Predigt über Johannes 5, 1 – 16 am 19. Sonntag nach Trinitatis 2025
Liebe Gemeinde,
die Texte des heutigen Gottesdienstes sind gefährlich.
Ihre Fährte könnte uns auf beunruhigende Gedanken bringen.
Dabei fing es scheinbar ungefährlich an: „Heile mich Herr, so werde ich heil, hilf du mir, so wird mir geholfen“: dieser Satz aus Jeremias war Präludium unseres Gottesdienstes.
Ein scheinbar harmloses Wort. Wer möchte nicht gerne gesund, geheilt sein? Die Gefahr und die Herausforderung die in diesem Wort steckt, ist nicht das, was gesagt wird, sondern das, was nicht gesagt wird:
Das Heil wird von Gott selbst und nur von Gott erbeten – und nicht von einem Menschen. Und auch nicht von einer durch Menschen geschaffenen Apparatur.
Die Herausforderung dieses Wortes liegt in seiner Beschränkung. Es beschränkt unsere omnipotenten Machbarkeits-Illusionen. Auf beiden Seiten. Es beschränkt die Sehnsüchte des Patienten, der sich von der Medizin eine allmächtige Heilung ersehnt. Und es beschränkt die Allmachtsfantasien der Frauen und Männer in weiß.
Selbst-Beschränkung wäre das, was wir, was diese Erde benötigt. Doch die Menschen, die Macht haben und Einfluss: Für sie ist Selbst-Beschränkung ein Zeichen von Schwäche. Viele Texte aus dem Alten wie Neuen Testament handeln von der Allmacht Gottes. Im Glaubensbekenntnis glauben wir an „Gott den Allmächtigen“ . Und sind entsprechend enttäuscht, wenn wir erleben, dass dieser „allmächtige Gott“ „seine“ Erde, oder „unsere“ Erde nicht besser schützt – vor den zerstörerischen Kräften von uns Menschen…
Im heutigen Evangelium scheinen auf den ersten Blick die Allmachtsfantasien wieder die Oberhand bekommen zu haben. Jesus der allmächtige Arzt? So kann man es lesen. Man kann es aber auch anders lesen, nämlich so, dass Jesus auf den unauflöslichen Zusammenhang zwischen Körper, Geist und Seele verweist. Dass einem äußeren Gelähmt-Sein ein seelisches Gelähmt-Sein entspricht. Und dass der Weg zur Freiheit des Aufstehens und zur Fähigkeit, seiner eigenen Wege gehen zu können, über das Vertrauen zu einem liebevollen Gott und (gleichzeitig!) dem Eingeständnis der eigenen Schuld führt. Die Vergebung der Sünden und das Verlassen des Bettes der Gelähmtheit ist in den Augen Jesu dasselbe.
Merken Sie, wohin uns diese Texte führen, wenn wir uns auf sie einlassen? Sie greifen eine bestimmte Art unseres Denkens an. Und zwar jene Art des Denkens, die immer nur eins denken kann. Dieses Denken beruht auf der Unfähigkeit, Unterschiede zusammen zu denken. Es tut sich extrem schwer damit, Widersprüche auszuhalten. Es hält nichts von Diskursen. Stattdessen wirbt es mit einer vermeintlichen Klarheit. Ich möchte dieses Denken als populistisch bezeichnen.
Man kann es daran erkennen, was nicht gedacht werden soll. Es soll nicht „zusammen“ gedacht werden; es soll auseinander gehalten werden. Krank von gesund, gut von böse, Körper von Seele, schwarz von weiß. Vermischungen sind „unrein“ – „Schlammblüter“ heißt es bei Harry Potter. Das sind Zauberer oder Hexen, die von Muggeln (also Menschen) abstammen. Und seit dem Mittelalter gibt es das abwertende Wort „Bastard“, das ein Kind bezeichnet, das von seinem adligen Vater anerkannt worden ist, und das eine nicht „standesgemäße“ Mutter hat. Je rigider eine Gemeinschaft, desto wichtiger ist ihr sogenannte „Reinheit“. Dies gilt natürlich auch und insbesondere für religiöse Gemeinschaft!
Nun gab und gibt es immer wieder Menschen, die sich diesem totalitären Denken widersetzt haben und widersetzen. Einer von ihnen heißt Jesus aus Nazareth. Er war ein Provokateur und ein Unruhestifter. Und er wurde ruhig gestellt an jenem Vorabend des Pessachfestes, wahrscheinlich im Jahre 33 nach Christus.
Vorher hat er provoziert. Indem er sich nicht an die Regeln gehalten hat. Indem er immer wieder etwas tat, „was man nicht tut!“ Zum Beispiel sich anmaßen, etwas zu können, was nur Gott allein zusteht: Sünden vergeben! Das ist Gotteslästerung!
Dieselbe Geschichte, die wir gerade als Evangelium gehört haben (Markus 2, 1 ff) aber mit einer anderen Stoßrichtung, finden wir auch im Johannesevangelium – sie ist der heutige Predigttext.
Ich lese ihn einmal vor:
1 Danach gab es ein jüdisches Fest, und Jesus ging hinauf nach Jerusalem. 2In Jerusalem ist am Schafstor ein Teich, der auf Hebräisch Betesda genannt wird und der fünf Säulenhallen hat. 3In ihnen lagen viele Kranke: blinde, bewegungsunfähige und verkrüppelte Menschen. 5Es gab dort einen Menschen, der schon 38 Jahre krank war. 6Als Jesus diesen liegen sah und erkannte, dass er schon lange Zeit krank war, sagte er ihm: »Willst du gesund werden?« 7Der Kranke antwortete ihm: »°Rabbi, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich trägt, wenn das Wasser unruhig ist; während ich aber komme, steigt jemand anderes vor mir hinein.« 8Jesus sagt ihm: »Steh auf, hebe deine Liege hoch und geh umher!« 9Sofort wurde der Mensch gesund und hob seine Liege hoch und ging umher.
Jener Tag war ein Sabbat. 10Andere jüdische Menschen sagten dem Geheilten also: »Es ist Sabbat, und es ist dir nicht erlaubt, deine Liege zu tragen.« 11Er antwortete ihnen: »Der mich gesund gemacht hat, der hat mir gesagt: ›Hebe deine Liege hoch und geh umher!‹« 12Sie fragten ihn: »Wer ist der Mensch, der dir gesagt hat: ›Hebe sie hoch und geh umher!‹ ?« 13Der Geheilte wusste nicht, wer es war, denn Jesus hatte sich entfernt, als viele Leute an dem Ort zusammenkamen. 14Danach fand Jesus ihn im Tempel und sagte ihm: »Sieh, du bist gesund geworden; °entferne dich nicht wieder von Gott, damit dir nicht etwas Schlimmeres geschieht!« 15Der Mensch ging weg und erzählte anderen jüdischen Menschen, dass es Jesus sei, der ihn gesund gemacht habe. 16Deshalb verfolgte die jüdische Obrigkeit Jesus, weil er dies an einem Sabbat getan hatte.“
Um mit etwas Kleinem zu beginnen: Anders als bei Markus begegnet uns in dieser Version des Johannes das Wort ἄνθρωπος „Mensch“ (V. 5.7.9.12.15) fünf Mal. Nicht nur der Kranke ist ein „Mensch“ – namenlos, aber auch exemplarisch –, er klagt, dass er „keinen Menschen“ hat (V. 7). Und auch Jesus wird (von den „Juden“) als „Mensch“ bezeichnet. Die Häufung mag zufällig sein, sie ist aber deutbar: Jesus wird dem Menschen, der keinen Menschen hat, zum Menschen. In der Begegnung mit Jesus wird der Kranke ein Geheilter, ein Gesunder, wird aus dem Einsamen ein „Resozialisierter“, einer, der „zurück in die Gemeinschaft der Menschen“ findet.
Wie geschieht das?
Es geschieht dadurch, dass der „andere“ wirklich gesehen wird. Und das Sehen des „Anderen“ beginnt nicht damit, dass Jesus in überheblich-allmächtiger Weise ein: „Steh auf und lauf herum“ sagt. Es beginnt mit einer Frage an den Gelähmten, die ziemlich dämlich anmutet: „Willst du gesund werden?“
Mein Gott, könnte man denken, was denn sonst? Natürlich will er gesund werden, will wieder laufen können, genau deshalb liegt er hier. Was soll diese blöde Frage?
Den Anderen sehen heißt, mit ihm ins Gespräch kommen. Heißt sichtbar zu werden. Dies ist der erste Schritt jeden therapeutischen Handelns: „Was willst du?“ „Willst du (überhaupt) gesund werden?“ Fast zweitausend Jahre später hatte ein anderer jüdischer Arzt entdeckt, dass es nicht selbstverständlich ist, dass jemand gesund werden will. Er müsste nämlich dann auf all die Vorzüge, den „Krankheitsgewinn“ wie S. Freud es formuliert hatte, verzichten.
Erst wenn ich den Anderen sehe, kann ich ihn fragen. Und erst wenn der Andere bereit ist, sich sehen zu lassen, sichtbar zu werden, Antwort zu geben, entsteht „Ver-Antwortung“. Gute, echte Begegnung geschieht in wechselseitiger Ver-Antwortung. Alles andere ist hohl: hohles Um-sich-selber-Drehen, leere Geschwätzigkeit. „Die Geschwätzigkeit des Man“, wie Martin Heidegger es formulierte.
Erst wenn es mir möglich wird, dem Anderen, meinem jeweiligen Nächsten, so zu begegnen, wie Jesus den Gelähmten ansieht, dann werde ich nicht mehr sagen: „Die da oben“ oder „die Ausländer“ oder „die Juden“ oder „die Nazis“ oder „die Sozialschmarotzer“. Oder die „Christen“. Und zu allen: „Sie sind selber schuld!“ Wenn ich hinschaue, wie Jesus in unserer Geschichte hinschaut, dann zerreißt der Vorhang meines Rückzugsortes, in dem ich mich eingerichtet habe, von dem aus ich bewertend auf die Anderen herabschaue. Damit verliere ich aber auch meinen Schutzraum. Ich sehe erstmals die wirkliche Welt, den einzelnen Menschen, die konkrete Person mit und in ihrer ganzen Geschichte. Keine Kategorie, keine Klasse, keine Sorte Mensch. Das beunruhigt!
Das beunruhigt, weil ich die Komfortzonen meines Denkens verlasse, wenn ich mich ganz konkret auf mein Gegenüber einlasse: Was ist der wahre Hinderungsgrund für deine Heilung? Was hindert dich, dein Gekränkt-Sein aufzugeben? Willst du gesund werden? Auch wenn du und ich uns schon in der gegenseitigen Kränkung, in unseren gegenseitigen abwertenden Vorannahmen eingerichtet haben. Wollen wir es wagen, antwortfähig und damit verantwortungsfähig werden?
Oder: Wollen wir es wagen, Menschen zu werden?
„Heile mich Herr, so werde ich heil, hilf du mir, so wird mir geholfen!“
Wenn Täter und Opfer gemeinsam auf Versöhnung bezogen sind, wenn Gläubige und Ungläubige auf die Suche nach Wahrheit bezogen sind, wenn Gesunde und Kranke auf das Leben bezogen sind, wenn Lehrer und Schüler auf Erkenntnis bezogen sind, wenn Eltern und ihre Kinder auf Wachstum und Entwicklung bezogen sind, wenn wir hier auf Gott bezogen sind … dann verlassen wir die Welt der Selbst-Bezogenheit, in der Selbst-Beschränkung als Schwäche erlebt und deshalb auf alle Fälle vermieden wird. Und erst dann können wir eine neue Welt betreten, jene Welt in der unser Denken radikal, von der Wurzel her, verwandelt worden ist.
Oder, einfacher: An die Stelle egozentrischen Denkens ist soziales Denken getreten.
Die einzige Voraussetzung, die nötig ist, um diese Welt des „Miteinanders“ zu betreten, ist das Aufgeben der Überzeugung, man wüsste schon alles. Kennzeichen eines guten Arztes, eines hilfreichen Therapeuten, ist, dass er sich und sein Wissen gerade nicht absolut setzt. Dass er sich interessiert für die ihm anvertrauten Patienten. Inter-Esse heißt wörtlich „dazwischen-sein“. Wer von vorneherein vorgibt, „alles zu wissen“, dem ist es nicht möglich, „dazwischen zu sein“. Er redet und handelt „von oben herab“ oder auch von „unten herauf“. Jedenfalls steht er nicht auf demselben Boden wie sein Mit-Mensch.
Damit kommen wir zum zweiten Teil unserer Geschichte. Bis jetzt war nur sehr allgemein von einem „Gelähmten“ und von einem, der ihn gesund gemacht hat, die Rede. Als der Gelähmte gefragt wurde, wer ihn denn gesund gemacht habe, wusste er es nicht. Und so kommt es zu der zweiten Begegnung zwischen Jesus und dem Gelähmten. Wieder geht die Initiative von Jesus aus: „Jesus fand ihn im Tempel und sagte ihm: ‚Sieh, du bist gesund geworden; entferne dich nicht wieder von Gott, damit dir nichts Schlimmeres geschieht!‘ Jetzt erfahren wir die eigentliche Erkrankung des Gelähmten: Sie bestand in seiner Gottesferne! Man könnte auch sagen: Sie bestand in seiner Beziehungslosigkeit. Er hat niemand, der ihn zu den heilsamen Fluten trägt. Das Leiden dieses Menschen, ist ein sehr verbreitetes: Es ist das Leiden an seiner Einsamkeit!
„Deshalb verfolgte die jüdische Obrigkeit Jesus, weil er dies an einem Sabbat getan hatte.“ (V. 16). Damit endet unsere Geschichte. Hier beugt einer das Gesetz, sagt die jüdische Obrigkeit! Und das stimmt. Es ist jenes Gesetz, das sich selbst absolut setzt. Das nicht mehr für den Menschen da ist, sondern um sich selber kreist!
Ja – unser Jesus ist ein Gesetzesbrecher. Er bricht jenes Gesetz, das da sagt, dass es gut ist, im Allgemeinen-Anonymen zu bleiben. Dass es gut ist, seinen Nächsten und sich selber nicht „näher“ kennenzulernen. Dass es gut ist, „eingemauert“ durch das Leben zu gehen. Dieses Gesetz dient nicht unserer Gemeinschaft. Ein sich selber absolut setzendes Gesetz dient nur mehr sich selbst. So gesehen ist es a-sozial.
Nebenbei: Die Psychoanalyse war die einzige Therapieform, die in der DDR verboten gewesen ist. Psychoanalyse ist für totalitäre Herrschaftsformen gefährlich. Je mehr Menschen sich selbst erkennen, desto weniger sind sie in der Gefahr, blind selbst ernannten sogenannten „Führern“ hinterher zu laufen.
„Heile mich du mich, Herr, dann werde ich heil“!
„Heil“ heißt „ganz“, „unversehrt“, „ganzheitlich“.
So ist es eine Bitte um die Verwandlung meines Denkens! Bitte hilf mir, Brücken zu bauen, hilf mir Gräben zu überwinden, hilf mir, Verbindungen herzustellen. Hilf mir, in Verbindung zu bleiben!
Du, der du der Inbegriff des Heil-Seins, des Ganz-Seins bist, du, in dem die Verbindungen in heiliger Ordnung gefügt sind.
Die Aufgabe eines guten Lehrers oder Therapeuten ist es nicht, diese Verbindungen seinem Schüler oder Patienten einzupflanzen. Was ohnehin nicht funktioniert. Seine Aufgabe ist es, ihn zu lehren, sich nicht „draus“ bringen zu lassen, vielmehr der eigenen Intuition zu folgen und nach ihr zu leben.
Dazu abschließend eine chassidische Geschichte, von mir leicht umgeformt:
Die Schüler des Baal-Schem (dem „Meister des Wortes“) hörten, dass in ihrer Nähe jemand sei, der oder die als wirklich „weise“ galt. Einige von ihnen waren neugierig und wollten den oder die Weise aufsuchen. Ihr Lehrer war damit einverstanden. Die Schüler aber wollten wissen: „Woran sollen wir denn erkennen, dass es sich wirklich um einen ‚Weisen‘ handelt?“
„Erbittet von ihm einen Rat, was ihr machen sollt, wenn Ärger, Ungeduld und Hass über Euch kommen. Wenn Gedanken gedacht werden wollen, die Euch daran hindern, dass ihr in Eurer Mitte bleibt. Die Euch am Lernen und am Ganz-Werden hindern.
Wenn ihr einen Rat bekommt, dann wißt ihr, dass sie oder er kein guter Lehrer ist.
Denn die einzige Lebens-Aufgabe eines Menschen bis zu seiner Todesstunde ist es, mit dem Fremden, ihn Störenden und ihn Verunsichernden zu ringen. Nicht um es zu besiegen! Das Fremde will gezähmt werden, es will integriert und eingebunden werden in die Gesamtheit Eurer Lebendigkeit!“ AMEN.
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