Predigt über Johannes 5, 24 – 29 am Totensonntag 2025
„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ Ps. 90, 12
Liebe Gemeinde,
um diesen Gottesdienst am Totensonntag hätte ich mich gerne gedrückt. Bislang ist dieser „Kelch“ auch tatsächlich an mir vorüber gegangen, weil es ja dem Ortspfarrer zusteht, am Totensonntag der Verstorbenen seiner Gemeinde zu gedenken – hat er doch auch die meisten persönlich beerdigt hat. Was nichts daran ändert, dass ich mich auch als „Drückeberger“ fühle. So wie ich auch alle Folgen der Verfilmung von Agatha Christies Hercule Poirot gesehen habe – außer der letzten. Der nämlich, in der Poirot stirbt.
Was ist denn so schlimm am Tod? Warum tue ich mich und viele meiner Mitmenschen, warum tun wir uns so schwer damit zu akzeptieren, dass etwas zu ende geht? Nicht etwas – sondern mein eigenes Leben!
Dass ich eine Weile hier bin, um dann wieder zu verschwinden. So ist es halt.
„Alles Ding währt seine Zeit – Gottes Lieb‘ in Ewigkeit!“
„Alle Lust will Ewigkeit. Tiefe, tiefe Ewigkeit!“ (Nietzsche)
Also so viel ist klar: Die Auseinandersetzung mit Tod ist im höchsten Grade unlustvoll. Und Unlust – das kennen wir seit dem Beginn unseres Lebens – ist etwas, was wir nur allzu gerne vermeiden. Unlust tut weh, macht Gefühle, die wir nicht ertragen wollen – oder können. Oder auch meinen, wir könnten sie nicht ertragen. Es ist unlustvoll, für das Klima auf das Fliegen zu verzichten. Es ist unlustvoll, für das Tierwohl auf das Essen von Tieren zu verzichten. Es ist unlustvoll, den Müll zu trennen. Ich könnte noch viele Beispiele nennen, aber ich denke, Sie wissen, was ich meine.
Aber genügt das, um zu verstehen, warum wir uns mit unserem Tod und dem Tod uns nahestehender Menschen nicht auseinandersetzen wollen?
Vor kurzem las ich, das Schlimme am Tod ist, dass wir ihn nicht mentalisieren können. Dass wir uns mental keine Vorstellung von ihm machen können. Wir können quasi nicht „auf Probe sterben“.
„Probiere es doch mal aus!“ das geht beim Sterben nicht. Sterben ist endgültig und irreversibel.
Und – was vielleicht das Schlimmste ist: Ich kann mein Sterben nicht kontrollieren. Ich muss es „hinnehmen“! Ich bin ihm „ausgeliefert“!
(Es sei, denn ich nehme meinen Tod selbst in die Hand!)
So wird es schon verständlich, dass wir viel dafür tun, das eigene Sterben-Müssen zu verdrängen. Wovon ich mir keine Vorstellung machen kann, das gibt es auch nicht, ist die naive Annahme. S. Freud hat gesagt: „Wir können nicht glauben, dass wir sterben werden!“ Es sei „unvorstellbar!“ Was wir aber können und vielfach auch machen, ist, den eigenen Tod zu verdrängen. So zu tun, als wären wir unsterblich. Vielleicht ist das die unbewusste Verbindung zu verantwortungslosem Leben…. Nach der Art: „Nach mir die Sintflut…“ Oder auch: „Klimawandel gibt es nicht – wir nennen es Wetter.“
Im Moment stehen jene Mitmenschen hoch im Kurs, die verdrängen und verleugnen, um die eigne Lust aufrecht halten zu können … Das ist gefährlich, weil die „Realität“, und die Realität ist das, was wirklich ist, sich davon nicht beeindrucken lässt. Ihr sind unsere Illusionen, unsere Wünsche und unsere Sehnsüchte egal.
Es ist auch deshalb gefährlich, weil wir – solange wir den Tod verdrängen – auch unseren Kindern und Enkeln keine Hilfe sind, mit der Realität des Lebens zu der notwendig das Sterben gehört, gut umzugehen. Wir sagen dann: Ach, Oma und Opa geht es jetzt gut, die sind im Himmel. Oder auch: Der Familienhund ist im Hundehimmel…
Alles ist erträglicher, als sich vorzustellen: Der oder die ist jetzt verschwunden. Es gibt sie oder ihn nicht mehr. Der oder die ist einfach weg!
In der Philosophie des Mittelalters gab es den Begriff des „horror vacui.“ Der Horror, das Erschrecken im Angesicht des Vakuums. Vakuum heißt eigentlich „leerer Raum“. Es geht um das Erschrecken angesichts des Erlebens von „Nichts“. Auf unserer Erde gibt es übrigens keinen luftleeren Raum. Ein Vakuum müssen wir „künstlich“ herstellen.
Genau hier setzt die Bedeutung der Religionen ein. Wie auch immer im einzelnen versuchen sie Trost zu spenden durch den Gedanken, dass vor diesem „Nichts“ nur Angst haben muss, wer nicht an irgendeine „Fortsetzung“ des Lebens nach dem Tod glaubt.
„Alle, die mein Wort hören und an Gott glauben, der mich gesandt hat, haben ewiges Leben und kommen nicht ins Gericht, sondern sind vom Tod zum Leben hinübergegangen.“
Damit beginnt unser heutiger Predigttext. Er ist ein Abschnitt aus einer Rede Jesu im Johannesevangelium (5, 24ff) – unmittelbar nachdem er einen Gelähmten an Sabbat geheilt hatte, womit er sich den Hass des jüdischen Establishments zugezogen hatte.
Johannes hatte das so kommentiert: „Deshalb versuchte die jüdische Obrigkeit umso mehr, ihn zu töten, weil er nicht nur den Sabbat aufgehoben hatte, sondern auch Gott seinen eigenen Vater genannt hatte, wobei es sich Gott gleich machte“ (Johannes 5, 18)
Jesus aber betont seine Vollmacht – eine Macht, für die selbst der Tod keine Grenze ist. Im Gegenteil – und noch einmal: „Alle, die mein Wort hören und an Gott glauben, der mich gesandt hat, haben ewiges Leben und kommen nicht ins Gericht, sondern sind vom Tod zum Leben hinübergegangen.“ Und weiter: „25 Amen, amen, ich sage euch: Es kommt die Stunde, und sie ist (schon) jetzt, dass Tote die Stimme des Sohnes Gottes hören werden, und die, die sie gehört haben, werden leben.
26 Denn wie der Vater Leben hat in sich selbst, so hat er auch dem Sohn gegeben, Leben zu haben in sich selbst. 27 Und er hat ihm gegeben, Gericht zu üben, denn er ist der Menschensohn. 28 Wundert euch nicht darüber! Es kommt nämlich die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden, 29 und die, die Gutes getan haben, werden herausgehen zur Auferstehung des Lebens, die aber Schlechtes getan haben zur Auferstehung des Gerichts.“
Liebe Gemeinde,
wie erleben Sie diese Sätze?
Sind sie tröstlich im Angesicht des eigenen Sterben-Müssens?
Sind sie für Sie tröstlich in Anbetracht des Verlustes eines geliebten Menschen?
Für mich sind sie – ehrlich gesagt – sehr weit weg. Um ihnen näher zu kommen, bräuchte ich eine Übersetzungs-Hilfe.
Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich nicht genug glaube. Denn ich erlebe mich nicht als jemand, der „vom Tod ins Leben hinüber gegangen ist.“ Im Gegenteil: Ich habe Angst vor meinem Tod. Und ich habe wenigstens genauso viel Angst vor dem Tod mir nahestehender Menschen. Ja, ich gebe es zu: Ich habe auch Angst vor dem Tod meiner Hunde.
Nun sind unter uns einige Menschen, die den Tod eines ihnen nahestehenden Menschen im vergangenen Jahr erleben mussten. Und dieser Gottesdienst ist auch als Hilfe gedacht, guten Abschied zu nehmen. Gut Abschied nehmen heißt: Akzeptieren, dass da jemand nicht mehr da ist. Er oder sie ist aus dieser unserer uns bekannten Welt verschwunden. Es heißt aber auch akzeptieren, dass da hat jemand Spuren hinterlassen hat. Er oder sie hat sich mir eingeprägt. Im Guten, wie im nicht so Guten.
Gut Abschied nehmen heißt vor allem: loszulassen. Loslassen heißt: Den Anderen „sein zu lassen“. Aufzuhören, ihn mit meinen Schuldgefühlen zu verfolgen. Das geht in beide Richtungen: Es kann mich quälen, wenn ich glaube, dies oder jenes bin ich dem Anderen schuldig geblieben. Ebenso sehr kann es mich quälen, wenn ich meine, der oder die Andere ist mir etwas schuldig geblieben. Beides vereitelt mein Loslassen. Beides hält mich gefangen.
Wenn Jesus sagt: „Diejenigen, die die Stimme des Sohnes Gottes hören, werden leben …“ und „die, die Gutes getan haben werden hinausgehen zur Auferstehung des Lebens“ … so verstehe ich dies zunächst einmal nicht als Satz, der sich auf ein Leben nach dem Tod bezieht. Sondern und vielmehr als einen Satz, der sich auf ein Leben vor dem Tod, auf unser Leben vor unserem Tod, auf unser Leben im Hier und Jetzt bezieht!
Es gibt nämlich einen seelischen oder mentalen Tod – und zwar im Diesseits! Das lateinische Wort dafür heißt Depression. Auf deutsch: „Unter-Drückung“. Depression entsteht, wenn die Lebendigkeit des Kindes unerwünscht ist und entsprechend gemaßregelt wird. Das Kind lernt, dass es bestimmte Sachen nicht sagen und/oder nicht tun soll. Die (gesunde) Wut, die es darüber empfindet, muss unterdrückt werden, was sich oft schon an der Körperhaltung bemerkbar macht: eingezogene Schultern, gebücktes Stehen – alles ist auf Verteidigung ausgerichtet. Die stillschweigende Vorannahme lautet: Ich bin nicht in Ordnung, mir wird ein Vorwurf gemacht, ich habe bestimmt wieder etwas falsch gemacht…
Es ist ein uraltes Erziehungsprinzip – genannt schwarze Pädagogik – mittels Strafe und Belohnung zu erziehen. Wer mit einem Hund zusammen lebt, weiß, wie wirksam dieses Prinzip ist. Und es funktioniert auch bei uns Menschen. Der große deutsche Denker, Immanuel Kant, hat in seinem berühmten „moralischen Gottesbeweis“ die Notwendigkeit der Existenz eines Gottes postuliert, weil es sonst für uns Menschen keinen Grund gäbe, moralisch wertvoll zu handeln. (In Klammern: Von daher ist es verständlich, dass jemand der einerseits an Gott und sein Gericht glaubt, andererseits weiß, dass er durchaus nicht immer moralisch vorbildlich gehandelt hat, seinem bevorstehenden Tod mit Ängsten entgegenblickt.)
Jesus unterscheidet zwischen der „Auferstehung des Lebens“ und der „Auferstehung des Gerichtes“. Für mich findet diese Unterscheidung bereits im Hier und Heute statt. Das griechische Wort für „Gericht“ heißt „krisis“ – wörtlich „Unterscheidung“. Eine gute, eine konstruktive Kritik, hat kein Interesse an der Vernichtung des Anderen. Es geht um Unterscheidung. Eine konstruktive Kritik unterscheidet zwischen jenen Gedanken, die auf Leben ausgerichtet sind und jenen, die auf Vernichtung aus sind. Es gibt die Redewendung von der „vernichtenden Kritik“. Aus ihr kann man nicht lernen. Man kann sie nur ablehnen, sich schütteln wie ein Hund, der die Nässe aus seinem Fell schüttelt. Wer in seinem frühen Leben Kritik als ihn vernichtend erlebt hat, der wird versuchen, sich immun gegen Kritik zu machen. Damit aber ist seine Fähigkeit zu lernen zerstört. Leider gilt dies für nicht wenige unserer führenden Politiker.
Liebe Gemeinde,
„lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden!“ Das ist die Überschrift des heutigen Totensonntages – es ist auch die Überschrift über meine Predigt.
Die Einsicht in und – ganz wesentlich – die Akzeptanz, ja mehr noch das Einverstanden-Werden mit meinem eigenen Sterben – und in Folge davon mit dem Sterben mir lieb gewordener Menschen und Tiere – führt zu einer Klugheit,die mich befreit für mein eigenes und eigentliches Leben. Es führt aber auch zu einer Dringlichkeit, weil es eben nicht egal ist, ob und wann ich etwas mache. Es gibt ein „Zu spät!“ Es gibt ein „vorbei!“
In unserem Text ist es Jesus als der „Messias“, der die Kraft verkörpert, die wir brauchen, um unser vergängliches und so verdammt kurzes Leben nicht nur „hinzunehmen“, „anzunehmen“ sondern auch kreativ zu gestalten und uns dankbar daran zu erfreuen. Wer Jesu Worte hört und ihnen wirklich glaubt, der wird erleben, dass Gottes Gericht kein Strafgericht ist. Es ist vielmehr ein „Aufrichten“ hin zum Leben. Es ist ein „Gerade-Richten“, wozu ich allein, aus mir selber heraus, nicht in der Lage bin. Das Gericht des Sohnes ist keine Verdammung – ganz im Gegenteil: es ist ein Aufrichten, das mir ermöglicht, mein Leben zu (er-)tragen – mein Leben, zu dem notwendig meine Vergänglichkeit, mein Sterben gehört. Ja, jetzt ich bin da und irgendwann werde ich wieder verschwinden. Und dasselbe gilt auch für die Lebewesen, die mir im Laufe meines Lebens lieb geworden sind.
„Gott will im Dunkel und hat es doch erhellt.
Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt.
Der sich den Erdkreis baute, der lässt den Sünder nicht.
Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht.“
So hat Jochen Klepper gedichtet, derselbe Jochen Klepper, der mit seiner jüdischen Frau Selbstmord beging, weil er dies als einzigen möglichen Ausweg sah. Weil er die Vorstellung nicht aushielt, seine Frau würde ins Konzentrationslager kommen und er könnte nichts dagegen tun. Ich kann seine Entscheidung verstehen. AMEN.
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