missbraucht heißt. Es ging nie wirklich um mich. Ich diente als Mittel.

Wer hat sich schon die Mühe gemacht, mich ernsthaft danach zu fragen, wie es mir geht? Was ich will – und was ich nicht will.

Wer ist da geblieben, hat mir weiter sein Ohr geliehen, wenn ich sagte: „Nicht besonders.“ So habe ich gelernt zu sagen: „Es geht gut!“ Das hat den Anderen entlastet. Und ich hatte meine Ruhe.

Wer hat von den sogenannten Freunden und Freundinnen hat mich nicht mit billigem Trost abgespeist? „Wird schon wieder!“ haben sie gesagt. Oder: „Nach jedem Regen kommt wieder ein Sonnenschein!“ Oder: „Schau dir andere Menschen an: denen geht es noch viel schlechter als dir!“ Keinen Trost habe ich erfahren – stattdessen billige Vertröstungen. „Wie lange plagt ihr meine Seele und peinigt mich mit Worten?“ (19,2) frägt Hiob. „So merkt doch endlich, dass Gott mir Unrecht getan hat und mich mit seinem Jagdnetz umgeben hat!“ (19,6)

Hiob kann seine „Freunde“ nicht erreichen. Was er als „seine eigene Wahrheit“ erlebt, können und oder wollen seine Freunde nicht begreifen. Sie beharren auf dem Standpunkt: Gott straft den Unfrommen, den Frevler – und nicht den Gerechten. Irgendetwas wird Hiob schon getan haben, dass er das erleiden muss, was er erleiden muss.

Es gibt eine verzweifelte Einsamkeit, die dazu führt, andere Menschen zu nötigen. „Du musst dich von mir erreichen lassen!“ „Du musst die Welt mit meinen Augen sehen!“ Hiob hat Recht – und sonst nichts. Sein Recht-Haben hilft nicht.

Wovon Hiob keine Ahnung hat, was auch seine Freunde nicht wissen können, das ist: Gott verwendet seinen „treuen“ Knecht als Spielball, als Joker, um seine Wette gegen den Teufel zu gewinnen.

Es geht Gott an keiner Stelle wirklich um seinen „frommen Knecht“ Hiob. Es geht ihm ausschließlich um seinen eigenen Triumph: den Teufel zu besiegen. Hierfür ist ihm jedes Mittel recht. Dieser Gott ist ein Spieler. Es ist ein kalter, abweisender, in sich selbst verliebter Macht-Gott, dem Einfühlung in den Anderen, Wärme und Barmherzigkeit fehlen. Hiob dient ihm ausschließlich als Marionette für seine Zwecke.

Mit anderen Worten: Es ist ein Gott, der sein Gott-sein ausschließlich für Machtausübung verwendet. Es ist ein armseliger Gott!

Innerhalb dieses Rahmens taucht nun folgende Passage auf, über die heute zu predigen ist:

19 Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich lieb hatte, haben sich gegen mich gewandt. 20 Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon. 21 Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, ihr meine Freunde; denn die Hand Gottes hat mich getroffen! 22 Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch? 23 Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden als Inschrift, 24 mit einem eisernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen! 25 Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. 26 Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen. 27 Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust. 28 Wenn ihr sprecht: Wie wollen wir ihn verfolgen und eine Sache gegen ihn finden!, 29 so fürchtet euch selbst vor dem Schwert; denn das sind Missetaten, die das Schwert straft, damit ihr wisst, dass es ein Gericht gibt.“

Der entscheidende Satz lautet: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt!“

Paulus hat das so ausgelegt: „Die Leiden der gegenwärtigen Zeit stehen in keinem Verhältnis zu der zukünftigen Herrlichkeit, die sich an uns offenbaren wird.“ (Römer 8,18) Karl Marx hat dieses Denken „Opium fürs Volk genannt“ – die Vertröstung auf ein besseres Jenseits.

Grundlage dieses Denkens ist Konkretismus. Das heißt, es ist ein „Minus-spirituelles-Denken“. Es fehlt jegliche Symbolisierung. Gott ist ein Mensch, der mit dem Teufel eine Wette eingeht. Jesus ist ein Mensch, der nach seinem Tod wieder aufgestanden und in den Himmel gefahren ist. Dort sitzt er zur Rechten des Vaters. Wer meint, „so ist es wirklich“, der denkt konkretistisch. Kinder können gar nicht anders als konkretistisch denken. Und schwer in ihrer seelischen Entwicklung verletzte Kinder bleiben ihr Leben lang auch als Erwachsene in Konkretismen gefangen. Sie können mit Sätzen wie: „Menschsein heißt, aufgespannt zwischen Himmel und Erde zu leben“ nichts anfangen. Oder der Satz: „Das Reich Gottes ist zwischen Euch!“ wird entweder politisch auf ein Diesseits oder eschatologisch auf ein Jenseits reduziert.

Ich weiß, dass mein Erlöser lebt!“ Spiritualität verwandelt.

Der Erlöser“ ist zu verwandeln in ein Geschehen, in „Erlösung“. Erlösung hat mit Lösung zu tun. Und Lösung hat mit loslassen zu tun.

Lernen loszulassen ist die entscheidende Fähigkeit, um erlösbar zu werden. Voraussetzung für dieses Lernen ist Selbsterkenntnis: Woran halte ich denn so hartnäckig fest.

Hiob klammert sich an sein Opfer-Sein. Er möchte nur eines: Dass die ganze Welt einsieht: Ihm ist Unrecht widerfahren. Und zwar von Gott selbst! Mit „eisernem Griffel und Blei“ soll dies „für immer in einen Felsen gehauen“ werden (V. 25b).

Damit schreibt Hiob sein Opfer-Sein endgültig fest.

Du darfst nie vergessen …“, sagt das Opfer. Wie Gott besessen davon ist, seine Wette zu gewinnen, so ist Hiob besessen davon, die ganze Welt von seiner Unschuld zu überzeugen. Von seinem Opfer-sein kann er nicht loslassen. Und gerade dadurch bleibt er an den Täter gebunden. Die stärkste Bindung, die es zwischen Menschen gibt, ist Hass. Hass schweißt Täter und Opfer zusammen. Von daher gilt: Ohne Opfer kein Täter – ohne Täter kein Opfer. Und das einzige Lösungsmittel, das die Bindung lösen kann, ist Liebe. „Das notwendigste Werk ist die Liebe“, sagt Meister Eckhart. „Daran wird man erkennen, dass ihr meine Jünger seid, dass ihr liebevoll miteinander umgeht“, sagt Jesus im Johannesevangelium (Joh. 13,35). Alles andere ist sekundär!

Liebe Gemeinde,

was lernen wir aus diesem Text, aus diesen Gedanken?

Wir können ihn als Exerzitium in der Fastenzeit verwenden:

Woran halte ich mit eisernem Willen fest?

Finde ich bei mir eine hartnäckige Weigerung, mit etwas, das mir in meinem Leben widerfahren ist, einverstanden zu sein?

Wo nehme ich etwas persönlich, was gar nicht persönlich gemeint gewesen ist?

Was ist für mich unannehmbar?

Indem ich versuche, mir diese Fragen ehrlich zu beantworten, werde ich die auf die Triggerpunkte, auf die Verhärtungen meiner Seele stoßen.

Man erkennt sie daran, dass es weh tut.

Im übrigen: Gott will Hiob als Person nichts Böses antun. Es geht persönlich gar nicht um ihn. Gott braucht Hiob für seine Zwecke. Mit ihm will er die Wette gewinnen. Und Hiob braucht seine Freunde für seine Zwecke. Sie sollen einsehen, dass er unschuldig.

Solange ich den Anderen brauche, kann ich ihn nicht lieben.

Solange ich den Anderen brauche, nehme ich ihn als Mittel für mich wahr. Und sehe ihn nicht und kann ihn nicht sehen in seinem ganz eigenen, einzigartigen Auf-der-Welt-Sein.

Erlösung lebt und wirkt, indem ich aufhöre zu brauchen!

Damit öffnet sich die Welt des Seins; in ihr ist alles an seinem Ort.

Erlösung ist nichts anderes als die Freiheit, „es gut sein zu lassen“. Damit hat ein wettender und wetteifernder Gott keine Macht mehr.

Es gut sein zu lassen“ ist unser menschlicher Beitrag zu unserer Erlösung.

Es gut sein lassen heißt, sich jenem Gott zu überlassen, dessen unerkennbare Wahrheit frei macht. Auf diesem Weg werde ich immer tiefer erleben: Es ist alles längst geschehen.

Ich bin schon erkannt, ich bin schon bei meinem Namen gerufen, ich bin wirklich gemeint .“

Oder, mit Meister Eckhart:
„Die wichtigste Zeit ist stets der Augenblick.

Der wichtigste Mensch ist stets der, der dir gegenüber ist.

Und das notwendigste Werk ist zu lieben.“ (Meister Eckhart) AMEN

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Predigt über den Verrat des Judas am Sonntag Invocavit 2021 (Johannes 13,21-30)

Liebe Gemeinde,

die Dunkelheit der Nacht verbunden mit dem „Verrat“ führen in der Liturgie des christlichen Gottesdienstes zu seiner „heiligen Intimität“. Hier verlöschen die Suchscheinwerfer rationalen Denkens, die die Lebendigkeit im Dunklen vertreiben. So und nur so kann ein neues, ein aus einer anderen Welt leuchtendes Licht sichtbar werden und unsere Seele erhellen: „Der Strahl der Finsternis“ (Dionysius Pseudareopagita) erhellt die Dunkelheit so, dass das Leben vor ihm nicht flieht. Ja – mit ganz viel Geduld und etwas Glück wird Lebendigkeit im Dunkeln sichtbar.

Und es war Nacht“ – damit endet die Geschichte der Benennung des Verräters im Johannesevangelium. Die Nacht der Ernüchterung, der Enttäuschung: eben des Verrates. Jesus wurde „erregt im Geist“ – damit beginnt sie. Das Griechische „tarasso“ („erschüttern“) findet sich noch einmal in Johannes 11, 33 – auch hier in Verbindung mit heftigen emotionalen Turbulenzen. (Die Vulgata übersetzt das griechische „tarasso“ mit „turbare“.) Jesus, ein Mensch („ecce homo“), dem heftigste Gefühle nicht fremd sind. Wie es im Hebräerbrief heißt: „Denn er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen vor den gebracht, der ihn aus dem Tod erretten konnte“ (Hebr. 5, 7a). Und vorher: „Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir …“ (4, 15; vgl. 2, 18).

Es sind die Gefühle von Enttäuschung, die heftigste emotionale Turbulenzen in der menschlichen Seele auslösen. Und es ist zwar weise, schützt aber vor den zu erleidenden Gefühlen nicht, zu sagen: „Wie gut: Mit dieser Enttäuschung verlasse ich den Zustand der Täuschung!“ Je stärker ich meine Lebens-Sicherheit auf etwas „im außen“ gegründet habe, desto verzweifelter bin ich, wenn sich diese vermeintliche Sicherheit als Täuschung herausstellt. „Das habe ich nie von dir erwartet!“ „Ich bin so enttäuscht über dich!“ Wie viele Kinder, wie viele Eltern kennen wohl diesen Satz?

Der Gradmesser für die Belastbarkeit und damit für die Stärke von Beziehung ist, wie viel Enttäuschung in ihr Platz hat. Das heißt umgekehrt, je stärker eine Beziehung, desto mehr Raum ist in ihr für die Akzeptanz der Andersheit des jeweilig Anderen. In einer schwachen Beziehung hingegen wird Befriedigung erwartet: „Indem du meine Erwartungen befriedigst, stabilisierst du mich!“ Dies ist die Sollbruchstelle des Scheiterns von Beziehung. „Indem du meine Erwartungen enttäuschst, will ich nichts mehr mit dir zu tun haben.“ Die Geschichte, die uns heute zum Nachdenken anregen kann, handelt eben davon: vom Zerbrechen einer Beziehung. Erzählt wird sie aus der Sicht Jesu und seiner Jünger. Die Gefühle, Motive, emotionalen Turbulenzen des „Verräters“ finden keine Erwähnung. Es ist zu vermuten, dass auch Judas gequält war von Enttäuschung. Er hatte sich seinen „Herrn und Meister“ wohl anders vorgestellt. Wie genau, kann rückblickend nur spekuliert werden. Vielleicht war ihm Jesus zu „fromm“, zu unentschlossen, zu wenig bereit zum Handeln. Vielleicht war Judas der Meinung, über das Reich Gottes wurde genug gepredigt, jetzt muss es aber auch realisiert werden! Jedenfalls ist seine Beziehung zu Jesus an seiner Enttäuschung über ihm zu Bruch gegangen. Und zwar so, dass Judas sich nicht „im Guten“ von Jesus trennen kann. Im Verrat bleibt er an ihn gebunden: Es ist sein aus der Enttäuschung quellender Hass auf Jesus, der verhindert, dass Judas frei wird.

Dies ahnt der „im Geist erregte“ Jesus: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer von Euch wird mich verraten.“ Jetzt ist es ausgesprochen! Und alle sind verunsichert: Es wurde ihnen „bange“. Na klar – Misstrauen keimt auf: Er sagt einer von uns – aber wer jetzt genau? Einmal mehr ist es der pragmatische Petrus, der aus der Sprachlosigkeit heraus findet. Nicht so, dass er selbst mit einer klärenden Frage auf Lösung dringt, sondern er versucht über Johannes, den „Jünger, den Jesus lieb hatte“, Klarheit zu bekommen. Dies gelingt bedingt: „Der ist’s, dem ich den Bissen eintauche und gebe.“

Die Benennung des Verräters geschieht in der höchsten Intimität des gemeinsamen Mahles. Das ist an Grausamkeit schier nicht mehr zu überbieten. Hier kippt die leidenschaftliche Jüngerschaft. „Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn.“ Es ist keine aktive Entscheidung: Judas ist der „Leidtragende“. Er stellt sich, seinen Willen, seine Überzeugungen dem Satan zur Verfügung. Jesus spürt dies: Der Bogen ist maximal gespannt. Es ist kaum mehr auszuhalten, auch nicht für Jesus. „Was du tust, das tue bald!“ Auf dass es vorbei ist. Die Jünger kapieren nichts. Versuchen Erklärungen aus der Welt des Alltäglichen. Auch Judas erträgt die Spannung nicht länger: „Als er nun den Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus. Und es war Nacht.“

Hier ist es nicht die „dunkle Nacht der Seele“ (Johannes vom Kreuz) – es ist die dunkle Nacht des Selbstverrates. Judas verrät sich nämlich in der Tiefe selbst. Er verrät seine eigene Liebes-Beziehung zu Jesus, indem er ihn „ausliefert“ – und zwar an seinen eigenen Hass. Die Liebes-Beziehung ist zerbrochen. Damit verrät Judas alles, woran er bis dahin geglaubt hatte, was ihm wertvoll erschienen war.

Das deutsche Verb „verraten“ (griechisch „paradidomi“, lateinisch „tradere“, vgl. „Tradition“) schillert: Ich verrate jemandem (Dativ!) ein Geheimnis im Sinne von „ich ziehe ihn ins Vertrauen“ – oder eben ich „verrate“ jemanden (Akkusativ!), führe ihn ins Verderben. Und in der kabbalistischen Mystik wird die „Nähe“ der Schlange, Symbol des Satans, zum Messias betont: Beide, Schlange (nachasch) und Messias (maschiach) haben denselben Zahlenwert. Der Kabbala zufolge bedeutet dies, dass es beide Male um Erlösung geht. Der radikale Unterschied ist: Während die Erlösung durch den Messias eine „zu erleidende“ ist, ist die Erlösung der Schlange eine „zu machende“. Es ist der homo faber, der mit der Schlange im Bunde ist. Es ist der „Macher“, der sich von dem „Ihr werdet sein wie Gott“ verführen lässt. „Tu’s einfach“, flüstert der Satan. „Sei doch nicht so dumm! So eine Gelegenheit bekommst du nie wieder!“ Es ist das „Tun“ des ungehemmten Triebes. Dies kann der sexuelle Übergriff (Stichwort: „Missbrauch“) sein. Es kann die körperliche Züchtigung, die Ausübung körperlicher Gewalt sein. In jedem Falle gibt es kein „An-sich-Halten“ mehr. Die Triebnatur des Menschen bricht durch. Die Geschichte des Christentums ist auch die Geschichte einer unheilvollen Unterdrückung der menschlichen Triebe mit der logischen Folge zerstörerischer Triebdurchbrüche. Oder, einfacher formuliert: Es ist auch die Geschichte der Entmischung von Liebe und Hass!

Als Judas von Jesus das in den Wein eingetauchte Brot erhält, „fuhr der Satan in ihn.“ Nicht länger wollte er der Empfangende sein. Nicht länger wollte er „gefüttert“ werden. Er wollte im wahrsten Sinne des Wortes „mündig“ sein. Es gibt Babys, die statt von der Brust zu trinken in die Brustwarze beißen. Dies ist in der Regel der Ausdruck von: „Ich bin jetzt groß genug, ich möchte nicht länger gestillt werden, ich kann selber beißen“. Wenn dies als Aggression und Undankbarkeit fehl gedeutet wird, entsteht der Glaube, sich die Welt anzueignen, mündig und autonom zu werden, ist böse. Dies schürt Hass. Und Hass verhindert Abschied. Hass macht Trennung „im Guten“ unmöglich. Im Hass bleibt der Mensch gebunden an den Anderen. Die „Pseudotrennung“ im Hass ist der Verrat. Im Verrat übt der Verräter Rache an dem, was ihm seiner Meinung nach angetan worden ist. In Wahrheit wurde ihm nichts angetan, sondern er hat sich freiwillig auf eine Beziehung eingelassen, die ihn immer mehr enttäuschte. Lange Zeit wollte er sich seine Enttäuschung darüber nicht eingestehen, stattdessen hoffte er, dass der Andere schon noch im Sinne seiner eigenen Erwartungen sich verändern würde. Das Milieu des Verrates ist also eine Abhängigkeitsbeziehung. Aus Abhängigkeit kann weiterer Hass auf die Abhängigkeitsgefühle selbst quellen: „Ich hasse dich dafür, dass ich mich von dir derart abhängig fühle!“

In wechselseitiger Freiheit ist Verrat unnötig. Wechselseitige Freiheit und gegenseitige Freigabe ist das Milieu, in dem Liebe wächst. Wenige Verse nach der Geschichte des Verrates durch Judas heißt es: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe …“ (V. 34a) Dies ist Beziehung in Freiheit. Während Liebe loslässt und auf die Macht der Kontrolle verzichtet, klebt Hass fest. Es fehlt die seelische Kapazität, die Freiheit des Anderen mitzutragen. Dazu bedarf es die Bereitschaft, liebevoll und vertrauensvoll dem Anderen gegenüber zu stehen. Für den johanneischen Christus ist das das Kennzeichen von Kirche: „Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.“ (V. 35) Das „Untereinander-Liebe-Haben“ möge denen ihre Identität geben, die sich „Jünger Jesu“ nennen! Die Geschichte der christlichen Kirche(n) lehrt, wie schwierig, ja vielleicht unmöglich es ist, auf dem Boden gegenseitiger Liebe die Identität einer Gruppe zu gründen. Viel einfacher ist es, auf dem Boden kontrollierender Macht Identität zu stiften. Gegenseitige Liebe verzichtet auf Kontrolle. Sie führt in die Freiheit demokratisch-wertschätzenden Miteinanders. Sie anerkennt die Verschiedenheit des Anderen und nimmt sich zurück. Sich selbst, die eigenen Impulse nach Gleichschaltung des Anderen zu hemmen, ist eine Fähigkeit, die nur über das Erlernen von Liebe erlangt werden kann. Einer Liebe, die in geschwisterlicher Eintracht lebt mit Freiheit und Wahrheit. Wie schön wäre es, Jesu Jünger daran zu erkennen, dass sie untereinander Liebe üben, die Unerkennbarkeit der Wahrheit gemeinsam anerkennen und so sich gegenseitig voller Vertrauen in Freiheit begegnen. Ich weiß, das klingt nach einem Traum. Ebenso wie die Vorstellung, dass Judas letztlich doch den Weg ins Paradies findet. Dieser wahrlich revolutionäre „Traumgedanke“ ist übrigens in einem romanischen Kapitell in Vézelay in Stein gehauen! Das wäre ein anderer Aspekt von „dunkler Nacht“: In ihr keimt eine neue, sogar grausamen Verrat tragende und ertragende Barmherzigkeit, die auf jene „andere“ Welt verweist, die ab und an mit ihrem „dunklen Strahl“ in diese unsere „blendende“ Welt hineinleuchtet. Wer die Geduld aufbringt, seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, wird ihn immer häufiger wahrnehmen können. AMEN.

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Predigtgedanken zum 3. Sonntag nach Epiphanias 2021

Liebe Gemeinde,

die christliche Botschaft macht nicht vor Volks- und Landesgrenzen Halt. Sie gilt ausnahmslos allen Menschen. Darum geht es an diesem dritten Sonntag nach Epiphanias. Gottes Liebe gilt einem römischen Hauptmann genauso wie einer Ruth. Sie ist eine gebürtige Moabiterin und wird durch ihre Treue zu ihrer jüdischen Schwiegermutter und zu deren Glauben zur Urgroßmutter Davids. Würden wir heute einen Präsenzgottesdienst feiern, hörten Sie eine Predigt über diese Geschichte. Im Rahmen dieses verkürzten Online-Gottesdienstes ist dies leider nicht möglich. Stattdessen ein paar Gedanken zur christlichen Botschaft als solcher.

Noch einmal: Die christliche Botschaft von der universalen Liebe Gottes kennt keine Grenzen: Sie gilt Männern wie Frauen, auch Diversen, sie gilt Einwohnern aller fünf Kontinente, sie gilt Bürgern aller Staaten.

Dem entspricht der Wochenspruch für den heutigen Sonntag: „Und es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes.“ (Lukas 13, 29)

Weggelassen ist freilich der Vers, der unmittelbar vor diesem 29. Vers steht: „Da wird sein Heulen und Zähneklappern, wenn ihr sehen werdet Abraham, Isaak und Jakob und alle Propheten im Reich Gottes, euch aber hinausgestoßen.“

Also doch Grenzen. Herbe Grenzen: Grenzen, die durch Exkommunikation gekennzeichnet sind. „Mit euch will Gott nichts zu tun haben!“

Wen Jesus und oder Lukas damit meinen, ist nicht wirklich klar. Sie werden einfach „Übeltäter“ genannt – wörtlich „Ungerechte“. Aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass es solche sind, die Geld in ungerechter Weise anhäufen.

Ich erspare mir und Ihnen Analogien zur Gegenwart.

Es ist auch ein Teil christlicher Verkündigung, Unangenehmes einfach weg zu lassen.

Es ist doch viel schöner, viel harmonischer, viel angenehmer, von der grenzenlosen Liebe Gottes zu predigen. Eine Liebe, die sogar stärker ist als der Tod.

Nur: Alles, was wir weglassen, übergehen, ignorieren, das verschwindet dadurch nicht. Es wandert in den Untergrund. Dort gärt es.

Und so entsteht ein doppelter Boden: Es gibt die wunderschöne Oberfläche, auf der ist alles Hochglanz poliert, und es gibt den muffigen Keller, in dem die Leichen sich stapeln. Die Geschichte des Christentums ist auch eine blutige! Ist auch eine Geschichte der Ignoranz und der Verleugnung des Grausamen – bis in die Gegenwart hinein. Stichwort: Missbrauch!

Religion hat es in der Tiefe nicht mit Fragen der Moral, mit Fragen nach richtigem oder falschem Leben zu tun. Religion hat mit Sein zu tun. Mit Mensch-Sein, mit Tier-Sein, mit Pflanze-Sein, mit Geschöpf-Sein.

Religion hat – vor aller Moral – mit Leben und mit Lebendig-Sein zu tun.

Der Hauptmann von Kapernaum betet und bittet um die Gesundheit seines Knechtes, „der ihm lieb und wert war“ (Lukas 7, 2b). Der Knecht ist ein Diener. Im Griechischen wird er „doulos“ genannt: Das meint eigentlich den Sklaven, den Leibeigenen. Nun ist spannend, dass in dem Satz: „Sprich nur ein Wort und mein Diener wird gesund“ das Wort für Diener “pais“ heißt. Pais aber bedeutet „Kind“. (Sie kennen das Wort im Deutschen zum Beispiel von „Pädagogik“ – wörtlich: Die Lehre vom Führen/Erziehen von Kindern!)

In der Liturgie der katholischen Kirche wird dieses Wort an der intimsten Stelle der Messe gesprochen: In der Eucharistiefeier, während der Konsekration also des Sich-Wandelns von Brot und Wein in Leib und Blut Christi, sprechen die Gläubigen kniend: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach; aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“

Aus dem Knecht, aus dem Kind ist die Seele geworden. Sie ist von mir, von meinem bewussten und rationalen Ich gerade so abhängig, wie ein Kind von seinen Eltern, wie ein Knecht von seinem Herrn!

Und was ist eine gesunde Seele?

Es ist wie bei Kindern: Ein gesundes Kind ist ein Kind, das ganz einfach Kind sein darf. Das von seinen Eltern und Erziehern nicht dafür verwendet wird, deren unerfüllte Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen.

Sprich nur ein Wort…“ sagt der römische Hauptmann.

Eine gesunde Seele ist eine Seele, die gehört wird. Mit der gesprochen wird.

Sprich nur ein Wort …“ heißt: Ich gebe dir Anteil an etwas sehr Tiefem in mir. Das riskiere ich, weil ich dir vertraue. Ich traue darauf, dass du mich hören wirst. Und zwar so, dass du mich nicht beurteilst. Und schon gar nicht verurteilst. Du hörst mich ohne deine Vorurteile an. Und ohne mir als erstes zu sagen, was ich alles falsch mache und dass ich mich ändern muss. Und dass du das ja schon immer gewusst hast.

Dieses nicht beurteilende Gehört- und Gesehen-Werden ist nahrhaft. Gleichermaßen für Kinder wie für die eigene Seele.

Warum aber sagt der Hauptmann als erstes: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach“ – und dann erst: „… aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund …“

Und was meint er mit: „Herr, ich bin nicht würdig …“

Damit erkennt er an, dass dieses Geschehen, dieses Gehört- und Gesehen-Werden sich nicht einfordern lässt. Es gibt keinen Anspruch, der lautet: „Du musst mich wahrnehmen!“

Den Anderen sehen, ihn wahrnehmen, ihm zuhören geschieht in radikaler Freiwilligkeit. Es lässt sich nicht verdienen: Das hat Martin Luther erkannt, das haben die Mystiker erkannt.

Das Himmelreich lässt sich nicht erarbeiten.

Es ist ein Geschenk.

Es ist ein Geschenk der Barmherzigkeit, der Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen.

Diese wird zwischen Menschen immer dann lebendig, wenn das Gefälle zwischen oben und unten aufgehoben ist. In wahrhafter Liebe schaut keiner auf den Anderen herab und auch keiner zu dem Anderen hinauf. Der Eine schaut dem Anderen in die Augen. Echte Liebe muss sich nicht verstecken: Sie gibt auch die Kraft, sich in die Augen schauen zu lassen. So entsteht die Schönheit des gemeinsamen „Augen-Blickes“.

In einem liebevollen Augen-Blick nehmen sich Menschen wechselseitig wahr.

Und so nehmen sie Rücksicht aufeinander. Die Fähigkeit zu Rück-Sicht bedingt die Fähigkeit, den Anderen zu sehen, ihn als Anderen, als Nicht-Ich, als Fremden wahrzunehmen. Im Hebräischen heißt „erkennen“ oder „wahrnehmen“ auch „lieben“. Es ist ein und dasselbe Wort.

Und das deutsche Wort „Rücksicht“ ins Lateinische übersetzt bedeutet: „Respekt“!

Eine gleichwertige Beziehung ist gekennzeichnet von Respekt.

Und es ist Ausdruck wahrer Menschlichkeit, diesen Respekt, diese Rücksicht auch dann nicht zu verlieren, wenn mich jemand respektlos behandelt. Es ist Ausdruck von Kraft, Stärke und Souveränität, die eigenen naheliegenden Impulse, sich zu rächen, nicht auszuleben sondern bei sich zu behalten.

Dazu bedarf es einer Kraft außerhalb meiner. Mit ihr mich zu verbünden und immer tiefer zu verbinden – das ist mein alltäglicher Gottesdienst. In diesem Sinne bin ich gerne ein Knecht, ein Kind, ein Diener: der Barmherzigkeit, der Zugewandtheit, der Liebe Gottes. AMEN.

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Gebet im Advent 2020

Adventlicher Gott,

viermal müssen wir noch schlafen, dann kommst du in unsere Welt.

Willst wieder einmal Mensch werden, einer von uns.

Hoffentlich hast du dir das auch gut überlegt, lieber Gott!

Bei uns Menschen geht es nämlich drunter und drüber,

wir wollen immer mehr

und immer schneller und weiter

und für dich und deine Menschlichkeit

für deine Bescheidenheit und Ruhe ist da wenig Platz.

Und falls man dich überhaupt wahrnimmt:

bitte gehe nicht davon aus, dass du willkommen geheißen wirst:

vielleicht ganz kurz, an Heilig Abend,

vielleicht sogar mit Weihnachtsfrieden

aber dann geht es weiter, die nächsten Termine warten schon… und die nächsten Streitereien und die nächsten Krisen.

Adventlicher Gott,

wir bitten dich: lass dich nicht abschrecken

wir vertrauen deiner Menschlichkeit,

gerade da, wo unsere Menschlichkeit zu wünschen übrig lässt,

wir vertrauen deiner Kraft, unsere Unmenschlichkeit zu ertragen,

zu verwandeln

in eine Liebe, die stärker ist als unser Hass und unser Neid und unsere Missgunst.

Adventlicher Gott,

öffne unsere Herzen,

weite die Türen unserer Seele,

bleibe wohnen in unserer Seele, AMEN.

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Predigt am 4. Advent 2020 über „Das Lachen der Sarah“ (1. Mose 18)

Liebe Gemeinde,

„…es ist wirklich zum Lachen!“

„Das glaube ich nie und nimmer…“

„Das ist völlig unmöglich…“

Genau darum geht es heute!

Worum es nicht geht: Es geht nicht um Quer denken, Verharmlosen und dadurch den angestauten Hass auf Regeln, Gebote, Autoritäten, „den Staat“ auszuleben.

Die frohe Botschaft lautet nicht, dass wir (Christen) mit einem Gott im Bunde sind, der die Naturgesetze willkürlich aushebelt. Wenn es in unserem zu predigenden Test heißt: „Sollte Gott etwas unmöglich sein?“ ist große Vorsicht geboten.

Wir Menschen sind nicht Gott! Und wir werden nicht Gott. Und das ist gut so.

Die Bewegung ist umgekehrt: „Gott wird Mensch!“

Die frohe Botschaft ist die Menschlichkeit Gottes – nicht die Göttlichkeit des Menschen! Die frohe und überraschende Botschaft ist: Es gibt einen Weg, der in wahrhafte Menschlichkeit führt: Es ist der Weg der Einfühlung in sich selbst und in den Anderen. Es ist der Weg des Verständnisses, gerade für das Schwache, Hilfsbedürftige. Auch diese Seite an sich selbst zu bejahen, sie zu sich zu nehmen und nicht länger draußen zu bekämpfen: dies ist der Weg einer heilsamen Menschlichkeit.

Kurzum: Es ist der Weg der Liebe, zu sich selbst und zum jeweils Anderen, mit dem ich gerade zu tun habe.

„Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch! Der Herr ist nahe!“ heißt es im Wochenspruch zum 4. Advent (Phil. 4, 4.5b)

In dem Herrn – in Gott sich freuen – das ist etwas völlig anderes, als sich an der Stelle Gottes zu freuen.

Auf sich selbst gestellt,auf eigenen Beinen stehend und gerade so mit Gott im Bunde – Das ist die frohe Botschaft!

Und was heißt das: „Mit Gott im Bunde“?

Ich habe heute eine alte Geschichte zu predigen, in deren Mittelpunkt steht, dass sich jemand darüber lustig macht, was Gott ihm verheißt.

Die Geschichte steht in der Reihe der Ankündigungen der Geburt von etwas Neuem. Dem patriarchalischen Denken der Zeit entsprechend ist dieses „Neue“ der „Sohn“. Höhepunkt dieser Sohnes-Ankündigungen ist das vorhin gehörte Evangelium: Die Ankündigung der Geburt Jesu.

In unserem Predigttext handelt es sich um die Ankündigung eines anderen bedeutsamen Sohnes: Es geht um die Geburt Isaaks. Seine Eltern – Sarah und Abraham – waren nach unseren Maßstäben gemessen bereits im Greisenalter: Sarah ging auf neunzig zu – Abraham war 99.

Sie merken schon – wenn man diese Geschichte wörtlich – konkretistisch – nimmt, kann dabei nur Schwachsinn herauskommen.

Aber jetzt lese ich Ihnen die Geschichte erst einmal vor:

Und der Herr erschien ihm (Abraham) im Hain Mamre, während er an der Tür seines Zeltes saß, als der Tag am heißesten war. Und als er seine Augen aufhob und sah, siehe, da standen drei Männer vor ihm. …

Da sprachen sie zu ihm: Wo ist Sara, deine Frau? Er antwortete: Drinnen im Zelt. Da sprach er: Ich will wieder zu dir kommen übers Jahr; siehe, dann soll Sara, deine Frau, einen Sohn haben. Das hörte Sara hinter ihm, hinter der Tür des Zeltes. Und sie waren beide, Abraham und Sara, alt und hochbetagt, sodass es Sara nicht mehr ging nach der Frauen Weise. Darum lachte sie bei sich selbst und sprach: Nun, da ich alt bin, soll ich noch Liebeslust erfahren, und auch mein Herr ist alt!

Da sprach der Herr zu Abraham: Warum lacht Sara und spricht: Sollte ich wirklich noch gebären, nun, da ich alt bin? Sollte dem Herrn etwas unmöglich sein? Um diese Zeit will ich wieder zu dir kommen übers Jahr; dann soll Sara einen Sohn haben. Da leugnete Sara und sprach: Ich habe nicht gelacht –, denn sie fürchtete sich. Aber er sprach: Es ist nicht so, du hast gelacht.“

Unsere Geschichte beginnt mit einer merkwürdigen Einleitung:

Der Herr erschien Abraham … als der Tag am heißesten war.“

Abraham ist in der jüdischen Mystik verbunden mit der Ziffer 1. Mit ihm beginnt alles, er ist der erste der drei Erzväter. Und seine Name beginnt mit dem ersten Buchstaben des Hebräischen Alphabets, dem Alef. Sein zweiter Buchstabe ist das Beth. Es ist die Eins, die die zwei in sich trägt. Die Eins geht mit der Zwei, dem Anderen, dem Sohn schwanger. Im Hebräischen heißt Sohn „ben“ – beginnend mit Beth – eben der Zwei.

Abraham gehört zum ersten Tag der Woche, dem Sonntag. Und damit gehört er zur Sonne, deren astrologische Bedeutung: „Ich bin da“ ist. Es ist das Ego, das sich in seinem Dasein selbst genügt – um das alles andere kreist. Und so beginnt die Geschichte damit, dass die Sonne am höchsten steht, wo es am heißesten ist. Das ist auch die Zeit, wo sich etwas „wendet“. Wenn die Sonne am höchsten steht, beginnt ihr „Niedergang“. Es ist eine Wendezeit. So wie gerade eben – Weihnachten ist auch das Fest der Wintersonnenwende.

Wende heißt: So kann und wird es nicht weiter gehen. Es kommt etwas Anderes dazu. Dieses Andere ist die Zwei.

Abraham, die Eins, steht für die rechte Seite, für das Yang.

Isaak repräsentiert die linke Seite, die Zwei, das Yin. Im Zusammenspiel, im Zusammenklang von eins und zwei, von Yang und Yin geschieht Ganzheit.

Ganzheit im Sinne von „aus einem Guss“.

Nur die „ganze“ Glocke klingt und schwingt. Es gibt viele Weihnachtslieder, die vom Klingen der Glocken handeln. Das wird jetzt verständlich.

Die linke Seite ist die weibliche Seite, die Wasserseite, die passive Seite. Es ist der Mond, der beleuchtet wird. Wenn Sie im Alten Testament nachlesen, werden Sie merken, dass die Isaak-Geschichten allesamt Wassergeschichten sind. Unmittelbar nach seiner Geburt streitet Abraham mit Abimelech über die Brunnen (Gen. 26, 16-33) Und als Isaak seiner Frau Rebekka zum ersten Mal begegnet, kommt er vom Brunnen (Gen 24,62) Ansonsten bleibt Isaak merkwürdig passiv – bis dahin, dass er bereit ist, sich ohne Aufbegehren opfern lässt.

Sarah ist die einzige Frau, die in unserer Geschichte auftaucht. Auch sie bleibt passiv. Abraham und die „drei Männer“ sind die Aktiven. Ich verstehe im übrigen jede Frau, die sich über solche Geschichten ärgert. Der Platz der Sarah ist im Zelt, die Männer verfügen über sie. In einer anderen Version unserer Geschichte heißt es, ihre Aufgabe sei es, die Männer zu bewirten – und ansonsten ihre Klappe zu halten. Ist es da ein Wunder, dass sie sich lustig macht? Wenn man so radikal ohnmächtig ist, wenn man so radikal zu Passivität verdammt ist – dann ist „Sich lustig machen“ eine Art Not- Ventil. Ein naheliegendes Ventil, um ein wenig von dem Ärger und der Wut abzulassen. Dass Sarah dieser Ventil benötigt, wird noch nachvollziehbarer, wenn man sich die Mühe macht, sich in Sarah einzufühlen.

Für eine Frau, die sich dringend ein Kind wünscht, ist es häufig tief beschämend, wenn dieser Wunsch nicht in Erfüllung gegangen ist. Die einzige und beste Lösung, die ihr dann bleibt, ist, sich damit abzufinden. „Gras über diese Schmach wachsen zu lassen.“

Und dann kommt ein Kamel daher, das die Grasnarbe wieder weg frisst. Dieses Kamel ist in unserer Geschichte kein anderer als – Gott selbst. Er reißt die alte Wunde von Sarah wieder auf. Und Sarah wehrt sich, in dem sie sich über die Ankündigung ihrer bevorstehenden Schwangerschaft lustig macht. Sie ist belustigt über diese Schnapsidee, dass sie in ihrem hohen Alter noch ein Kind kriegen sollte. Und Gott, der Herr, fordert sie auf, zu ihrem Lachen zu stehen: „Doch – du hast gelacht!“

Mehr nicht. Kein beleidigter Gott verhängt eine Strafe. Alles, was Gott will, ist: Stehe zu dir selbst: „Doch du hast gelacht!“

Es gehört Mut dazu, zu sich selbst zu stehen. Viel einfacher ist es, im Geheimen sich über jemand/etwas lustig zu machen – und darauf angesprochen es zu verleugnen. Viel einfacher ist es, irgendwelche pseudo-rationalen Gründe vorzuschieben. Das sind die berühmten Ausreden … Wer kennt das nicht aus seiner Jugend: Beim heimlichen Rauchen oder Knutschen oder Spicken erwischt zu werden …

Die dahinter steckende Abwehr ist sehr einfach: Es geht um die Abwehr von Peinlichkeit. Von Schamgefühlen. Scham erleben zu müssen, fühlt sich vernichtend an. Die einzige (scheinbare) Rettung ist es zu verschwinden.

Ich möchte am liebsten im Boden versinken aus Scham!“

Der Vorteil dieser Flucht ist: Ich rette meine Seele vor der (phantasierten) Vernichtung. Ihr Nachteil ist: Ich kann keine neue Erfahrung machen, ich kann nichts Neues lernen.

Nun steht Scham in direkter Beziehung zu jenen inneren Stimmen in uns Menschen, die uns bewerten. Wenn ich mit meiner Predigt zufrieden bin, hat das damit zu tun, dass eine Stimme in mir sagt: „Gut gemacht!“ Das gilt natürlich auch umgekehrt. Und alles hängt davon ab, ob diese inneren Stimmen, die mich bewerten, mir wohlwollend („gnädig und barmherzig“) oder ungnädig und unbarmherzig zu mir sind. Luthers quälende Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ lautete: Wie bekomme ich in mir eine Instanz, vor der ich mich nicht so elendiglich schämen muss. Die mir wohlgesonnen ist. Luther hatte in seiner Vaterbeziehung viel Ungnade erlebt – verbunden mit einer schweigend-duldenden Mutter. Ich fürchte, die allermeisten Menschen, die sich für den Beruf des Priesters entscheiden, leiden an Problemen, die mit „sich ungenügend fühlen“ zu tun haben. Und es ist so peinlich, sich „ungenügend zu fühlen“. Wenn das die Anderen merken! Wenn das aufkommt! So lernt man, seine Fehler zu überspielen, so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre – und spürt doch in der Tiefe eine diffuse Angst, dass „es jederzeit zu einer Katastrophe kommen kann.“

Der Gott unserer Geschichte ist ein heilsamer Gott. Keine Moral, kein erhobener Zeigefinger, keine Androhung von Strafe. Nur: „Doch – du hast gelacht!“ Nicht einmal: Jetzt gib es doch endlich zu, dass du gelacht hast.

Das ist souveräne Führung. Ich nehme dich wahr und ich sage dir sehr nüchtern, was ich wahrnehme. Ohne vorwürflichen Unterton. Ohne diese Enttäuschungs-Gefühlsduselei: „Jetzt bin ich aber enttäuscht von dir. Ich dachte …“

Diese souveräne Führung ist nur möglich, wenn ich als „Führer“ völlig frei bleibe gegenüber den „Geführten“. Frei bleiben heißt – ich bin nicht darauf angewiesen, wie der Andere sich verhält, was er sagt oder tut.

(In Klammern: Sie können daraus im Umkehrschluss ableiten, wie unfrei jene Führer sein müssen, die Mauern bauen und meinen, das ihnen anvertraute Volk kontrollieren zu müssen!)

Liebe Gemeinde,

ich habe in meiner Einladung für den heutigen Gottesdienst ein Wort des islamischen Mystikers Rumi zitiert:

Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.“

An diesem Ort findet die lächerliche Verheißung der Geburt Isaaks statt. Isaak heißt übrigens wörtlich: „Es ist zu lächerlich, daran zu glauben!“

Dazu passt ein Satz aus dem Dao te King von Laotse:

Hört ein Unverständiger vom Dao, lacht er laut auf.“

Und er fügt hinzu: „Was wäre denn das für ein Dao, das Unverständige nicht verlachen!“

Steig doch herab vom Kreuz, du Gottes Sohn“ – so wird Jesus unmittelbar vor seinem Tod verlacht. Natürlich – das sind Gefühle der Genugtuung gegenüber einem, der den Mund zu voll genommen hatte.

Ich selbst kenne diese Gefühle, als Donald Trump abgewählt worden ist.

Das geschieht ihm recht!“

Sich lustig machen ist also die Gegenreaktion zu Überheblichkeit.

In der Überheblichkeit stelle ich mich über den Anderen, meine zu wissen, wie „es“ ist. Jede Deutung über den Anderen – das hast du ja nur deshalb getan, weil du … – ist so gesehen Ausdruck von Überheblichkeit. Ich – ,mein“ Ich – stellt sich über den Anderen. Deshalb haben Deutungen nur etwas im geschützten Kontext einer Psychotherapie zu tun. Sie sind das Skalpell des Therapeuten und seine Aufgabe ist es, damit verantwortungsvoll umzugehen. (Wie ein verantwortungsvoller Chirurg, der auch nicht „blind“ darauf los schneidet!)

Liebe Gemeinde,

äußerlich betrachtet ist Weihnachten nichts weiter als das Fest der Wintersonnenwende. Ganzheitlich-heilsam betrachtet ist Weihnachten das Fest der Menschlichkeit Gottes. Es ist das Ende des Entweder-Oder-Denkens, das Ende der Spaltungen in schwarz und weiß, falsch und richtig, gut und böse.

Jenseits von richtig und falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.“

Immer, wenn wir uns dort treffen, dann geschieht Weihnachten, AMEN.

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Predigt über 1. Thessalonicher 5, 1-10 (2020) – drittletzter Sonntag des Kirchenjahres

Liebe Gemeinde,

wie lange noch?“

Wer Kinder hat, kennt diese berühmt-berüchtigte Frage. Auf der Fahrt in den Urlaub, während einer Wanderung.

Ich kenne sie auch aus meiner Studienzeit. Man sitzt in einer Vorlesung und hat das Gefühl, die Zeit bleibt stehen.

Die Gefühle, die zu dieser Frage gehören, haben insbesondere mit Ungeduld, Langeweile, auch Ärger zu tun: „Es reicht jetzt langsam …“

Bei Kindern würde man sagen: Sie fangen an zu quengeln.

Wie lange noch?“ das ist auch eine Frage der beiden zentralen Texte dieses Sonntags. Im Evangelium fragen die Pharisäer: „Wann kommt das Reich Gottes?“

Jesu Antwort ist knapp: „Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier!, oder: Da!

Denn sehet: Das Reich Gottes ist mitten unter euch“ (Lukas 17, 20-21)

Inwendig in Euch“ übersetzt M. Luther – vielleicht in Anlehnung an Johannes Tauler, den er sehr verehrte.

Hinter der Frage: „Wie lange noch?“ „Oder wann kommt denn endlich…“ steckt freilich nicht nur Ungeduld, sondern auch Sehnsucht. Die Sehnsucht nach etwas „Neuem“. Auch nach Erneuerung. Endlich ankommen. Endlich ein neues Reich, in dem endlich, endlich Frieden und Gerechtigkeit herrschen.

Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen“, heißt es thematisch passend im heutigen Wochenspruch.

Die Erneuerung beginnt schon jetzt – und steht noch aus. In dieser Spannung leben wir alltäglich. Das Reich Gottes ist mitten unter euch – aber nicht so, dass wir seiner habhaft sind. Reich Gottes ist kein Besitz und lässt sich niemals besitzen.

Reich Gottes ist ein Geschehen – unverfügbar, völlig überraschend. Es kommt wie „ein Dieb in der Nacht“ sagt Paulus in unserem heutigen Predigttext.

Hören Sie selbst – es ist das letzte Kapitel des 1. Thessalonicherbriefes (5, 1-11)

„1Von den Zeiten aber und Stunden, Brüder und Schwestern, ist es nicht nötig, euch zu schreiben; 2denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. 3Wenn sie sagen: „Friede und Sicherheit“, dann überfällt sie schnell das Verderben wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entrinnen.

4Ihr aber seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme. 5Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. 6So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein. 7Denn die da schlafen, die schlafen des Nachts, und die da betrunken sind, die sind des Nachts betrunken. 8Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil.

9Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, die Seligkeit zu besitzen durch unsern Herrn Jesus Christus, 10 der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben. 11Darum tröstet euch untereinander und einer erbaue den andern, wie ihr auch tut.“

Kennen Sie das: Man wartet und wartet auf etwas hin: Ein ersehnter Anruf, ein ersehntes Ereignis – und die Zeit dehnt sich schier unendlich. Und auf einmal – meist dann, wenn man aufgehört hat zu warten, ist es da. Paulus vergleicht dieses „auf einmal mit dem Einsetzen von Geburtswehen, denen man nicht mehr „entrinnen“ kann. „Wenn sie sagen ‚Frieden und Sicherheit‘, dann überfällt sie schnell das Verderben wie die Wehen eine schwangere Frau …“ (V. 3)

Mit diesem Gedanken beginnt eine wertende Dualität, die sich im weiteren Verlauf unseres Textes fortsetzt: Die „Finsternis“ ist „böse“, in ihr kommt der Dieb, der einen überfällt. Der Tag hingegen, Symbol des Lichtes, ist „gut“. Zur Nacht gehört für Paulus schlafen und betrunken sein. Der Gegenpol ist „wachen“ und „nüchtern“ sein. Und natürlich gehören die, denen er den Brief schreibt, zu den „Guten“. „Ihr alle seid Kinder des Lichtes und des Tages.“ Wir sind nicht wie die Anderen, die von „der Nacht und von der Finsternis“ sind. Diese Gedanken sind Ausdruck eines sehr einfachen, polarisierenden Denken, das auf der Grundlage von Gut-Böse-Spaltungen funktioniert. Es hat aktuell große Popularität und ist deshalb so gefährlich, weil es versucht, demokratische Grundwerte zu zerstören. Demokratisches Denken beruht nämlich auf der Einsicht, dass „die absolute Wahrheit“ unerkennbar ist. Sie ist genauso wenig zu besitzen, sie lässt sich genauso wenig „haben“, wie das „Reich Gottes.“

In wirklichem spirituellen Denken geht es nicht um Polarisierung – sondern um Versöhnung. Versöhnung bedingt aber, Verbindungen zu sehen, auf Zusammenhänge hinzuweisen. Ohne die Nacht gibt es keinen Tag und umgekehrt. Und schlafen ist die andere Seite des Wach-Seins und umgekehrt. Und – spannend: In der jüdischen Spiritualität, der Kabbala, heißt es unter Berufung auf Genesis 1, 5: Der Tag beginnt am Abend. (In der Schöpfungsgeschichte heißt es wörtlich: „So ward aus Abend und Morgen der erste Tag.“) Der Tag ist dann die Ausformulierung oder das Sichtbar-Werden dessen, was in der Nacht des Unbewussten geschehen ist.

Und in der chinesischen Mystik gehören das weiße Yang und das schwarze Yin untrennbar zusammen. Dem weißen Yang werden die Eigenschaften: hell, hoch, hart, heiß, positiv, aktiv, bewegt, männlich zugeschrieben. Das schwarze Yin ist: dunkel, weich, feucht, kalt, negativ, passiv, ruhig, weiblich. Das Bild dazu ist einerseits die „Südseite von Tälern“ (Yang) und andererseits die „Nordseite eines Berges“. Sogar in der deutschen Sprache ist „der Tag“ männlich, „die Nacht“ weiblich. Uns S. Freud vergleicht „die Seele der Frau“ mit dem afrikanischen, dem „dunklen Kontinent“. Entscheidend bei allem ist: Yin und Yang, männlich und weiblich, Tag und Nacht sind einander ergänzende und aufeinander bezogene Bereiche – und genau nicht sich gegenseitig bekämpfende!

Es wird immer wieder darauf hingewiesen, wie sehr Amerika geprägt ist von evangelikalem Denken. Und leider bedient der rassistische Populist Trump die große Sehnsucht dieses Denkens, dass es nämlich nur eine einzige Wahrheit gibt, und dass er in dem Besitz dieser Wahrheit ist. Es gibt bei Paulus (und in allen – insbesondere – monotheistischen Religionen) diese Art des Denkens. Wir stoßen auf sie nicht nur in unserem Predigttext. Das Zentrum seiner Wertungen ist sein Auferstehungsdogma:

Ist Christus aber nicht auferweckt worden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich“ (1. Korinther 15, 14)

Die Wahrheit aber ist: Auch Leben und Sterben ergänzen einander!

Indem ich jetzt versuche, die Gedanken des Paulus von ihrem Absolutheitsanspruch zu befreien, werden sie viel milder.

… wir wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil.“

Dagegen habe ich keine Einwände, auch wenn ich nicht verstehe, weshalb Glaube, Liebe und Hoffnung einen „Panzer“ benötigen. Für mich ist es eher so: Wenn Glaube, Liebe und Hoffnung inwendig in dir leben, so werden sie auch aus dir heraus leuchten. Und dies werden deine Mitmenschen spüren. Glaube, Liebe und Hoffnung sind wesentliche Bausteine, mit denen das Reich Gottes aufgebaut wird. Und: Sie gehören niemandem exklusiv, auch keiner Religion. Indem ich mich freue, dass auch andere Menschen (Religionen) eben diese Baustein verwenden, erübrigt sich Hass, Neid, Gier und Missgunst. Und dann kann ich Paulus wieder sehr zustimmen, wenn er schreibt: „Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn …“

Und wozu sind wir von Gott her bestimmt?

„ … dazu, die Seligkeit zu besitzen durch unsern Herrn Jesus Christus, 10 der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben.“

Man könnte auch – weniger Besitz ergreifend – satt „die Seligkeit zu besitzen…“ übersetzen : „ … das Heil zu erlangen …“

Ich verbinde „Heil“ mit Ganz-Werden. An die Stelle, wo Verbindungen abgeschnitten worden sind, darf wieder etwas zusammen wachsen. Es entstehen neue, eben heilsame Verbindungen. Ich weiß nicht, wie bewusst das Paulus gewesen ist: Aber in seinem Schlussgedanken: „damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben…“ verlässt er auf einmal die Polarisierung von wachen und schlafen. In der heilsamen Gegenwart „unseres Herrn Jesus Christus“ ist es egal, ob wir wachen oder schlafen … !

Von daher möchte ich den Schlussgedanken so verstehen: Jeder Mensch ist dazu berufen, sich auf den Weg des eigenen Ganz-Werdens zu machen. Dies ist ein unendlicher Weg, der jedenfalls bis zur Todesstunde zu gehen ist. Ganz-Werden bedeutet, sich die Ganzheit dessen, was „in einem drin ist“ anzueignen. Und mit den Waffen von Glaube, Hoffnung und Liebe sich nicht von diesem Weg abbringen zu lassen. Wir sind nämlich so erschaffen, dass in uns stets auch die Gegenkräfte sind, die uns von diesem Weg zu unserem Heil-Sein abbringen wollen.

Als Kompass für diesen Weg können uns unsere Nacht-Träume helfen und dienen. Sie sind gleichsam Leuchttürme in der Dunkelheit der Nacht. An ihnen entlang können wir uns orientieren – vorausgesetzt wir haben die Kraft und die Bereitschaft, sie ernst zu nehmen und verstehen zu lernen. Dann nämlich werden unsere Träume zu Brücken, die die Nacht mit dem Tag, die Unbewusstes mit Bewusstem, die Gefühle mit Verstand verbinden. Je stärker diese Verbindungen werden, desto kräftiger wird das Reich Gottes in diese Welt hinein leuchten. Von dem Jesus sagt: Es ist schon da:

Das Reich Gottes ist mitten unter euch!“ AMEN.

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Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis 2020 über Markus 2, 23-28

Liebe Gemeinde,

„mich verlangt nach deinen Geboten“, betet der Psalmbeter in Psalm 119, den für diesen Sonntag vorgesehenen Psalm. Das Wort „Gebot“ gehört zu der Wortgruppe von „bieten“. „Bieten“ aber bedeutet ursprünglich: „Erwachen, bemerken, geistig rege sein, aufmerksam machen, warnen, gebieten“. Dahinter steht die Erfahrung, dass Leben in einer Welt ohne Gebote lebensgefährlich ist. Ohne Gebote gibt es keine Ordnung, an ihrer Stelle herrscht Willkür. Aktuell gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens darüber, dass die sogenannten AHA-Regeln (Abstand halten, Hygieneregeln einhalten, Alltagsmasken tragen) gute Gebote sind, die eine weitere Verbreitung des Corona-Virus eindämmen. Und natürlich gibt es Stimmen, den Nutzen dieser Gebote in Frage stellen. So bezweifelt der Christ und Arzt Dr. Bodo Steinmann nicht nur den Nutzen der Mundschutzmasken, sondern er hält sie sogar für gesundheitsschädigend.

Einmal mehr wird deutlich, wie schwer wir uns Menschen damit tun, überhaupt irgend etwas mit Sicherheit zu erkennen. Die letzte Instanz ist nicht das Wissen, sondern der Glaube, das Vertrauen in … etwas.
Aber: Was kann man (noch) glauben?

Nur leider gibt es kein göttliches Wort zum Schutz vor Corona. Es gibt auch kein göttliches Wort zu Grippeimpfung, zur Wirksamkeit von Homöopahtie und/oder Schulmedizin usw.

Fromme Juden haben in Zeiten von Seuchen Heilige Bücher durch das Dorf getragen. Sie glaubten, das werde der Seuche Einhalt gebieten.
Unser naturwissenschaftlicher Verstand kann darüber nur lächeln. Unserem naturwissenschaftlichen Verstand verdanken wir die Ausrottung vieler Seuchen und Krankheiten – insbesondere seit der Erfindung der Schutzimpfungen. Der Erfolg der Naturwissenschaften hat auch Umweltzerstörung zur Folge. Ohne unsere modernen technischen Erfindungen und deren weltweite Verwendung gäbe es die gefährliche Erderwärmung, den sogenannten Klimawandel, nicht.

War es also nicht gut, dass sich unser menschliches Gehirn derartig entwickelt hat, dass wir die Kernspaltung erfanden, den Benzinmotor, das Fliegen usw.?

Naturwissenschaft fragt nicht nach gut oder böse. Und das völlig zurecht. In der Naturwissenschaft geht es ausschließlich um falsch oder richtig. Richtig ist, was „funktioniert“. Und funktionieren tut, was ganz offensichtlich den Gesetzen oder Geboten der Natur entspricht. Ob die Folgen von „richtigen“ Erfindungen gutartig oder bösartig sind – hängt ausschließlich von ihrer VERWENDUNG ab. Alles auf dieser Welt lässt sich für Lebendigkeit und Entwicklung verwenden. Und alles auf dieser Welt lässt sich für Zerstörung verwenden!

(In Klammern: Nach dem Gottesdienst kam eine Jugendliche auf mich zu und sagte mit bösem Blick: „Sie predigen rassistisch!“ Ich war fassungslos. „Wie bitte?“ „Sie verbinden das Schwarze mit dem Bösen. Der schwarze Wolf ist ein böser Wolf!“ Mir blieb die Sprache weg. Ich fragte sie, ob sie nicht den Zusammenhang der Geschichte mit den anderen Gedanken sehen würde. Dass es mir um das Nicht-absolut-Setzen einer Seite ging. Sie wiederholte, dass ich rassistisch predigen würde. Diese junge Frau verwendete offenbar alles, was sie gehört hatte, dafür, sich in ihrem Vorurteil zu bestätigen, dass ich rassistisch predigen würde. Und sie machte das daran fest, dass in der Geschichte ein schwarzer Wolf Träger von Eigenschaften ist, die zu uns Menschen nun einmal dazu gehören. Auch wenn sie nicht sehr schöne sind. Sie war nicht in der Lage zu verstehen, dass die BEDEUTUNG des Wortes „schwarzer Wolf“ in der Geschichte nicht das Geringste mit einer Diskriminierung dunkelhäutiger Mitmenschen zu tun hatte. So leicht entsteht „Miss-Kommunikation“, auch in einer Predigt, die versuchte, darüber zu reflektieren.)

Wir Menschen sind aufgespannt zwischen unserer Fähigkeit zu lieben oder zu hassen. Jeden Moment haben wir die Möglichkeit, uns unserem Hass zuzuwenden – oder eben nicht.

Dazu eine Geschichte: (Cherokee: indogenes Volk in Nordamerika)

„Eine Gruppe Cherokee-Kinder hat sich um den Großvater versammelt. Sie sind ganz aufgeregt, denn an diesem Tag hatte es einen ziemlich tumultartigen Streit zwischen zwei Erwachsenen gegeben und der Großvater war als Streitschlichter dazu gerufen worden.
Die Kinder sind neugierig, was der Großvater darüber zu erzählen hat. Eins von ihnen fragt: „Großvater, warum streiten Menschen?“
Der Großvater antwortet
Der Großvater antwortet „Nun, wir haben alle zwei Wölfe in unserer Brust. Und diese zwei Wölfe streiten fortwährend miteinander.“ Die Augen der Kinder werden ganz groß. „Auch in unserer Brust, Großvater?“, „Ja, auch in eurer Brust.“ „Und auch in deiner Brust?“ Er nickt, „ja, auch in meiner Brust.“ Jetzt hat er ihre volle Aufmerksamkeit.
Der Großvater erzählt weiter. “Es gibt einen weißen und einen schwarzen Wolf. Der schwarze Wolf ist voller Angst, Ärger, Neid, Eifersucht, Selbstmitleid, Lüge, Groll, falscher Stolz, Gier, Arroganz und Hass. Er steht für all das Dunkle in uns. Der weiße Wolf ist voller Frieden, Liebe, Hoffnung, Demut, Mitgefühl, Gerechtigkeit, Güte, Großzügigkeit und Wahrheit. Er steht für all das Lichte in uns. Und die beiden Wölfe kämpfen ständig miteinander.“
“Aber Großvater, welcher Wolf gewinnt?“ fragt eins der Kinder.
Der Alte erwidert: „Der, den du fütterst.“
Klingt gut. Funktioniert aber erst, falls ich bereit bin, meine Gedanken und mein daraus folgendes Handeln mir bewusst zu machen. Vor kurzem hat ein Patient nach einem Jahr Psychoanalyse mit einem schweren Seufzer zu mir gesagt: „Und ich dachte, ich brauche so etwas nicht. Ich war der Meinung, ich kenne mich ziemlich gut.“
Es bedarf einer erheblichen seelischen Kraft, das anzuerkennen, was der Großvater sagt: „Auch in meiner Brust liegen zwei Wölfe permanent im Streit miteinander.“

Unser heutiger Predigttext handelt auch von einem Streit: dem der Pharisäer mit Jesus. Hören Sie selbst: (Markus 2, 23-28)
„23 Und es begab sich, dass er am Sabbat durch die Kornfelder ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. 24 Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? 25 Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, da er Mangel hatte und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: 26 wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? 27 Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. 28 So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.“

Wenn wir jetzt Zeit für Diskussion hätten, würde ich Sie fragen, was diese Geschichte für Sie bedeutet. Wie Sie diese Geschichte erleben. Und ich bin mir sicher, es würden gerade so viele Antworten kommen, wie hier Menschen sind. In der Tiefe unserer Seele nämlich hat jeder Satz, den wir hören, jede Geschichte, jede Information seine ganz eigene Bedeutung. Und es ist ein Wunder, dass wir überhaupt miteinander kommunizieren können. Und es ist kein Wunder, wie sehr unsere Kommunikation mit Missverständnissen durchsetzt ist.

Man kann die Geschichte vom letzten Satz her lesen. Dann ist Jesus einmal mehr der Wundermann, der uns alle heilen kann. „Mir nach, spricht Christus unser Held!“ Dann verwende ich wahrscheinlich diese Geschichte dafür, meine Sehnsucht nach einem „starken Führer“, der mir sagt, wo es lang geht, was ich machen soll, zu befriedigen. Dann kommt Jesus in einer Reihe mit den Trumps, den Orbans, den Johnsons, den Putins zu stehen.

Für mich ist diese Geschichte eine Ermutigung, mich mit meinen Gedanken und Handlungen in einem „Mittelbereich“ zu bewegen. Irgendwo „dazwischen“ – entsprechend unserem aufrechten Gang: „Aufgespannt zwischen Himmel und Erde.“

Im Dazwischen erkenne ich Gesetze und Gebote an und zwar so, dass ich sie barmherzig und großzügig auslege. Hier entdecke ich die Verbindung zum Wortstamm von „gebieten“: „Erwachen, bemerken, geistig rege sein, aufmerksam machen, warnen“. Es geht weder um einen dumpfen Gehorsam gegenüber Gesetzen, noch um ihre Ablehnung. Es geht um die rechte, um die menschliche Verwendung von Gesetzen.

Jesus sagt nicht: „Schafft den Sabbat ab! Das ist Schwachsinn, den wir nicht mehr brauchen!“ Nach der Art: „Wahrlich, wahrlich ich sage Euch: Ihr habt mich – ihr braucht keinen Sabbat mehr!“ Er sagt: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.“ Und er veranschaulicht dies an einem Beispiel: Hat nicht David auch, als er Hunger hatte, sich über die damaligen Gebote hinweg gesetzt und die Schaubrote im Tempel gegessen – die nur der Hohepriester alleine essen durfte?

Und von der Heiligen Theresa von Avila wird erzählt, dass sie in der Fastenzeit einem Adligen einen Besuch abstattete, der gerade mit Freunden beim Essen saß. Er sagte zu Theresa: Er würde sie gerne zum Essen einladen und es täte ihm sehr leid, dass sie als Nonne ja wohl in der Fastenzeit an so einem Essen nicht teilnehmen dürfe. Darauf soll die Nonne fröhlich geantwortet haben: „ Ach wissen Sie, wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn, wenn Fasten, dann fasten.“ Und die Tischgesellschaft soll nicht schlecht gestaunt haben, als sie sich ihr Rebhuhn schmecken ließ!

Angewandt auf unsere gegenwärtige Situation in Corona-Zeiten:
Auch hier geht es um das Finden einer mittleren Position. Das Gute ist etwas Wohltemperiertes. Weder überhitzt noch vereist. Einen wunderschönen Satz aus dieser wohltemperierten mittleren Position heraus hat Jesus in unserem Predigttext formuliert: „Der Mensch ist nicht um das Sabbats willen, sondern der Sabbat um des Menschen willen“.

Der Nachteil der Mitte, einer mittleren Position ist: Ich kann mich nicht festhalten. Ich muss frei auf meinen Füßen stehen. Pole, polares Denken verleiht scheinbare Sicherheit.
Unsicherheit hingegen erhöht die Angst. Der große Nachteil demokratischen Denkens und Handelns ist die Unsicherheit, die mit ihm zu ertragen ist. Es gibt niemanden mehr, der recht hat. Es gibt keine Instanz mehr, die losgelöst von allem (lateinisch: absolut) gilt. Stattdessen gibt es das Abwägen, die Diskussion, die Auseinandersetzung und das Zusammentragen der verschiedensten Anschauungen.
Und es gibt keine Garantie.
Die Sehnsucht nach etwas Allmächtigem („Ich glaube an Gott den Allmächtigen…“) ist nichts weiter als die Sehnsucht danach, die Ängste einer mittleren Position nicht ertragen zu müssen.

„Den weißen Wolf füttern“ heißt von daher: Lernen in Unsicherheit zu leben. Dafür brauche ich ein Füllhorn voller Vertrauen, dass mich meine Beine schon tragen werden. Die wiederum getragen werden von dem Boden unter mir. Tief verwurzelt auf der Erde und so aufragend in den Himmel – das ist unser menschlicher Stand.
So werden wir aufgerichtet – so sind wir aufrichtig. Vor allem und ohne alles: „Du musst…“ Also vor aller Moral!

Liebe Gemeinde,

jetzt, am Ende dieser Predigt, würde ich gerne noch einen hoffnungsvollen Satz formulieren. Derart, dass der schwarze Wolf, wenn man nur genügend Verständnis für ihn aufbringt, sich verändern wird. Dass auch er lernen wird zu lieben, und es nicht mehr so nötig hat, zu hassen, auf seinem Misstrauen gepaart mit Überheblichkeit zu beharren. Meine Lebenserfahrung spricht dagegen. Wir leben nicht im Paradies. Und das Happy-End der Geschichte besteht darin, zu merken, dass in meiner Brust stets der weiße und der schwarze Wolf miteinander kämpfen. Indem ich dies erkenne, hat der schwarze Wolf seine Übermacht verloren.
Schenke Gott uns den Mut und die Kraft, uns immer wieder unserer Fähigkeit zu lieben zuzuwenden – und uns von unserer Fähigkeit für Hass und Destruktion abzuwenden. Und Gott erhalte uns die innere Verbindung zu so prophetischen Sätzen wie diesem:
„„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, und der Herr von dir fordert: Gottes Worte halten, Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott“ . AMEN.

Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis 2020 über Markus 2, 23-28 Read More »

Predigt über 2. Timotheus 1, 7-10 am 16. Sonntag nach Trinitatis 2020

Liebe Gemeinde,

„… denn Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“

Mit dieser schlichten Aussage beginnt unser heutiger Predigttext.

Umgedreht heißt das: Der „Geist der Furcht ist nicht von Gott!“

Das griechische Wort für Furcht ist deilias: Es meint eine Mischung aus „Verzagtheit und Feigheit“.

Es geht also nicht darum, die Angst abzuschaffen: Angst zu haben, Angst zu erleben gehört zum Mensch-sein dazu. Gesunde Angst schützt vor Tollkühnheit und Übermut. Gesunde Angst ist auf der Seite des Schutzes des Lebens: des eigenen und des Lebens der Anderen.

Ungesund wird die Angst, die sich in mir festsetzt. Die sich chronifiziert. Sie äußert sich in Verzagtheit, Feigheit, Lustlosigkeit. Sie äußert sich auch in chronischer Gereiztheit und Bereitschaft zu Aggression. Für dieses Konglomerat aus Gefühlen gibt es ein Modewort: „Depression“. Das wörtlich genommen ja schlicht heißt: Niedergedrückt-Sein.

Die eben gehörte Geschichte von Lazarus („Gott hilft“) veranschaulicht den Verlauf einer schweren Depression, in der die Lebens-Geister immer mehr versiegen. In der Depression „verschwindet“ der Kontakt, die Beziehung zum Leben – der Depressive wird unerreichbar, für sich selbst und für seine Mitmenschen. Er liegt lebendig begraben in der Höhle seines eigenen Rückzuges.

Das fühlt sich sowohl für den Betroffenen wie auch für die Angehörigen elend an.

Orte seelischen Rückzugs“ hat John Steiner, ein englischer Psychoanalytiker, ein berührendes Buch genannt. Es handelt davon, wie Menschen sich in „Zufluchtsstätten“ einrichten, die ihre Seele schützen sollen. Es handelt auch vom Entstehen dieser Rückzugsorte und wie sie in Beziehungen mit anderen Menschen „funktionieren“. Die Praxis therapeutischen Arbeitens sieht leider (oder Gott sei Dank?) sehr anders aus als unsere vorhin gehörte Geschichte von der Erweckung des Lazarus. Es ist ein mühsamer Weg, der sich aus vielen Schritten zusammensetzt: Der Weg aus dem Rückzug heraus in die Fülle der Lebendigkeit des Lebens.

Kennen Sie den Film „Matrix“?

Er handelt davon, dass die Welt der Maschinen die Macht übernommen hat. Sie beziehen ihre Energie aus den in einer Nährlösung liegenden Menschen. Die Menschen schlafen – und träumen Träume, die sie für die Wirklichkeit halten. Das ist die Matrix, die Scheinwelt, die ihnen vorgegaukelt wird. Diese Scheinwelt halten die Menschen für das Leben. Die mit hoher, kalter Intelligenz ausgestatteten Maschinen leben von der Wärme der Menschen, die in einer Nählösung liegen. Sie (die Maschinen) legen verständlicherweise allergrößten Wert darauf, dass die Menschen nicht aufwachen. Über den Erwachten nämlich hat die Matrix ihre Macht verloren. Sie kann seine Wärme nicht mehr für sich verwenden.

Der Erwachte lässt sich von den Verführungen der Matrix nicht mehr einlullen – er ist ein Befreiter. Ein Erlöster.

Das Erwachen freilich ist ein Geschehen, das sich nicht machen lässt.

Es geschieht.

Es geschieht über Hingabe an die Realität, an das, was ist.

In diesem Erwachen höre ich auf, meine eigenen Täuschungen über das eigene Leben und das Leben der Anderen zu nähren und mich an ihnen zu wärmen. Mit dem Erwachen lerne ich, mit beiden Augen die ganze Wirklichkeit zu schauen – und nicht länger das, was ich nicht sehen möchte, auszublenden. Im Erwachen füttere ich nicht länger die Illusionen, mit denen ich gelebt habe, sondern erkenne die ganze Wahrheit meines bis heute gelebten Lebens an.

Dazu bedarf es eines „Geistes der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit“!

Der Geist, von dem hier die Rede ist „weht wo er will“. Er ist nicht machbar und nicht fassbar. Das einzig Mögliche ist, sich mit ihm zu verbünden und zu verbinden. Und in diesem Bündnis zu erleben, was er vermag: Er schenkt die Kraft, (griechisch: dynamis; vgl. Dynamit) das Leben gerade auch in seiner Härte, Unverrückbarkeit und Endgültigkeit anzunehmen. Die Kraft zu ertragen, was es zu ertragen gilt: Die Schmerzen körperlicher und seelischer Art, die Enttäuschungen über das, was nicht so lief, wie ich es wollte, wie ich es mir wünschte, wie ich es für richtig hielt.

Wer Kinder hat, weiß, dass diese Enttäuschungen unvermeidlich sind. Kinder haben nämlich die merkwürdige Angewohnheit, ihr Leben selber bestimmen zu wollen. Und selber heißt ganz einfach: nicht so, wie die Eltern es sich für ihre Kinder vorstellen. Es ist gut, sich immer wieder daran zu erinnern, dass wir alle einmal Kinder gewesen sind, und dass wir alle wie auch immer unser Leben selber in die Hand nehmen wollten und – hoffentlich – auch in die Hand genommen haben.

Dazu bedarf es des Geistes der Liebe. Liebe heißt ja nicht, den Anderen dann zu mögen, wenn er gerade so ist, wie ich ihn brauche. Das ist nicht Liebe, sondern bemächtigende Verschmelzung mit dem Anderen. Liebe beginnt gerade da, wo der Andere nicht so ist, wie ich ihn brauche. Und Liebe meint dann die Fähigkeit, gerade da mit dem Anderen in Beziehung zu bleiben. Der gekränkte, beleidigte Rückzug führt direkt in die Grabkammer des Lazarus.

Liebe heißt, die Sympathie (das „Mit-Fühlen“) für den Anderen auch und gerade da aufrecht zu erhalten, wo er nicht so ist, wie ich ihn brauchen kann, wo er gerade nicht meine Wünsche erfüllt! Liebe ist die Fähigkeit, mein Ich mit seinen Erwartungen und Wünschen an den Anderen zurückzustellen. Mir hilft dabei der Satz, den angeblich Papst Johannes XXIII. jeden Abend vor dem Einschlafen zu sich selber gesagt hat: „Giovanni, nimm dich nicht so wichtig!“ Und ich füge hinzu: Wer sich und sein Leben wirklich ernst nimmt, wird sich nicht mehr „so wichtig“ nehmen.

Neben der Liebe nennt Paulus noch die „Besonnenheit“ als weitere Gabe des Heiligen Geistes. Besonnenheit, „sophrosyne“ heißt wörtlich: geistig-seelische Gesundheit; Selbstbeherrschung und Mäßigung. Gerade die letzten beiden Substantive, „Selbstbeherrschung“ und „Mäßigung“, sind nicht im Vokabular der populistischen Schreihälse vorhanden – und sie sind und waren noch nie zeitgeistkonform. Zugleich hat Selbstbeherrschung und Mäßigung nichts mit Selbst-Unterdrückung zu tun. Es geht um Mäßigung für die eigene Lebendigkeit.

Soweit also der erste – und für mich zentrale – Satz aus unserem heutigen Predigttext, dem 2. Timotheusbrief.

Es ist spannend zu sehen, wie Paulus fortfährt: „Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener

bin, ….“

Scham, sich schämen ist ein besonders ekelhaftes Gefühl. Paulus spricht das „Fremd-Schämen“ an. Sich für einen Anderen schämen. Ich vermute, viele von uns kennen das. Fremd-schämen ist Ausdruck von mangelnder Abgegrenztheit in Beziehung. Es fehlt das Gefühl für gute Getrenntheit. Kinder können sich von ihren Eltern nicht in dieser Weise abgrenzen. Für sie sind die Eltern die großen Vorbilder, die, die wissen (besser wissen sollten), wie Leben geht. Von daher ist es für sie besonders schwer erträglich, wenn sie das Gefühl haben, irgend etwas stimmt nicht mir ihren Eltern. Ihr erster Reflex ist, sie in Schutz zu nehmen und ihr eigenes Erleben dafür zu opfern. Sie hoffen, dass sie sich täuschen, dass sie das, was sie meinen wahrzunehmen, sich nur einbilden. „Das gibt’s doch nicht!“ So entsteht die Matrix der Selbsttäuschungen und der inneren Verwirrtheit. Es macht konfus, wenn ich das, was ich erlebe, nicht zusammen bringe mit dem, was mir gesagt, besser eingeredet wird. Dann beginne ich mich für meine „wahre“ Wahrnehmung zu schämen … (Das ist im übrigen der Grund, weshalb es Missbrauch-Opfern so schwer fällt, zu veröffentlichen, was ihnen angetan worden ist. Es ist so „Unendlich peinlich“!)

Und Paulus fährt fort:

… leide mit mir für das Evangelium in der Kraft Gottes.“

Das Evangelium ist nichts weiter als die frohe Kunde, die davon handelt, dass es einen Geist, eine Energie gibt, die dich wirklich meint. Dich: und zwar so, wie du gerade bist. Und nicht nur das: für die du auch noch völlig in Ordnung bist, so, wie du gerade bist.

Die Verbindung zu dieser Energie herzustellen, das können wir nicht aus eigener Kraft. Da sind wir „angewiesen“. Wer diese Angewiesenheit nicht aushält, der meint, er muss sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. So wird er immer erschöpfter und müder. „Ich habe eine Depression!“ Und weil er immer noch nicht angewiesen sein will auf eine hilfreiche Beziehung, beginnt er Psychopharmaka zu schlucken…

Da ist selbst der Heilige Geist machtlos. Die Auferweckung zum Leben ist zu „erleiden“! Es geht dabei „nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem eigenen Vorsatz und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus vor ewigen Zeiten…“

Wer dieses Leiden nicht aushält, bleibt seiner eigenen Lebendigkeit gegenüber verschlossen.

Ich glaube: Jeder Mensch könnte loslassen. Dann hätte die Plackerei ein Ende.

Wir könnten uns in den barmherzigen Schoß Gottes fallen lassen.

Dann würde unser Leben leicht werden.

Wir könnten uns dem Fluss unseres Lebens überlassen.

Hinnehmen, was hinzunehmen ist.

Betrauern, was zu betrauern ist.

Bedauern, was zu bedauern ist.

Und aufhören zu hoffen, dass die Zukunft besser wird.

Und aufhören zu jammern, dass die Vergangenheit nicht gut genug war.

Jedenfalls haben wir überlebt.

Bis heute.

Bis jetzt.

In diesem Geschehen würden wir allmählich wach werden. Wach für die Gegenwart.

Die Gegenwart, in der allein das Leben zu finden ist.

Und warum tun wir’s nicht?

Weil wir Angst haben. Angst davor, die Kontrolle zu verlieren.

Ja, aber“ sagen wir.

Oder hätte ich doch…“

Und außerdem haben wir uns unsere Werte, Ziele, Erwartungen – all‘ das, von dem wir meinen, wie Leben geht – doch so mühsam aufgebaut. Und außerdem wurde uns das auch so mühsam antrainiert. Das soll jetzt alles nichts mehr gelten? Echt nicht! Das würde ja weh tun. Ziemlich weh tun. Deshalb sagt Paulus: „Leide mit mir für das Evangelium!“

Klingt nicht gut. Warum leiden? Da schlafen wir doch lieber noch eine Runde. So schlecht ist die Matrix doch gar nicht. Und es gibt herrliche Ablenkungen. Jetzt noch viel brillanter in HD. Tolle Graphik. Ein kühles Bier dazu und Chips. So kriegen wir die Zeit schon rum, oder?

Ähneln wir nicht alle dem Mann, von dem der indische Jesuit Anthony de Mello erzählt?

Vor einiger Zeit – sagt er – hörte ich im Radio … von einem Mann, der an wieder einmal am Morgen an die Zimmertür seines Sohnes klopft und ruft:

Jim, wach auf!“

Und Jim ruft zurück: „Ich mag nicht aufstehen, Papa.“

Darauf der Vater noch lauter: „Steh auf, du musst

in die Schule!“ „Ich will nicht zur Schule gehen.“

Warum denn nicht? “, fragt der Vater.

Aus drei Gründen“, sagt Jim. „Erstens ist es so langweilig, zweitens ärgern mich die Kinder, und drittens kann ich die Schule nicht ausstehen.“

Der Vater erwidert: „So, dann sag ich dir drei Gründe, wieso du in die Schule musst: Erstens ist es deine Pflicht, zweitens bist du 45 Jahre alt, und drittens bist du

der Klassenlehrer.“

Darin besteht im übrigen der (einzige) Sinn, sich mit der eigenen Vergangenheit zu beschäftigen: Um in der Gegenwart anzukommen. Wir neigen dazu, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verwechseln und uns vor einer vermeintlichen Zukunft zu ängstigen – die in Wirklichkeit eine Erinnerung an Vergangenes ist. Es ist ein verbreitetes Missverständnis von Psychoanalyse, an dem die Psychoanalytiker selbst jedenfalls eine Mitschuld tragen, zu meinen, es ginge darum, „in der Vergangenheit zu bohren“. Nein – es geht darum, die Dämonen der Vergangenheit in der Gegenwart neu kennen zu lernen, um sie so zu entmachten. Jim in der Gegenwart ist nicht mehr der hilflose Junge von früher – er ist der Lehrer!

Christus Jesus, der den Tod zunichte gemacht aber Leben und Unvergänglichkeit ans Licht gebracht hat durch das Evangelium.“ Mit diesem Gedanken endet unser Predigttext. Es ist eine Täuschung zu meinen, das eigentliche Leben kommt erst. Das ist die große Verführung des Jenseits-Glaubens. Auch er findet in der Matrix statt. Und dient der Selbst-Betäubung. Opium fürs Volk hat K. Marx die Religion genannt – weil sie auf ein besseres Jenseits vertröstet.

Ewig – weil zeitlos – ist einzig und allein die Gegenwart.

Gegenwart ist das, was aus der Zeit herausgefallen ist. Christus als Repräsentant der Gegenwart hat den Tod zunichte gemacht!

Je tiefer ich in meiner Gegenwart angekommen bin, desto chancenloser ist die Matrix. Sie lebt und nährt sich davon, dass ich mich aus der Gegenwart zurück ziehe. In meine Grabes-Schutz-Höhle – die leicht zu einer Grabes-Hölle werden kann. Die ich nicht verlassen mag, weil sie mir immer noch angenehmer erscheint, als mir den Wind der Wirklichkeit um die Nase blasen zu lassen.

Gebe Gott, dass wir die Kraft, den Mut und die Liebe in uns finden, wirklich wach zu werden. Wach für unser einmaliges Leben. Gebe Gott, dass wir es wagen, uns seinem Geist zu überlassen, unser Leben in und von diesem Heiligen Geist führen zu lassen.

Eben dem Geist, der in jedem Augenblick da ist, der nur darauf wartet, sich mit uns zu verbünden – dem Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit, AMEN.

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Fürbittengebet zum 13. Sonntag nach Trinitatis

Barmherziger Gott,

 

du bist die Liebe; wer in der Liebe bleibt, der bleibt in dir und du in ihm.

 

Wir bitten dich:

 

Dass unsere Kraft zu lieben zunehme, je älter wir werden.

Dass unsere Freude am Leben wachse, je schwächer wir werden.

Dass unsere Weisheit sich weite, je weniger wir von der Welt und den neuen Techniken verstehen.

 

Wir bitten dich:

 

Dass wir erschrecken, wenn wir Recht haben wollen.

Dass wir innehalten, wenn wir zornig sind.

Dass wir uns zurück nehmen, wenn wir auf den anderen einreden.

 

Wir bitten dich:

 

Dass wir in jedem Augenblick aufmerksam sind: für uns selbst und für das, wo wir gerade sind.

 

Dass wir merken, wenn wir uns über andere erheben oder wenn wir Andere über uns stellen.

 

Dass unser Glaube in der Tiefe getragen ist von der Liebe.

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Predigt über Apostelgeschichte 6, 1-7 am 13. Sonntag nach Trinitatis 2020

Liebe Gemeinde,

was ihr getan habt einem von diesen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25, 40b) Um dieses Wort aus dem Matthäusevangelium gruppieren sich die Texte unseres Gottesdienstes: Im ersten Johannesbrief wird auf die innige Verbindung zwischen Gott und Liebe hingewiesen: „Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist Liebe.“ (1. Joh. 4, 8) Ein bemerkenswerter Satz! Würde er doch erklären, inwiefern unsere „gottlose“ Welt eine „lieblose“ Welt ist. Zugleich würde er sich als „innere“ Grenze und Kennzeichen glaubwürdigen Redens von Gott eignen:

Wer im Namen Gottes Hass predigt und lebt, der predigt und lebt gottlos.-

Das berühmte Gleichnis vom barmherzigen Samariter schließlich weist darauf hin, dass Liebesfähigkeit nichts mit gesellschaftlichem Ansehen zu tun hat. Es ist der Samariter – Mitglied einer Sekte in den Augen des damaligen Judentums – der das Werk der Nächstenliebe vollbringt! Und es sind genau die Repräsentanten des damaligen religiösen Establishments – der Priester, der Levit – die keine tätige Hilfe leisten. Und was ist dieses Werk der Nächstenliebe? Den Anderen wahr- und ernst nehmen.

Aber was mache ich, wenn ich sehr wohl den Anderen wahrnehme, nämlich so, dass ich sein Verhalten empörend finde? Was mache ich mit meiner Empörung über die Ignoranz des Priesters und des Leviten? „Und so jemand will ein Pfarrer sein …!“ denke ich mir – und schon bin ich heraus gefallen aus dem, was ich mir doch eigentlich vorgenommen habe: nämlich in der Liebe zu bleiben.

Aber was heißt das dann: In der Liebe bleiben – wenn ich mich doch völlig zurecht empöre. Was mach ich mit meiner Empörung gegenüber der „Amtskirche“ im Allgemeinen, in Corona-Zeiten im Besonderen.

Nun – das naheliegendste und verbreiteste ist: Ich trenne mich – ich trete aus der Kirche aus. „Mit so einem Verein will ich nichts zu tun haben.“ Das ist zwar keine „Lösung“ – aber immerhin bin „raus“.

Unser heutiger Predigttext handelt ebenfalls von Empörung über die leitenden Instanzen des noch jungen Christentums. Es entstand ein „Murren“ heißt es so schön. Der Konflikt entbrannte zwischen den griechisch sprechenden Christen, die sogenannten Hellenisten, und den aramäisch sprechenden „Hebräern“.

Hören Sie selbst:

„In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung.

Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und zu Tische dienen.

Darum, liebe Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst.

Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben.

Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Proselyten aus Antiochia.

Diese stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten ihnen die Hände auf.

Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.“

Ja – so war das und so wird das immer sein: Die Einen gegen die Anderen.

Dagegen-Sein stabilisiert. Ich habe etwas, wogegen ich kämpfen kann. Ich habe etwas, worüber ich mich aufregen kann. Das ist wesentlich angenehmer, als sich selber Mühe zu machen, Kompromisse zu finden, in denen die eigenen und die Interessen der „Anderen“ berücksichtigt werden. Gegen „die da oben“ zu sein ist die Position des Kindes. In der Kindheit waren „die da oben“ die „Großen“: die Erwachsenen. In dem Wort „Empörung“ schwingt übrigens etwas von „da oben“ mit: Empörung hat mit „empor“ zu tun.

Und „die da oben“, kurz die „Zwölf“ in unserem Text genannt (gemeint sind die 12 Apostel) fühlen sich angesprochen. Sie reagieren. Das ist wichtig. Ohnmächtige Wut entsteht bei „denen da unten“, wenn sie sich „von denen da oben“ überhaupt nicht wahrgenommen fühlen. Ich vermute, dass die Populisten hieraus ihre Wähler ziehen. Es sind Menschen, die sich von der jeweiligen Führung/Regierung im Stich gelassen fühlen. Und die ein hohes Potential an Enttäuschung und daraus fließenden Hass in sich tragen. Ich denke auch, dass die Zahl der laufend steigenden Kirchenaustritte genau damit zu tun hat, dass sich Menschen nicht mehr von dem, was die Kirche, was ihre Vertreter, die Priester oder Pfarrer sagen, angesprochen fühlen. (Wie oft gehe ich in die Kirche?)

Von daher finde ich es spannend, unseren Text so zu lesen, dass wir daraus für unsere Gegenwart lernen können. Wie ging denn die damalige Führung, die 12 Apostel, mit dem genannten Konflikt unter den Gläubigen um?

Erstens: Sie lassen ihn an sich „rankommen“. Sie nehmen ihn wahr und nehmen ihn ernst. Das klingt so selbstverständlich – ist es aber leider überhaupt nicht. Ignoranz auf Seiten der „Führer*innen“ und Ignoranz auf seiten der „Empörer*innen“ ist verbreitet. Nicht nur in der Kirche, aber leider und gerade auch in der Kirche.

Zweitens: Die „Zwölf“ „rufen die Menge der Jünger zusammen.“ Wesentliche Erkenntnis: Sie verstehen sich nicht als Einzelkämpfer, meinen nicht, alleine das Problem lösen zu müssen. Sie sind „vernetzt“ mit den „Jüngern“, den Anhängern Jesu – wer auch immer das genau gewesen ist. In der katholischen Kirche ist das Stichwort: „Der synodale Weg“!

Drittens: Die „Zwölf“ sagen zunächst einmal „nein!“ „Wir machen das nicht! Wir übernehmen nicht die Bedienung der Witwen. Das schaffen wir nicht – es sei denn wir würden das Wort Gottes vernachlässigen. Das aber kommt nicht in Frage!“

Eine starke Führung kennt die eigenen Grenzen und erkennt sie an. In gesunder Selbstliebe – und in gesunder Gottesliebe. Erinnern Sie sich: „Wer nicht liebt, der erkennt Gott nicht!“ heißt es im ersten Johannesbrief. Eine starke Führung ist nicht verführbar für Ausbeutung. Sie weiß: Sich ausbeuten lassen, allzu oft „ja“ zu sagen, führt zum „Ausbrennen“ der eigenen Seele. Und damit ist keinem gedient.

Und eine starke Führung kennt das Zentrum, die Mitte ihres Auftrages. Für die 12 Apostel war dies die Verkündigung der frohen Botschaft von Jesus Christus. Dass sein Leben und Sterben von Gott in ganz besonderer Weise bejaht worden ist. Dass Gott kein Gott der Macht, sondern der Liebe ist. Einer Liebe, die wahrnimmt, die dem Leiden nicht ausweicht. „Gott ist Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh. 4, 16)

Viertens: Eine starke Führung lässt die Bedürftigen nicht im Regen stehen. Sie delegiert: „So seht Euch in Eurer Mitte um, Brüder, nach sieben Männern, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und voller Weisheit sind. Die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben.“

Klare Ansage im Sinne von: „Eure Rede sei ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Bösen.“ (Matthäus 5,37) Und die „Zwölf“ lassen sich das „Zepter“ nicht aus der Hand nehmen: Ihr seht Euch um – wir bestellen zum Dienst. Eine gute Führung ist achtsam und wachsam. Und hält sich an das, was sie sagt. (Es ist Ausdruck einer schwachen Führung und sorgt für weitere Unruhe, wenn es heißt, man solle etwas übernehmen, und dann macht es der Pfarrer/Bischof/ Vorgesetzte doch so, wie er es will. Mit dieser Methode verliert man sehr schnell engagierte und kompetente Mitarbeiter!)

Fünftens: „Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut!“ Gerade so erreicht eine starke Führung die Menschen, indem sie Möglichkeiten zu handeln aufzeigt. Der viel gerufene (genannte) „mündige“ Bürger ist einer, der seinen Mund aufmacht. Nicht um Hassparolen auszustoßen, sondern um Gedanken zu äußern, die der Gemeinschaft dienen. Und aus guten, konstruktiven Gedanken fließen gute, konstruktive Handlungen. „Und sie wählten Stephanus … Philppus … Prochorus … Nikanor … Timon … Parmenas und Nikolaus.“ Das sind allesamt griechische Namen. Sie heißen zu deutsch: Stefanos – einer der sich einen Siegeskranz erworben hat; Philippos – ein Liebhaber von Pferden; Prochorus – ein Vortänzer; Nikanor – ein Sieger; Timon – der Angesehene, der aller Ehren Werte; Parmenas – einer, der Durchhaltevermögen besitzt; Nikolaus – der aus seinem siegreichen Volk stammt. Klingt gut – und es besteht die Hoffnung, dass sie auch ihren Namen gerecht geworden sind.

Sechstens: Dass es lauter Männer sind, die sich der Probleme der griechischen Witwen annehmen, ja: Das ist dem damaligen Zeitgeist geschuldet. Jesus selbst hätte vermutlich gesagt: Ich traue den Witwen zu, dass sie selbst ihr Problem lösen und schlage vor, dass sie aus ihrem eignen Kreis Führerinnen auswählen, die sich um die anstehenden Probleme kümmern. Es ist anzuerkennen, dass Menschen wie Jesus in ihrem Denken und Leben so weit ihrer Zeit voraus gewesen sind, dass selbst ihre eigenen Anhänger wieder dahinter zurückfallen. Diese Anerkenntnis kann vielleicht milder stimmen gegenüber der real existierenden Männer-Führungs-Kirche.

Siebtens: „Diese stellten sich vor die Apostel; die beteten und legten ihnen die Hände auf.“ Das ist ein guter Brauch, der bis heute angewendet wird: die „Handauflegung“! Es wird nicht sogleich und schnell „los gelegt“. Das Hände Auflegen ist ein Innehalten – ein Innehalten vor etwas Größerem – ein Innehalten vor Gott. Es bewahrt vor „blindem Aktionismus“. Allerdings nur dann, wenn es nicht ein entleerter Ritus ist. Dies gilt freilich für alle Riten und Rituale. Wenn sie nicht mit Lebendigkeit gefüllt werden, bleiben sie hohl. Dafür können aber die Riten nichts!

So – jetzt haben Sie sieben Predigtgedanken zu den ersten sieben Versen der Apostelgeschichte gehört, wo es darum geht, dass sieben „bewährte“ Männer zu Diakonen ernannt werden. Für die Kabbala, die jüdische Mystik, ist die sieben eine heilige Zahl. In ihr geschieht das Erleben von „Allem“. In sieben Tagen wurde die Welt erschaffen – die ganze Welt. Die „sieben“ setzt sich aus „drei“ und „vier“ zusammen: Nach alter Tradition ist die drei die Zahl des Himmels, die Vier die Zahl der Erde in und mit ihrer Vielheit. Die Sieben fügt beides zusammen. Multipliziert man nun die Drei mit der Vier, so ergibt sich die Zwölf. Somit sind die Zahl sieben wie die Zahl Zwölf in enger Verbindung mit der Drei und der Vier zu verstehen – in Verbindung mit Himmel und Erde. Beide versuchen Heil-Sein im Sinne von Ganzheit auszudrücken. In Ganzheit leben bedeutet, in und mit guten Verbindungen zu leben. In Beziehung zu allem sein, was einen umgibt – sei es im außen, sei es im innen, sei es im oben, sei es im unten. Aufgespannt zwischen Himmel und Erde: Das ist das, was den Menschen zum Menschen macht!

Solch ein innerlich verbundenes Leben befreit. Ich bin frei für das, was ich auf meinem einmaligen Platz in dieser großen weiten Welt zu tun habe. In dieser Freiheit wächst die liebevolle Zuwendung zu allem Lebendigen wie von selbst. Im Hebräischen heißt „lieben“ auch „erkennen“. Erkennen im Sinne von: sich selbst und den jeweils Anderen freundlich wahrnehmen. Und daraus folgen dann Handlungen, wie die des „barmherzigen Samariters“ in unserem Gleichnis. Solche Handlungen werden dann möglich, wenn ich meine eigenen Bedürfnisse bei mir halten kann. Wenn ich nicht süchtig darauf angewiesen bin, befriedigt zu werden. Dazu bleibt mir aber nichts anderes übrig, als den Weg nüchterner Selbst-Erkenntnis zu gehen.

Und so schließt sich der Kreis: Wirkliche Liebe ist die Lust am Erkennen – am Erkennen Gottes und in einem damit des eigenen So-und-nicht-anders-Gewordens. Auch dies gilt: Gotteserkenntnis ohne Selbsterkenntnis ist wie Schwimmen ohne Wasser. Gott will gelebt werden. Spürbar wird dies am Entstehen meiner Neugierde für das Fremde, für das Andere – in mir und außerhalb meiner. Erst so kann Anderes in seinem Anders-Sein erkannt werden. Und das ist der Nährboden für das Wachstum von Liebe. Die gar nicht anders kann, als zu Gott hin zu wachsen. Die gar nicht anders kann, als sich immer tiefer mit ihrem Ursprung zu verbinden und zu verbünden: „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm!“ AMEN.

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Predigt über Deuteronomium 7, 6-12 am 6. Sonntag nach Trinitatis 2020

Liebe Gemeinde,

als ich mich mit unserem heute zu predigenden Text aus dem 5. Buch Mose beschäftigte, fiel mir mit einem Mal wie Schuppen von den Augen, warum gerade in evangelikalen Kreisen auch und besonders in Amerika der jetzige Präsident so hoch im Kurs steht. Hören Sie bitte selbst:

7, 1-5:

1 Wenn dich der Herr, dein Gott, ins Land bringt, in das du kommen wirst, es einzunehmen, und er ausrottet viele Völker vor dir her, die Hetiter, Girgaschiter, Amoriter, Kanaaniter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter, sieben Völker, die größer und stärker sind als du,

2 und wenn sie der Herr, dein Gott, vor dir dahingibt, dass du sie schlägst, so sollst du an ihnen den Bann vollstrecken. Du sollst keinen Bund mit ihnen schließen und keine Gnade gegen sie üben

3 und sollst dich mit ihnen nicht verschwägern; eure Töchter sollt ihr nicht geben ihren Söhnen und ihre Töchter sollt ihr nicht nehmen für eure Söhne.

4 Denn sie werden eure Söhne mir abtrünnig machen, dass sie andern Göttern dienen; so wird dann des Herrn Zorn entbrennen über euch und euch bald vertilgen.

5 Sondern so sollt ihr mit ihnen tun: Ihre Altäre sollt ihr einreißen, ihre Steinmale zerbrechen, ihre heiligen Pfähle abhauen und ihre Götzenbilder mit Feuer verbrennen.

Ich denke, dieser Text spricht für sich. Keine Angst: Es ist nicht der heute zu predigende Text. Aber es ist der Text, der unmittelbar vor unserem Predigttext steht. Und ich fand keine einzige Predigt im Internet, in der auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht wird! In dem eben gelesenen Text wird die Politik der Ausgrenzung, ja der Vernichtung des Anderen, Fremden propagiert: „Ihre Altäre sollt ihr einreißen, ihre Steinmale zerbrechen, ihre heiligen Pfähle abhauen und ihre Götzenbilder mit Feuer verbrennen.“ Es ist das Gegenteil von Respekt und Achtung vor dem Anderen, dem Fremden. Was zählt ist das eigene Volk – was nicht zählt, das sind die Anderen.

Auf diesem Hintergrund beginnt der Text, über den ich heute zu predigen habe: „Denn du bist ein heiliges Volk dem Herrn, deinem Gott! Dich hat der Herr, dein Gott erwählt zum Volk des Eigentums, aus allen Völkern, die auf Erden sind.“

Das klingt gut – aber ist nicht gut. Ist nicht gut, solange die Erwählung, die Besonderheit des Einen auf Kosten des Anderen geht. Solange herrscht Zwietracht. Im eigentlichen Sinne des Wortes: Zwei stehen einander unversöhnt ja feindlich gegenüber. Ich/meine Gruppe, meine Religion – und der/die Anderen. Dasselbe Geschehen finden wir schon ganz am Anfang des AT: Das Opfer des einen wird „erwählt“, das Opfer des Anderen abgelehnt. So entsteht der erste Mord: der Brudermord. Das/der eine ist gut – das/der Andere ist böse. Das ist der Preis, den wir Menschen bezahlt haben, als wir vom Baum der Erkenntnis aßen. Damit zerfiel die denkbare Welt in gut und böse.

Auf diesem Hintergrund möchte ich über unseren Predigttext nachdenken, der selbst eine sehr alte Predigt ist – dem Mose in den Mund gelegt, gehalten vor der „Eroberung“ des „Landes, in dem Milch und Honig fließen“. Der Raum, in dem diese Predigt ertönt, ist ein Zwischen-Raum: Die Zeit der Sklaverei, der Fremd-Herrschaft in Ägypten ist vorbei, auch der lange und erschöpfende Marsch durch die Wüste liegt zurück. Das ersehnte Neue Land, die neue Heimat liegt in Sichtweite.

In diese Situation des Dazwischen, des Nicht-Stabilen hinein predigt Moses seinem Volk:

Du bist ein Volk, heilig für Jahwe, deinen Gott, dich hat Jahwe erwählt ihm zu gehören als Eigentumsvolk unter allen Völkern auf der Erde.“

Heilig heißt wörtlich: ganzheitlich. Die Erwählung besteht darin, aus den Fragmenten, Spaltungen und Dualismen etwas „Ganzes“ eben „Heiles“ werden zu lassen. Oder anders: Die Erwählung besteht genau nicht darin, sich selbst toll und die Anderen blöd, schwach oder gar unwert zu finden. Das ist der (verbreitete) Missbrauch des Erwählungs-Gedankens. Du bist nicht erwählt, um dir darauf irgend etwas einzubilden. Denn vor und von Gott ist jedes Lebewesen erwählt. Du bist heilig für Jahwe – d.h. dein Heil, deine Gesundheit, deine Integration, deine Ganzheit bleibt gebunden an deine Beziehung zu Gott. In dieser Verbindung bekommst du eine Idee, eine Wahrnehmung, eine Intuition, wer du in der Tiefe eigentlich bist. Was in der Tiefe dein Eigenes ist. Und Gott „will“, dass du dieser „wahrhaftigen“ Idee von dir selbst nahe kommst. Es ist schade, wenn du dich diesem deinen Weg entziehst. Dann bleibt er ungegangen – denn nur du konntest ihn gehen.

Nicht weil ihr alle Völker an Zahl überträfet, neigte sich Jahwe euch zu und erwählte euch – denn ihr seid das Kleinste von allen Völkern…“

Hier wird noch einmal betont: es geht nicht um das, was unter den Völkern als wichtig gilt: möglichst viel Einfluss haben, expandieren, groß werden. Genau anders herum: Das Schwache in Dir, das, was Du selbst oft missachtest, weil Du es peinlich, unangenehm ja unannehmbar findest – gerade darin wendet sich Gott dir zu. Und warum wendet sich Gott dem „kleinsten“ Volke zu?

Sondern weil Gott Euch liebte und weil er den Schwur hielt, den er euren Vätern geschworen, darum führte Euch Jahwe mit starker Hand heraus und erlöste Dich aus dem Sklavenhaus, dem Hause Pharaos, des Königs von Ägypten!“

Du kannst Dich auf deinen Gott verlassen: versprochen wird nicht gebrochen. Gott ist treu. So bist du eingebettet in einer langen Reihe von Generationen vor dir – und gerade so wird es auch nach dir sein. In unserer Zeit, die meint, alles selbst und neu erschaffen zu müssen, in der Lebenserfahrung wenig zählt, jung sein idealisiert wird, in dieser unserer Zeit beruhigt es (mich), einem Gott anzuhängen, der Tradition hat. Es beruhigt mich, dass ich nicht ganz alleine bin auf dem weglosen Weg durch die Wüste, sondern dass vor mir Menschen ihn gegangen sind und nach mir Menschen ihn gehen werden. Und es gibt mir Trost und Hoffnung, dass die neue Satzung oder Wegweisung gerade auf diesem Weg zu mir kommt. Wir nennen sie die „10 Gebote“, im Hebräischen sind es die 10 Worte, die ein gutes, beschütztes Leben in Freiheit ermöglichen.

So sollst du denn erkennen, dass Jahwe, dein Gott, der wahre Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Huld auf 1000 Geschlechter denen bewahrt, die ihn lieben und seine Gebote halten.

Gott befreit, Gott erlöst über die zu erlebende Erkenntnis, dass Leben ohne gute Ordnung im Chaos versinkt. In einer guten Ordnung ist alles an seinem Platz gekommen, es geht nicht mehr „drunter und drüber“. Die gute Ordnung ist eine dem Leben dienliche Ordnung, sie ist auf gutes Zusammenleben in Freiheit ausgerichtet. Dazu bedarf es der Einsicht, dass meine Freiheit nicht grenzenlos ist. Es bedarf der Bereitschaft und der Fähigkeit, sich selbst, die eignen Impulse zu hemmen und anzupassen. Auch zu verzichten. Das sind Fähigkeiten und Fertigkeiten, die mit sozialem Denken zu tun haben. Soziales Denken bedeutet, es geht nicht nur um mich und um meine Interessen! Und das Ziel ist nicht, dass (mein) Ich sich durchsetzt, sondern dass WIR zu einem bekömmlichen Miteinander kommen. Und ein bekömmliches Miteinander ist wesentlich ein gerechtes Miteinander, in dem ich bei allem, was ich tue und lasse auch die Konsequenzen für meine Umwelt mit berücksichtige.

Die aber, die Gott hassen, denen vergilt er an ihrer eigenen Person und lässt sie umkommen; nicht zögert er gegenüber dem, der ihn hasst, an seiner eigenen Person vergilt er ihm.

Das klingt sehr hart – und ist doch die nüchterne Wahrheit. Wer Gott hasst, der hasst in der Tiefe sich selbst und sein eigenes Leben. Dies führt zu destruktivem Verhalten: sowohl sich selbst als auch seinen Mitgeschöpfen gegenüber. Die 10 Worte Gottes, die „Gebote“, grenzen den Hass ein und ermöglichen seine Verwandlung in Liebe. Darum gilt:

Darum sollst du die Gesetzesweisungen, die Bestimmungen und Rechtssatzungen halten, welche ich dir heute zu befolgen anbefehle. Und dafür, dass ihr diese Rechtssatzungen anhört, sie haltet und befolgt, wird Jahwe, dein Gott, dir den Bund und die Güte bewahren, welche er deinen Vätern geschworen hat.

Nicht um dich zu knechten, nicht um dich zu unterdrücken, sondern um dich zu schützen und zu bewahren, für deine lebendige Freiheit, gibt es eine gute Ordnung. Und dafür, dass ein gerechtes, ausgewogenes Miteinander möglich wird. Die gute Ordnung, das gute Gesetz ist nicht in sich selbst verliebt, es dient der Gemeinschaft. Es ist ein „Ministerium“, ein „Amt des Dienstes“ an der Gemeinschaft. (So wie ein guter Minister ein guter Diener an der Gemeinschaft ist.) Das gute Gesetz weiß um den inneren Zusammenhang der Beziehung zu Gott und der Beziehung zueinander. Deshalb handelt es von gegenseitigem Respekt, Achtung und Fürsorge. Wer ausgrenzen, spalten, rassistisch denken will, stellt sich außerhalb der Rechtssatzungen Gottes!

Die zehn Worte, in denen sich die zehn Schöpfungstaten abbilden, sind Ausdruck des tiefen Wissens darüber, wie destruktiv es ist, lebensdienliche, dem Leben dienende Grenzen zu durchbrechen. In dieser Tiefe sind sie vor aller Moral. Wir leben in einer Zeit – und ich vermute, dies gilt für jede Zeit – in der das Sich-halten-an-Grenzen nicht beliebt ist. Es ist in der Tat mühsamer, bewusst und verantwortungsvoll zu leben, als ungehemmt „raus zu schreien“ und „raus zu hauen“, wonach einem gerade ist. Sich-halten an Grenzen heißt, den eigenen, inneren Triebimpulsen streng und liebevoll Einhalt zu gebieten. Auch dies gilt nicht erst seit heute. Jesus wurde nicht müde zu predigen und vorzuleben, dass Gesetz und Leben zusammengehören. Jesus hat nicht das Gesetz zerstört, sondern es mit Leben gefüllt. „Der Mensch ist nicht um das Sabbats willen, sondern der Sabbat um des Menschen willen!“ Das war das „Unerhörte“ an diesem Mann aus Nazareth. Wer sich auf diesen Weg einlässt, dem bleibt nicht erspart, zu erleben und zu erleiden, dass er sich unbeliebt macht. Er hat aufgehört, darauf zu schielen, wie viele „Follower“ er gerade hat, wie gut er ankommt. Ihm genügt ein einziger Satz: „Ich habe dich erkannt, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst dazu und zu mir – du bist frei geworden für dich und dein einmaliges Leben!“

Und darauf gibt es eine einfache Antwort: „Gott sei Dank!“ AMEN

Predigt über Deuteronomium 7, 6-12 am 6. Sonntag nach Trinitatis 2020 Read More »

Predigt über Römer 12, 17 -21 am 4. Sonntag nach Trinitatis

„Überwinde Böses mit Gutem!“

Liebe Gemeinde,

vermutlich kennen das die meisten von uns: So ein Gefühl diffusen Gereizt-Seins. „Ich bin gestresst!“ sagt man dann. Oder „Ich bin nicht in meiner Mitte!“ Wer es wagt, genauer dahin zu spüren merkt: Ich bin ziemlich aggressiv. Aber warum eigentlich? Es ist ein Gefühl, als würde nichts passen. „Knatschig“, sagt man bei kleinen Kindern. Vielleicht ist es das Wetter. Oder der Mond. Oder beides.

Gibt man diesen Gefühlen mehr Raum, stellt sich oft heraus, dass die Möglichkeit fehlt, die Wirklichkeit, wie sie gerade ist und auf mich einwirkt zu akzeptieren. Die Sonne ist zu heiß, der Wind zu kalt, die Frisur passt auch nicht. Und überhaupt. „Ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut!“ Was gänzlich fehlt ist die Freude am Dasein – ein kräftiges, heiteres „Ja – so ist es – und es ist gar nicht so schlecht, wie es ist!“

Die Texte unseres heutigen Sonntags handeln davon, wie Freude ins Leben kommen kann. Allerdings erst auf den zweiten Blick. Auf den ersten Blick sind sie typische fordernde Vorwurfs-Texte:

Seid barmherzig, wie Euer Vater barmherzig ist!“

Geht barmherzig mit Euch selber um!“

Richtet nicht!“

Lernt Euch kennen – schaut auf den Balken im eigenen Auge!“

Dies Kunst ist, das alles ohne auch nur den Hauch eines Vorwurfs zu erleben. Mit liebevollem Blick. Barmherzig eben.

Das klingt gut – und ist viel leichter zu predigen als zu leben.

Und noch leichter ist es, dies dem Anderen zu predigen – und sich selbst dabei wegzulassen. Das sind die Sätze, die irgendwie mit „sei doch so oder so …“ angehen.

Oder auch: „Wenn du anders wärst, dann könnte ich auch …“

Oder: „Ich verstehe nicht, dass du …“

In diesen Sätzen bleibe ich an den Anderen gebunden, halte an der Abhängigkeit zu ihm fest. Sie entstammen dem Gefühl, den Anderen in einer bestimmten Weise für mich zu gebrauchen. Es wäre doch schön, wenn der Andere genauso denkt und lebt wie ich. Es ist die Sehnsucht nach Harmonie oder gar Gleichklang. In der Gregorianik galt als vollendeter Ton die „Prim“. Das heißt, das Intervall, der Zwischenraum ist aufgelöst. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Einen und dem Anderen. „Wir sind alle eins!“ Oder: „Wir sprechen mit einer Zunge.“ Oder: Wir sind völlig im Einklang. Wer Kammermusik macht, im Chor singt oder vierhändig spielt, weiß, was ich meine. Nur – wie ist das mit dem Einklang im Alltag des Lebens? In einer Partnerschaft, mit Kindern, im Kirchenvorstand, in der Schule, im Beruf?

Es gibt Eltern, die meinen, sie täten ihren Kindern etwas Gutes, wenn sie „mit einer Zunge redeten.“ Wer als Kind so aufwächst, kann nicht lernen, dass Unterschiedlichkeit, Meinungsvielfalt nichts Böses ist, nicht zum beleidigenden Streit führen muss. Sondern zu lebendiger Diskussion, gegenseitigem Austausch in aller Verschiedenheit. Politisch ausgedrückt: Je größer die Sehnsucht nach Einheitlichkeit, desto unwichtiger sind jene Tugenden, auf denen Demokratie aufgebaut ist. Und desto unerbittlicher wird der/die „verfolgt“, der die Sehnsucht nach Harmonie stört. Er/sie gilt als „Störenfried“ – als Störer des Friedens. Dies gilt auch für religiöse Institutionen. Da heißen die Störenfriede „Ketzer“.

Die große Frage ist: Handelt es sich um einen echten Frieden, oder um einen faulen? Im Sinne von: „Friede, Freude, Eierkuchen!“ Im Sinne von: „Wir sind uns darin einig, dass alles gut ist. Und dem gnade Gott, der Widersprüchlichkeiten aufdeckt, der uns in unserer Sehnsucht nach Harmonie verunsichert!“ So entstehen die „geschlossenen Gesellschaften“. Anders-Denkende, diese Harmonie in Frage Stellende, sind unerwünscht! Werden ausgeschlossen – früher durchaus auch mal gekreuzigt, oder wenigstens verbrannt. Heute werden sie exkommuniziert – oder ganz einfach ignoriert. Manchmal auch erschossen. Jedenfalls gilt: Weg damit! In Beziehungen heißt das: „Wenn du so bist, will ich nichts mit dir zu tun haben! Du hast so zu sein, wie ich dich brauche!“

Natürlich macht sich einer nicht beliebt, der zu so einer geschlossenen Gesellschaft sagt: „Kann denn ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?“ (Lukas 6, 39) Aus der Sicht der Gruppe ist das eine einzige Unverschämtheit! Sie will festhalten, bewahren. Gruppen, Institutionen sind wesentlich konservativ: Es gehört zu ihrem Wesen zu bewahren. Aus der Sicht der Gruppe ist der, der es wagt, ihre Werte, ihre Axiome in Frage zu stellen, böse. Wenn einer aufsteht und den Mut hat, laut zu sagen: Wie könnt Ihr nur so einem Führer hinterher laufen – der kann auch schon mal sein Leben riskieren. (Von daher unterlasse ich es an dieser Stelle, Namen zu nennen.)

In unserem heutigen Predigttext – ein Abschnitt aus dem Römerbrief – spitzt Paulus diese Gedanken zu auf die Frage: Was soll ich denn als Christ machen, wenn ich Unrecht und Unterdrückung sehe, oder wenn ich mich selbst unterdrückt und ungerecht behandelt fühle?

17 Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. 18 Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. 19 Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5.Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«20 Vielmehr, »wenn deinen Fend hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). 21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Ich glaube, wer sich ernsthaft mit diesen Gedanken beschäftigt, der wird schnell zu der Einsicht kommen: Was für mich „gut“ und was für mich „böse“ ist – das gilt nur für mich, ist also höchst subjektiv. Es hängt von meinem Weltbild, meiner Haltung zur Welt ab. Für den Löwen ist die erbeutete Gazelle gut: Sie sichert sein Weiterleben. Für die Gazelle ist der Löwe „böse“ – er nimmt ihr nämlich ihr Leben.

Freilich: Das sind meine menschlichen Gedanken. Es ist meine menschliche Haltung, oder mein menschlicher Blickwinkel. In der Natur geht es anders zu. Da gilt: Es ist, was es ist. Der Löwe muss sein Löwe-Sein leben und die Gazelle ihr Gazelle-Sein. Der Traum vom Paradies, in dem Löwe und Lamm nebeneinander liegen, ist Ausdruck jener starken Sehnsucht nach Harmonie, von der ich vorhin sprach. Diese Sehnsucht ist eine spezifisch menschliche!

Für die jeweilige Gruppe ist der Störenfried ein Böser. Er stört ihren Zusammenhalt, ihren Wunsch nach harmonischem Beieinandersein. Je mehr er versucht aufzudecken, Defizite zu benennen, desto größer wird der Widerstand der Gruppe sein. Sie wird versuchen, ihn „einzufrieden“ (Martin Luther wurde das Amt eines Kardinals angeboten) – oder ihn „auszuscheiden“. (Früher hieß das, jemand ist „vogelfrei“ – das heißt, wer ihn tötet, muss keine Konsequenzen befürchten.) Die Gruppen, die ich persönlich kennen gelernt habe, sei es in der Psychotherapie, sei es in der Kirche, hatten wenig bis kein Interesse daran, sich selbst ernsthaft in Frage zu stellen. Es gab und gibt einen unhinterfragten Gruppenkonsens. (Bei psychoanalytischen Therapeuten wird bereits das Wort „Spiritualität“ vermieden. Sie scheinen es zu fürchten, wie der Teufel das Weihwasser. In kirchlichen Gruppen wiederum ist ernsthafte Selbsterfahrung, die notwendig schmerzhaft ist und Ängste erzeugt, nicht sehr hoch im Kurs.)

Es ist nämlich so: Jede Art des In-Frage-Stellens verunsichert, macht Angst: Und wer die Fundamente, die Basics einer Gruppe in Frage stellt, macht sehr große Angst.

Aktuelles aber harmloses Beispiel: In Pullach gibt es die Gruppe der Hundehalter. Für sie ist das Zusammenleben mit dem eigenen Hund schön. Für den oder die, die zur Zeit in Pullach giftige Köder auslegen, sind Hunde und wahrscheinlich insbesondere ihre Hinterlassenschaften eine ärgerliche Störung. Da sie offenbar vor Gewalt nicht zurück schrecken, legen sie giftige Köder aus, um die Quelle des Ärgernisses zu beseitigen. Wer dies tut, ist zum Untertan seines Hasses geworden. Der Hass will, dass die Störung verschwindet. Diesen Hass verbreiten die populistischen Führer. Sie und ihre Anhänger sind im Hass auf das Störende, Fremde verbunden. „Das darf man sich nicht bieten lassen!“ heißt es. „Vergebung – niemals!“ Vergebung, Nachsicht, Barmherzigkeit macht mich schwach. Es macht ihnen zu viel Angst, diese Haltung in Frage zu stellen. Es ist kaum zu glauben, aber es ist so: In den Propagandisten der Macht wohnen völlig verunsicherte, eingeschüchterte Kinder!

Und genau da kommt der Gedanke von Paulus ins Spiel: „Das Böse mit Gutem zu überwinden.“ Das heißt nämlich, darauf zu verzichten, die nahe liegenden Impulse der Rache und Strafe auszuleben. Das heißt nicht: Danach zu trachten, das Böse aus der Welt zu schaffen, zu vernichten. Das ist die Falle der moralisch anständig Lebenden: Ihre hohe Moral für Empörung und Hass auf die in ihren Augen Nicht-Moralischen zu verwenden. Ich habe mich bei der Fantasie ertappt, wenn man den erwischt, der die Giftköder ausgelegt hat, dann sollte man ihn zwingen, einen seiner Köder – es sind wohl vergiftete Toastbrote – selber zu essen. Diese Fantasie bereitet mir Genugtuung – und wahrscheinlich erlebe ich dabei ganz ähnliche Gefühle, wie sie derjenige hatte, als er die Köder ausgelegt hat. Anders ausgedrückt: Ich werde selber zu einem, der den Anderen vergiften möchte. Ich habe mich mit Hass infizieren lassen.

Nüchterne Erkenntnis: Indem ich versuche, den Hass zu vernichten, bleibe ich sein Untertan! Dies gilt auch für Paulus, der einen anderen Weg des Umgangs mit Hass, Rache und Vergeltung vorschlägt: Überlasse das Gott. Indem er das AT zitiert mit dem Satz: „Die Rache ist mein spricht der Herr …“ verschiebt er den Rache-Gedanken auf Gott. So entsteht ein strafender, richtender Gott. So entstehen Gedanken wie: „Den Corona-Virus hat uns Gott geschickt in seinem Zorn über die gottlose Party-Kultur.“ Oder, noch schlimmer: „Das Leiden der Juden ist eine Strafe Gottes dafür, weil sie seinen Sohn hingerichtet haben.“ In diesen Gedanken wirkt der Hass. Sie werden dann richtig gefährlich, wenn sich Menschen dazu aufgerufen fühlen, „im Namen dieses rächenden Gottes“ zu handeln. Diese Menschen haben Religion in Misskredit gebracht – ähnlich den Hundehaltern, die nicht bereit sind, den Kot ihrer Vierbeiner zu entsorgen!

Heißt das: Es ist zwar ein schöner Gedanke, das Böse mit Gutem zu überwinden, aber leider ist er unrealistisch? Ich glaube, was wirklich unrealistisch ist, das ist die Idee, das „Böse“ abschaffen zu wollen.

Es ist schon sehr viel erreicht, wenn es gehalten wird. Oder eingedämmt. Dazu ist im ersten Schritt nötig, das Böse als Böses zu benennen: Es ist ein Verbrechen, Hunde zu vergiften. Es ist ein Verbrechen, Gewalt gegen Kinder und Jugendliche anzuwenden: Sei es sexuelle Gewalt, sei es körperliche Gewalt. Ja – das ist böse. Vor kurzem hörte ich in den Nachrichten, dass jedem zweiten Kind Gewalt angetan wird. Und dass neun von zehn Kindern in Ländern leben, in denen dies nicht verboten ist. Es also nicht als ein Verbrechen gilt, Kindern Gewalt anzutun. So wie es Länder gibt, in denen sogenannte „Straßenhunde“ einfach erschossen werden!

So ist das. So sind wir Menschen.

Barmherzigkeit, Güte, Einfühlung muss man sich leisten können!

Das gilt auch für die Hundehalter, die keine Verantwortung für ihre Tiere übernehmen. Auch ich ärgere mich, wenn ich auf dem Weg zu meinem Auto in einen Hundehaufen trete. Das geht gar nicht anders.

Die Frage ist: Was folgt aus meinem Ärger?

Es bedarf einer starken Seele, mit dem Täter, genauer mit der „Täter-Seite“ des Täters in Kontakt zu kommen. Dies geht nämlich nur indem ich bereit bin, auch meine eigenen Täter-Seiten kennen zu lernen. Das wiederum kann ich nur, wenn ich differenziert genug bin. Wenn ich anerkennen kann, dass niemand nur Täter und niemand nur Opfer ist. Es sind vielmehr Beziehungen, die in eine Täter- und eine Opfer-Seite zerfallen sind. Man könnte auch sagen: Es sind Beziehungen, in denen Macht und Ohnmacht, Liebe und Hass, entmischt worden sind. Es sind Beziehungen, die in Dualität zerfallen sind.

Indem ich mich dem „Guten“ so zuwende, indem ich versuche, Böses mit Gutem zu überwinden, versuche ich, den „Zerfall“ in gut und böse gleichsam wieder rückgängig zu machen. Versuche ich zu „verbinden“, was auseinander gebrochen ist. Dies ist ein mühsamer und anstrengender Weg. Viel leichter ist es, sich in die Opfer einzufühlen und die Täter zu exkommunizieren. Damit aber werde ich selbst zum Täter. Leider fehlen diese weiterführenden Gedanken gänzlich in der Diskussion über sexuellen Missbrauch in der katholischen wie evangelischen Kirche. Es ist scheint zu gefährlich zu sein, auch Verständnis für die Täter-Seite aufzubringen – müsste ich mich doch unweigerlich dann auch mit meiner eigenen Täter-Seite beschäftigen.

Das Verleugnen der eigenen Täter-Seite führt bei Paulus zu einer ganz besonders raffinierten Variante der Rache: »Wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). Übersetzt heißt das: „Du wirst den Anderen durch Freundlichkeit beschämen.“ Auch dieser Gedanke dient dazu, den eigenen Hass unterzubringen. Indem ich den Anderen mit meiner Freundlichkeit beschämen will, missbrauche ich diese für Vergeltung.

Der Weg raus, der Weg in die Freiheit, lautet: Sich des eigenen Bösen, des eigenen Hasses bewusst zu werden. Erst dann kann ich ihm Einhalt gebieten, ihn quasi einfrieden. Und erst dann habe ich die Chance, frei zu werden!

Für einen freien Mensch gilt: „Wenn deinen Feind hungert, so gib ihm zu essen; wenn ihn dürstet, so gib ihm zu trinken – ganz einfach deshalb, weil du einer bist, der so und nicht anders leben will! Weil du aus deiner Freundlichkeit und deiner Liebe heraus so – und nicht anders – mit deinem Nächsten umgehen möchtest!“

Für mich ist das die Haltung eines freien, besser befreiten Christen-Menschen. Um sie zu erlangen, benötigen wir die innere Verbindung mit einem starken, freien und liebevollen Gott – der es gerade nicht nötig hat, etwas zu vergelten oder gar, sich zu rächen. In diesen Gott sind wir hinein getauft, in diesem Gott verbinden und verbünden wir uns in der Feier des Heiligen Abendmahles. Und dieser Gott wirkt in uns immer dann, wenn wir uns unserer Fähigkeit zu lieben, zuwenden. Böses mit Gutem überwinden ist nichts weiter als eine mögliche Handlungsanweisung des Doppelgebotes der Liebe: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft. Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mk 12, 29)

Gebe Gott, dass wir täglich stärker und freier dafür werden, unseren Alltag nach diesen Worten auszurichten – so dass es immer selbstverständlicher und leichter wird, „Böses mit Gutem zu überwinden“, AMEN.

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Predigt an Pfingsten 2020 über Apostelgeschichte 2, 6

Liebe Gemeinde,

seit alters her ist das Pfingstfest die Feier der Ausgießung des Heiligen Geistes und in eins damit das des Geburtstages der Kirche.

Ich möchte heute über einen Aspekt der Ausgießung des Heiligen Geistes predigend nachdenken:

Über Verstehen und Verstanden werden. Oder, anders:

Pfingsten, das Fest der Verständigung!

„ … ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden …“ (Vers 6)

Was im übrigen keine Freude oder andere positive Gefühle auslöste – ganz im Gegenteil: „Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, Galiläer? Wie hören wir sie denn ein jeder in seiner Muttersprache?“ (Vers 7) Gefühle von Entsetzen sind begleitet von Gefühlen der Hilflosigkeit und Ratlosigkeit, gepaart mit Angst, Ärger und Wut, vielleicht sogar Hass. Solche Gefühle mögen wir Menschen, mag unser „ICH“ nicht: Es wehrt sich dagegen. „So ein Blödsinn!“ sagt es. Auch Spott gehört dazu: „Die sind nicht ernst zu nehmen! Sie sind besoffen!“ Und damit ist auch schon die Rechtfertigung ausgestellt, sich davon abzuwenden. Das Ganze zu ignorieren.

Kurzum: Wir Menschen mögen es nicht, erleben zu müssen, nichts, aber auch gar nichts zu verstehen!

Man hat gesagt, das christliche Pfingstfest ist die Aufhebung der babylonischen Sprachverwirrung. Da, wo Verwirrung gewesen ist, tritt durch das Wirken des Heiligen Geistes Verständigung ein.

Wie schön wäre das: Verständigung im Kleinen wie im Großen, in den Familien wie unter den Völkern. Ja – wenn es doch nur so einfach wäre! Denn es ist ja anzuerkennen, dass das eigentliche Problem nicht die Sprache, sondern die Verständigung innerhalb ein und derselben Sprache ist! Das Problem hat mit Interessengegensätzen, Meinungsverschiedenheiten zu tun. Und mit Emotionen wie Neid, Gier, Angst usw.

Dabei steht am Anfang von Verständigung keineswegs „das Wort“ – oder die Sprache. Es gibt eine Verständigung, die auf gesprochene Sprache gar nicht angewiesen ist: Zum Beispiel mit einander Musizieren. Oder Körpersprache … Auch die Kommunikation mit Tieren kommt mehr oder weniger ohne Worte aus.

Am Anfang der Verständigung steht nicht das Wort, sondern das Interesse: Bin ich überhaupt bereit, den Anderen zu verstehen? Und, anders herum: Bin ich bereit, mich verständlich zu machen?

Unsere Welt und unser Alltag lehrt: Es wäre naiv, beide Fragen mit ja zu beantworten. Es ist nämlich leider so, dass sich verständlich machen und den Anderen zu verstehen ein anstrengendes und durchaus mühsames Unterfangen ist. Es bedarf Tugenden, die nicht en vogue sind: Geduld, Warten-Können, sich Zeit nehmen, sich einlassen. Und in alledem auszuhalten, nichts zu verstehen. So sind wir übrigens alle auf die Welt gekommen: Wir haben nicht einmal „Bahnhof“ verstanden! In der Bibel heißt es deshalb so schön: Es war „tohu wa bohu“ – frei übersetzt: Es ging drunter und drüber!

Die Schöpfung ist nichts anderes als die Transformation dieses Ur-Chaos oder dieser Ur-Finsternis. In ihr entsteht Gestalt, Struktur. Es ist der Geist Gottes, der Heilige Geist, der dies vermag. Es ist ein Geist der guten, dem Leben dienenden Ordnung. „Und Gott sah, dass es gut war“, heißt es deshalb am Ende eines jeden der sechs Schöpfungstage. (Nur beim siebten Tag, mit dem der Sabbath in die Welt kommt, fehlt es! Von ihm heißt es, dass Gott an ihn ruhte, ihn segnete und heiligte.)

Der Gegenspieler dieses ordnenden Verstehens ist der Triumph des Chaos. Die Lust am Zerstören. „Wir müssen uns doch nicht an diese blöden Einschränkungen halten …“ Es ist kein Zufall, dass in den Ländern, die von sogenannten populistischen Führern regiert werden, die Zahl der Infektionen und der Toten am höchsten ist. Und es ist auch kein Zufall, dass genau dies vertuscht werden soll. Der Satan, der Diabolos (wörtlich: Durcheinander-Werfer) arbeitet im Verborgenen.

Verstehen und verstanden-werden hat mit der Bereitschaft zu tun, sich an Ordnungen anzupassen, anstatt sich darüber hinwegzusetzen. Dies gilt auch für das Miteinander-Sprechen. Sich an Ordnungen zu halten heißt, Grenzen zu akzeptieren. Heißt aushalten, dass ich begrenzt bin. Spürbar werden meine Grenzen über meinen Körper und seine Endlichkeit und Vergänglichkeit. Er spricht in seiner Körper-Sprache zu mir, in Form von Hunger und Durst, in Form von Müdigkeit, Schmerzen, in Form von Herzklopfen oder Schwitzen usw. Anders kann er sich mir nicht verständlich machen. Auf der anderen Seite meines Körpers steht mein Ich, mit seinen Wünschen, Hoffnungen, Sehnsüchten – auch mit seinen Enttäuschungen, Verbitterungen. Und mit seiner Bereitschaft, den eigenen Körper neugierig-liebevoll kennen zu lernen. Dies ist nicht selbstverständlich. Gelingt es mir, meinem Ich, sich für meinen Körper und für das, was er versucht auszudrücken, zu interessieren? Oder soll er vor allem funktionieren und ansonsten still sein? Vielleicht habe ich mich gerade so als Kind gefühlt: „Kinder soll man sehen, aber nicht hören!“ lautete eine der Regeln der sogenannten schwarzen Pädagogik. Oder ich habe als Kind gelernt, dass das Wichtigste ist, dass ich „gut“ oder „nett“ ausschaue. Dann werde ich viel Energie dafür aufbringen, dass mein Körper diesen Idealen entspricht. Auch dies hat nichts mit wahrhaftigem Interesse für ihn und an ihm zu tun, sondern damit, dass er nicht genügt, so wie er ist. „Inter-esse“ heißt nämlich laut Duden wörtlich: „dazwischen sein, dabei sein, teilnehmen, von Wichtigkeit sein“.

Nehme ich am Leben meines Körpers Anteil? Und zwar liebevoll-neugierig?

Oder verstecke ich mich und meine Körperlichkeit, wozu es im Christentum leider eine lange Tradition gib.

Adam, wo bist du?“ Dies ist die erste Frage Gottes an „Adam“, den „Menschen schlechthin“. Gott ist am Einzelnen interessiert. Gott spricht den Einzelnen direkt an. Und genau davor hat Adam Angst. Der Mensch hat sich versteckt. Er wagt es nicht, für sich selbst einzutreten. Aus Scham und aus Angst. Er wagt es nicht, Gott zum Gegenüber, zum „Du“ zu werden.

Dies ist unsere Situation: Wir verstecken uns – vor Gott und so vor uns selbst. Aus Angst und aus Scham. Wir wagen es nicht, zu uns selbst zu stehen: mit unseren Wünschen, mit unseren Gedanken, mit unseren Handlungen. Wir sind feige. Was hatte Adam gemacht? Er hatte sein Weib erkannt, heißt es: „Und Adam erkannte Eva.“ Erkennen bedeutet im Hebräischen „sich für den anderen interessieren“, am Leben und an der Lebendigkeit des Anderen teilnehmen und Teilhabe gewähren – einschließlich gemeinsamer Sexualität. Von daher geht „erkennen“ fließend in „lieben“ über.

Die Wurzel des Verstehens und der Verständigung liegt in der Bereitschaft zu lieben und sich lieben zu lassen. Dies ist etwas sehr anderes als sich bewundern zu lassen und über Andere zu triumphieren.

Liebe entsteht in der Hinwendung zu mir und zu meinem jeweiligen Nächsten. Die Haltung dieser Hinwendung ist freundliche Aufmerksamkeit – ohne schon zu wissen, was der Andere braucht oder was ihm gut tut. Auch ohne zu wissen, was er falsch macht und was er verbessern könnte.

Liebe heißt, sich für den Anderen gerade so wie für mich selbst zu interessieren. Die Haltung ist freundliche Offenheit.

Adam, wo bist du?“ ist Gottes Raum gebende Frage. Und nicht: „Adam, wie konntest du nur, du bist falsch …“ Ich weiß, dass Religion seit es sie gibt für Pädagogik und Moral missbraucht worden ist. Gerade so hat sie ihr Ansehen verloren.

Für mich ist Religion die Hin- und Rückführung des Menschen zu sich selbst: zu seinem Eigenen und zu seinem Eigentlichen.

Oder – wie es in einer chassidischen Geschichte heißt: Als Rabbi Sussja merkte, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, sagte er: „In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen, warum bist du nicht Moses gewesen. Man wird mich fragen: Warum bist du nicht Sussja gewesen?“

Und in einem indischen Weisheitswort heißt es:

Warum bringt du nicht deinen eigenen Lotus zum Blühen? Die Bienen werden dann von selbst kommen.“

Und Paul Gerhardt hat gedichtet: „Mach in mir deinem Geiste Raum, dass ich dir werd ein guter Baum und lass mich Wurzel treiben. Verleihe, dass zu deinem Ruhm ich deines Gartens schöne Blum und Pflanze möge bleiben.“

Immer wenn dies geschieht – dann ist Pfingsten! AMEN

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Der erste Band meiner Predigten ist auch im Buchhandel erhältlich!

Unter dem Titel: „Gott geschieht im Dritten. Therapeutische Predigten Band 1“ (Fromm Verlag 2012) sind jetzt Predigten nachlesbar. Der Band enthält auch eine ausführliche Einleitung zu meinem Predigtverständnis.

Das Buch umfasst 150 Seiten und kann auch bei mir direkt (über Mail) bestellt werden. Es kostet 30 Euro.

Ein zweiter Band ist in Vorbereitung.

 

In Corona-Zeiten finden Sie einen Gottesdienst zu Karfreitag und Ostern unter folgendem Link:

 

 

 

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Predigt über die „Todsünde“ der Lethargie in Zeiten des Corona-Virus

Liebe Gemeinde,

ich habe heute über die Todsünde oder Wurzelsünde der Lethargie zu predigen.

Vorab eine Definition: Unter Sünde verstehe ich die „Entfremdung von mir und von Gott“. Gott ist für mich kein jenseitiges „Wesen“, sondern jene Kraft oder Energie, in der und aus der heraus ich meine Leben leben darf. Er ist eine Chiffre für mein in der Tiefe unerkennbares „Ureigenstes“. Sünde bedeutet: Dieses, mein „Ureigenes“, ist mir fremd.

Zwei griechische Worte stecken in „Lethargie“:

lethe“ und „argos“

Lethe“ bezeichnet in der griechischen Mythologie den „Fluss des Vergessens“, den der Verstorbene zu überqueren hat. Das Substantiv „Lethe“ heißt einfach: das „Vergessen“.

Und „argos“: So hieß der Jagdhund des Odysseus, der untätig auf dem Misthaufen gelegen hatte und von allen vergessen worden ist – während er selbst sein Herrchen in den 20 Jahren des Wartens nicht vergessen hatte. Er ist der Erste, der den zurückkehrenden Odysseus erkannte und schwanzwedelnd begrüßte. Zum Sich-Aufrichten war er zu schwach: – von Ungeziefer zerfressen, starb er im Moment des Wiedersehens.

Im Griechischen heißt „argos“: „untätig, träge, faul“. Sie merken – das gilt für den Hund des Odysseus nur aus der Sicht derer, die ihn vergessen hatten. Argos hatte die Kraft, die verinnerlichte Beziehung zu Odysseus zu halten. Dies ist die Kraft der Liebe.

Verbindet man die beiden Worte, so entsteht ein Gedanke wie:

Im Vergessen untätig werden.“

Ich kenne Menschen, die sagen: „Ich weiß nicht, was ich gemacht habe. Ich glaube gar nichts. Ich saß einfach da und nach vier Stunden habe ich gemerkt, ich sitze immer noch da, nur jetzt ist es vier Stunden später.“ Der Wüstenvater Euagrios Ponticus hat das so beschrieben: „Der Dämon der acedia (wörtlich „Gleichgültigkeit – Sorglosigkeit“), der auch Mittagsdämon genannt wird, ist der beschwerlichste von allen. … Zuerst bewirkt er, dass die Sonne sich nur schwer oder gar nicht zu bewegen und dass der Tag 50 Stunden zu haben scheint. Dann treibt er einen an, ständig zum Fenster hinauszuschauen … Weiter impft er einem die Aversion gegen den Ort ein, an dem man lebt und gegen die Lebensweise selbst …“

Vor kurzem sagte mir jemand: „Ich hatte mir so fest vorgenommen zu arbeiten; aber dann konnte ich mich nicht konzentrieren, dann war ich sauer auf mich, dann habe ich mir einen Porno reingezogen und weil es dann auch schon egal war, habe ich mir mehrere Flaschen Bier genehmigt …“

Die Falle im Umgang mit solchen Menschen ist, sie zu pushen: „Du musst endlich mal deinen A. hoch kriegen; immer darf ich die Sachen für dich erledigen …“ Das, was wie „pushen“ aussieht, ist in Wahrheit aus dem Ärger, aus der Wut geboren!

Und das spürt der Andere ganz genau! Und sitzt es aus. Lethargische Menschen sind Meister im Aussitzen. Um sie zu erreichen und ihnen vielleicht zu helfen, sich selbst zu erreichen, ist es nötig, diese Gefühle der Wut bei sich selber zu spüren und durch zu arbeiten. Erst dann habe ich eine Chance, den Anderen zu erreichen. (Dies gilt im übrigen für jedes ernsthafte Gespräch. Solange ich nur sauer auf den Anderen bin, ist alles, was ich erreiche, dass dieser sich schützt. Und Sich-Schützen ist die Gegenbewegung zu Sich-Öffnen.)

Es geht um liebevolles Verstehen. Was steckt denn hinter der Lethargie?

Der lethargische Mensch hat „sich selbst vergessen“! Daraus folgt seine „Untätigkeit“. Ein typischer Traum eines solchen Menschen ist, dass er sein Auto nicht mehr findet, oder den Schlüssel zu seiner Wohnung nicht mehr findet oder sich in einer fremden Stadt verlaufen hat und nichts bei sich hat: kein Geld, keinen Ausweis … In wieder anderen Träumen wird er ausgeraubt und kann nichts dagegen tun.

Dieses „Vergessen“ schlägt sich nicht nur in der Traumwelt, sondern auch in der äußeren Welt nieder: Schon als Schüler tat er sich schwer, die richtigen Hefte und Bücher mit zu bringen. Zu lernen um gut zu sein oder etwas zu wissen, ist kein erstrebenswertes Ziel. Eher schon, nicht zu funktionieren, sich durch zu mogeln.

Als Erwachsener ist er viel mit Suchen von Dingen beschäftigt, die er vorher „gedankenlos“ verlegt hat: Insbesondere Brillen oder auch Schlüssel eignen sich hierfür bestens. Oder er „vergisst“ einen vereinbarten Termin. Die vermeintliche Rettung lautet dann: Ich muss mir alles aufschreiben. Der Sog des Vergessens kann jedoch bewirken, dass er vergisst, da nachzuschauen, wo er den Termin aufgeschrieben hat. In der Tiefe sind diese Menschen „nicht ganz da“ – sie lieben es, vor sich hin zu träumen. Der Computer, Marihuana oder Alkohol sind beliebte Hilfsmittel, dieses Träumen zu unterstützen.

Die Realität erscheint unwirtlich und hart. Als Kinder haben sie erlebt, dass es wenig um sie ging. Es sind die Kinder, die verinnerlicht haben: „So, wie ich behandelt werde, scheine ich für meine Eltern nicht sehr wichtig zu sein. Sie scheinen keinen Wert darauf zu legen, dass ich etwas kann. Sie scheinen auch nicht stolz auf mich zu sein. Leistung ist nicht so wichtig. So tun sich diese Menschen in unserer Leistungsgesellschaft schwer; man wird sie kaum in Positionen finden, zu denen hin man sich „durcharbeiten“ musste. Oft sind sie als Kinder auch sehr verwöhnt worden: die „harten“ Alltagsarbeiten, wie Zimmer selber aufräumen oder gar selber zu putzen wurden ihnen „erspart“…

Und da wir Menschen unsere Grundüberzeugungen, mit denen wir durchs Leben gehen, unbewusst und selbstverständlich auch auf unsere Mitmenschen anwenden, kommt es vor, sich im Zusammensein mit solchen Menschen auch vergessen und/oder unwichtig zu fühlen. Es ist unwahrscheinlich, eine schnelle Antwort auf eine Nachricht zu bekommen. „Ich bin eh nicht wichtig“ heißt auch: „Ich glaube nicht, dass ich für dich wichtig bin, dass du dich wirklich für meine Meinung, meine Rückmeldung interessierst.“ Im Grunde seiner Seele zweifelt der Lethargische daran, ob es ihn wirklich gibt. Und Menschen, die mit ihm zu tun haben, erleben oft genau dasselbe: Gibt es mich eigentlich für ihn?

Liebe Gemeinde,

ich könnte mir gut vorstellen, dass Ihnen beim Zuhören etliche Menschen eingefallen sind, auf die der eine und/oder andere Gedanke dessen, was ich gesagt habe, zutrifft.

Mir ging es beim Schreiben genau so.

Schwieriger ist es, dies alles auf „mich“ – also auf sich selbst anzuwenden.

An welchen Stellen bin ich, sind Sie „im Vergessen untätig“?

Dazu müssen wir uns noch einmal dem „Vergessen“ zuwenden.

Es gibt nämlich zwei Arten von „Vergessen“: Eine kerngesunde und eine ungesunde.

Die kerngesunde Art des Vergessens ist die Fähigkeit des Loslassens. Dass mich etwas, was ich erlebt habe, nicht weiter quält. Was bin ich froh und dankbar, nicht alles, was ich in meinem Leben gedacht, gesagt und getan habe, erinnern zu müssen. Das ist die Wahrheit von: „Glücklich ist, wer vergisst!“

Die ungesunde Art des Vergessens ist ein: „so tun, als ob nichts ist.“ Diese Art des Vergessens hat viel mit Ignoranz zu tun. Sie dient der Abwehr von extrem unangenehmen und belastenden Gefühlen, die sich mit einem ganzheitlichen Blick auf das, was ist bzw. gewesen ist, einstellen würden. Psychologen nennen dieses „Vergessen“ bzw. „Ignorieren“ Verdrängung, auch Verleugnung. Es ist ein wesentlicher Schutz der menschlichen Seele bei Verletzungen. Nun lassen sich Verletzungen aber nicht „vollständig“ verdrängen. Was bleibt sind „Nebenwirkungen“ wie Schlafstörungen, chronische Erschöpfung, Gereiztheit, zu hoher Blutdruck, Infektanfälligkeit, häufige Niedergeschlagenheit usw.. Auch der Ausbruch von schweren Erkrankungen wie Krebs oder Herzinfarkt kann mit schweren unverarbeiteten seelischen Verletzungen einher gehen. Bei diesen Traumata ist die Seele mit ihren Möglichkeiten des Verarbeitens am Ende: Sie benötigt externe professionelle Hilfe.

Wobei es ein verbreitetes Missverständnis ist, Psychotherapie, gerade auch psychoanalytische Therapie, kreise um die Vergangenheit, „stochere“ nach Erlebnissen in der Kindheit. Vor kurzem sagte mir ein Patient: Ich weiß schon so ungefähr, warum ich so bin, wie ich bin. Ich möchte heute etwas ändern.

Das ist völlig richtig. Das „Stochern“ in der Vergangenheit „bringt“ nichts, oder, schlimmer noch: Es bringt die Gefühle eines Opfers. „Was wurde mir nicht alles angetan!“ Dies führt zu Selbst-Mitleid und zur Spaltung des Denkens und Erlebens in Täter und Opfer.

Die entscheidende Frage ist nicht die Warum-Frage.

Die entscheidende Frage ist die Wie-Frage: Wie wirken sich seelische Verletzungen, die ich erlitten habe und die mir so nicht mehr bewusst sind, auf meine Gegenwart aus. Es geht also darum, Verbindungen aus der Vergangenheit mir der Gegenwart herzustellen. Mit dem Ziel: Dann vergessen zu können. Denn alles, was ich wirklich „durchgearbeitet“ habe, kann ich am Ende loslassen. Es ist das emotional nicht Erinnerbare, das uns in der Gegenwart quält.

Und ein Letztes: Ein Lob der Faulheit!

In unserer Leistungsgesellschaft ist schnell von Faulheit die Rede, wo es um Werte geht, die scheinbar nichts mit Leistung zu tun haben: Langsamkeit, Achtsamkeit, Behutsamkeit. Oder wie Argos: „Warten-Können“. Diese Werte haben allesamt mit Nicht-Tun zu tun. Von daher ist die zur Eindämmung des Corona-Virus aufgezwungene Quarantäne unser Guru. Endlich haben wir das, was in unserer Leistungsgesellschaft so sehr fehlt: Zeit!

Und diese Zeit ist keine Tun-Zeit – es ist eine Sein-Zeit. Es ist die Gelegenheit, sich selbst neu kennen zu lernen: im Da-Sein. Die sich dabei möglicherweise einstellenden Gefühl von Öde, Langeweile, vielleicht sogar Sinnlosigkeit sind auszuhalten. Sie sind die Quelle für echte Kreativität!

Dass uns dies alles in der Passionszeit jetzt trifft, könnte (uns) Christen fast heiter stimmen. Der Umgang mit dem Corona-Virus ermöglicht nämlich eine echte Passionszeit – die noch einmal ganz andere Gefühle hochholt, als das Bekannte: Ich verzichte mal sechs Wochen auf Alkohol, Nikotin … Das ist „Passionszeit light“.

Gerade aber ist es ernst geworden. Wir haben neu zu lernen, dass die berühmte „Selbstbestimmung“ und „Selbstverwirklichung“ nicht der einzige und auch nicht der höchste Wert eines guten Miteinanders sein kann. Und es besteht die Hoffnung, dass ein „weiter so“ nicht mehr möglich ist. (Wobei die aktuellen Bilder aus China mit dem Triumph, „wir haben das Virus besiegt“, diese Hoffnung sogleich wieder dämpfen.)

Lass die Toten die Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!“ Das ist einer der zentralen Sätze unseres heutigen Evangeliums. Das Reich Gottes ist kein jenseitiges: Es ist überall da, wo die Verbindungen geordnet sind: zunächst einmal innerhalb meiner und dann zu meinen Mitmenschen. Wesentliches Kennzeichen dieses Reiches ist ein Grundgefühl der Heiterkeit. Diese erwächst aus einer Grundsicherheit des Gehalten-und Geliebt-Seins. Je tiefer ich dies in mir finde und trage, desto leichter werde ich es auch ausstrahlen. Natürlich gehört dazu auch die Bereitschaft, Verantwortung zu tragen: für das eigene Leben und das Leben der Gemeinschaft. Ein Ausdruck dieser Verantwortung sind die derzeitigen erheblichen Einschränkungen des sozialen Lebens.

Mag sein, dass Menschen all dies können und überzeugt nicht an Gott glauben. Ich kann es so nicht. Mir hilft mein Glaube an, mein Vertrauen auf eine Kraft oder Energie, die „meine Abwehr stärkt“. Die mit den „Eindringlingen“, genannt Viren, schon fertig werden möge. Und wenn nicht: Dann ist es das, was es ist.

In Gottes Namen, Amen.

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Predigt über Genesis 3, 1-24 am Sonntag Invocavit 2020

Liebe Gemeinde,

er ruft mich und ich antworte ihm“ – dieser Satz aus Psalm 91, 15 hat unserem heutigen Sonntag, dem ersten Sonntag in der Passionszeit seinen Namen gegeben: Sonntag „Invocavit“.

Er ruft mich, und ich antworte ihm!“ dies ist Gottes einfache Antwort auf den Ruf des Psalmsängers: „Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich vertraue!“

In dem heutigen Evangelium hörten wir von einem anderen „Rufer“, von einem verführerischen Ruf: „Wenn du Gottes Sohn bist, ….“ hatte er zweimal gesagt – dann kannst du aus Steinen Brot machen, kannst dich einfach in die Tiefe stürzen – wenn du Gottes Sohn bist, dann bist du doch allmächtig, dann kann dir doch nichts passieren. Und Jesu Antwort entspricht dem Ruf des Psalmsängers: „Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich traue!“ Die innige, vertrauensvolle Beziehung zu Gott schützt am Wirksamsten vor der Versuchung, sich selbst für allmächtig zu halten: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht“ – „Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen“ -. In der dritten Versuchung outet sich der Satan – jetzt wird deutlich, worum es wirklich geht: „Alle diese Reiche will ich dir geben, wenn du vor mir niederfällst und mich anbetest!“ Und Jesu Antwort – wiederum sehr schlicht aus seinem Gottvertrauen heraus: „Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.“

Wer sich für sich selber, für seinen Lebensweg und für sein Geworden-Sein interessiert, für den ist es wichtig unterscheiden zu lernen zwischen dem Ruf der Ver-Führung und der Führung hin zu Gott. In der Verführung wird Gott ignoriert und es geht um das eigene Können, die eigene (All-)Macht. Der Verführer rät dazu, sich selbst, den eigenen Standpunkt „absolut“ zu setzen. „Absolut“ heißt wörtlich: Losgelöst von allem Anderen, losgelöst von der Gemeinschaft, losgelöst von dem Eingebunden-Sein in die Schöpfung. Nicht Gott als Inbegriff des Anders-Seins, des Fremden, des Unverfügbaren ist das Zentrum, sondern das eigene Ego. Egozentrisch heißt: Mein Ego ist zum Fixstern geworden – um ihn kreist mein Denken und Handeln. (Wer danach strebt, möglichst mächtig, erfolgreich, berühmt und reich zu sein, dem werden meine heutigen Predigt-Gedanken nicht interessieren.)

Unser heutiger Predigttext gibt eine mythologische Antwort auf die Frage nach der Entstehung des Menschen als desjenigen Lebewesens, das um sich selbst weiß, das sich seiner selbst bewusst ist. Sie alle kennen die berühmte Geschichte von der „Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies“ (Genesis 3)

Als „der Sündenfall“ ist sie lapidar überschrieben, und ich vermute, genau so haben wir sie im Religionsunterricht kennen gelernt, so wurde und wird sie gepredigt, so hat sie sich in zahllosen Kirchenliedern niedergeschlagen: Sie handelt von dem Ungehorsam Adams und Evas und von einem zornigen, fluchenden und verfluchenden Gott. Seinem „Fluch“ entspricht die „ungeheuerlich große Sünde“ auf unserer, auf menschlicher Seite, die nur von Gott selbst wieder gut gemacht werden kann. „Wir (Menschen) haben nichts als Zorn verdient …“ – das ist die Botschaft vieler Passionslieder.

Diese moralische Deutung der Geschichte vom sogenannten „Sündenfall“ hat viel Unheil und viel Elend angerichtet. Hinzu kommt die Engführung mit Sexualität, was dazu geführt hat, lebendige, liebevolle Sexualität zu „verteufeln“. Wer den Film „Das weiße Band“ gesehen hat, weiß, was ich meine. Er zeigt die Auswüchse dieses Denkens innerhalb eines protestantischen Pfarrhauses kurz vor Ausbruch des I. Weltkrieges.

Ich schlage einen nicht-moralischen Zugang zu dieser Geschichte vor: Dann handelt sie davon, wie der Mensch die selbstverständliche Gemeinschaft mit der Schöpfung verloren hat und zu dem geworden ist, was er bis heute ist:

Ein Tier, das „ich“ sagen kann!

Und damit ist das „Paradies unbeschwert-selbstverständlichen Lebens“ verlassen. Es ist keine Strafe für ein Vergehen, sondern Folge einer natürlichen Entwicklung. Der Kabbalist Friedrich Weinreb bezeichnet den „Baum der Erkenntnis“ als den Baum der Zweiheit: Von ihm essen, das heißt seine Frucht „verinnerlichen“, führt notwendig in die Zweiheit, in das „Entweder-Oder-Denken“. Indem ich mir meiner Selbst gewahr werde, werde ich meiner Getrenntheit von allem Anderen gewahr. Im Entstehen des Ich entsteht das Du. Und dies ist nicht verbunden mit einem Glücksgefühl, sondern mit einem Gefühl der Scham: „Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.“ (Vers 7) Und als Gott am Abend die berühmte Frage stellt:

Adam, wo bist du?“ bekommt er als Antwort:

Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich.“

Sie wurden gewahr, dass sie nackt waren“ – dies ist der Beginn des langen Weges der Selbst-Erkenntnis. Ein Weg, auf dem es kein direktes Zurück mehr gibt. Der Zugang zum Paradies ist für immer verschlossen; er wird bewacht von den Cherubim mit einem „flammenden, blitzenden Schwert.“

Und am Beginn des Weges steht die Scham und die Furcht. Ich glaube im übrigen, dass Angst, Scham und Schuldgefühle die größten Stolpersteine auf dem Weg der Selbst-Erkenntnis sind. Die Macht des Verführers gründet genau hier: Er sagt, wenn du dich an das hältst, was ich dir sage, dann bist du nie mehr ohnmächtig, musst dich nie mehr schämen. Im Gegenteil, du wirst dafür geliebt, dass du Steine in Brot verwandeln kannst, du wirst dafür bewundert, welchen Mut du hast, was du dich alles traust, und du wirst über einen unermesslichen Reichtum verfügen.

Wer so antworten kann, wie Jesus, der benötigt ein tiefes Vertrauen in die Gegenwart Gottes. Dieses Vertrauen gründet darauf, dass Gott mit geht. Dass er mich nicht alleine, nicht im Stich lässt. Das ganze Alte Testament ist voll von Geschichten, wie Gott in und mit der Geschichte seines Volkes in das Geschehen dieser Welt hinein kommt. In allem Leiden, in aller Zerstörung und doch in unzerstörbarer Hoffnung. Für uns Christen geht eben dieser Gott des Alten Testamentes noch einmal in ganz besonderer Weise diesen unseren Weg in Jesus aus Nazareth mit, an dessen vorläufigem Ende das Scheitern, die sogenannte „Torheit“ und Ohnmacht des Kreuzes steht. Und auch dies hat Jesus nicht in seinem Vertrauen zu Gott beirrt. So wurde er für uns der Christus, der „Gesalbte“ Gottes. In ihm vollzieht sich die Verwandlung des „Alten Adams“ und so die Rückkehr zu Gott. In ihm verwandelt sich das Kreuz des Geächtet-, des Ausgeschlossen-Worden-Seins zum Baum des Lebens, des neuen Lebens in Gott. Dieses „Neue Leben“ ist ein „Leben von der Auferstehung her“, wie Dietrich Bonhoeffer sagt. In ihm hat sich die Zweiheit verwandelt: Sie ist nicht länger hermetisch abgeriegelt, vielmehr konnte sie sich öffnen hin zur Drei. Es ist der Dritte, der Heilige Geist, der die Ohnmacht des Vaters im Angesicht des toten Sohnes in Lebendigkeit verwandelt. In vielen künstlerischen Darstellungen wird der Heilige Geist im übrigen als Frau dargestellt. Es ist die Kraft der Weiblichkeit Gottes, die Kraft des Aushaltens und Empfangens, die „neues Leben“, neue Lebendigkeit mit sich bringt. Die Personifizierung dieser Kraft geschieht in Maria. So passt es gut, dass dieser Gottesdienst von Stücken aus Monteverdis Marienvesper umrahmt wird.

Die Kabbala lehrt, dass der direkte Rückweg in das Paradies von Gott verhindert wurde, damit der Mensch nicht auch noch vom Baum des Lebens esse. Vers 24: „Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.“

Der neue und einzige Weg hin zum Baum des Lebens führt aus der Engführung der Zwei heraus – hinein in die Lebendigkeit des „Zu-Dritt-Seins“. Hier ist keiner mehr ausgeschlossen, weil die Verbindungen der „Drei“ von Liebe durchdrungen sind. Im Grunde genommen lebt die Verführungskunst des Verführers davon, den abwesenden Dritten schlecht zu reden, um ihn auszuschließen, zu exkommunizieren. Wir sind umso weniger verführbar, je sicherer die Beziehung mit und zu dem, der gerade nicht da ist, in uns verankert ist. Die Verführung greift nämlich nur in der Abwesenheit des Dritten – niemals in seiner Anwesenheit. Das gilt für Adam und Eva im Paradies, das gilt für das Machen das Goldenen Kalbes, das gilt für die Versuchung Jesu in der Wüste. „Es merkt doch keiner“, oder: „was ist denn dabei“, oder „das muss er oder sie doch nicht erfahren“ – dies sind die Einfallstore für die List des Verführers.

Gebe Gott, dass wir seine starke und liebevolle Begleitung in unserem Leben spüren, so dass wir selbst stark und liebevoll werden und die listigen Einflüsterungen der vielen Verführerinnen und Verführer heiter erkennen, sie benennen und damit entmachten AMEN.

3, 1 Und die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der Herr gemacht hatte, und sprach zu der Frau: Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?

2 Da sprach die Frau zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten;

3 aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet!

4 Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben,

5 sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.

6 Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von seiner Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß.

7 Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.

8 Und sie hörten Gott den Herrn, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seiner Frau vor dem Angesicht Gottes des Herrn zwischen den Bäumen im Garten.

9 Und Gott der Herr rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du?

10 Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich.

11 Und er sprach: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen?

12 Da sprach Adam: Die Frau, die du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum und ich aß.

13 Da sprach Gott der Herr zur Frau: Warum hast du das getan? Die Frau sprach: Die Schlange betrog mich, sodass ich aß.

14 Da sprach Gott der Herr zu der Schlange: Weil du das getan hast, seist du verflucht vor allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Staub fressen dein Leben lang.

15 Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Samen und ihrem Samen; er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.

16 Und zur Frau sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein.

17 Und zum Mann sprach er: Weil du gehorcht hast der Stimme deiner Frau und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen –, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang.

18 Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen.

19 Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde wirst, davon du genommen bist. Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.„20 Und Adam nannte seine Frau Eva; denn sie wurde die Mutter aller, die da leben.

21 Und Gott der Herr machte Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an.

22 Und Gott der Herr sprach: Siehe, der Mensch ist geworden wie unsereiner und weiß, was gut und böse ist. Nun aber, dass er nur nicht ausstrecke seine Hand und nehme auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich!

23 Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, dass er die Erde bebaute, von der er genommen war.

24 Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens.

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Predigt über Matthäus 20, 1- 16 am Sonntag Septuagesimä 2020

Liebe Gemeinde,

Mensch ist das ungerecht!“

Ich vermute, jedem von uns würde schnell eine Geschichte einfallen, in der er sich ungerecht behandelt gefühlt hat.

Auch die „Arbeiter im Weinberg“, über die heute zu predigen ist, beschweren sich: „Da haben wir uns den ganzen Tag in der Hitze für dich geplagt und bekommen genauso viel Lohn wie jene, die gerade mal eine Stunde gearbeitet haben.

Mensch, ist das ungerecht!“

Und die nüchterne Antwort: „Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin?“

Ein „Silbergroschen“ entsprach damals ungefähr dem Geld, das eine vierköpfige Familie benötigt, um zufrieden leben zu können. Also ein fairer Preis.

Nun ist es eine Verführung, das Gleichnis dafür zu verwenden, um über Gerechtigkeit

nachzudenken. Es geht nur vordergründig um die Frage, ob Gott gerecht ist.

Im Hintergrund steht ein anderes Thema, über das selten laut gesprochen wird. Ein Thema, das umrankt ist von Schamgefühlen. Weshalb es auch so schwer ist, sich, dass es auch mich betrifft: Es geht um NEID!

„Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin?“ „Scheel“ ist ein altes Wort und bedeutet so etwas wie: ‚Eine auf Missgunst, Neid, Misstrauen oder Geringschätzung beruhende Ablehnung; sie drückt Feindseligkeit aus.‘

Neid und Gier gesellt sich gerne. So ist man sich nicht selten darin einig, wie „ungerecht das hier alles ist“. „Wie ungerecht man selbst behandelt wurde, behandelt wird. Und dass man gar nicht einsieht, die Steuern zu zahlen, die zu zahlen sind, Und dass Schwarzarbeit doch jeder macht … Und überhaupt: Sollen doch erst mal die Anderen!“

Ich behaupte, diese verbreitete Haltung ist Ausdruck einer Lebens-Haltung. Dahinter steht ein Grund-Gefühl des Zu-kurz-gekommen-Seins. Dieses verschärft sich im Vergleich mit Anderen. Wer mit Geschwistern aufgewachsen ist, oder Eltern von mehreren Kindern ist, weiß wovon ich spreche. Immer soll (abräumen, mit dem Hund spazieren gehen …)

Die pflichtbewussten, -eifrigen Arbeiter (zumeist Erstgeborene) vergönnen ihren Kollegen nicht, dass diese so mühelos und leicht dasselbe bekommen, wie sie, die so lange und hart gearbeitet haben. Der ältere Bruder im „Gleichnis vom verlorenen Sohn“ missgönnt seinem Bruder die liebevolle Begrüßung durch den gemeinsamen Vater. Dahinter steht eine bestimmte Form der Selbst-Gerechtigkeit: „Ich bin der Meinung, dass ich, der ich dies und dies gemacht habe, mich eingesetzt habe usw. was anderes verdient habe. Und zwar etwas Besseres. Mehr Anerkennung, mehr Zuspruch, mehr Geld etc.“ Dieses Gefühl wird „schärfer“ im Sinne von Aggression, wenn ich erlebe, dass ein Anderer, der in meinen Augen weniger „drauf hat als ich“, mir auch noch vorgezogen wird. Das wird dann als „bodenlos“ erlebt.

Wer sich nicht auf den Weg der Selbsterkenntnis macht, fällt in die Falle des „Sich-selber-leid-Tuns“. Es ist unglaublich, wie begabt manche Menschen darin sind, etwas zu finden, wodurch sie sich selbst bemitleiden können. Und wie ärgerlich sie werden, wenn man sie darauf anspricht. Auch des „verkannte Genie“ gehört hierher. Es ist der Meinung, dass ihm grundsätzlich zu wenig Wertschätzung entgegen gebracht wird. Dies führt neben depressiven Gefühlen zu einer inneren Gereiztheit, die dann unschuldige Mitmenschen abbekommen.

Mir steht mehr, Anderes und Besseres zu!“ sagen sie.

Nein, steht dir nicht“, sagt der Weinbergbesitzer, der in unserem Gleichnis natürlich Gott repräsentiert. „Mit deinem selbstgerechten Verdienst-Denken erreichst du bei mir gar nichts.“-

Wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit“ heißt es im heutigen Wochenspruch aus dem Buch Daniel. Die mürrischen Arbeiter in unserem Gleichnis vertrauen nicht auf Barmherzigkeit. Sie denken: „Ich weiß doch, was mir zusteht. Und daran hast du dich gefälligst zu halten!“ Solche Gedanken sind Ausdruck eines inneren Gefängnisses.

Meistens ist der erste Schritt beim Verlassen eines Gefängnisses der schwierigste. Der erste Schritt ist die Anerkennung: Meine Wünsche, Erwartungen, Vorstellungen von Gerechtigkeit entsprechen nicht der Wirklichkeit. Indem ich dies anerkenne, kann ich von meinen Vorstellungen und Vor-Urteilen ablassen. Kann aufhören damit, den Anderen/die Wirklichkeit mir so zu „schnitzen“, wie ich meine, ihn/sie zu brauchen.

So und nur so kann sich allmählich mein Gefängnis öffnen. So und nur so entdecke ich in mir die Freiheit, mich um mich selbst zu kümmern. Wenn ich beim Essen das Gefühl habe, mein Tischnachbar hat mehr bekommen als ich und das „voll ungerecht“ finde, dann werde ich mich schwer tun damit, das, was ich bekommen habe, mein Eigenes nämlich, aus vollen Zügen zu genießen. Geschweige denn dankbar darüber zu sein, dass ich überhaupt etwas bekommen habe. Der Neid auf die Anderen frisst meine Fähigkeit zu Dankbarkeit, Zuneigung, Freude am Leben auf.

Dankbarkeit lässt sich nicht herstellen: Sie entsteht von selbst – und zwar, wenn ich aufhöre, auf die Anderen zu „schielen“. („Scheel“ und „schiel“ sind derselbe Wortstamm!) Erst dann wird mir vielleicht bewusst, wie wenig selbstverständlich es ist, dass ich überhaupt lebe, dass ich bis heute überlebt habe.

Die uns vertraute und naheliegende Art zu denken ist kausal: Wenn ich den ganzen Tag gearbeitet habe, dann will ich auch einen anderen Lohn bekommen als jemand, der nur eine Stunde gearbeitet hat. Das ist doch logisch!

Das Gleichnis von Jesus hebelt diese Kausallogik völlig aus.

Darum geht es nicht, sagt der Weinbergbesitzer. Es geht um meine Barmherzigkeit. „Hältst du nicht aus, dass ich so gütig bin?“

Das ist die Frage: Wie viel Großzügigkeit, die mir entgegen gebracht wird, halte ich aus? Oder denke mir schnell: Was will der/die mit seiner Großzügigkeit erreichen? Wo und wie will er mich manipulieren?

Das selbe gilt umgekehrt: Was will ich mit meiner Großzügigkeit erreichen? Jetzt hast du so viel von mir bekommen – dann könntest du aber auch … Sie kennen das.

Also – gibt es so etwas überhaupt: eine zweckfreie Barmherzigkeit?

Der Weinbergbesitzer gibt jedem einen Silberling. „Wie ausgemacht!“ Er denkt in anderen Kategorien als wir Menschen. Er denkt nicht im Verdienst. Dass die, die zuletzt kommen, denselben Silberling bekommen, ist Ausdruck seiner Barmherzigkeit, heißt es. Das Thema ist nicht: Wie gerecht ist Gott – sondern wie viel Barmherzigkeit halten wir aus? Für die „harten Arbeiter“ unter uns ist es eine ganz besondere Herausforderung, eine „Barmherzigkeit“ zu akzeptieren, die sich nicht am Verdienst orientiert. Die „einfach so“ ist. Die keinen Nutzen und keinen Zweck kennt. Die Ausdruck von Freude über die Rückkehr des verloren geglaubten Sohnes ist, die Ausdruck von Großzügigkeit gegenüber jenen Arbeitern ist, die erst später dazu stoßen.

Gott ist kein Arbeitgeber, der nach Leistung und Verdienst abrechnet.

Es geht um die Liebe Gottes, die jedem zuteil werden kann, der sie annehmen kann. Der sie sich schenken lassen kann. Das ist das Paradoxe: Es bedarf auch einer Kraft, sich etwas schenken zu lassen. Das ist die Kraft des Annehmen-Könnens. Ohne Schuldgefühle, ohne das Bedürfnis, sich zu „revanchieren“. Nur wer sich etwas schenken lassen kann, der kann auch geben. Ohne Hintergedanken. Der kann sich mit freuen mit den Anderen: „Wie schön, dass wir alle gemeinsam einen barmherzigen Weinbergbesitzer haben – wir freuen uns für Euch mit!“

Geteilte Freude ist doppelte Freude!“ weiß der Volksmund.

Und das könnte auch unsere Haltung gegenüber Asylbewerben sein: „Wir gut, dass wir in einem Land leben, das sich die barmherzige Zuwendung zu diesen armen Menschen leisten kann!“

Das berühmte „Wir schaffen das!“ entspringt unserer Leistungsgesellschaft. Wie wäre es, wenn wir sagen können: „Wir können uns das erlauben!“

Wir können es uns leisten, großzügig zu sein!

Das Gleichnis endet bei Matthäus mit dem Satz: „Die Letzten werden die Ersten sein!“ Dieses Satz verführt dazu, dass sich genau nichts Grundlegendes ändert. Mein Neid, meine Gier, mein Konkurrenzdenken bleibt erhalten – nur das Ziel hat sich gedreht: Nicht Erster sondern Letzter sein, das ist jetzt „großartig“, das ist das neue „great“. Theresa von Avila hat schärfste Kritik an einem „asketischen Leistungsdenken“ geübt. Der Schlüssel zu diesem Satz ist das „so“: „So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.“ Heißt: Die eifrigen, fleißigen Arbeiter, die als Erste da sind, zerstören ihr eigenes Tun, indem sie selbstgerecht, neidisch und missgünstig werden. Sie haben nicht für Gott, sondern dafür gearbeitet, selber gut da zu stehen. Das ist das Traurige. Und noch eines – darauf hat mich ein aufmerksamer Predigthörer hingewiesen: Es heißt nicht, dass die zuletzt verdingten Arbeiter den ganzen Tag lang faul herumgelungert sind. Sie sagen: „Es hat uns niemand angeworben.“ Das heißt, sie hatten keine Chance, früher zu arbeiten!

Wir vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit – das heißt: Mir ist es egal geworden, ob ich Erster oder Letzter oder Mittlerer bin. Mir ist es auch egal geworden, wie ich im Verhältnis zu den Anderen da stehe. Mir ist auch egal geworden, ob ich mich mit dem, was ich sage und predige, beliebt oder unbeliebt mache.

Entscheidend ist nur Eines: Immer tiefer die Liebe und die Barmherzigkeit Gottes in mir zu spüren und aus ihr heraus zu leben. Denn das gilt: Nur was ich in mir spüre, aus dem heraus kann ich auch leben. Wenn ich in mir keine Großzügigkeit, keine Dankbarkeit, keine Barmherzigkeit verspüre, kann ich sie auch nicht ausstrahlen. Da kann ich predigen, soviel ich will!

Politisch entspricht diesem Gleichnis übrigens die Idee einer Grundversorgung oder auch Grundrente – unabhängig von Leistung und Verdienst. Und da unser Gleichnis ein „Reich Gottes“ – Gleichnis ist – „Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter für den Weinberg zu suchen …“ wird jetzt auch klar, wenn Jesus an anderer Stelle sagt: „Eher geht ein Kamel durch das Nadelöhr, denn ein Reicher in das Reich Gottes.“

Wie bedrohlich diese Gedanken des Mannes aus Nazareth waren, wird an seinem Schicksal deutlich. Er hat sich damit nicht beliebt gemacht. AMEN.

„1 Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter anzuwerben für seinen Weinberg.

2 Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg.

3 Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere auf dem Markt müßig stehen

4 und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist.

5 Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe.

6 Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere stehen und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da?

7 Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand angeworben. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg.

8 Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten.

9 Da kamen, die um die elfte Stunde angeworben waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen.

10 Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und sie empfingen auch ein jeder seinen Silbergroschen.

11 Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn

12 und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und die Hitze getragen haben.

13 Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen?

14 Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir.

15 Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin?

16 So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.

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